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Tausche Alltag gegen Insel

Roman

von Anne Lux (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Cornwall, Band 1

Zusammenfassung

++ Ein Roman über Liebe, Träume, Sehnsüchte und Sehnsuchtsorte ... +++ Kunstlehrerin Vivian würde ihrem Leben bestenfalls die Note 4 geben: Alles ist irgendwie ausreichend, aber weit davon entfernt, perfekt zu sein. Nur ihr Kollege Jonas und die Gefühle, die er bei ihr auslöst, sorgen für Lichtblicke. Doch Vivians zartes Liebesleben rückt schlagartig wieder in den Hintergrund, als sie einen unerwarteten Anruf aus England erhält. Es folgen eine spontane Reise auf die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, eine Beerdigung der etwas anderen Art und eine emotionale Begegnung mit ihrer Vergangenheit und ihren Träumen von früher. Was wäre, wenn sie die Chance erhielte, sie doch noch zu verwirklichen …?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Neunundzwanzig Augenpaare waren auf Vivian gerichtet. Oder besser: Neunundzwanzig Augenpaare blickten knapp an ihr vorbei oder durch sie hindurch und starrten einfach ins Nichts.

Es war Vivians anstrengendste Stunde in der Woche. Kunsterziehung in der 11a am Donnerstagnachmittag – das war häufig wie eine One-Woman-Show vor neunundzwanzig Untoten, deren Aufmerksamkeitsspanne sich seit morgens um dreiviertel acht beständig verkleinert hatte. Neunundzwanzig Untote, die ihr nichts mehr entgegenzusetzen hatten außer trägem Desinteresse.

Vivian warf einen raschen Blick aus dem Fenster, das laut Schulordnung nicht mehr geöffnet, sondern zwischen den Stunden nur noch kurz gekippt werden durfte. Das hatte zwar dazu geführt, dass keine Kaugummis mehr aus dem zweiten Stock gespuckt wurden und in den Büschen im Hof landeten, verhinderte aber auch eine gründliche Stoßlüftung. Es kam nicht genügend Frischluft in den Raum, um den Klassen-Mief, eine Mischung aus Schweiß, Parfüm, Östrogen und Testosteron, zumindest temporär zu vertreiben.

Draußen kündigte der Tag bereits sein Ende an, obwohl er noch über acht Stunden Schicht hatte. Es schien bereits zu dämmern, die wenigen verbliebenen Blätter an den Bäumen wurden von einem hartnäckigen Wind geschüttelt, der laut Wetterbericht noch deutlich stärker werden sollte.

Vivian seufzte innerlich. Der November war nicht ihr Lieblingsmonat. Vor allem weil seine Anwesenheit unweigerlich darauf hinwies, dass schon bald gewisse Ereignisse eintreten würden. Ereignisse, die sie seit letztem Jahr nicht mehr mochte: Weihnachten und Silvester.

„Frau Steiner?“

„Ja?“

„Sie wollten uns noch die Arbeiten rausgeben …“

Vivian sah auf ihre Armbanduhr, die sie längst hatte austauschen wollen gegen eine neue, weil die jetzige sie ebenfalls an Weihnachten erinnerte. Noch knapp drei Minuten bis zum Gong.

„Das stimmt, Simon, vielen Dank.“

Kurzes Aufflackern in einem Augenpaar, zartes Rot, das in Wangen schoss, Lippen, die für Sekunden ein Lächeln andeuteten.

Zumindest Simon zeigt vage Anzeichen, dass Leben in ihm steckt, dachte Vivian und sah auf den Kopf seines Banknachbarn Manuel, der inzwischen bewegungslos auf der Tischplatte lag.

„Die meisten von euch …“, sagte sie und legte ihre rechte Hand auf den Stapel, der auf dem Lehrerschreibtisch lag, „haben die Aufgabe wirklich gut gelöst, kreativ und engagiert.“

Keine Reaktion aus ihrem Publikum.

„Kunst im öffentlichen Raum, die Gestaltung eines Ortes, an dem jeden Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen vorbeikommen – wie gesagt, die meisten hatten tolle Ideen …“ Sie griff mit Daumen und Zeigefinger nach dem obersten Blatt Papier. „Aber bei deinem Beitrag, Manuel, war ich mir nicht ganz sicher …“ Sie hob das Blatt hoch. „Ich nehme an, du wolltest griechische Säulen malen und wurdest dann … abgelenkt, von etwas, was interessanter und animierender war und deine ursprüngliche Intention in andere Bahnen gelenkt hat?“

Die müden Ausdrücke veränderten sich nicht, ein paar Augenpaare wurden gerollt.

Okay, hätte ich auch witzig machen können, dachte Vivian und legte das Blatt wieder ab.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand, vor allem eine Frau, darüber freut, wenn sie in einer Unterführung flankiert wird von überdimensionierten … männlichen Geschlechtsteilen.“

Noch letztes Jahr hätten bei dem letzten Wort zumindest einige der Mädchen gekichert, vielleicht auch der eine oder andere Junge. Jetzt: nichts. Manuels Kopf blieb bewegungslos auf dem Tisch liegen.

„Können wir uns darauf einigen, in Zukunft darauf zu achten, keine derart sexualisierten …“

Der Gong schnitt ihr das Wort an und wiederbelebte die lethargischen Gestalten vor ihr. In Windeseile schoben sie ihre Sachen in die Rucksäcke und die Stühle nach hinten. Nur Simon packte mit bedächtigen Bewegungen und ging dann Richtung Tür, wo er sich noch einmal umwandte.

„Bekommen wir die Arbeiten dann nächste Woche?“

„Ja, ganz sicher, Simon. Das war jetzt einfach zu knapp.“

„Schade eigentlich, dass es nur eine Stunde Kunst in der Woche gibt.“

„Finde ich auch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tja, bedank dich beim bayerischen Kultusministerium.“

„Sie sollten Mathe unterrichten. Oder Deutsch.“

„Ach ja, warum?“

„Weil Sie uns dann öfter hätten.“

„Wie gesagt: Die Lehrpläne mache nicht ich. Leider.“

„Okay. Dann bis bald.“

„Tschüss, Simon. Bis nächste Woche.“

Als sie allein war, ließ sich Vivian seufzend auf den Stuhl fallen. Vielleicht sollte sie das Wort „Geschlechtsteil“ doch nicht in der Anwesenheit von hormonbelasteten Teenagern äußern. Vielleicht hatte es doch Auswirkungen auf den einen oder anderen. Vielleicht täuschte sie sich aber auch und Simon hatte eben nicht versucht, mit ihr zu flirten.

Sie sah durch das Fenster. Ein einsames, rot verfärbtes Blatt an einem schaukelnden Ast versuchte verzweifelt, sich zu halten, um nicht auf den kalten Betonboden zu fallen.

Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck, verstaute den Stapel Papier in ihrer ausgebeulten Ledertasche und ging auf den Flur.

Kaum war sie aus der Tür, kam ihr Kollege Jonas aus der 11b nebenan. Vivian sah ihn aus den Augenwinkeln, machte eine scharfe Rechtskurve und tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Er hatte wieder darauf gewartet, bis sie aus ihrer Klasse gekommen war. Sie hörte das Quietschen seiner Sneaker auf dem Linoleumboden und das Klackern ihrer Stiefelabsätze, die durch den Flur hallten. Kein einziger Schüler war mehr zu sehen. Nach der letzten Stunde mutierten sie alle zu Superathleten und waren in der Lage, die Distanz zwischen Klassenzimmer und Hauptausgang in übermenschlichen Zeiten zurückzulegen.

Vivian beschleunigte ihren Schritt, wandte sich aber an der Ecke vor dem Lehrerzimmer so abrupt um, dass Jonas überrascht anhielt und sie fragend ansah.

„Hi!“, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Na, den Tag überstanden?“ Besser hier die Sache über die Bühne bringen als im Lehrerzimmer, dachte sie. Besser zu zweit im Flur als vor den Kollegen.

Wie auf Kommando kam Otto Hörmann um die Ecke geschlurft. Geschichte-Erdkunde-Sport, ungefähr Ende der Fünfzigerjahre geboren, zweimal geschieden, länger als jede andere Lehrkraft an der Schule und fast immer in einem eng geschnittenen Adidas-Trainingsanzug, um den sich das Gerücht rankte, Hörmann habe ihn während der olympischen Spiele 1972 in München erworben. Osmanen-Otto oder Ottomane genannt wegen seiner präferierten Epoche der Geschichte.

Als er Vivian und Jonas sah, blieb er kurz stehen, um dann zwinkernd an ihnen vorbeizugehen. „Mahlzeit!“

Vivian stöhnte kaum hörbar. Sie hatte Hörmann schon öfter gebeten, das Zwinkern sein zu lassen, zumal, wenn er an einer Gruppe Schülerinnen vorbeiging und sich seine Lider so rasch bewegten wie die Flügel eines Kolibris.

„Trockene Augen“, hatte er trocken behauptet und Vivian einfach stehen gelassen. Später hatte Lilli sie einmal unauffällig an Ottomanes Fach im Lehrerzimmer vorbeigezogen, im dem gut sichtbar ein kleines Fläschchen stand.

„Augentropfen“, hatte Lilli geraunt, und seitdem war Vivian gegenüber Ottomane milder gestimmt, wenn auch nicht restlos davon überzeugt, dass die zwanghaften Bewegungen seiner Lider ausschließlich körperliche Ursachen hatten.

Sie wartete, bis er und seine zwinkernden Augen verschwunden waren, und wandte sich dann wieder Jonas zu.

„Du gehst mir aus dem Weg“, sagte er.

„Quatsch, wieso sollte ich.“

„Wegen vorletztem Wochenende …“, begann er, aber sie hob die Hand, als wolle sie sich damit vor weiteren Worten abschirmen.

„Nein, Jonas“, sagte sie schnell. „Wir müssen nicht darüber reden. Es … Wir waren betrunken und es ist einfach passiert und ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe, als ich dich …“

„Ich war nicht betrunken. Ich trinke keinen Alkohol.“

Vivian sah ihn verblüfft an. Seine Augen richteten ein tiefes Grün auf sie, sein Blick war offen und klar. Nicht einmal die Anzeichen eines Zwinkerns.

„Von meiner Seite aus ist es nicht einfach so passiert“, sagte er und lachte. „So etwas passiert nicht einfach so, wir sind keine ferngesteuerten Roboter, Vivian.“

Mach hier kein Drama, wir haben uns doch bloß geküsst, dachte Vivian mit einem Anflug von Ärger, ich mach das hin und wieder, Männer küssen. Sie hielt den Satz im letzten Moment zurück, bevor er an die Oberfläche kommen konnte. Jonas war mit Sicherheit ein prima Kerl, sie musste ihn nicht beleidigen mit einer Aussage wie dieser.

„Ich …“, sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Ich müsste …“

„Wollen wir am Wochenende etwas unternehmen? Kaffee, Kino, Museum?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. „Ich muss arbeiten“, sagte sie dann.

„Korrigieren?“

„Ja. Unter anderem.“

„Ich auch.“ Jonas wies mit dem Kopf in Richtung Papierstapel, den er unter den rechten Arm geklemmt hatte. „Gedichtinterpretation. Rilke. Sie haben sich die Finger wundgeschrieben.“

Vivian sah auf die Blätter und den Bizeps, der sich unter dem Langarmshirt abzeichnete. Ihr Blick wanderte nach oben, traf wieder auf die grünen Augen.

Jonas Berger, Deutsch-Sport („Eine Traumkombi“, wie Lilli immer betonte. „Ein Mann, der läuft UND liest!“), fünfunddreißig, seit einem guten Jahr an der Schule und seit einigen Monaten getrennt von seiner langjährigen Partnerin, trug im Gegensatz zu Ottomane Trainingsklamotten nur in der Turnhalle.

Am vorletzten Tag der Herbstferien hatte er sie in strömendem Regen bis vor ihre Haustür gebracht, nach einem Essen bei Lilli und Alex. Die beiden luden regelmäßig Freunde, Bekannte und Kollegen zu sich ein, mehrheitlich Singles und immer ein Alibi-Paar, das, davon war Vivian überzeugt, darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Abende eigentlich Kuppeleiveranstaltungen waren.

Als sie zusammen mit Jonas unter dem Schirm vor ihrem Haus stand, kroch die Kälte vom nassen Asphalt durch ihre Stiefel. Oben in ihrer dunklen Wohnung, das wusste sie, war es kaum wärmer, dort wartete nichts auf sie außer finsterer Kühle. Da fragte sie ihn. Ob er mit hochkommen wolle. Er verneinte lächelnd, zögerte kurz und beugte sich dann vor und küsste sie, zärtlich, aber doch fordernd, berührte sie nur mit den Lippen. Vivian hatte die Augen geschlossen, spürte die Wirkung der zwei Gläser Wein, sie hob die Hände und legte sie auf die Unterarme von Jonas, fragte ihn noch einmal. Er verneinte erneut, schob sie sanft von sich weg und sagte, dass er sich sehr freue, sie am Montag in der Schule wiederzusehen. Als sie allein in ihrer Wohnung stand, schämte sie sich wegen ihrer plumpen Vorgehensweise und war gleichzeitig verwirrt. So war es ihr noch nie ergangen. Bis jetzt hatte sie in solchen Situationen stets die Choreografie vorgegeben, und die Männer waren ohne Widerspruch ihren Anweisungen gefolgt.

„Es klappt sicher bald“, sagte Jonas jetzt und ging an ihr vorbei. „Spätestens in den Weihnachtsferien schaffen wir es.“

Sein Tonfall duldete keine Widerrede. Vivian sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen nach und folgte ihm dann ins Lehrerzimmer.

Kapitel 2

An ihrer Wohnungstür klebte eine Nachricht ihrer Nachbarin aus dem Erdgeschoss, die bat, das Paket rasch abzuholen, das bei ihr abgegeben worden war. Für den Fall, dass sie wieder keine Benachrichtigungskarte bekommen hätte. Vivian riss den Zettel ab und überlegte, was heute angekommen sein könnte. Sie hatte den Überblick verloren. Es war ihr dritter Anlauf, die Wohnung neu zu gestalten, und wie bei den zwei Versuchen davor war er nach dem Bestellen der Dekogegenstände ins Stocken geraten.

Der Flur empfing sie düster und abweisend, es roch noch leicht nach dem Toastbrot, das ihr heute Morgen verbrannt war. Vivian machte Licht und schlüpfte aus Stiefeln und Mantel. Als sie den dicken Wollschal vom Hals wickelte, lösten sich leise knisternd einige Blätter und segelten auf den Boden. Kaum hatte sie die Mütze vom Kopf gezogen, richteten sich ihre Haare wie elektrisiert auf und strebten in alle Richtungen.

„Wild“, sagte eine Stimme hinter ihr, und Vivian fuhr kreischend herum, schlug die Hand von ihrer Schulter und griff reflexartig nach dem Regenschirm, den sie heute Morgen auf der Kommode im Flur vergessen hatte.

„Woah, ganz ruhig.“ Der Mann, der nur T-Shirt und Boxershirt trug, wich zurück in Richtung Schlafzimmer, aus dem der gekommen war.

„Himmel, hast du mich erschreckt“, zischte Vivian. „Was zum Teufel machst du noch hier?“

„Ich habe auf dich gewartet?“

„Du warst den ganzen Tag hier und hast …“

„Ich war zwischendurch mal Zigaretten holen.“

„Wie bist du danach wieder reingekommen?“, fragte Vivian scharf.

Er wies mit dem Kopf auf den Korb auf der Kommode. „Du hast einen Ersatzschlüssel hier.“

„Du hast alle Schlüssel ausprobiert?“

Er zuckte mit den Schultern. „Sind ja nicht viele.“

„Hast du keinen Job, zu dem du musst?“

„Ich studier noch und …“

„Was? Wie alt bist du denn? Nein, stopp. Egal.“ Vivian presste beide Zeigefinger an die Schläfen. „Okay. Hör zur, ich hatte einen langen Tag und wäre sehr froh, wenn ich jetzt allein sein könnte …“ Sie ließ die Hände sinken und sah ihn an.

„Du weißt nicht mehr, wie ich heiße.“

„Doch, ich …“, sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die ihr Ben vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, „aber ich möchte jetzt wirklich, dass du gehst.“

„Darf ich dich anrufen?“

„Ich ruf dich an.“

„Hast du denn meine Nummer noch?“

„Muss ich gucken.“ Sie wusste, dass sie gereizt klang, aber es tat ihr nicht leid. Allmählich ging ihr der Typ wirklich auf die Nerven.

„Kleine Erinnerungsstütze“, fuhr er fort. „Offensichtlich hattest du gestern doch mehr intus, als ich dachte. Wir haben gestern auf der Vernissage im Café Glück Nummern getauscht. Beziehungsweise du hast mir deine gegeben und ich hab dich sofort auf deinem Handy angerufen. Gegen halb zehn. Diese Nummer bin also ich.“ Er verschwand im Schlafzimmer. Vivian hörte etwas klackern, vermutlich die Schnalle eines Gürtels, und stöhnte leise.

„Hör zu“, sagte sie dann laut, „ich … ich habe einfach sehr viel um die Ohren gerade, im Beruf vor allem.“

Er erschien wieder im Türrahmen, jetzt in Jeans und Pulli, und sah sie abwartend an.

„Ich … ich vergesse gerade wirklich irgendwie alles und …“

„Schon okay“, sagte er, „kannst dich ja melden, wenn du willst. Wie gesagt: die Nummer von gestern, die dich um halb zehn angerufen hat. Kannst du abspeichern unter T. Wie Tobias.“

Vivian sah ihn stumm an.

„Oder auch nicht“, sagte Tobias, verschwand erneut und kam mit einem Paar Sneaker in der Hand zurück in den Flur. „Ich gehe dann jetzt. Und wünsche ein angenehmes Leben.“

Als Tobias weg war, löschte Vivian seine Nummer in ihrem Handy, band ihre verwuschelten Haare rasch zu einem Knoten im Nacken und versuchte, auch Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war gestern nicht betrunken gewesen, sie trank unter der Woche grundsätzlich nicht. Und sie hatte auch nicht vergessen, wie der Mann hieß, mit dem sie die Nacht verbracht hatte. Aber so zu tun, als habe sie keine Erinnerung mehr, aus welchen Gründen auch immer, funktionierte am besten. Die meisten meldeten sich daraufhin nie mehr.

Der Kühlschrank war noch voll von ihrem Samstagseinkauf am Markt. Zwiebeln, Chilischoten, Süßkartoffeln, Zucchini. Grünkohl, der schon etwas ermattet aussah. Sie hatte Reis, Kokosmilch, Knoblauch, Ingwer, Curry-Paste, sie könnte eine Art Gemüse-Curry machen, den Rest einfrieren und später in der Woche noch einmal davon essen. Sie verharrte in der Hockstellung vor dem Kühlschrank, bis ihr die Knie schmerzten, dann nahm sie eine Zwiebel heraus, stand abrupt auf und legte sich Brett und Messer auf die Arbeitsfläche. Langsam und bedächtig begann sie zu arbeiten: Zwiebel häuten, halbieren, würfeln, Knoblauch, Ingwer und Chili klein schneiden. Als sie den Herd einschaltete und sich sofort der leichte Geruch von Gas in der Küche ausbreitete, klingelte ihr Handy auf dem Tisch. Vivian zog laut Luft ein. Dieser Tobias würde hoffentlich nicht die Ausnahme sein, die die Regel bestätigte. Als sie die Nummer sah, atmete sie auf. Sie legte das Messer ab und drehte den Herd aus.

„Papa?“

„Schätzchen, ich wollte nicht stören, habe nur zwei kurze Fragen.“

„Papa, du störst nie.“

„Was machst du?“

„Ich koche und werde dann essen und danach auf die Couch sinken, mich stundenlang nicht mehr erheben und auf ein mobiles Endgerät oder den Fernseher schauen.“

„Das klingt gemütlich und sehr passend für ein so scheußliches Wetter wie heute.“

„Sehe ich auch so. War das schon die erste Frage? Was ich mache?“

Er lachte. „Nein, Schätzchen. Ist unsere kleine Gabe gut bei dir angekommen?“

„Ihr habt mir wieder Geld überwiesen?“

„Nun ja. Nur ich eigentlich … also … deine Mutter …“

„Mama weiß es nicht.“

„Nein, nicht wirklich.“

„Papa, ihr sollt und müsst mir kein Geld überweisen, ich komme wirklich klar und ihr habt selber doch nicht … also … nicht sooo …“

„Ich weiß, ich weiß. Es war ja auch nicht viel, das mache ich jetzt vielleicht noch ein, zwei Monate und ab nächstem Jahr gibt es erst wieder zu Weihnachten Finanzspritzen von uns, okay?“

„Okay. Ich schaffe das wirklich, wirklich auch allein.“

„Ich weiß, aber ich wollte … ah, da kommt deine Mutter … Moment … ja, was meinst du, Karla?“

Vivian hörte die Stimme ihrer Mutter im Hintergrund, verstand aber nicht, was sie sagte.

„Mama lässt grüßen.“

„Das war alles? Klang nach mehr.“

„Nein, sie …“

„Sag ihr, ich komme ganz sicher bald wieder vorbei. Ich weiß, dass sie danach gefragt hat. Es ist nur einfach … es ist so viel zu tun zurzeit.“

„Ich weiß, Schätzchen. Ich will dich jetzt auch nicht mehr aufhalten.“

„Was war denn die zweite Frage?“

Einen Moment war es ruhig in der Leitung. Vivian wusste, dass er wartete, bis ihre Mutter den Raum wieder verlassen hatte. Und sie wusste, was er fragen würde, es war ein seit Jahren eingespieltes Ritual, das seit ihrer Trennung von Ben nur noch häufiger stattfand als davor.

„Wie geht es dir, Vivian?“

„Papa, mir geht es gut.“

„Beruflich und privat.“

„Ja.“

„Gut, Liebes, das wollte ich hören.“

„Wie geht es dir? Bei dem Wetter?“

„Die Hüfte mag den November nicht, aber ich komme zurecht. Deiner Mutter geht es …“

„Wie gesagt, ich komme sicher bald zu euch.“

„Wie es dir passt. Wir freuen uns. Jetzt koch weiter, Vivian, wir hören uns bald. Schönen Abend.“

„Dir auch, Papa. Euch auch.“

Kaum hatte Vivian aufgelegt, klingelte es erneut.

„Was ist heute los?“, zischte sie, als sie den Namen auf dem Display sah. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie ärgerte sich darüber. Kurz überlegte sie, nicht ranzugehen, dann nahm sie das Telefon und sagte möglichst beiläufig: „Ja?“

„Hallo, Vivi. Stör ich?“

„Ich koche.“

„Ah, schön.“ Sie kannte ihn und wusste, dass er so entspannt war, wie er klang. Entspannt und freundlich, in sich ruhend. Glücklich. „Was gibt’s Leckeres?“

Sie sah auf Ingwer, Knoblauch, Chili. „Nur ne schnelle Nudel.“ Curry hatten sie zu oft gemeinsam gekocht. „Muss gleich noch mal los zu einer Verabredung“, log sie.

„Und sonst? Alles gut? Wie läuft es in der Schule?“

„Gut, sehr gut. Viel zu tun, wie immer, aber es macht mir immer noch Spaß.“

„Das ist doch schön.“

Ein paar Sekunden Schweigen, dann überwand sich Vivian. „Und bei dir?“

„Puh, ja. Deswegen rufe ich an.“

Vivian schwieg. Puh, ja? Wann immer Ben in ihren gemeinsamen neun Jahren „Puh“ gesagt hatte, war etwas passiert, was ihm nicht gefiel. Überhaupt nicht gefiel. Vielleicht waren er und Eva …? Tief in Vivian begann sich etwas zu regen, kroch langsam in ihr hoch. Sie versuchte es zu ignorieren, sah aus dem Fenster in den Hof, wo die Birke im Wind hin und her wogte.

Sie fixierte ihr Spiegelbild im Fenster und sah sich selbst in die Augen. Vivian Steiner, einunddreißig, Kunstlehrerin, seit knapp einem Jahr von ihrer großen Liebe getrennt, auf die sie sich, das war in der Therapie mehrmals zur Sprache gekommen, zu sehr fixiert und darüber eigene Interessen vergessen hatte. Sie war nicht sehr groß und ihre Beine waren ein wenig zu kurz und stämmig, aber wenn es auf ihr Äußeres kam, hielt Vivian es mit Romy Schneider, die über sich einmal gesagt hatte: „Meine Haxen sind eigentlich krumm, aber mit meiner Fresse reiß ich alles wieder raus.“

„Ich wollte es dir dieses Mal sagen, bevor du es von Dritten erfährst“, fuhr Ben jetzt fort und seufzte. „Das von damals tut mir immer noch leid.“

„Ach“, sagte Vivian. „Schnee von gestern.“ Wieder eine Lüge. Was Ben andeutete, hatte sich bei ihr eingebrannt und Narben hinterlassen. Wenige Wochen nach ihrer Trennung war er mit Eva nach Neuseeland aufgebrochen, zu einer Reise, von der Vivian immer geträumt hatte. Sie hatte es durch Zufall erfahren, durch ihre Mutter, die Bens Mutter bei einem Konzert getroffen hatte? Oder im Theater? Sie wusste es nicht mehr. Es war auch egal. Sie wusste jedenfalls, dass Ben und Eva monatelang eine Affäre gehabt hatten, bevor sie sich endlich entschlossen, es der arglosen, dämlichen Vivian zu sagen. Im Januar sollte die Beichte erfolgen. Und kurze Zeit später die Abreise nach Neuseeland. Doch so lange hatte Ben nicht durchgehalten. Am ersten Weihnachtsfeiertag war es aus ihm herausgeplatzt. Auf dem Flur im Haus ihrer Eltern. Vivian hatte die Worte gehört, die aus seinem Mund kamen, aber sie hatte sie nicht verstanden. Sie hatte auf seinen neuen Wollpullover gestarrt, den ihre Eltern ihm für den Skiurlaub in der kommenden Woche geschenkt hatten, und auf das Etikett, das noch am Halsausschnitt hing. Der Pullover war immer noch bei ihren Eltern. Der Ski-Urlaub fand nicht statt und für die Neuseelandreise war er nicht geeignet. Dort hatte es im Januar tagsüber im Durchschnitt fünfundzwanzig Grad.

„Vivi, wir …“

„Naja, zumindest eine Karte aus Neuseeland hättet ihr mir schreiben können …“

„Ich …“

„Alles gut, war nur ein Scherz.“ Sie zwang ihre Lippen zu einem Lächeln, weil sie hoffte, dass sich das positiv auf ihre Stimme niederschlagen würde. „Ist lange her und verjährt.“

„Okay.“ Sie hörte ihn tief Luft holen und wieder seufzen.

„Ben? Was ist passiert? Alles okay mit dir und Eva?“

Vivian wusste, dass in ihrer Frage die böse Hoffnung mitschwang, die sich gerade auch in ihrem Körper ausbreitete. Sie war fast froh, dass er nicht darauf einging.

„Ich … Also, ich wollte fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich demnächst die beiden Schlitten aus dem Keller hole. Du hast mich ja ein paar Mal darum gebeten und jetzt … puh. Ja, ich wollte sie holen.“

„Muss nicht mehr unbedingt sein, Ben.“ Sie dachte an das vollgestopfte ehemalige Arbeitszimmer. „Ich habe in der Wohnung ja jetzt mehr Platz.“

Als er schwieg, runzelte sie die Stirn. „Ist das alles, Ben?“

Er lachte schnell. Es hörte sich nicht mehr entspannt an. „Nein, nicht ganz. Ist mir nur grad noch eingefallen.“

Die warme Hoffnung, die in ihr aufgestiegen war, verfestigte sich zu einem Klumpen und zog sich langsam zurück. Vivian legte ihre linke Hand flach an die Wand, als ob sie sich damit stützen könnte. Falls die kommenden Worte sie umhauen würden.

„Und dann wollte ich …“ Er lachte und klang zum ersten Mal in ihrem Gespräch nicht mehr ganz entspannt, „wollte ich dir sagen, dass ich … Also, dass wir, dass Eva und ich heiraten werden.“

Der Klumpen in ihr wurde zu einem Stück Eis. Vivian versuchte ihn hinunterzuschlucken und zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus.

„Eva meinte, ich solle es dir persönlich sagen. Bevor du … wie gesagt … es wieder von jemand anderem erfährst.“

Die tolle Eva. Immer sensibel und mitfühlend. Sie spürte, wie der Klumpen wieder hochschoss, kochend heiß dieses Mal, mit Wut und Hass im Schlepptau.

„Ist ja toll“, brachte sie unter Aufbietung aller Kräfte heraus. „Schön. Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke, Vivi.“

Die Art, wie er die Kurzform ihres Namens aussprach. So vertraut. Und so vergiftet.

„Ich melde mich wegen der Schlitten“, sagte sie mit belegter Stimme. „Das Wasser kocht, Ben, ich muss, ich melde mich ganz bald.“

„Vivi, warte, und dann ist da …“

„Bis bald, Ben.“

Sie legte auf und hielt das Telefon mit angehaltenem Atem von sich weg. Doch er rief nicht wieder an. Nach einer Weile wandte sie sich der Arbeitsfläche zu. Sie nahm das Messer, ließ es jedoch sofort wieder sinken, als sie sah, dass ihre Hand zitterte.

Nein. Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Nein. Es war okay, dass sie jetzt kurz traurig und enttäuscht war. Geschockt. Aber nur kurz. Sie war schon so weit gekommen. Hatte so viel unternommen, um gegen die Hass- und Wutwellen anzukämpfen, und zuletzt waren sie so schwach und so selten gekommen, sie würde sich jetzt nicht zurückwerfen lassen, nur weil Ben die Schlitten holen wollte, um damit in Kürze mit seiner zukünftigen Gattin die Mini-Hügel im Englischen Garten hinunterzusausen. Oder irgendwo am Tegernsee. Nach dem Besuch der See-Sauna.

Sie öffnete die Augen wieder. Vermutlich hatte Eva ihm empfohlen, erst etwas Argloses wie die Schlitten zu erwähnen. Um erst einmal eine Gesprächsbasis zu haben. Die tolle Eva. Selbstlos und sooo empathisch.

Sie sah auf ihre Hand, die sich beruhigt hatte, und hackte lustlos ein wenig Knoblauch. Schließlich legte sie das Messer seufzend zur Seite und trommelte minutenlang mit den Fingern auf die Arbeitsfläche. Dann stieß sie sich ab, holte die letzten zwei Scheiben Toastbrot aus der Packung und steckte sie in den Toaster.

Als sie fertig gegessen hatte, rief sie Jonas an und sagte ihm, dass sie am Wochenende doch Zeit hätte. Er war überrascht, sagte aber gleich zu.

Gut gemacht, Vivian, dachte sie, als sie den Termin in ihren Wandkalender eintrug und mit einem Stift mehrfach umkreiste. Es war Zeit, nach vorne zu schauen und wieder ein Leben zu führen, in dem keine One-Night-Stands mehr vorkamen. Mit Studenten, die den ganzen Tag nur einmal kurz die Wohnung verließen, um Zigaretten zu holen. Oder, sie dachte mit Schaudern an den Oktober, mit Anwälten für Familienrecht, die bei jedem Treffen über die Exfrau schimpften. Oder, sie schüttelte sich leicht, mit Trainern aus dem Fitnessstudio, deren Bauchpartie so hart wie Granit war, denen aber im Bett so schnell die Puste ausging, dass sie danach, mit Panik in den Augen, in Vivians Küche stürmten, den Kühlschrank aufrissen und sich drei rohe Eier in den Mund kippten. Schuld an der sexuellen Misere sei nämlich nur die Tatsache gewesen, dass sie in der letzten Zeit zu wenig Eiweiß konsumiert hätten.

Vivian schaute auf den eingekreisten Termin und nickte erneut. Sie war wieder eine gute, zuverlässige Lehrerin. Sie kellnerte in ihrer Freizeit, um sich allein eine schöne Wohnung im teuren München leisten zu können. Sie war fleißig, sie trieb regelmäßig Sport und aß nicht jeden Tag nur Toast. Rauchte nicht und trank kaum. Also: sehr wenig. Zumindest nicht wirklich viel. Sie hatte ihr Leben im Griff. Zumindest, was das Berufliche und das Finanzielle betraf.

Und alles andere würde ebenfalls wieder ins Lot kommen. Zum Beispiel ihr Sozialleben. Sie würde ihre Freundinnen, die ihr nach der Trennung beigestanden hatten, wieder öfter sehen. Und sie würde sich mit netten, freundlichen, tollen Männern treffen. Treffen. Ohne Sex. Ohne peinliche Situationen am Morgen danach. Ohne irgendetwas. Also. Zumindest zunächst.

Sie würde den feinen, klugen Deutsch-Sport-Jonas treffen und sich gut mit ihm unterhalten. Dass sie ihn einmal geküsst hatte, spielte keine Rolle. Sie würden in eine Ausstellung und dann Kaffee trinken gehen und anschließend gepflegt parlieren.

Yep. Sie warf einen letzten Blick auf den Kalender und begann dann mit dem Aufräumen der Küche.

Kapitel 3

Sie waren drei eng miteinander befreundete Paare gewesen, die sich seit Uni-Tagen kannten und gemeinsam in die Zeit nach dem Studium gestartet waren. Mittlerweile fand das Rennen allerdings ohne die drei Paare statt. Vivian und Ben waren die Ersten, die ausgeschieden und auf der Strecke geblieben waren, lange vor dem Ziel.

„Das Ziel ist nicht, dass wir auf Teufel komm raus bis an unser Lebensende zusammenbleiben“, hatte Ben gesagt, als sie letztes Jahr am zweiten Weihnachtsfeiertag auf dem Flur von Vivians Eltern standen. An diesen Satz erinnerte sie sich noch gut. Sie erinnerte sich auch noch an ihren Vater, der schwungvoll um die Ecke gekommen war, um sie wieder ins warme Wohnzimmer zu holen, und ebenso energisch kehrtgemacht hatte, als Ben in diesem Augenblick gesagt hatte: „Und wir beide sind nicht glücklich, Vivi. Nicht so. Nicht zusammen.“

An die Fahrt nach Hause erinnerte sich Vivian dagegen nicht. Irgendwann waren sie wieder in ihrer eigenen Wohnung gewesen, wo Ben weiter auf sie eingeredet und sie erneut auf seinen Mund gestarrt hatte, dem Wort und Wort entkam.

Als die Dämmerung die Nacht verdrängte, war Ben gegangen.

Sie seien eben gerade nicht auf der Strecke geblieben, sagte er, als er plötzlich wieder vor Vivian stand. Sie wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, seitdem er die Wohnung verlassen hatte, sie hatte sich in der Zeit nicht bewegt, war auf dem Sofa sitzen geblieben und hatte aus dem Fenster gestarrt, hinter dem zarte Flocken zur Erde rieselten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren schneite es an den Weihnachtsfeiertagen.

Sie seien nicht auf der Strecke geblieben, wiederholte Ben, im Gegenteil. Sie seien vielmehr vom Weg abgekommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Vom Weg, der eine Einbahnstraße war und sie definitiv nicht glücklich machte. „Und ich habe eine Chance bekommen, wieder glücklich zu werden. Und du wirst sie auch bekommen, Vivi.“

Dann hatte er ein paar Sachen gepackt und war erneut verschwunden. Wahrscheinlich hatte er noch viel mehr gesagt oder sagen wollen, aber Vivian konnte sich nicht mehr an Details erinnern. Auch nicht an die Wochen nach der Trennung.

Kurze Zeit nach ihrer Trennung hatten sich, als hätten Ben und sie eine ansteckende Krankheit, ihre Freunde Marie und Tom getrennt, nur wenig später Lilli und Florian. Nur Lilli und Ben waren inzwischen wieder liiert. Marie und Tom arbeiteten viel und reisten allein oder mit wechselnden Bekanntschaften munter durch die Weltgeschichte, Florian war nach einer gescheiterten Blitzehe mit einer Internetbekanntschaft, die er kurz nach der Trennung von Lilli kennengelernt hatte, überzeugter Single und trainierte in seiner Freizeit Marathon. Eine Strecke, die man besser einkalkulieren konnte als die als Paar.

Nachdem Ben aus ihrem Leben verschwunden war, hatte Vivian versucht zu funktionieren, hatte sich wie ein Roboter von Anforderung zu Anforderung manövriert. Morgens aufzustehen, nach einer von schlechten Träumen und ewigen Gedankenspiralen zerstückelten Nacht, war dabei das Schwierigste gewesen. Viel schwieriger jedenfalls als der Unterricht, den sie ihrer Meinung nach eigentlich ganz passabel über die Bühne brachte, bis der Direktor höchstpersönlich sie zur Seite nahm und ihr mitteilte, dass ihm Beschwerden über sie zu Ohren gekommen waren. Von Schülern und deren Eltern. Dann die Krankschreibung. Die vielen Wochen zu Hause, in denen sie planlos durch die Tage waberte, schließlich eine Therapie und die Ratschläge von Frau Dr. Franke, die sie mit dem Eifer der Verzweiflung umzusetzen versuchte. Tun Sie sich was Gutes, hatte Dr. Franke oft gesagt, gönnen Sie sich was. Damit hatte sie Kultur und Sport und Sauna gemeint. Ein neues Hobby. Vivian war öfter in die Sauna gegangen, hatte phasenweise exzessiv Sport gemacht, war gerannt, bis ihr vor Erschöpfung und Trauer die Tränen über die Wangen liefen. Sie war mit Lilly in Paris gewesen, ein Wochenende, an dem sie vor Kummer kaum aufstehen konnte und von dem ihr die Decke des Hotelzimmers besser in Erinnerung geblieben war als der Anblick des Eiffelturms oder die Aussicht über die Dächer der Stadt der Liebe. Aber sie hatte es versucht, sie hatte wirklich versucht, Dr. Frankes Ratschläge zu beherzigen, und irgendwann festgestellt, dass es ihr ein wenig besser ging. Nach drei Monaten hatte sie beim Aufstehen nicht mehr das Gefühl gehabt, neben ihrem Körper auch noch ein tonnenschweres zusätzliches Gewicht aus dem Bett zu stemmen. Sie konnte abends wieder ins Bett gehen, ohne Angst haben zu müssen, dass ein schwarzer Strudel aus Gedanken sie bis zur Dämmerung am Schlafen hinderte.

Dann hatte sie erfahren, dass Ben und Eva zusammengezogen waren. Der Rückschlag ließ nicht lange auf sich warten, auch wenn sie weiterhin Sport trieb und in die Sauna ging und gemeinsam etwas mit Freundinnen unternahm. Sie fühlte sich einsam. Getroffen und wund. Die Wohnungseinweihungsparty von Lilly und Alex, kurze Zeit nach den Hochzeits-News, hatte sie nicht allein verlassen, und am nächsten Morgen war sie nicht allein aufgewacht. Die kalte Ernüchterung, die sich nach dieser Nacht eingestellte hatte, mit einem Mann, den sie nicht liebte, war nichts, was sie sich weiterhin gönnen wollte. Aber es war weiterhin passiert. Passierte immer noch.

Aber jetzt würde sich alles ändern. Dass Eva und Ben jetzt heirateten, hatte sie kurz ins Schwanken gebracht, jedoch nicht umgeworfen. Ihr aber klargemacht, dass sie genug getrauert und verarbeitet und genug Übersprungshandlungen ausgeführt hatte. Es war Zeit für einen Neubeginn, einen richtigen Neubeginn, ohne Wenn und Aber, ohne die leise Hoffnung, dass das mit Ben und Eva bald in die Brüche gehen würde. Was ohnehin schon ein Fortschritt war im Vergleich zu Vivians früherer Hoffnung, dass es klingeln, Ben vor der Tür und sie auf Knien anflehen würde, ihn wieder zurückzunehmen, weil er erkannt habe, dass sie und nur sie allein die Liebe seines Lebens sei. Ab jetzt wäre Schluss mit One-Night-Stands, die für einen Moment Nähe versprachen und dann nichts als schale Leere hinterließen. Sie würde die Wohnung und ihr Leben endgültig umgestalten und nicht mehr zurücksehen. Sie würde sich verabreden mit Männern wie Jonas. Klugen, freundlichen, selbstbewussten Männern, ohne mit ihnen gleich ins Bett zu gehen.

Vivian hielt das Glas gegen das Licht, kniff die Augen zusammen und befand es für sauber. Sie stellte es zurück in das kleine Wandregal über dem Tresen und sah dann durch den Raum. Alle waren versorgt, keiner suchte den Blickkontakt mit ihr. Es war warm und gemütlich im Café Glück, einer geschützten Oase, in der die Gäste ihre Hände um dampfende Kaffee- und Teetassen schlossen, während draußen der Wind die Hausfassaden entlangpfiff.

Vivian arbeitete seit einigen Monaten jeden Samstag von zehn bis sechzehn Uhr hier. Sie und Ben waren Stammgäste im Café Glück gewesen. Bis zur Trennung. Dann war Vivian von einem Tag auf den anderen nicht mehr hierhergekommen, zum einen, weil es sie schmerzhaft an glückliche Tage mit Ben erinnerte, zum anderen, weil sie Angst davor hatte, ihm und Eva zu begegnen. Nach einem halben Jahr hatte Michi, der Besitzer des Cafés, bei ihr angerufen. Er hätte ihre Handynummer von Lilly und vermisse sie und Ben, meinte Michi, und er frage sich, ob der Kaffee oder das Essen im Café Glück so schlecht geworden sei, dass sie nicht mehr kämen. Vivian hatte lachen müssen und war gerührt gewesen, dass er sich meldete. Sie erzählte ihm alles. Das Gespräch endete mit ihrem Versprechen, bald wieder im Café Glück zu erscheinen und ein riesiges Stück Kuchen zu verdrücken, und seinem Angebot, dass er helfe, wo immer er könne.

Später hatte sich Vivian wieder an Michis Worte erinnert. Es war der Tag gewesen, an dem ihr klar geworden war, dass sich ihre Wohnsituation ändern musste. Die Dreizimmerwohnung, in der sie mit Ben gelebt hatte, war zu groß und viel zu teuer für sie allein und natürlich eine konstante Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Andererseits hing Vivian an ihrem Zuhause, der Nähe zum Fluss, zum Wochenmarkt am Mariahilfplatz, zur Schule. Außerdem verursachte die Aussicht, sich auf dem angespannten Münchner Mietmarkt auf Suche zu begeben, bei ihr Panikgefühle. Sie besprach sich mit Dr. Franke und kam zu dem Schluss, das ehemalige Arbeitszimmer von ihr und Ben unterzuvermieten. Dann hätte sie regelmäßig Gesellschaft und wäre gezwungen, den Raum leerzuräumen, der mittlerweile zur Abstellkammer verkommen war. Doch schon bei der Formulierung der Anzeige kamen ihr Zweifel. Die Vorstellung, abends mit einer fremden Person zusammen zu kochen und mit ihr das Bad zu teilen, verursachte ihr mehr Unbehagen als Freude und so verwarf sie den Plan wieder. Und kümmerte sich weiter nicht um das ehemalige Arbeitszimmer, in das sie alles packte, was sie zu sehr an das Leben mit Ben erinnerte. In das sie all die Gegenstände steckte, mit denen sie die Wohnung eigentlich umdekorieren wollte. In dem Zimmer vermischten sich nun Gegenstände aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bildeten große Stapel und Haufen und waren so nah an die Tür herangewachsen, dass diese sich kaum mehr öffnen ließ. Irgendwann würde sie die Sache angehen. Irgendwann. Erst einmal musste sie sich einen Nebenjob suchen, wenn sie in der Wohnung bleiben, ihr Auto behalten und sich auch mal wieder einen größeren Urlaub leisten wollte. Ein guter Teil ihres Gehalts ging für die Miete drauf und solange sie nicht verbeamtet war, würde das auch so bleiben.

Als sie an das Gespräch mit Michi dachte, ging sie am selben Nachmittag ins Café Glück, aß ein riesiges Stück Schokoladenkuchen, trank einen großen Cappuccino und machte sich zwei Stunden später wieder auf den Heimweg. Mit vollem Bauch und einen Nebenjob als Kellnerin. Das hatte sich als Glücksfall entpuppt. Die Tätigkeit erforderte Schnelligkeit und Aufmerksamkeit, aber sie überforderte sie nicht, sie hatte viel gekellnert während ihres Studiums. Sie kam unter Menschen, konnte aber unverbindlich mit ihnen umgehen, was ihr vollkommen reichte. Sie durfte exzellenten, frisch gemahlenen Kaffee und übrig gebliebenen selbst gebackenen Kuchen mit nach Hause nehmen und natürlich nach ihren Schichten jedes der leckeren Gerichte von der Mittagskarte verspeisen, das es noch gab. Sie verdiente das notwendige Geld. Wie lange sie diesen Job noch machen wollte, wusste Vivian nicht. Zu sagen, dass es zeitlich eine Herausforderung wäre, wäre gelogen, sie bekam beides, Kunstlehrerin und Kellnerin, gut unter einen Hut, ja, sie war geradezu erstaunt darüber, wie viel mehr Zeit sie als Single hatte.

Ein kalter Luftzug verriet ihr, dass ein neuer Gast eingetroffen war. Vivian nickte dem Mann zu, der eben das Café betreten hatte und sich an den letzten freien Tisch setzte, den „Tulpen-Tisch“, wie Vivian ihn nannte, weil hinter ihm das Bild einer riesigen gemalten Tulpe hing. Saß ein Gast ungünstig, sah es aus, als würde ihm eine Blume aus dem Kopf wachsen.

Vivian lächelte. Heute sah es wieder besonders lustig aus. Sie mochte die naiv gemalten Pflanzenbilder der Hobbykünstlerin nicht besonders, die regelmäßig hier im Café Glück ihren Tee trank und Michi wohl irgendwie von einer Ausstellung ihrer Werke hatte überzeugen können.

„Wie findest du die Kunstwerke eigentlich?“, hatte er Vivian am Tag vor der Vernissage gefragt, und sie war rot geworden und hatte zu stottern begonnen.

Michi hatte gelacht und ihr auf die Schulter geklopft. „Keine Sorge, sind nur knapp drei Wochen, dann sind sie wieder weg. Dann könnten wir“, er senkte die Stimme etwas, „dann könnten wir ja vielleicht Fotos von dir ausstellen. Lilly hat mir erzählt, dass du davon ein ganzes Arsenal zu Hause hast.“

Vivian hatte während seiner Worte die Stirn gerunzelt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Also …“ Michi sah sie verunsichert an. „War natürlich nur so eine Idee.“ Er zog das Geschirrtuch von der Schulter. „Dachte nur, du fotografierst wie eine Wahnsinnige.“

Vivian löste ihre Arme und begann die Salz- und Pfefferstreuer neu zu ordnen. „Nein. Ich fotografiere nicht mehr wahnsinnig. Eigentlich fotografiere ich gar nicht mehr.“

„Das könntest wieder.“

„Könnte, hätte, Fahrradkette. Ich könnte so vieles, Michi.“

Kapitel 4

Jonas Berger war überrascht, dass es sofort nach dem ersten Läuten surrte, und drückte reflexhaft die Tür auf. Er ging ein paar Schritte in den Flur und blieb für einen Moment vor den Briefkästen stehen, schaute auf das Namensschild „Steiner“ und überlegte, hier unten zu warten. Doch als sich der Türöffner noch einmal energisch meldete, begann er die Treppe hinaufzusteigen. Ihn fröstelte. Auf halbem Weg zu Vivians Haus hatte es zu regnen begonnen, seine Haare und sein Gesicht waren feucht und sein Anorak glänzte vor Nässe. Er fuhr sich mit den Handinnenflächen über Augen und Wangen und durch die dunklen Locken.

Die Tür im zweiten Stock war nur angelehnt. Jonas hob die Hand, um zu klopfen, aber Vivians Stimme kam ihm zuvor.

„Einfach reinkommen! Ich bin gleich so weit.“

In dem schwach erleuchteten Flur roch es leicht nach dem Parfüm, das sie auch auf Lillys Party getragen hatte. An dem Abend, als sie sich geküsst hatten. Jonas atmete tief ein und aus und trat lautlos von einem Bein auf das andere, ihm war kalt.

Eine Tür am Ende des Flurs öffnete sich einen Spalt und entließ einen Strahl helleren Lichts.

„Bin sofort da.“ Der Duft ihres Parfüms wurde stärker. „Du bist ja superpünktlich. Um nicht zu sagen: zu früh.“

„Es schüttet und ist saukalt. Das hat mein Tempo beschleunigt.“

„Oje.“ Die Tür schloss sich wieder, Licht und Duft wurden im selben Moment schwächer, ihre Stimme dumpfer. „Wir können uns gleich im Café aufwärmen. Oder … oder willst du hier schnell deine Sachen trocknen und einen Tee … also, nur deinen Anorak trocknen, meine ich … Also, nicht dass du wieder denkst, ich will dich …“

„Ich zieh mich eben aus, gute Idee. Kann ich meine Jeans und meinen Pulli über die Heizung legen irgendwo? Und diese auch einschalten? Ist ja relativ frisch hier bei dir. Sparst du an den Heizkosten?“

Aus dem Bad drang kein Laut.

„Vivian?“

„Bleib lieber angezogen“, drang es durch die Tür.

„Sicher?“

Er hörte sie lachen. „Ganz sicher. Und ich versuche tatsächlich, an den Nebenkosten zu sparen, also lass die Finger von meinen Heizkörpern!“

Jonas grinste. Er trat näher an das Schwarzweißfoto, das in einem schlichten Rahmen an der Wand gegenüber der Eintrittstür hing.

Ein Mädchen, er schätzte es auf acht oder neun Jahre, lief im Badeanzug auf das Meer zu, das glitzernd vor ihm lag. Im Laufen wandte es sich um, streckte die Hand in Richtung des Betrachters, als wollte es sagen: Komm mit mir! Der Wind pustete Haare in das kleine sommersprossige Gesicht, die Füße des Mädchens hatten Abdrücke im Strand hinterlassen. Das Bild strahlte Sommer, Wärme und Unbeschwertheit aus.

Im Bad ging die Toilettenspülung. Jonas wandte sich langsam um und betrachtete das Foto neben der Eingangstür.

Es war farbig und dennoch trist. Zwei grüne Container, vermutlich aus der Hocke fotografiert, aus denen allerlei Sperrmüll ragte, Tisch- und Stuhlbeine, Antennen, Elektrogeräte. Darüber der Himmel, grau und mit verzerrten, abweisenden Wolken. Beide Container waren voller Graffiti. Alles ist möglich. ACAB. Kampf der Wegwerfgesellschaft. Neben dem rechten Container stand ein schlichter Holzstuhl, dessen Sitzfläche durchgebrochen war.

„Die Container standen nach dem letzten Isar-Hochwasser hier im Hinterhof.“ Vivian war unbemerkt neben ihn getreten. „Unsere Keller waren überschwemmt und viele darin gelagerte Sachen einfach hinüber.“

Er sog unmerklich ihren Duft ein. „Hast du das gemacht?“

„Ja.“

„Und das am Meer?“

Sie folgte seinem Blick. „Das bin ich. Hat mein Vater aufgenommen.“

Jonas nickte anerkennend. „Ein Polizist, der fotografiert.“

Vivians Lider flackerten kaum merklich. „Hobby, wie viele andere auch.“ Sie griff nach dem Schirm auf der Kommode. „Wollen wir gehen?“

Jonas süßte seinen Espresso, indem er den Löffel über der Tasse ein paarmal vorsichtig zur Seite kippte und den Zucker sachte und portionsweise in die Tasse rieseln ließ. Danach rührte er lange und bedächtig um.

Vivians beobachtete seine Handgriffe und dachte an Bens Bewegungen, die deutlich abgehackter gewesen waren: Löffel in den Zucker rammen, Zucker in den Kaffee kippen, lautstark umrühren.

Jonas war da viel liebevoller, behandelte die Gegenstände fast andächtig. Ob er den Löffel jetzt auch noch zärtlich ablecken würde, bevor er ihn auf den Rand seines Untertellers bettete?

„Warum lachst du?“, fragte er.

„Habe nur gerade an etwas gedacht.“ Vivian griff rasch nach dem warmen Glas und nahm einen Schluck von ihrem Latte.

„Du beobachtest mich wie ein Geier und lachst dann.“ Jonas seufzte. „Das gibt mir richtig viel Selbstvertrauen.“

„Davon hast du doch genug.“

„Ist das eine Berufskrankheit?“

„Was?“

„Das genaue Beobachten.“

„Hm. Meine Schüler habe ich schon immer gut im Blick und  …“

„Das meine ich nicht. Ich meine, es ist eine Berufskrankheit von Fotografen, dieses Aufspüren von Details, oder?“

„Ich bin Kunstlehrerin, keine Fotografin.“

„Bei Lilly und Alex hängen Bilder von dir in der Wohnung.“

„Nun ja.“

„Und Lilly meinte, du würdest fabelhafte Bilder schießen.“

Vivian nahm sich vor, mit ihrer Freundin bald ein ernstes Wort zu reden. Lilly erzählte zurzeit zu vielen von ihrer, Vivians angeblich herausragender Begabung.

„Du wolltest ursprünglich Fotografin werden, meinte Lilly.“

„Das ist ewig her, ich …“

„Ich sage das nur, weil ich ursprünglich Schriftsteller werden wollte und dann … Tja, jetzt bin ich Deutschlehrer.“

„Bist du damit nicht zufrieden?“

„Doch. Nicht immer, aber meistens. Aber der Plan, der Traum war ursprünglich ein anderer. Aber so …“

„So ist das ja oft“, unterbrach ihn Vivian. „Beruflich wie privat.“

„Das stimmt, aber …“

„Wie lange genau bist du schon getrennt?“, fragte Vivian schnell und hoffte, die Themen dauerhaft auf anders Terrain ziehen zu können. Sie wollte nicht über geplatzte berufliche Träume und vertane Möglichkeiten sprechen. Dann lieber über gescheiterte Beziehungen.

Sie waren in einer Ausstellung über die Bildagentur Ostkreuz gewesen, die sich nach einem Berliner Bahnhof benannt hatte, dessen Form an eine Windrose erinnerte.

„Die meisten Fotografen waren in der DDR große Stars gewesen“, hatte Vivian erklärt. „Als sie die Agentur 1991 gründeten, wollten sie für ihre Arbeit in alle Himmelsrichtungen aufbrechen. Und ein Kreuz ist ein Punkt, von dem …“

„Von dem man gut in alle Richtungen aufbrechen kann“, vervollständigte Jonas den Satz und blieb vor einem Bild stehen, das drei verschmitzt lächelnde, ältere Damen im Prenzlauer Berg zu DDR-Zeiten zeigte. „Gut erwischt, und über ihnen mit krakeliger Schrift der Name Mandy. Tolles Bild.“

Jetzt saß er vor Vivian, sah kurz an ihr vorbei durch das Fenster auf den St.-Anna-Platz, über den nur vereinzelt Menschen durch den Regen eilten. Mit einer Hand knetete er eine Serviette. Es wirkte nicht nervös, sondern erneut, Vivian verbiss sich ein Lächeln, ziemlich liebevoll.

Seine grünen Augen reflektierten das Grau des Tages, als sie sich wieder auf Vivian richteten.

„Seit Juli.“

„Wirklich? So kurz erst?“

„Ja, wieso?“

„Du bist so … so … entspannt. Ihr wart doch auch ewig zusammen.“

„Mir geht es allein viel besser. Meine Freundin ist monatelang zweigleisig gefahren und hat sich aus zwei Welten das Beste genommen. Für die finanzielle Sicherheit den Beamten, für den fantastischen Sex den Yogalehrer.“

„Oops.“

„Ziemliches Klischee, ja. Aber sie ist damit glücklich und das freut mich für sie.“

Vivian hob ihr Glas und hielt es ihm entgegen: „Auf uns. Auf die Betrogenen und Verlassenen.“

„Ich bin nicht verlassen worden.“

Vivian öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

„Ich habe sie verlassen“, fuhr Jonas fort. „Sie wollte einen Neustart, alles wieder gut machen, hat Stein und Bein geschworen, dass ab jetzt alles ganz anders wird, dass die Geschichte mit dem anderen nicht wichtig war. Aber nach so etwas kann es nicht mehr gut werden.“

Vivian ließ ihren Arm wieder sinken. „Immerhin warst du es, der verlassen hat.“

„Spielt das eine Rolle für dich?“

Vivian zuckte mit den Schultern. „Ach, irgendwie schon. Dann ist einem das alles nicht nur widerfahren. Dann hatte man auch einen aktiven Part. Ist nicht nur ein Statist, während der andere Regie führt. Entscheidet, wann er lügt, wie oft und wo er betrügt, dann beschließt, dass es aus und die andere besser ist, und alles einfach beendet …“ Sie holte tief Luft. „Entschuldige. Kein so erfreuliches Thema.“

Jonas hatte die Serviette zu Seite geschoben, seinen Blick auf den Tisch gerichtet und schwieg einige Sekunden. Dann sah er sie an. „Dir geht es noch nicht richtig gut, oder?“

„Nein.“ Die Antwort war so schnell gekommen, dass Vivian verblüfft innehielt. Sie nahm einen Schluck Kaffee und räusperte sich. „Es geht schon besser, aber …“

„Weißt du, was mir in der Zeit danach geholfen hat?“

Vivian lehnte sich zurück. „Kontaktsperre zu deiner Ex, Gegenstände, die dich an sie erinnern, in den Keller packen, Wut in Sport umsetzen, Aktivitätenplan für die Wochenenden, Feiertage und Ferien erstellen, aber nicht in ungebremsten Aktionismus verfallen, sondern sich auch Ruhezeiten verordnen, das Angebot des Expartners, Freunde zu bleiben, ausschlagen?“

„Oh, wow. Ähm … nein, ich habe wieder begonnen, regelmäßig zu schreiben.“

Vivian schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Stimmt, das wiederaufgenommene Hobby, das man während der Beziehung vernachlässigt hatte. Oder das neue Hobby. Hatte ich vergessen.“

„Du bist zynisch.“

„Nein.“ Vivian umfasste mit beiden Händen das Glas, das mittlerweile erkaltet war. „Nein, nein. Entschuldige. Also, du schreibst wieder regelmäßig. Und was?“

„Erst waren es Briefe, wütende Briefe an … an meine Ex, die ich  …“

„Die du natürlich nicht abgeschickt hast. Soll man nicht, auch eine goldene Regel.“ Sie senkte den Blick. „Sorry.“

„Dann wurden es längere Texte und inzwischen arbeite ich an einem Roman. Es ist Wahnsinn, wie viel mehr Zeit man als Single hat.“

Vivian nickte. „Das habe ich auch gemerkt, ja.“

„Und womit füllst du sie?“

„Dass ich samstags in einem Café kellnere, hat dir Lilly vermutlich auch erzählt.“

„Hat sie.“

„Sprecht ihr auch noch über anderes als mich?“

„Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Was ich sonst noch so mache? Naja, gerade treffe ich dich.“

„Was mich sehr freut.“

„Vielleicht treffen wir uns ja bald wieder.“

„Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Gut, freut mich.“

„Und du solltest wieder fotografieren, Vivian. Oder wir machen ein Projekt zusammen: Du lässt deine Schüler fotografieren und meine steuern Texte bei oder irgendwas. Aber mach was aus deinem Talent.“

„Du hörst …“

„Ich höre mich an wie ein Motivationscoach, ich weiß. Aber deine Bilder sind toll.“

„Jonas, das ist ganz nett, aber …“

Du bist toll, Vivian.“

Ihre Augen richteten sich ruckartig auf seine, die ihren irritierten Blick auffingen und gelassen erwiderten. In der plötzlichen Sorge, seine Finger könnten zu ihren wandern, zog Vivian beide Hände unter die Tischplatte. Sie schaute von ihm weg und zu dem jungen Mann hinter der Theke, der gerade die Petit Fours in der Auslage geraderückte. Als er hochsah, formte sie mit dem Mund lautlos das Wort „Zahlen“.

„Vivian, ich wollte nicht …“

„Es ist schon gut. Aber für mich ist das alles noch zu früh.“

„Vivian, ich habe dir nur gesagt, dass du toll bist. Weil es so ist. Ich wollte es einfach sagen, nichts weiter. Ich habe dir keinen Heiratsantrag gemacht.“

Sie spürte, wie ihre Lippen sich erst fest aufeinander pressten und dann leicht zu zittern begannen. Und nicht damit aufhörten. Das warme Grün von Jonas’ Augen, sein blau-weiß gestreifter Pullover, die Menschen an den anderen Tischen, alles verschwamm zu einem farbigen Brei.

„Vivian“, hörte sie ihn leise fragen, „Vivian, warum weinst du?“

Sie schloss die Tür ab und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, lauschte in das Dunkel ihrer Wohnung. Wie konnte es sein, dass es hier kälter war als im Freien, kälter als im Regen, der so unerbittlich geworden war, dass sie auf dem Rückweg an einer überdachten Haltestelle Unterschlupf gesucht hatten. Sechs Busse hatten gehalten und waren wieder losgefahren, als Vivian und Jonas schließlich weiterzogen. Sie hatten nicht mehr viel gesprochen, weder im Café noch im Bushäuschen noch vor ihrer Haustür, wo sie ihn mit einer flüchtigen Umarmung verabschiedet hatte. Trotzdem hatte ihr seine Anwesenheit gut getan, die beiläufige Art, wie er ihr in den Mantel half, sie sanft am Rücken berührte, als sie vor ihm das Café verließ, die wenigen Blicke, die er ihr zuwarf, und wenigen Worte, die er sagte.

Mit einem Ruck stieß sich Vivian schließlich von der Tür ab, warf einen raschen Blick auf ihr sehr junges Selbst, das ihr mit unverminderter Fröhlichkeit entgegenschaute, und steuerte das ehemalige Arbeitszimmer an.

Kapitel 5

Es war, als habe sich der November zu einer Typberatung durchgerungen und beschlossen, noch einmal das Beste aus sich herauszuholen. Es war kühl, aber regnete nicht, der Wind hatte sich gelegt. Mit all ihrer spätherbstlichen Kraft beleuchtete die Sonne den kümmerlichen Rest bunter Blätter an den Bäumen, färbte das graue, reißende Wasser der Isar einen Ton wärmer und verpasste den schlammigen Grünflächen ein wenig Glanz.

Vivian war vor allem froh, dass es nicht mehr schüttete wie aus Kübeln. Ein wolkenverhangener Himmel wäre nicht schlimm gewesen, hätte sogar zu den Motiven gepasst, aber Dauerregen war ein echtes Problem.

„Tropfen auf der Linse, Kamera muss dauernd geschützt werden, macht keinen Spaß.“ Sie schraubte das Standardobjektiv ab und überlegte kurz. „Bitte das Weitwinkel.“

„Ähm …“

„Das zweite von rechts.“ Sie verkniff sich ein Lächeln. „Soll ich die Objektive nicht doch selber …?“

„Nein, alles gut. Besser als gut. Meine Potenz steigt minütlich.“ Er straffte die Schultern. „Ein Gürtel mit fünf Objektivtaschen – es kommt mir vor, als hätte ich vorne fünf … fünf … Prachtstücke an mir baumeln.“

„Sechs.“

„Sechs?“

„Vergiss das Original nicht.“

„Stimmt. Wie konnte ich.“ Er ächzte leise. „Hilfe, wir reden wie unsere Schüler. Pubertistisch. Hormonell aufgeladen. Wann sind wir so geworden, Vivian?“

„Meine Schüler haben die Pubertät schon lange hinter sich. Mit sechzehn. Sie sind abgeklärt, richtig abgeklärt. Auf beängstigende Weise. Heute hat mich ein Schüler gefragt, ob wir nicht einmal einen Vortrag über Kunst besuchen können. Um das im Unterricht Besprochene zu vertiefen.“

„Naja, das ist …“

„Allein! Also zu zweit. Nur er und ich.“

Jonas seufzte. „Okay. Das ist in mehrerer Hinsicht verstörend. Jetzt bekomme ich auch noch Konkurrenz von ganz jungen Typen.“

„Das zweite Objektiv von rechts, jetzt aber sofort, Herr Berger! Wir müssen auch mal arbeiten.“

„Jawoll, bitte sehr.“ Ihre Finger berührten sich leicht bei der Übergabe. „Was kommt als Nächstes? Wertstoffhof? Heruntergekommener Hinterhof?“

„Gefallen dir meine Motive nicht?“

„Doch. Ich habe einen Riesenspaß.“ Er bewegte die Hüften nach rechts und links, sodass die Objektivtaschen sanft hin und her schwangen.

„Wir gehen auch gleich Kaffee trinken.“

Jonas hielt inne und kam auf sie zu. Vivian wich nicht zurück, als sie seine Hand auf ihrem Rücken spürte, aber sie richtete sich kerzengerade aus, um zumindest einen Millimeter zwischen sich und seine Fingerspitzen zu bringen.

„Vivian, ich habe Riesenspaß“, flüsterte er in ihr Ohr.

Als Vivian ihren Kopf drehte, legten sich seine Lippen auf ihre und blieben dort, bis das Handy in ihrer Manteltasche läutete.

„Da möchte ich rangehen“, sagte sie leise und trat einen Schritt zur Seite. „Mein Vater. Ja? Papa?“

„Was machst du, Vivian?“

„Ich bin unterwegs.“

„Warum und mit wen?“

Sie lachte. Er wusste, dass er mit seiner Unverblümtheit entwaffnend war, und nutzte es gnadenlos aus.

„Ich bin fotografieren. Mit Jonas.“

„Wer ist Jonas?“

„Mein Kollege.“

„Nett?“

„Papa.“

„Oh. Gleich so nett.“

Vivian dreht sich etwas weg von Jonas. „Schieß los, Papa.“

„Wir haben die Rahmen gefunden, Vivian. Im Keller. Sie sind verstaubt, aber prima in Schuss.“

„Sehr gut, ich dachte, sie wären bei mir im Arbeitszimmer, aber ich habe sie anscheinend mal zu euch gebracht.“

„Willst du sie holen oder sollen wir mal bei dir …?“

„Ich hole sie demnächst bei euch ab. Vielen Dank, Papa.“

„Deine Mutter wollte noch wissen, wofür du sie brauchst.“

Vivian rollte mit den Augen und wandte Jonas den Rücken zu. „Für ein Projekt. Sag ihr, sie muss sich keine Sorgen machen, ich bin nach wie vor auf dem direkten Weg ins Beamtentum.“

„Vivi-Schatz, sie wollte doch nur …“

„Ich melde mich, bevor ich sie abhole.“ Sie legte auf und verstaute das Telefon tief unten in ihrer Tasche.

„Was war das denn?“

Sie wandte sich langsam um. „Was meinst du?“

„Auf dem direkten Weg ins Beamtentum?“ Jonas lachte. „Hat deine Mutter Angst, dass du irgendwie auf der Strecke bleibst?“

Auf der Strecke bleiben. Da war es wieder. Vivian seufzte. „Hatte sie früher, als ich noch glaubte, ich wäre die Größte und die Welt hätte auf meine Kunst gewartet. Hat sie an eine unschöne Zeit in ihrem Leben erinnert.“

„Okay. Möchtest du …?“

„Gehen wir weiter?“

„Klar. Was kommt als Nächstes?“

„Ich dachte tatsächlich an den Wertstoffhof. Einverstanden?“

„Einverstanden. Meine sechs Prachtstücke und ich folgen dir willenlos, aber aufgeräumt.“

Kapitel 6

Der Wind war zurückgekehrt. Er schob unablässig Wolkenfetzen vor sich her, hinter denen sich ein fahlgrauer Himmel verbarg. Im Laufe des Tages sollte er orkanartig werden, was bereits für letzte Woche vorausgesagt worden, aber nicht eingetreten war.

Als sie den Königsplatz erreicht hatten, begann es zu regnen, doch der Laune ihrer Schüler tat das keinen Abbruch. Sie waren für jede Unterbrechung des regulären Unterrichts dankbar, und wenn es nur die zehn Minuten Fußweg vom Charlotten-Gymnasium zur Glyptothek waren.

Vivian zählte sie regelmäßig durch, um sicherzugehen, dass sich keiner davonmachte, denn das war ihr während des Ausflugs in das Haus der Kunst vor wenigen Wochen passiert. Ansonsten griff sie nicht ein, mahnte die auf ihre Handys starrenden oder in lautstarke Gespräche vertieften Teenager nicht zur Vorsicht oder Ruhe und hinderte Lotte und Max nicht am Austausch von Zärtlichkeiten. Sollten sie sich jetzt doch alle an der frischen Luft austoben. Sobald die Führung begann, würden sie von einer Sekunde auf die nächste ins Wachkoma fallen und erst wieder daraus erwachen, wenn die Aussicht bestand, im Museumscafé einzukehren.

„Ich bin schon sehr gespannt“, sagte jemand neben ihr.

Okay, dachte Vivian, es muss sie ja geben. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt. „Das ist schön, Simon. Hast du dir den Text zur Ausstellung auf der Homepage angesehen?“

„Nur oberflächlich.“ Es folgte eine detaillierte Beschreibung der Exponate, die sie gleich sehen würden.

Vivian hörte die Ausführungen nur mit halbem Ohr. Ihre Gedanken wanderten zurück zum Sonntag. Zu dem Moment, als sie in ihre Wohnung zurückgekehrt waren. Als Jonas Jacke und Schuhe ausgezogen, den Gürtel mit den Objektiven gelöst und behutsam auf der Kommode abgelegt hatte und dann in das Wohnzimmer verschwunden und dort ächzend auf die Couch gesackt war. Als wäre es das Selbstverständlichste, dass er es sich dort gemütlich machte. Erst als der Espressokocher gurgelte, kam er in die Küche, nahm zwei Tassen aus dem Regal, stellte sie auf den Tisch, wartete, bis Vivian die Kanne ebenfalls platziert hatte, und fasste sie dann mit beiden Händen um die Taille.

„Die Porträtkunst hat ja bei Griechen und Römern ihre erste große Blüte erreicht“, referierte Simon, „und fand zugleich bereits eine vollendete Form.“

Vivian dachte an Jonas’ Lippen auf ihren und seine Fingerspitzen, die an ihrer Wirbelsäule entlangfuhren, an das vertraute, aber lange nicht mehr in dieser Form empfundene Pochen in ihrem Unterleib, das sich dabei einstellte.

„Hab ich was Falsches gesagt?“

„Wie bitte?“

„Weil Sie schmunzeln.“

„Nein, du hast nichts Falsches gesagt“, sagte Vivian schnell. „Ich freue mich, dass du dich so engagierst.“

Simons von Wind und Wetter und Reden gerötete Wangen wurden noch dunkler, und Vivian war froh, dass sie die breite Treppe zur Glyptothek erreicht hatten.

„Ionisch“, sagte Simon leise und berührte im Vorbeigehen eine der zwölf Säulen, die das Dach der Vorhalle trugen.

Vivian zählte ihre Schüler rasch durch, befahl ihnen, alle Handys nun unverzüglich auszuschalten und zu verstauen, und dirigierte die Digital Natives dann hinein zu den antiken Skulpturen, Vasen und Dachfriesen.

Jonas stand vor dem Schulgebäude, als sie zurückkam. Seine Haare waren zerzaust, an seiner blauen Outdoorjacke zerrte der Wind.

„Es kommt doch noch Sturm heute“, sagte er und zeigte zum Himmel, über den mittlerweile tief graue Wolken fegten. „Wo sind deine Schüler?“

„Alle auf dem Weg nach Hause.“ Vivian zog den Gurt ihrer Umhängetasche von ihrer Schulter. „Oder zu McDonald’s.“ Die Tasche knallte auf den Boden. „Oder zu Starbucks.“

„Wo wart ihr genau?

„Ausstellung. Charakterköpfe – Griechen und Römer im Porträt.“

„Nicht schlecht.“

„Homer, Sokrates, Alexander der Große, Augustus, Cicero und Marc Aurel.“

„Bei mir wieder nur Rilke.“

Sie schwiegen beide, bis Jonas ansetzte, etwas zu sagen, sich aber dagegen entschied.

„Ich muss noch mal ins Lehrerzimmer“, sagte Vivian schließlich. „Wir sehen uns morgen?“

„Morgen und gerne auch wieder am Wochenende. Und in den Weihnachtsferien. Und …“

Mit Schwung manövrierte Vivian ihre Umhängetasche zurück auf ihre Schulter. „Erst einmal morgen“, sagte sie lächelnd.

„Ist alles in Ordnung, Vivian? Habe ich …“

„Alles gut. Michi vom Café Glück findet allerdings meine Bilder richtig mies und ich ärgere mich ein wenig darüber.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Dass München eine so schöne Stadt sei. Und warum ich denn nicht diese schönen Seiten zeige anstatt der ganzen … vergammelten Orte.“

„Das hat er gesagt?“

„Nicht direkt. Aber so gemeint hat er es.“

„Er hat dein Prinzip eben nicht verstanden.“

„Das Prinzip von Orten und Nicht-Orten und Transiträumen? Vielleicht ist das auch ein viel zu verkopftes Prinzip für eine Mini-Ausstellung in einem Café, wo sonst gerne naive Blumenmalerei die Wände ziert. Vielleicht hätte ich Herbst- und Parkszenen einfangen und dann im Sepia-Look einfärben sollen, das wäre dann schöner geworden. Beziehungsweise: Ich hätte das Ganze einfach sein lassen sollen. Ich habe wirklich genug anderes zu tun.“ Vivian zerrte genervt am Gurt ihrer Tasche, bis Jonas sie vorsichtig von ihrer Schulter zog.

„Komm“, sagte er, „ich bring dich noch rein.“

„Nein.“ Vivian nahm ihm die Tasche wieder ab. „Mach Feierabend. Mach was Schönes. Ich rufe dich später an, okay?“

„Okay.“ Jonas zögerte kurz, dann nahm er ihren Kopf in beide Hände und küsste sie.

Als Vivian die Augen wieder öffnete, sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Sprichwörtlich und tatsächlich. Sprichwörtlich, weil Michis Fotourteil nicht mehr so an ihr nagte. Und tatsächlich, weil die Wolken, die der Wind über den Himmel trieb, jetzt kohlrabenschwarz waren. Es wirkte, als habe jemand über München das Licht gedimmt.

„Fahr heim“, flüsterte sie in Jonas’ Ohr und legte ihr Kinn auf seine Schulter, hob es im selben Moment jedoch wie elektrisiert wieder an. Zwanzig Meter entfernt von ihnen, bei den Fahrradständern, stand Simon, dessen Kopf im schwachen Licht des düsteren Nachmittags wie ein roter Ballon leuchtete. Stocksteif stand er da und starrte sie an, die Kordeln seines Anoraks vollführten einen Schlangentanz im stärker gewordenen Wind. Nach einigen Sekunden wandte er sich abrupt ab.

„Mist“, murmelte Vivian.

Jonas schob sie ein wenig von sich weg. „Was ist?“

„Nichts.“ Sie sah Simon nach, der mit abgehackten Schritten über den Schulhof in Richtung Straße stapfte. „Gar nichts.“

Lilly hatte eine Wange auf die Unterarme gebettet und schlief. Ihr hellrotes Haar stand wirr vom Kopf ab, der – Vivian trat näher, um die Schrift auf dem ersten Blatt lesen zu können – auf einem Stapel Französisch-Arbeiten lag. Vivian lächelte.

Lilly Mattuschek, einunddreißig, Französisch-Englisch, Croissant- und Hundeliebhaberin, seit vier Jahren an der Schule. Ihre gute alte Freundin.

Jemand räusperte sich leise. Ottomane thronte am anderen Ende des langen Tisches im Lehrerzimmer und hob kurz die Hand, als er Vivians Blick auffing. Ihm gegenüber saß Frau Siebert, Latein-Deutsch, die nur kurz nickte, weil sie gerade an einem Bissen ihrer belegten Semmel kaute. Dann schluckte sie jedoch hör- und sichtbar und wies mit dem Kinn in Richtung Lilly, bevor sie murmelte: „Die Hormone.“

Ottomane nickte bedächtig.

„Nein“, sagte Vivian. „Zu viel Arbeit.“ Sie setzte sich neben Lilly und strich ihr mit dem Handrücken über den Oberarm. „Lilly? Wach auf.“

„Hmm?“

„Wach mal auf“, flüsterte Vivian noch leiser. „Ottomane denkt, du hast Menstruationsbeschwerden und schlummerst während der Dienstzeit.“

Ein Lid hob sich langsam. „Wiebidde?“

„Komm, lass uns gehen. Dein Sofa daheim ist viel bequemer.“

Lilly stöhnte und richtete sich langsam auf. Ihre rechte Geschichtshälfte war gerötet und ein wenig zerknautscht.

„Wahnsinn, bin einfach eingeschlafen.“

„Hast du wirklich deine Tage?“, raunte Vivian.

Lilly schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Vivian.

„Bisschen flau.“ Ruckartig stand Lilly auf, schob die Schularbeiten in eine Klarsichtfolie und dann in ihre Tasche. „Komm, lass uns gehen.“

Ohne Ottomane und Frau Siebert weiter zu beachten, zog sie Vivian aus dem Klassenzimmer auf den Flur, wo sie nach ein paar Schritten abrupt haltmachte.

„Wo ist Jonas?“

„Zu Hause? Auf dem Weg dorthin? Wieso?“

„Er wollte warten, bis du von deiner Exkursion zurückkommst.“

„Hat er auch. Er war da. Wieso …?“

„Es … es …“ Lilly schob sich fahrig eine Strähne aus der Stirn und riss kurz die Augen auf, als wollte sie sie scharfstellen. „Puh, mir ist nicht gut.“

„Willst du dich setzen? Sollen wir zurück? Du siehst ziemlich blass aus.“

„Nein, lass uns einfach weitergehen, damit mein Kreislauf wieder in Schwung kommt.“ Sie hakte sich bei Vivian unter. „Jonas war also da?“

„Ja.“

„Ihr versteht euch ganz gut, oder?“

„Klar. Ganz gut.“

„Das ist schön.“

„Wir … wir lassen es langsam angehen, Lilly. Es nicht so, dass ich die Sache mit Ben …“

„Hat er sich eigentlich mal bei dir gemeldet in jüngster Zeit?“

„Wer? Jonas?“

„Ben.“

„Wieso?“

„Nur so.“

„Ja, hat er. Er heiratet Eva. Ich wollte es dir sagen, aber dann kam immer was dazwischen, es ist ja auch keine Sache, die uns oder unser Leben betrifft, also nicht besonders wichtig, deswegen …“

Lilly blieb stehen und atmete schwer. „Und was sonst noch?“

„Wie, was sonst noch?“

„Hat er sonst noch etwas gesagt?“

„Zusätzlich zur Hochzeit? Hm. Ich finde, das reicht, Lilly. Er heiratet Eva. Nach einem Jahr. Mich hat er nach neun Jahren nicht …“ Vivian hielt inne und kräuselte die Stirn. „Moment. Ist dir zu schlecht, um auf diese Nachricht angemessen zu reagieren?“

„Vivian, ich …“

„Oder findest du es nachvollziehbar, dass er sie so schnell heiratet, während er mich …“ Vivian entzog ihrer Freundin den Arm und wich ein wenig zur Seite.

„Vivian, ich wusste davon.“ Lillys Blick wanderte zu dem grauen Linoleumboden, bevor er sich wieder auf Vivian richtete. „Ich weiß es seit ein paar Wochen.“

„Du wusstest, dass er heiratet?“

„Ja, aber ich wollte, dass er es dir selbst sagt.“

„Aber … Woher wusstest du …?“ Vivian brach ab, als sich die Tür zum Lehrerzimmer öffnete und Ottomane heraustrat. Er trug einen knielangen wattierten Parka über seinem Trainingsanzug und eine Fellmütze mit Ohrenklappen. Seine Augen begannen erstaunlicherweise nicht zu zwinkern, als er seine beiden Kolleginnen im Flur bemerkte, die sich im Abstand von zwei Metern gegenüberstanden und anstarrten.

„Geht es Ihnen besser, Frau Mattuschek?“, fragte er nur, und als sie nicht reagierte, fügte er hinzu: „Vielleicht sollten Sie es mit emotionalen Begegnungen momentan nicht übertreiben.“ Er formte seine Brauen zu Dachgiebeln und sah kurz zu Vivian, die mit den Augen rollte.

„Herr Hörmann, es ist grad nicht die Zeit für irgendwelche sexistischen Bemerkungen über Frauen und ihren Zyklus. Sie sehen doch, dass wir hier eine private Unterhaltung führen und …“

„Vivian!“ Lilly hatte sie am Arm gefasst und schüttelte heftig den Kopf. „Lass es gut sein.“

„Meine Damen, ich verabschiede mich an dieser Stelle.“ Ottomane tippte mit dem Zeigerfinger an seine Stirn und stiefelte davon. „Seien Sie nett zueinander.“

Sie schwiegen, bis das Geräusch seiner hallenden Schritte verklungen war.

„Sorry, aber er regt mich wirklich oft extrem auf“, sagte Vivian dann. „Diese Anzüglichkeiten, diese doofen …“

„Aber er hat recht. Ich muss gut auf mich aufpassen.“

„Das müssen wir alle, Lilly.“

„Aber ich muss für zwei aufpassen.“

Vivian wich noch einen Schritt zurück. „Was heißt das?“, fragte sie, obwohl ihr sofort schmerzhaft bewusst geworden war, was Lillys Aussage bedeutete,

„Ich kriege ein Kind, Vivian, und ich … Oh, bitte, jetzt bleib stehen, Vivian, ich wollte es dir längst sagen, aber … jetzt bleib stehen … aber ich wollte die ersten drei Monate abwarten und sicher sein und außerdem …“

„Und was?“ Sie hatten die schwere Eingangstür erreicht, wo sich Vivian noch einmal umwandte. „Ich weiß es schon. Du dachtest, ich ertrage es nicht. Dass du schwanger bist und ich Single bin. Dass du Mutter wirst, während ich meinem Ex hinterhertrauere.“

„Es ging dir immer noch nicht wirklich gut. Ich war verunsichert und wusste nicht, was ich machen soll. Und dann habe ich noch erfahren ... Ich … ich habe beim Frauenarzt Eva … ich … Ich habe Ben und Eva dort getroffen.“

Vivians Hand glitt von der Messingklinke, die sicher einmal glänzend und neu gewesen, jetzt aber matt und abgegriffen war von den vielen Tausend Schülerfingern, die sich im Laufe von Jahrzehnten um sie geschlossen hatten.

Eva und Ben heirateten nicht nur, sie bekamen ein Kind. Sie waren nach Neuseeland gereist, sie waren zusammengezogen, sie hatten geheiratet und gründeten nun eine Familie.

Eva hat mir die Hauptrolle in meinem eigenen Leben weggeschnappt, dachte Vivian, und ich kann nur noch dabei zusehen, wie sie von einer rührseligen Szene zur nächsten springen. Nach einem Drehbuch, das doch eigentlich für mich geschrieben war.

Sie sah auf.

„Bitte, Vivian.“

Lilly stand vor ihr, mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Vivians Augen wanderten weiter nach unten. Unter dem dicken roten Strickpulli war kein größerer Busen oder Bauch zu erkennen. Noch nicht.

„Du hast es Ottomane erzählt“, sagte sie leise. „Du hast es Ottomane und Frau Siebert vor mir erzählt.“

Lilly seufzte. „Ich habe mich vorhin zweimal fast im Lehrerzimmer übergeben und bin in letzter Minute zur Toilette gekommen. Ich musste es ihnen sagen, damit sie nicht denken, ich bin unheilbar krank.“ Sie lächelte schwach. „Oder habe starke Menstruationsbeschwerden.“ Als Vivian nicht reagierte, ging sie einen Schritt auf sie zu. „Ich wollte es dir wirklich, wirklich sagen. Aber dann habe ich Ben und Eva getroffen und musste daran denken, wie wir einmal, also wir vier, wir alten Pärchen, du, Jonas, Florian und ich uns darüber unterhalten haben, dass es schön wäre, zur gleichen Zeit Kinder zu bekommen, dann musste ich daran denken, wie weh es dir getan hat, als du von deiner Mutter erfahren hast, dass Ben und Eva so kurz nach eurer Trennung nach Neuseeland gereist sind, und ich habe Ben gebeten, er möge es dir bitte unbedingt rasch selbst erzählen, dass er Vater wird. Und er hat Stein und Bein geschworen, es bald zu tun. Ich habe natürlich bei ihm nicht mehr nachgefragt, wir haben ja sonst nichts mehr miteinander zu tun, aber war mir sicher, dass er sich bei dir meldet, und habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass mein Handy Sturm klingelt oder du angestürmt kommst oder einfach nur ganz ruhig davon erzählst, was ja das Beste gewesen wäre, aber du bist nicht gekommen.“

Vivian schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Ben wollte es mir erzählen, als er neulich anrief. Aber ich habe ihn nicht ausreden lassen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739410920
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
Liebesroman Cornwall Glück Fotografie Neubeginn England London Reise Liebe Traum

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Tausche Alltag gegen Insel