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Land der Astronauten

von Thorsten Hoß (Autor:in)
452 Seiten
Reihe: Die Crew der Sirius 7, Band 5

Zusammenfassung

Das Kurtai ist entschieden. Aber der Frieden bleibt brüchig. Die Crew der Sirius7 gibt ihr Bestes, doch als Kommandant Koschkin einem Hilferuf folgt und das Kloster Laylay ihre Kriegsschwester aussendet, überschlagen sich die Ereignisse ... Angestachelt durch die Bitte eines Drachens verfolgt die Dryade Hiriko derweil ihre eigenen Pläne. Auch die Suche nach Ashley Bender geht fieberhaft weiter. Diese führt den Clan der Astronauten tief in ein Gebiet, wo die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt. Doch so wild die Gegend auch scheinen mag, herrenlos ist sie nicht. Interessierte Blicke richten sich auf die Astronauten, während ihre früheren Taten sie einzuholen drohen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Land der Astronauten

(Die Crew der Sirius7, Band 5)

Zweite deutsche Ausgabe

©2018 Thorsten Hoß

Sirius7@rollenspielseminar.de

www.Lunariaromane.de

Covergestaltung: Polina Hoß

Lektorat: André Reichel, Polina Hoß

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Postadresse des Rollenspielseminars

Wilhelmstr. 26 41363 Jüchen

Widmung

Für meine Nichten.

Prolog

Inmitten eines dichten Waldes, der sich entlang der nördlichen Grenzen der Amazonengebiete erstreckte, stand ein einsamer Turm mitten in der Wildnis. Das hohe Gebäude, dessen Spitze sogar die Kronen der ihn umgebenden Bäume überragte, hatte schon bessere Zeiten erlebt und erst vor kurzem schweren Schaden genommen. Im unteren Teil, gut fünf Meter über dem Boden, klaffte ein großes Loch in dem dicken Mauerwerk, von dessen Rändern immer wieder einzelne Steinklumpen abbrachen und polternd in die Tiefe stürzten. Wer am Fuß des Bauwerks stand und dort, die herumliegenden Leichen ignorierend, zu dem Loch emporschaute, konnte eine etwas angeekelte Stimme vernehmen. Schwach, aber verständlich.

„Wer auch immer das hier getan hat, er hat nicht alles aufgegessen. Seht doch!“ Angewidert deutete der große sprechende Höhlenbär mit seiner Schnauze in eine Richtung des Zimmers, in dem das Loch klaffte. „Das Bein da war früher mal mit dem Geierkopf verbunden.“

„Dasch ischt wohl scho.“ Die Stimme des Wolfsmenschen klang nachdenklich. „Diesche Federn schind ein schicheresch Scheichen dafür.“

Noch ein Schnauzenschwenk des Bären, dieses Mal in eine anderen Richtung. „Und dann das da. Ich denke, das hat mal dem Meister gehört. Seht ihr seinen Ring?“

Die Blicke seiner Begleiter folgten den Gesten des Tiers. und betrachteten nun einen enorm großen Kothaufen inmitten einer ausgedehnten Blutlache.

„Mist“, äußerte sich der dritte in ihrer Runde. Dabei handelte es sich um einen gewaltigen Minotaurus, gegen den selbst der Höhlenbär schmächtig wirkte.

„Schicher, Krogar, ich schehe esch auch. Schogar ein schiemlich groscher Haufen Scheischsche ist dasch da.“ Der Wolfsmensch fletschte die Zähne und knurrte leise. „Wasch für eine Schauerei. Hier ischt richtig schlimm wasch schiefgegangen.“

Bo der Bär nickte zustimmend und schaute den Wolfsmenschen an.

„Was machen wir den jetzt, Dragar?“

„Dasch weisch ich auch noch nicht. Aber der Meischter ischt mit Schicherheit tot. Daran beschteht kein Schweifel. Ich rieche schein Blut, dasch ischt hier überall. Und den Ring da hat er schicher nicht einfach scho verloren.“

„Wurde gefressen.“

„Du schagst esch, Krogar. Dasch denke ich auch.“

„Wo sind eigentlich die ganzen Läusekäfer? Man sollte doch meinen, dass der Scheißhaufen hier ein gefundenes Fressen für sie ist.“

„Wasch weisch denn ich? Dasch Krabbelvieh intereschschiert mich nicht schonderlich. Aber da fällt mir wasch anderesch ein. Wasch meint ihr, ischt Asch wohl auch Teil von dem Scheischhaufen da?“

„So wie ich die feige Natter kenne, war der schon weg, bevor das da passiert ist.“ Der Bär rümpfte wieder die Nase. „Hier stinkt es widerlich, lasst uns woanders hingehen.“

„Schtimmt. Diescher Geschtank ischt schrecklich. Lascht unsch Asch schuchen“, schlug der Wolfsmensch vor. „Der scholl uns schagen, wasch hier losch war und wer den rieschen Scheischhaufen dagelaschschen hat.“

„Gut, aber was machen wir mit den Jungen?“

„Wasch scholl diesche Frage, Bo? Wasch scholl mit ihnen schein?“

„Sind eingesperrt.“

„Richtig, Krogar. Und ich bin schehr froh, dasch dasch scho ischt.“

„Ja, gut. Und was machen wir jetzt mit denen? Ich meine, der Meister brauch sie ja nicht mehr.“

„Laschschen wir schie, wo schie schind. Wir haben schie für den Meischter gefangen und unschere Aufgabe abgeschloschschen. Wasch schollen wir jescht noch mit ihnen?“

„Wir könnten sie doch laufen lassen?“

„Woschu? Schie haben esch unsch nicht leicht gemacht schie hierher schu bringen. Weggeschloschschen schind schie mir lieber.“

„Aber es sind doch Junge!“

„Nicht nett!“

„Schtimmt, Krogar. Diesche Bälger schind eigenschinnig, schturr und trotschig. Auscherdem habe ich keine Luscht weiter auf schie aufschupaschschen. Schollen schie schelber schehen, wasch schie nun machen. Schie bedeuten nur Ärger für unsch und gehen unsch überdiesch nichtsch mehr an.“

„Aber …“

„Schlusch jetscht!“

Der Bär verstummte, der Ochsenmann schwieg weiter. Trotzdem rührten die beiden deutlich größeren Begleiter Dragars sich nicht von der Stelle.

„Na losch, ich will endlich wischschen wasch hier vorgefallen ischt. Dann schehen wir weiter!“

Nun reagierten seine Gefährten doch. Gemeinsam verließen sie den Raum, um nach dem verschollenen Schlangenmenschen zu suchen, der sich Asss nannte.

Währenddessen brach ein weiteres Mauerstück ab und fiel in die Tiefe. Kleine Risse zeigten einem versierten Beobachter, dass es um die Stabilität des Gemäuers nicht zum Besten stand. Nur leider war hier nirgends jemand, der diese Bezeichnung in Anspruch nehmen konnte.

1. Boris

Kommandant Boris Iwanowitsch Koschkin löste sein Ohr von der Tür, an der er bis gerade gelauscht hatte, und flüsterte:

„Die Späher hatten recht. Hinter dieser Tür befinden sich tatsächlich Leute. Vermutlich ist das hier wirklich der Zugang zur Festung der Küstenjäger, von denen die Amazone gesprochen hat.“

„Ja, das sehe ich auch so“, erwiderte die zierliche Goblinschamanin wispernd neben ihm, dabei immer noch am Holz horchend. „Und was schlägst du jetzt vor?“

Koschkin dachte nach. Er hatte sich bisher nicht wirklich damit auseinander gesetzt, wie die Amazonen reagieren würden, deren verletzte Botin sie in einem alten Tunnel in der Nähe der unterirdischen Goblinstadt gefunden hatten. Eben dieser Tunnel hatte sie schließlich auch hierher geführt.

„Weiß ich auch nicht genau“, sagte er dann „Die Küstenjäger rechnen nicht mit uns, sondern mit Amazonen vom Clan der Klippenläufer. Schwer zu sagen, wie sie darauf reagieren, wenn sie mitbekommen, dass wir vor diesem geheimen Eingang zu ihrer Festung stehen.“

„Sie brauchen Hilfe, das steht fest. Ihre Schwester hat es selbst gesagt.“

„Holen wir sie doch. Soll sie sich mit ihren Clankameradinnen auseinandersetzen und ihnen erklären, warum sie uns hierher geführt hat.

„Als ob das nötig gewesen wäre.“ Fangs Blick war leicht anklagend bei ihren geflüsterten Worten. „Seit du wusstest, dass die Späher in dem Tunnel diese Tür gefunden hatten, warst du doch kaum noch zu halten.“

„Ja-ja, wie auch immer“, grummelte der Russe. „Holen wir die Amazone nach vorne. Wenn ihre Schwestern unsere Hilfe nicht haben wollen, dann gehen wir eben wieder.“

Fang grinste nun und löste sich ebenfalls von dem Portal. „Einverstanden. Machen wir es so.“ Anschließend flüsterte sie einem Ork einige Worte ihrer Muttersprache zu, die Boris weiterhin mehr schlecht als recht beherrschte. Kurz darauf näherte sich eine dunkelblonde Amazone mit Kopfverband und geschientem Arm den beiden ungleichen Anführen ihrer Gruppe.

Außer ihm und Faqech befanden sich noch je zwei Dutzend Orks und Goblins in ihrem Gefolge, ebenso wie knapp viermal so viele Männer, die aus Amazonendörfern stammten, und ein paar Amazonenkriegerinnen. Allesamt waren sie mit Speeren, Knüppeln oder Säbeln ausgestattet und boten im Fackelschein durchaus einen bedrohlichen Anblick für einen Außenstehenden.

Mit diesem Aufgebot hatten sie knapp ein Drittel der kampferprobten Leute bei sich, die noch zur Verteidigung ihres Hauptlagers in den Küstenhöhlen zurückgeblieben waren. Der Rest ihrer Streiter begleitete entweder Tilsegs Mission, mit den Clans zu verhandeln, oder suchte mit Ronja nach Ashley Bender.

„Na gut, dann mal los.“

Koschkin klopfte und gab dann der Amazone ein Zeichen, dass sie sprechen sollte. Die unterschwelligen Geräusche hinter der Tür erstarben schlagartig. Dafür erklang nach kurzem Zögern eine Frauenstimme dumpf durch das Holz. Die Amazone in ihrer Begleitung antwortete aufgeregt. Alsbald hörte man einen Riegel scharren, dann noch einen. Schließlich klackte noch ein Schloss, bevor die Tür endlich aufgerissen wurde.

Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, in einer Rüstung, die ihr offensichtlich viel zu groß war, stand nun in dem düsteren Durchgang. Der freudige Ausdruck auf ihren Zügen veränderte sich schlagartig, als sie die vielen Gestalten bei ihrer Clankameradin bemerkte und registrierte, dass es sich bei den Bewaffneten keinesfalls um Amazonenkriegerinnen handeln konnte.

Ein Aufschrei des Entsetzens und schon bemühte sich die Frau panisch, die eben geöffnete Tür wieder zuzuschlagen. Doch Boris hielt sie auf, während gleichzeitig die Botin weiter auf ihre Clanschwester einredete. Währenddessen war irgendwo weiter hinten anschwellender Lärm zu vernehmen, der von nichts Gutem kündete.

Auch die junge Kriegerin hatte es bemerkt und schien nun endgültig den Kopf zu verlieren. So schnell sie konnte wirbelte sie herum und rannte von der Tür fort, die sie gerade noch verteidigen wollte.

Die verletzte Amazone ihrerseits wandte sich nun wieder an Faqech und redete mit ihr. Koschkin hatte keinen Plan, was die Frau erzählte, doch schließlich nickte die Schamanin, antwortete mit einigen Brocken Westländisch und gab dann Befehle in dieser und ihrer eigenen Sprache. Gleichzeitig zog sie Boris weiter in den Raum hinter der Tür.

„Wir scheinen gerade noch rechtzeitig zu kommen“, erklärte sie ihm, während sie ihn vorwärts drängte. „Offenbar wird die Burg immer noch angegriffen. Das, was du da vorne hörst, sind wohl die Eindringlinge.“

Das reichte dem Russen als Orientierung. Eilig setzte er sich an die Spitze seiner nachdrängenden Leute und stürmte vor. Während er durch den Raum rannte, bemerkte er die vielen Menschen, die hier kauerten. Frauen und Kinder, aber zu seiner größten Verwunderung auch Männer. Viel Zeit sich darüber Gedanken zu machen hatte er indes nicht.

„Sorg dafür, dass sich die Zivilisten in den Tunnel zurückziehen“, brüllte er Fang über die Schultern zu. „Sicher ist sicher!“ Dann kam auch schon der Kampfschauplatz in Sicht.

Im Halbdunkel des Gewölbekellers drang Licht durch eine eingeschlagene Türöffnung. Haarige Gestallten verdunkelten immer wieder kurz den Lichteinfall, wenn sie rücksichtslos in die Verteidiger sprangen, die schon einige der Kreaturen niedergestreckt hatten, aber langsam immer mehr selbst in Bedrängnis gerieten. Der Strom an Angreifern quoll beständig und mit Macht in den Raum, ohne auf das eigene Leben Rücksicht zu nehmen. Lange konnten die Amazonen ihre Position nicht mehr halten.

Koschkin war einer der Ersten, die im Geschehen eintrafen. Über die Schulter einer Kämpferin hinweg stach er beherzt zu und spießte einen der drei Gegner, die gerade die Frau bedrängten, einfach auf. Der Schmerzenslaut, den die Kreatur dabei von sich gab, war markerschütternd, fast als wäre es der Schrei eines Kindes, das gerade massakriert wurde.

Doch zum Schaudern blieb keine Zeit. Kraftvoll zog Boris seinen Speer zurück, nur um ihn sofort erneut vorschnellen zu lassen. Die Amazone, überrascht von der plötzlichen Hilfe, entsetzt von dem, was vor sich ging, und regelrecht schockiert, dass es ein Mann war, der ihr beistand, taumelte zurück, als sie ein Klauenhieb erwischte.

„Nicht glotzen! Kämpfen!“ Boris schloss die Lücke, während er weiter auf alles einstach, was kreischend auf ihn zustürmte.

Die meisten der Verteidigerinnen reagierten auf ähnliche Weise wie Koschkins Amazone. Eine versuchte sogar, einen herbeieilenden Ork zu attackieren. Doch ihr Schreck währte kurz, als den Frauen aufging, dass er und die anderen auf ihrer Seite waren.

„Verrammelt den Durchgang“, brüllte Koschkin immer wieder, bis Fang seinen Befehl endlich übersetzte und einige Männer begannen, jedwedes Gerümpel, was sie in die Finger bekamen, den Angreifern entgegen zu schleudern.

Es gelang. Nach und nach schlossen sie auf diese Weise das Tor, bis der Berg aus Möbeln, Leichen und anderen Dingen ausreichte, um ihnen eine Verschnaufpause zu gönnen. Koschkin brummte etwas Unflätiges und wischte sich mit Blut vermischten Schweiß aus dem Gesicht. Für den Moment hatten sie gewonnen und den unbekannten Feind der Amazonen aufgehalten. „Kannst du rauskriegen, was hier zum Geier noch mal los ist? Von diesen Viechern hat niemand was gesagt, als es um die Hilfe ging.“

2. Hiriko

Hiriko Tanaka war aufgeregt. Wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hüpfte die dunkelhäutige Dryade ununterbrochen um die grabenden Männer herum und machte sich Sorgen. Seit Tagen arbeiteten die Leute unter Anleitung von Tilseg daran, die frisch gewachsenen Wurzeln ihres Weinstocks freizulegen. Dieses Vorhaben stellte sich jedoch als komplizierter heraus, als der grüne Hüne zunächst errechnet hatte.

„Wie kann es sein, dass die Wurzeln so tief sind?“, wunderte Hiriko sich.

„Faszinierend, nicht wahr? Meinen korrigierten Berechnungen nach, hat deine Aktivität im Inneren deines Symbiosepartners dafür gesorgt, dass deine Pflanze ebenso wie Nirilis Farn einen Wachstumsschub durchlebt hat, der in etwa dem Umfang zweier ganzen Jahre ihres natürlichen Wachstums entspricht.“

„Ist ja gut, ich weiß, ich bin schuld daran, dass wir nicht aufbrechen können.“

„Ich hatte nicht vor, jemandem die Schuld zuzuweisen, sondern wollte lediglich deine Frage beantworten.“

„Na gut. Dann gebe ich mir eben selbst die Schuld.“

„Du konntest nicht wissen, was geschehen würde.“ Der Muskelberg namens Tilseg ging in die Hocke und strich der Dryade über ihr dunkelgrünes, langes Haar. „Wir sind zwar schon eine Weile auf diesem Planeten und haben auch schon einen gewissen Erfahrungsschatz gesammelt, was hier als möglich gilt und was nicht. Aber es gibt bedeutend mehr über diese Welt zu lernen, als wir schon wissen. Mach dir keine Vorwürfe.“

„Ich wusste es ja schon“, gab Nirilis, die zweite Dryade ihrer Truppe, ganz ruhig und unbedarft zu. Sie sah Hiriko körperlich recht ähnlich, auch wenn ihr die asiatischen Gesichtszüge Tanakas fehlten.

„Wenn du das so genau gewusst hast, warum hast du mir dann nichts gesagt?“Hirikos Stimme klang zornig.

„Wieso sollte ich? Es ist doch vollkommen normal, dass Pflanzen auf uns reagieren. So etwas passiert eben, wenn wir glücklich sind.“

„Ja, das ist mir jetzt auch klar.“ Hiriko schmollte.

„Außerdem“, erklärte Nirilis weiter, „hättest du ja auch fragen können.“

„Wie soll ich nach etwas fragen, das ich gar nicht weiß?“

„Weiß nicht. Aber ich wusste ja auch nicht, was du da gemacht hast, bis du mir davon erzählt hast. Ich bin noch nie im Lebensstrom außerhalb meiner Pflanze gewesen!“

„Naja, das stimmt auch wieder.“ Nun wurde Hiriko etwas kleinlaut. Ihre Freundin hatte recht. Bis zu dem Tag, als hier die Blumen sprießten, hatte sie es auch nie zuvor getan. Den Lebensstrom fühlen, das war ein Kinderspiel für eine Dryade. Aber in ihn eintauchen taten sie als Naturgeister nur in ihren eigenen Pflanzen.

„Im Übrigen verstehe ich immer noch nicht, was an der ganzen Sache so schlimm gewesen sein soll“, setzte Nirilis ihre Rede fort, „Du hast etwas Tolles erlebt, dabei noch zwei Knospen gezeugt und die Natur gestärkt. Ich sehe kein Problem.“

„Ja, ich weiß.“ Hiriko seufzte. „Entschuldige.“

Tilseg hatte die Hypothese aufgestellt, dass ihr früheres Leben als Mensch ihr jetziges Leben als Naturgeist weitaus stärker beeinflusste als nur durch ihre Lebenserfahrung und Persönlichkeit. Solche Gespräche wie gerade erinnerten sie immer wieder an die Unterschiede. Sie war wie ihre Freundin eine Dryade und doch war sie anders.

Hiriko war sich sicher, dass jede andere Nymphe das gleiche Unverständnis für ihr schlechtes Gewissen zeigen würde wie ihre Freundin, weil sie einfach so dachten und fühlten wie Dryaden. Aber nicht sie. Na gut, sie dachte auch oft wie die anderen, aber irgendwie auch nicht. Sie war kein Mensch mehr, seit sie gestorben und wiedergeboren worden war. Aber ganz Nymphe war sie auch nicht.

Auf der einen Seite freute sie sich darüber. Denn obwohl sie als Mensch sehr schüchtern und verklemmt gewesen war, mochte sie ihr früheres Ich sehr. Außerdem schien sie sich durch ihre menschlichen Wurzeln etwas besser konzentrieren zu können als ihre Schwestergeister. Eigentlich auch gut so.

Und doch. Gelegentlich beneidete sie Nirilis dafür, so sehr im Jetzt zu leben und viele Sorgen einfach gar nicht erst zu empfinden. Ein Teil der andauernden Unbekümmertheit von Dryaden bestand schlicht in der Fähigkeit zu vergessen, das war ihr letztlich klar geworden. Das allerdings war Fluch und Segen zugleich, wie sie fand.

„Streit ist nicht nötig“, mischte sich Tilseg wieder ein. „Boris Koschkin hat mir in seinem Schreiben mitgeteilt, dass er uns innerhalb einer Frist von drei Wochen zurück erwartet. Bisher sind wir also nicht in Verzug. Sollten wir doch länger für das Umbetten eurer Pflanzen brauchen als geplant, werden wir ihm eine weitere Botschaft schicken.“ Nun wandte sich der grüne Hüne an die kleine Fee, die in den Zweigen des Weinstocks saß. „Vorausgesetzt, du wärst ein weiteres Mal bereit, diese Botschaft zu überbringen.“

Die Gesten der Fee waren durch ihre Strahlkraft nicht zu erkennen und ihre zwitschernde Sprache verstand auch der Doktor nicht. Hiriko aber schon.

„Ja, natürlich wird sie helfen“, übersetzte sie die Kernaussage. Die restlichen Spitzen in der Antwort waren an sie selbst gerichtet und zeigten der Dryade deutlich, dass die Fee immer noch böse auf sie war. Vermutlich würde sich dieser Umstand erst ändern, wenn sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, Sven Erikson aus ihrer Pflanze zu holen.

„Was ist eigentlich mit Dryas Pflanze?“

Mit dieser Frage spielte sie auf die dritte Dryade an, deren Symbiosepartner sie seit einer Weile zu retten versuchten.

„Meine Bemühungen, das Wurzelwachstum zu fördern, zeigen Wirkung. Die Zellteilungsrate ist optimal.“

„Was heißt das?“, wollte Nirilis wissen.

„Der Steckling entwickelt sich gut.“

„Aber Drya ist immer noch nicht gesehen worden, oder?“

„In der Tat, das ist sie nicht.“

Hiriko machte sich Sorgen, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, das Ästchen von dem toten Symbiosepartner der Dryade abzubrechen, das sie, der Drache Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon und Nirilis unabsichtlich zum Sprießen gebracht hatten.

„Ich verstehe das nicht. Sie war doch da. Wir haben sie gesehen und sogar mit ihr gesprochen.“

„Ja, am Baum …“

Tanaka schaute ihre Dryadenfreundin verunsichert an.

„Was meinst du?“

„Wir haben am toten Baum mit ihr gesprochen.“

„Stimmt.“ Jetzt, wo Nirilis es ansprach, erkannte es Tanaka erst bewusst. „Hier aber noch nicht!“

Seit sie den Ast hierher gebracht hatten, war die Dryade ihr nicht mehr erschienen. Angst stieg in der ehemaligen Asiatin auf. War es möglich, dass alles umsonst gewesen war? Drya war die einzige Nymphe, von der Hiriko bisher gehört hatte, die es geschafft hatte, jemanden in ihre Pflanze einzuladen und ihn später auch wieder zu entlassen. Und dieser Jemand war nicht irgendwer, sondern gleich ein Drache gewesen. Wenn ihr jemand mit Sven helfen konnte, dann war es diese Dryade.

„Warte!“ Ein weiterer Gedanke ließ Hiriko erschaudern. „Sag mal, Nirilis, was passiert eigentlich mit Dryaden, die den Radius ihrer Pflanze verlassen?“

„Das geht nicht.“

„Und wenn doch?“

„Ich verstehe nicht. Wie soll das denn gehen?“

„Zum Beispiel, wenn sich deine Pflanze von dir schneller entfernt, als du ihr folgen kannst?!“

„Oh, an so was habe ich gar nicht gedacht. Ja, dann könnte das gehen. Aber was dann passiert, weiß ich nicht. Du weißt ja selbst, dass wir es aus eigener Kraft nicht vermögen, diese Grenze zu überschreiten.“

„Auweia!“

„Was?“

„Mensch, Nirilis, ich glaube, wir haben einen schlimmen Fehler gemacht.“

„Was denn jetzt schon wieder?“

„Drya!“

„Was ist mit ihr?“

„Ich glaube, wir haben sie zurückgelassen, als wir den Ast retten wollten.“

„Oh.“

„Ja. Hast du darauf geachtet, ob sie uns gefolgt ist?“

„Ähm, nein. Ich hatte genug damit zu tun, mit dir mitzuhalten.“

„Ja. Genau. Ich war so auf meine Idee fixiert, den Ast zu retten, dass ich auch nicht darauf geachtet habe, ob Drya mit uns mithält. Ich … ich glaube …“ Hiriko schauderte bei dem Gedanken. „Ich glaube, sie ist außerhalb ihres eigenen Kraftradius’.“

Aus eigener Erfahrung wusste Tanaka, wie schlimm es war, an diese unsichtbare Grenze zu gelangen. Wie musste es sich dann erst anfühlen, jenseits davon zu sein? Wieder durchlief sie ein Schauder des Entsetzens.

„Tilseg?“

„Was kann ich für dich tun, Hiriko Tanaka?“ Der grüne Riese hatte die ganze Zeit über bei ihnen gestanden und die Arbeiten überwacht, während sie mit einander sprachen.

„Meinst du, wir können den Ast transportieren?“

„Das Wurzelgeflecht es noch sehr fein und bietet wenig Halt.“

„Was heißt das genau?“

„Ein Transport ist möglich, wenn auch nicht empfehlenswert.“

„Bitte, es ist wichtig.“

„Ich verstehe. Nun, ich könnte die Stabilität erhöhen, indem ich den Ast stütze. Aber der Transport sollte vorsichtig durchgeführt werden, um den bisher erzielten Erfolg nicht zu gefährden.“

„Mach das bitte. Ich hole schon mal Junior.“

„Ähm, was hast du vor?“, fragte Nirilis, derweil der Doktor nickte und sich an die Arbeit machte.

„Wir werden Drya suchen.“

„Ach so. Na dann ist ja gut.“

3. Ronja

Ein Lichtstrahl, wie durch ein Wunder ungehindert durch das sonst so dicke Blätterdach des alten Waldes brechend, ließ das kaum zu bändigende rote Haar der Säbelfantenreiterin kurz aufleuchten, als sie ihn durchquerte. Leise fluchend spähte sie durch das Dämmerlicht des Unterholzes, während ihr Säbelfant sich einen Weg durch das dichte Dickicht suchte.

Ihre fast zweihundert Reiter umfassende Truppe war ein bunt gemischter Haufen aus Orks, Goblins und Menschen, alle vom Clan der Astronauten wie sie selbst. Alle hatten sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet und suchten nun unter ihrem Befehl nach Ashley Bender, ihrer Königin.

Ronja hatte Erfahrung darin, sich auch im dichteren Wald voran zu arbeiten, war das Land ihres Heimatclans doch selbst zum großen Teil bewaldet. Aber ihre Leute im Dickicht dieses Gehölzes vernünftig zu befehligen, war doch schwieriger als gedacht.

Die Fremden, die sie jagten, verhielten sich sonderbar. Mal folgten sie den natürlichen Gegebenheiten so geschickt, dass es kaum noch möglich war, ihre Spur weiter zu verfolgen. Dann wiederum schlugen sie sich plötzlich querfeldein und hinterließen eine deutliche Schneise, der man problemlos folgen konnte.

Innerhalb der durch die Fremden geschlagenen Pfade kamen sie noch recht gut voran. Meistens jedenfalls. Zogen die Verfolgten allerdings über einen Wildwechsel weiter, verlor sich ihre Spur recht schnell und oft war nicht einmal klar, in welche Richtung die Entführer weitergezogen waren.

Es mussten viele Tiere in dem selbst am Tage herrschenden Dämmerlicht des Waldes leben. Jedenfalls vermutete Ronja das. Wenn sie die Häufigkeit der Wildpfade und unzähligen Spuren berücksichtigte, die sie dort entdeckten, war kein anderer Schluss möglich. Von den größeren Exemplaren der Fauna, die diese Fährten hinterließen und damit ihre Suche nach den Entführern deutlich erschwerten, hatte aber keiner von ihrer Truppe bisher etwas gesehen.

Aber es gab Vögel. Sogar viele von ihnen, die man zwar selten sah, aber hier allerorts hörte. Außerdem lebten reichlich Einhörnchen zwischen den Ästen. Die Goblins und Orks waren zunächst sehr vorsichtig, als sie die ersten dieser niedlichen Tierchen bemerkt hatten. Dies besserte sich jedoch bald wieder, als klar wurde, dass die hier lebenden Baumbewohner, anders als ihre Artgenossen jenseits der Berge, nicht ganz so aggressiv waren und sie mitsamt ihren Reittieren nicht als Beute betrachteten.

Kleinere Nagetiere, die hier auch zuhauf vorkamen, hatten da weniger Glück. Ronja war regelrecht entsetzt gewesen, als sie die eigenwillige Jagdmethode der sonst so possierlichen Tierchen das erste Mal mitverfolgte. Eins der Tiere stürzte sich plötzlich mit dem Horn voran von einem Ast, um einem vorbeihuschenden Nager mit einem fiesen, knirschenden Geräusch den kleinen Schädel zu spalten. Als das Einhörnchen anschließend auch noch über das Fleisch seines Opfers herfiel, verstand die Kriegerin viel besser, was ihre Begleiter beunruhigt hatte.

Ronja fluchte, als sie begriff, wie weit sie in Gedanken abgeschweift war. Wo war sie doch gewesen? Ja, genau, die Wildwechsel und die seltsame Spur der Gejagten.

Vermengt mit den Spuren der anderen Tiere waren die Abdrücke der Entführer kaum noch auszumachen. Das zwang sie dazu, ihre Gruppe aufzuteilen, bis jemand aus ihren Reihen die Fährte wiederfand. Das Ausschwärmen und spätere wieder Zusammenziehen ihrer Leute nahm dabei jedes Mal viel Zeit in Anspruch. Eine bessere Idee, wie sie vorgehen konnten, hatte der Rotschopf aber keine.

„Hier! Eine frische Schneise! Hierher!“

Die Stimme war weiblich und gehörte einer der wenigen anderen Amazonen ihres Trupps. Alle Frauen in ihrem Gefolge stammten aus dem Clan der vier Flüsse und waren nach der Schlacht um Zweibrücken zu den Astronauten übergelaufen. Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten hatten die Kriegerinnen sich recht gut in ihrem neuen Clan eingelebt. Ronja vermutete, dass ein wichtiger Grund ihrer Integration in der Tatsache wurzelte, dass fast alle von ihnen Beziehungen mit einem oder sogar mehreren Männern führten. Manche hatten sich sogar schon lange bevor die Astronauten in das Territorium der Clans eingedrungen waren, ihrer Liebe hingegeben. Heimlich und in aller Stille.

„Komme!“, antwortete Ronja und ließ ihren Säbelfanten in die Richtung des Rufes laufen.

Ihr Reittier war ein imposantes, schuppengepanzertes Raubtier mit Säbelzähnen und recht kurzem Rüssel, mit dem er auch trompeten konnte. Einen Säbelfanten hübsch zu nennen, war vielleicht etwas gewagt, aber Ronja teilte Ashleys Meinung und fand, dass sie Individualität, Charakter und ein gewisses Etwas besaßen.

Ihres Wissens nach waren sie und Ashley, die auch Herrin der Säbelfanten genannt wurde, die einzigen Personen auf der Welt, denen es gelungen war, sich mit diesen Raubtieren anzufreunden und sogar auf ihnen zu reiten.

Ronja hatte ihren Säbelfanten Rufus getauft. Sie wusste gar nicht so genau, wieso sie ausgerechnet diesen Namen wählte, aber dem geschmeidigen Raubtier schien sein neuer Name zu gefallen. Jedenfalls reagierte es schon auf ihn, wenn sie ihn damit rief.

Eine ganze Weile lang hatte sie mit der Namensgebung gezögert, da Ashley ihr Reittier schon deutlich länger kannte, aber bisher darauf verzichtete ihn zu benennen. Aber irgendwie fand Ronja es komisch ihrem Tier keinen Namen zu geben.

Schließlich war sie doch ihren eigenen Bedürfnissen gefolgt und hatte ihren doch benannt. Danach hielt sie nichts mehr und sie hatte auch allen anderen Tieren ihres Rudels Namen zuteilwerden lassen. Allen, außer Ashleys Säbelfanten, der neben Rufus deutlich größer war als die restlichen Rudelmitglieder.

Endlich erreichte sie die rufende Amazone und die von ihr entdeckte, geschlagene Schneise. Dem Rotschopf genügte ein Blick, um zu erkennen, dass dieser frische Weg nicht von denen geschlagen worden war, die sie suchte. Sie war breiter und die Zerstörung war noch enormer.

Ashleys Entführer beschränkten sich hingegen darauf sich einfach einen Weg zu bahnen. Dabei entwurzelten sie allerdings nicht die Pflanzen des Unterholzes und fällten auf ihrem Weg auch keine Bäume.

„Wir müssen weiter suchen“, erklärte Ronja knapp. „Was immer diese Schneise schlug, es ist nicht unser Ziel.“

Neugierig geworden, stieg sie aber trotzdem von Rufus, um sich einen umgestürzten Baum in ihrer Nähe etwas genauer anzuschauen. Kräftige Krallen hatten die schützende Borke des Baumes aufgerissen und tiefe Kerben in das Holz geschlagen. Anschließend schien die Kreatur den Baum einfach umgestoßen zu haben.

„Ich kenne keine Bestie, die solche Spuren hinterlässt.“

Ronja warf der Amazone einen Blick über die Schulter zu, bevor sie antwortete.

„Ich auch nicht.“ Die Säbelfantenreiterin erhob sich wieder und blickte sich noch ein wenig mehr um. Überall weitere Krallenspuren und Zerstörung.

„So geht doch kein normales Wesen vor, wenn es sich einen Weg durch das Unterholz sucht“, mischte sich die Amazone wieder ein, die Ronjas Inspektion der Schneise aufmerksam verfolgte.

„Stimmt. Selbst wenn das Wesen so groß und stark ist, wie es den Anschein hat, dürfte es länger gedauert haben, diesen Baum zu fällen, als ihn einfach zu umgehen.“

„Ja. Als ob die Kreatur nicht fähig ist, ihre Richtung zu ändern.“

„Ob sie dazu nicht fähig ist, weiß ich nicht. Aber was so um sich schlägt …“ Ronja ließ ihren Satz unvollendet und betrachtete nachdenklich den Verlauf der Verwüstung. „Es sieht vielmehr so aus, als hätte das Wesen sich an allem abreagiert, was ihm im Weg war. Diese Zerstörung hier ist sinnlos und zum Vorrankommen schlicht unnötig.“

„Haltet mich nicht für feige, Prinzessin. Aber ich möchte das Ding, was hier durchgekommen ist, nicht kennenlernen, wenn es sich vermeiden lässt.“

„Ich bin keine Prinzessin mehr!“

Ihre Antwort fiel etwas schärfer aus als beabsichtigt. Ihre Reaktion rührte jedoch nicht daher, dass sie nicht daran erinnert werden wollte, früher einmal die Nachfolgerin ihrer Mutter, der Königin der Wogenden Wipfel, gewesen zu sein. Vielmehr erinnerte sie dieser Titel an das Verhalten ihrer Mutter und ihrer ehemaligen Mitschwestern beim Kurtai der Amazonenclans.

Ob mittlerweile eine Entscheidung getroffen worden war? Und wenn ja, welche? Hatten Tilseg und die anderen es geschafft, einen Friedensschluss zu erreichen, oder standen nun alle Clans geschlossen gegen die Astronauten? Ronja versuchte diese düsteren Gedanken abzuschütteln und bestieg wieder ihren Säbelfanten.

„Genau wie du und die anderen Clanfrauen habe ich meine Vergangenheit zurückgelassen, als ich mich den Astronauten anschloss.“ Ronja versuchte ihre Stimme versöhnlich klingen zu lassen. „Und für feige halte ich dich nicht. Jeder, der den Wunsch verspürt, dieser Kreatur zu folgen, um ihr zu begegnen, ist ein Narr mit Todeswunsch.“

Weitere Rufe signalisierten, dass eine andere Schneise gefunden wurde und unterbrachen damit die sich entwickelnde Unterhaltung.

„Na, wollen wir hoffen, dass es diesmal die richtige Spur ist. Wir verlieren einfach viel zu viel Zeit bei der Suche!“

Mit einem leichten Druck beider Knie signalisierte sie Rufus, dass es weiterging. Schon setzte sich der große Säbelfant in Bewegung und trabte den Wildwechsel entlang.

Die zurückbleibende Amazonenkriegerin blickte der Rothaarigen noch etwas hinterher, während sie zu ihrem Pferd ging. Sie erschrak sichtlich, als mehrere andere Säbelfanten, unerwartet aus dem Unterholz brachen. Zuvor hatte sie die Tiere nicht bemerkt. Das war unheimlich. Ihre Anspannung löste sich etwas, als die Räuber ihre Anwesenheit schlicht ignorierten und der Säbelfantenreiterin fast lautlos folgten.

„Für die Astronauten und unserer Königin“, flüsterte sie und bestieg ihr Reittier. „Und im Namen unserer Prinzessin“, fügte sie noch ein wenig leiser hinzu, während sie Ronja und ihrem Rudel noch einen Moment ehrfürchtig nachblickte. Dann erst folgte sie ihnen ebenfalls.

4. Ingbold

Lektor Ingbold saß im Schneidersitz auf dem Boden der großen Halle, den Kopf seines Freundes und Weggefährten Sven Erikson in seinem Schoß gebettet, und betrachtete die angespannten Züge des Schlafenden. Hier zu schlummern war eigentlich schon recht ungewöhnlich.

Man musste hier nicht ausruhen, auch wenn man es konnte. Aber so recht müde wurde man in Hiriko Tanakas eigenem kleinen Reich nie. Bis auf Sven, der nun schon eine gefühlte Ewigkeit auf seinen Beinen ruhte, ohne Anstalten zu machen, aufzuwachen. Aber besser so als das andauernde Geschrei, dachte der Magier und schaute sich um.

Außer einem Tisch und den Überresten eines Stuhls, die überall verstreut herumlagen, besaß der gewaltige Raum, in dem die beiden Männer sich befanden, keine anderen Möbel. Eine Holzschale mit hölzernem Obst und ein Schachbrett mit Figuren, bildeten die einzigen anderen Gegenstände hier. Das Spiel, von Ingbold höchstpersönlich fein säuberlich auf dem Tisch aufgestellt, wartete schon länger darauf, dass sein Freund wieder zu Verstand kam.

Alles in allem war es hier ziemlich karg und leer, wären da nicht noch die Zaubersprüche, die sich hier, anders als in der echten Welt üblich, personifiziert hatten. Zunächst einmal waren da die Körperteile. Vom Augapfel, Hirn und Ohr war weit und breit keine Spur auszumachen, aber die schwarze Hand trippelte gerade aus dem Lichtdunst, der hier überall um Ingbold herum gleichmäßig erstrahlte.

Das Licht schien nicht so wie es das normalerweise tat und warf auch keine Schatten. Trotzdem war es da. Überall. Nur nicht dort, wo die Zauber waren, die so wie ein Negativabdruck im Licht erschienen.

Die Hand trippelte nun zielstrebig auf ihren Fingern in Ingbolds Richtung und schien sich regelrecht zu freuen, die beiden Männer aufgespürt zu haben. Sie beschleunigte. Doch lange, bevor die Schattenkreatur auch nur einen der Beiden erreichen konnte, jagte ein weiterer Zauberspruch heran und verschlang den wild zappelnden Körperteil in einem einzigen Happs.

Die Schattenkatze war noch größer geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Das entging Ingbold keineswegs. Allerdings wuchs sie bis vor kurzen nur noch unmerklich. Nicht dass dieser Spruch nicht bereits erschreckend genug angewachsen wäre. Der körpergewordene Zauber wies mittlerweile eine Schulterhöhe auf, die Ingbold fast doppelt überragte. Das war schon sehr beängstigend.

Bisher hatte das Zauberwesen aber seinen Dienst treu erfüllt und jeden Schadzauber wie die Körperteile, den Wurm und die Stachelkugel anstandslos gefressen, ihn und Sven aber unbehelligt gelassen. Leider blieben die Zauber nicht fort, sondern erschienen nach einer Weile einfach erneut, wuchsen aus der Wand oder dem Boden.

Die Katze aber fraß diese Zauber, immer und immer wieder. Sie hatten alle einmal auf dem Lektor gelegen, um ihn daran zu hindern, bestimmte Dinge wahrzunehmen oder sich an bestimmte Gegebenheiten zu erinnern. Jetzt schlichen sie hier herum, um wieder einen neuen Wirt zu befallen, wenn sie seiner nicht sogar wieder habhaft wurden.

Trotzdem hatte Ingbold vor diesen Zaubern keine Angst mehr, gab es doch noch einen weiteren Zauberspruch, der sich hier irgendwo versteckte und nur herangeeilt kam, wenn es einer der Schadzauber geschafft hatte, doch wieder ihn oder seinen Freund zu befallen.

Das handflächengroße, zwölfbeinige, spinnenartige Schattengeschöpf kam sogleich angestakst und begann sein Werk, bis der andere Zauber wieder floh. Die Schattenkatze ließ auch diesen Spruch in Ruhe, was Ingbold für eine gute Fügung hielt.

Sie alle waren lange der gesamte Zoo in Hirikos Reich, ihn und Erikson eingeschlossen. Aber seit Kurzem gab es einen Neuzugang unter den Zaubersprüchen, dem zuvor einige Modifikationen seitens Ingbold an der Bannspinne vorausgingen. Das war wirklich nicht einfach gewesen, musste der Magier eingestehen. Waren doch Kräfte am Werk, die er nicht verstand. Die seltsame Magie war so fremdartig wie nichts zuvor in seinem Leben – oder auch seinem Leben nach dem Tod.

Das durfte er nicht vergessen. Auch wenn er hier in Hirikos Reich einen Körper besaß und auch wenn er hier zaubern konnte, wie er zu seiner eigenen Verwunderung feststellte, war er nur ein Geist. Genau genommen noch nicht einmal das, sondern nur der Splitter einer Seele.

Ein Fragment des Magiers, der bei seiner Abspaltung noch ein Lektor gewesen war und es bis zu seinem Tod zu einem hohen Magistertitel gebracht hatte. Und zu einem dicken, fetten Arschloch, musste Ingbold sich eingestehen. Er selbst wusste nun, dass seine Kernpersönlichkeit einen schweren Fehler begangen hatte, als er ihn und andere Fragmente seiner Seele voneinander trennte.

Magister Ingbold hatte diese Erkenntnis jedoch nie erlangt. Weder zu seinen Lebzeiten, noch danach. Sein altes Ego hatte versucht, seinen Freund Sven zu benutzen, um selbst über den Tod hinaus sein Ziel, ein Lich zu werden, erreichen zu können. Doch das war damals von der tapferen Goblinschamanin, einer kleinen Fee und der Dryade, in deren Heim sie nun steckten, verhindert worden.

Der Lektor musste unwillkürlich lächeln, als er daran zurückdachte, wie sein dickes, gealtertes Ebenbild scheiterte und schlussendlich ohne Macht und Möglichkeit, irgendetwas zu tun, in einer kleinen Öllampe landete, die er noch als Novize zu seinem ersten Seelengefäß gemacht hatte. Der Seelensplitter aber, der bis dahin darin steckte, landete schlussendlich in dem Artefakt, das aus seinem eigenen Totenschädel entstanden war und einen mächtigen Manaspeicher darstellte.

Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass sein unerfahrenstes und überdies mit seinen Ängsten beladenes Ich den mächtigsten Seelenspeicher bewohnte, den Ingbold in seiner Gesamtheit und in seinem ganzen Leben erschaffen hatte. Der Lektor lächelte verschmitzt bei diesen Gedanken, schaute sich aber weiterhin suchend um. Nein, die Schattengestalt dieses neuen, exotischen Zauberspruchs war weiter nicht zu sehen. Das war gut, oder nicht?

Etwas an der fremdartigen Magie beunruhigte ihn sehr, ohne dass er benennen konnte, woran genau es eigentlich lag. Sie war irgendwie falsch und wirkte auf eine sonderbare, unterschwellige Art bedrohlich. Dem Lektor lief bereits ein kalter Schauder über den Rücken, wenn er nur daran dachte. So verging die Zeit. Ingbold hielt Ausschau, während er seinen Gedanken nachhing und über den Schlaf seines Freundes wachte und wartete.

Zwischenspiel

Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich fanden sie den Schlangenmenschen in dem kleinen, wandernden Zimmer des Turmes. Er wäre von Dragar und seinen Begleitern vermutlich übersehen worden, hätte der Schlangenmensch sich nicht selbst bemerkbar gemacht.

„Ssseid ihr dassssss da draussssssen?“, zischte es, als das Dreiergespann an einem der Durchgänge zum Schacht des Zimmers vorbeiging und sich dabei unterhielt.

„Asch? Bischt du dasch?“, entgegnete der Wolfsmensch und steckte seinen Kopf in den Schacht.

„Wasss sssoll diessse dumme Frage? Wer sssollte ich sssonst sssein?“

„Ach, schau an, er ischt esch tatschächlich.“

„Warum hat dasss allesss ssso lange gedauert? Wo habt ihr gesssteckt?“

„Waren unterwegs“, entgegnete der Minotaurus hohl.

„Dasss issst mir ssschon klar, Hornochssse. Holt mich hier rausss, ich will ssselbssst sssehen, wasss passssssiert issst.“

„Du scholltescht deine Schunge beschscher im Schaun halten, Asch. Der Meischter hat unsch schelber auschgeschandt.“

„Dasss weisss ich ssselbssst. Trotzzzdem, der Meissster hätte euch hier gebraucht!“

„Sollen wir die blöde Natter nicht einfach da drin lassen?“ Bo fletschte seine Zähne. „Soll er sich doch selbst befreien. Reden können wir auch so.“

„Dasss wagt ihr nicht. Der Meissster würde euch bessstrafen!“

„Der Meischter wird niemalsch mehr jemanden beschtrafen, Asch.“

„Wasss? Wiessso?“ Asss’ Stimme zitterte leicht. „Wasss issst gessschehen?“

„Der Meischter wurde gefreschschen. Dasch ischt losch.“

„Wasss? Dasss, dasss issst unmöglich. Unssser Meissster kann nicht sssterben!“

„Dasch erschähl’ du mal dem Scheischhaufen im Beschwörungschraum. Ich bin mir schiemlich schicher, dasch er zum groschschen Teil ausch unscherem Meischter beschteht. Aber jetscht schu dir, Asch. Erschähl einmal, wasch hier paschschiert ischt, alsch wir weg waren. Wir schind schon schehr geschpannt, wasch du schum Schutsch desch Meischtersch getan hascht und wiescho du nicht Teil desch Scheischhaufensch geworden bischt.“

„Befreit mich zzzuerssst!“

„Dasch würde dir scho paschschen. Nein schuerscht erschählscht du, wasch hier paschschiert ischt. Dann schehen wir weiter.“

Also berichtete die Schlange, was sich im Turm zugetragen hatte. Unter Protest und Geschimpfe zwar, doch ausführlich genug, dass Dragar sich ein passables Bild machen konnte.

Ihr Meister hatte die letzte Gefangene, die der Wolfsmensch und die anderen herbeigeschafft hatten, für ein Experiment auserwählt und im Beschwörungsraum eine Verschmelzung zwischen ihr und einem weiblichen Katzenwer vollzogen.

Der Zauber selbst hatte wohl auch genauso funktioniert, wie der Meister es beabsichtigt hatte, und dafür gesorgt, dass Mensch und Katzenwer miteinander verschmolzen und etwas Neues, Einzigartiges wurden. Dragar konnte sich zwar nicht daran erinnern, aber auch er und seine Begleiter hatten diese Prozedur durchlebt. Aus ihrer Perspektive gab es also nichts dagegen auszusetzen.

Nachdem der Meister seinen Zauber abgeschlossen hatte und seine neueste Kreation bewunderte, begannen die Dinge jedoch aus dem Ruder zu laufen. Das frisch erschaffene Geschöpf im Beschwörungskäfig hatte getobt und sich immer wieder gegen die magisch verstärkten Gitterstäbe des Käfigs gestemmt.

Auch das war an und für sich nichts Ungewöhnliches. Die meisten neuen Geschöpfe des Meisters reagierten auf ihre Erschaffung in der Regel erst einmal sehr extrem, doch dieses Wesen war noch radikaler. Das Letzte, was Asss als Augenzeuge gesehen hatte, war, wie sich die Gitterstäbe des Käfigs unter heftigen Entladungen der Magie, die sie verstärkten, zu verbiegen begannen. Der Meister seinerseits hatte versucht, die Macht des Gefängnisses der Kreatur aufrechtzuerhalten. Der Schlangenmensch jedoch, der bei dem Ganzen nur eine Zuschauerrolle eingenommen hatte, hielt es für angebracht, den Rückzug anzutreten, bis der Meister die Situation bereinigt hatte.

Also war er zum Aufzug geschlängelt, um sich in Sicherheit zu bringen. Alles schien gut zu laufen und der Raum setzte sich langsam in Bewegung, doch mitten in seiner Fahrt wurde der Turm plötzlich von mehreren schweren Stößen durchdrungen. Alles wackelte und sein Fluchtgefährt hielt plötzlich an. Seitdem steckte er fest, egal wie sehr er auch an den Seilen zerrte, die die Kammer normalerweise in Bewegung versetzten.

Hier hatte er ausgeharrt, bis die Erschütterungen und das Geschrei aufgehört hatten. Er hatte darauf verzichtet, sich durch Rufen oder Klopfen bemerkbar zu machen, da er nicht wusste, was draußen vor sich ging und wer ihn hören würde. Stattdessen rollte er sich in eine Ecke der Kammer zusammen, lauschte und wartete, bis er schließlich einschlief. Später hörte er dann Dragar und die anderen und rief nach ihnen.

„Dasss issst allesss, wasss ich weissssss“, beendete Asss seine Schilderung schließlich.

„Du bischt jämmerlich, Asch. Wischo bischt du nur scho ein elender Feigling?“

„Ich bin dasss, wasss der Meissster ausss mir machte. Wie ihr auch. Aber wasss issst jetzzzt mit euch? Lasssssst ihr mich jetzzzt frei?“

„Also ich finde, wir sollten ihn einfach da lassen, wo er ist. Die feige Natter ist den Aufwand nicht wert.“

„Aber ihr habt esss versssprochen!“

„Daran muscht du mich nicht erinnern“, tadelte Dragar den Schlangenmenschen, bevor er sich dem Bär zuwandte. „Esch schtimmt. Er ischt ein unverbeschscherlicher Feigling, aber er ischt auch einer von unsch. Jetscht, da der Meischter tot ischt, haben wir nur noch unsch.“

„Krogar, geh in den Keller und befrei den Schischscher.“

„Ja, Dragar.“

Der Stiermensch stapfte über die Wendeltreppe des Turms, die er gerade noch so benutzen konnte ohne stecken zu bleiben, tiefer in die Eingeweide des Gebäudes. Gelegentlich kratzten seine Hörner an der Decke entlang, doch diesen Umstand ignorierte der Muskelberg einfach, bis er im zweiten Kellergeschoss den Raum fand, den er suchte. Die Kreaturen, die hier normalerweise je an einem der vier Arme des Mechanismus’ festgekettet hausten, waren verschwunden und so drehte der Minotaurus höchstpersönlich eine halbe Runde, bis er glaubte, die fahrende Kammer genug bewegt zu haben. Während er wieder hinaufstapfte, begrüßte Dragar den beinlosen Schlangenmenschen persönlich, als er sich aus dem Fahrstuhl schlängelte.

„Scho schieht man schich wieder, wasch Asch?“, feixte der Wolfsmensch schadenfroh.

„Ssso issst esss. Bissst du wirklich sssicher, dassssss der Meissster tot issst?“

„Schicher. Aber wenn du dich schelbscht überscheugen möchtescht, kannscht du gerne in den Beschwörungschraum gehen, um nachschuschehen.“

„Also ich verzichte!“ Bo rümpfte seine Nase. „Ich würde lieber wissen, was wir jetzt machen?“

„Ich weisch auch nicht scho genau. Der Turm war immer unscher Schuhausche. Aber ich beschweifle, dasch er esch noch ischt, jetscht, wo der Meischter tot ischt. Ich denke, wir werden unsch etwasch anderesch schuchen. Vielleicht schauen wir unsch schunächscht einmal unscher neueschtesch Familienmitglied etwasch genauer an.“

„Willssst du unbedingt sssterben?“

„Dasch nicht. Aber auch wenn esch unscheren Meischter aufgefreschschen hat, scheint esch eine Art Familienschinn schu beschitschen.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Schind euch die Käfige nicht aufgefallen?“

„Die im Beschwörungsraum?“

„Nein. Ich meine die Verliesche unten, da wo wir die Menschenjungen eingeschperrt haben.“

„Wasss issst mit ihnen?“, wollte Asss nun wissen.

„Sie sind fast alle leer“, erklärte Bo.

„Genau! Dasch schich die anderen schelber befreit haben, ischt unwahrscheinlich, alscho hatten schie Hilfe.“

„Dasss issst doch Wahnsssinn“, zischte Ass.

„Also, ich hab gerade keine bessere Idee. Von mir aus schauen wir mal, was der Meister da zusammengezaubert hat. Danach können wir uns ja entscheiden, was wir dann machen.

„Scho schehe ich dasch auch. Lasch unsch alscho gehen. Wasch ischt mit dir Asch?“

„Ihr ssseid verrückt!“

„Schicher, wenn du dasch schagscht.“ Der Wolfmensch grinste breit, so breit, dass jeder seiner zahlreichen Zähne gut zu sehen war. „Wir warten alscho drauschen auf dich. Verabschiede dich vom Scheischhaufen und dann geht esch weiter.“

5. Boris

Die haarigen Kreaturen hießen Layfane. Soviel hatte er verstanden. Nun ja, wenn man es genau nahm, hatte er nicht verstanden, sondern vermutete es nur. Dieses eine Wort fiel immer wieder, während sich Faqech gemeinsam mit einzelnen Männern und Frauen ihres Trupps mit den Amazonenkriegerinnen der Küstenjäger unterhielt.

Wieder einmal schimpfte Koschkin über sich selbst. Er hatte sich seinen Hintern eigentlich genug platt gesessen. Hätte er weniger Zeit mit Grübeln und mehr Zeit mit Lernen verwendet, wäre er vielleicht in der Lage gewesen, der Unterhaltung wenigstens halbwegs zu folgen. So aber blieb das Gefasel für ihn ohne Sinn.

Allzu viel Zeit zum Quatschen hatten sie indes nicht, denn die Angreifer waren fleißig dabei den Geröllhaufen, der sie aufhielt, beiseite zu schaffen. Auf ihrer Seite des Haufens waren einige ihrer Leute im Gegenzug damit beschäftigt, der Barrikade weitere Hindernisse hinzuzufügen.

Diese Materialschlacht würden sie jedoch auf kurz oder lang verlieren, da schon die Mehrzahl der potentiellen Gegenstände in dem Sammelsurium steckte, das sie schützte. Als Fang sich endlich aus der Gesprächsrunde löste, war der Kommandant mit seiner Geduld schon fast am Ende gewesen.

„Also was ist hier los?“, überfiel er die Goblinin, sobald sie auf ihn zukam.

„Die Kriegerinnen wissen es selbst nicht so genau, würde ich sagen.“

„Wieso? Sie sind es doch, die angegriffen werden. Wenn sie es nicht wissen, wer dann?“

„Sie wissen, dass die Wesen Layfane sind und auch woher sie stammen.“

„Das ist doch schon einmal ein Anfang.“

„Eigentlich nicht. Die Kreaturen sind Geschöpfe des Waldes an der Südgrenze ihres Territoriums. Sie sind im Grunde harmlos und nicht besonders schlau.“

„Gut, Zweiteres glaube ich auch. Aber harmlos? So wie die hier reingestürmt sind! Ich bitte dich.“

„Das ist es ja. Eigentlich verlassen Layfane den Wald nicht. Und wenn, entfernen sie sich nicht weit von ihm. Die Küstenjäger haben ein paar kleine Siedlungen in der Nähe der Waldgrenze, die gelegentlich von Layfanen berichtet haben. Aber das waren einzelne oder nur eine kleine Gruppe von ihnen, die es auf die Ernte oder ein Tier des Viehbestandes abgesehen hatten. Bis hierher sind sie noch nie gekommen. Erst recht nicht in so großer Zahl.“

„Weißt du, wie viele es sind?“

„Wenn die Frauen nicht übertreiben, befinden sich einige Hundert von ihnen in der Festung.“

„Da stimmt doch was nicht. Wie passt das mit dem zusammen, was die Küstenjäger erzählen?“

„Das ist es ja. Es passt nicht. Das wissen sie auch. Sie glauben, dass irgendetwas die Layfane aus dem Wald treibt.“

„Und was?“

„Das wissen sie auch nicht.“

„Toll.“ Koschkin fluchte, während er seine Gedanken sortierte. „Wir reden vom dem gleichen Wald, in dessen Nähe Ashley vermutet wird, nicht wahr?“

„Ja. Aber du glaubst doch nicht, das sie die Layfane vertrieben hat, oder?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich würde gerne wissen, was Ronja gefunden hat, nachdem sie in dem Amazonendorf dort angekommen ist.“

„Du weißt, dass draußen niemand lange überleben kann, solange der Sturm und die Drachenkämpfe anhalten.“

„Ja, ich weiß. Aber mir gefällt es nicht. Egal, das ist eine andere Sache. Was sagen die Amazonen nun zu uns. Wollen sie unsere Hilfe jetzt weiter oder nicht?“

„Ich weiß es nicht so genau.“

„Was? Wieso?“

„Ich verstehe auch nicht alles, was gesprochen wurde. Ich weiß nur, dass die Küstenjäger sich uneinig sind, was sie von uns halten sollen.“

„Wir haben ihnen doch gerade erst den Arsch gerettet!“

„Ja. Aber nicht alle glauben, dass wir das aus Selbstlosigkeit getan haben.“

„Das nenn’ ich ziemlich undankbar“, sagte Koschkin.

„Vielleicht. Aber ich glaube eher, dass es verletzter Stolz und Unsicherheit ist. Wenn ich die Kultur der Amazonen richtig verstanden habe, muss das Hilfegesuch der Kriegerin, die wir im Tunnel fanden, ein verzweifelter Akt gewesen sein. Gleichzeitig ist das Eingeständnis, die heimatliche Burg nicht allein verteidigen zu können, eine schmerzhafte Schmach. Und dann sind keine anderen Amazonen, sondern wir aufgetaucht, um zu helfen.“

„Jaja. Ich verstehe was du meinst.“ Der Russe verstellte seine Stimme, so dass sie hoch und quiekend klang, als er sagte: „Hilfe, ich brauche Hilfe, sonst sterbe ich! Oh nein, ein Mann stellt sich an meiner Seite. Das wird meine Ehre nicht ertragen, lieber werde ich sterben.“

„Merk’ dir diese Tonlage. Damit dürfte sich dein Quägch deutlich besser anhören.“

Die trockene Erwiderung der Goblinin brachte Boris aus dem Konzept und wieder zur Sache.

„Ach, Fang. Ich habe die Nase voll von dieser dummen Denkweise, die uns hier immer wieder unterkommt. Ich würde sie am liebsten mit ihrem Mist allein lassen.“

„Das verstehe ich gut. Vielleicht überwachst du einfach die Aufrechterhaltung der Barrikade und ich versuche eine klare Antwort von den Frauen hier zu erhalten.“

„Gut. Viele Alternativen haben wir eh nicht.“

„Wir könnten sie stehenlassen und wieder gehen“, schlug Faqech vor. Als Koschkin sie entgeistert anblickte, grinste sie. „Wusste ich doch, dass du sie nicht im Stich lassen willst.“

Der Russe fluchte und ging zur Barrikade. Fang konnte langsam in ihm lesen wie in einem Bilderbuch. Das passte ihm irgendwie gar nicht.

6. Junior

In vorsichtigen und gemessenen Schritt ging Junior durch das für ihn knöchelhohe Gras. Der junge Oger war Hirikos Ziehsohn, seit seine Eltern während der Kämpfe um die Sklavenarena gestorben waren, in der Boris Koschkin gefangen gehalten wurde.

Der große, untersetzte Muskelprotz war nicht sonderlich intelligent, doch der Dryade treu ergeben und in tiefer Liebe verbunden. Dass sie ihn darum bat sie zu begleiten, hatte ihn begeistert und er war mit Feuereifer bei der Sache.

Obwohl er keine Ahnung hatte, was es mit dem zerbrechlichen Ästchen auf sich hatte, das er hütete, wusste er, dass es seiner kleinen Mutter ausgesprochen wichtig war. Entsprechend sorgfältig ging er mit seiner kostbaren Fracht um. Neben Hiriko und ihrer Freundin Nirilis begleitete sie auch noch ein mächtig großer, grüngold geschuppter Drache.

Junior hätte ja gerne versucht, auf ihm zu fliegen, wie er es einmal bei einem Silberdrachen gemacht hatte. Aber seine Mutter wollte das nicht. Also ließ er es sein und versuchte es gar nicht erst. Fliegen hatte ihm gefallen, auch wenn der Silberdrache seine Anwesenheit auf sich nicht so toll fand und ihn ständig abwerfen wollte. Der sausende Wind und die Höhe. Das Gefühl bei jeder engen Kurve und den Loopings. Das war schon toll gewesen. Trotzdem. So dumm, nicht auf seine Mama zu hören, war nicht mal ein Oger!

Die beiden Dryaden begleiteten ihn die ganze Zeit über, während der Drache kam und wieder ging, wie es ihm gefiel. Gerade war er wieder unterwegs, als Junior eine Gruppe Reiter bemerkte. Auch die Fremden schienen auf ihn aufmerksam geworden, denn sie änderten ihre Richtung und steuerten nun genau auf ihn zu. Ein Blick zu seiner Mutter zeigte ihm, dass auch sie die Reiter spürte. Lächelnd schaute sie zu ihm empor.

„Keine Angst, mein Kleiner. Wir haben mit den Amazonen Frieden geschlossen. Die Frauen da vorne wollen bestimmt nur wissen, was wir hier treiben und dann werden sie ihrer Wege ziehen.“

Junior nickte und ging weiter. Der Oger verstand die Sprache Hirikos nicht, doch der Sinn ihrer Worte erschloss sich ihm, als wäre es das Natürlichste der Welt. Früher hatte Hiriko ihn dafür berühren müssen, aber in der Zwischenzeit verstand er sie auch so.

Während sich die Reiterschar immer weiter näherte, geschah etwas anderes, was Juniors Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ein Schemen, mehr ein Flackern der Luft als eine richtige Gestalt, erhob sich wie Morgendunst aus den Gräsern und waberte langsam auf ihn zu. Erstaunt und etwas verunsichert hielt der Oger an und fixierte die seltsame Erscheinung.

„Da ist sie“, jubelten Nirilis und seine Mutter zeitgleich.

Gut. Anscheinend war alles in Ordnung. Junior wartete und beobachtete, wie die Dryaden den Schemen umringten und auf ihn einredeten. Die Erscheinung aber glitt nur stumm und langsam weiter auf ihn zu. Nun wurde es ihm doch mulmig. Trotzdem rührte er sich nicht, sondern vertraute blind darauf, dass Hiriko auf ihn aufpasste.

Einen Moment spürte Hirikos Ziehsohn Erleichterung in sich aufsteigen, als er in dem Hauch aus Nichts eine weitere Dryade erkannte. Doch die unnatürliche Kälte, die sie mit sich brachte, verstärkte sein Unwohlsein erneut und ließ ihn schaudern.

Obwohl auch seine Mutter ein Naturgeist war und er sich an Nirilis gewöhnt hatte, waren ihm Geisterwesen nach wie vor ein wenig suspekt. Jedenfalls die, die nicht seine Mutter waren. Man konnte sie nicht einfach zerquetschen, wenn sie einem Angst machten. Das allein reichte aus um ihnen ein gewisses Misstrauen entgegenzubringen. Das war jedenfalls seine Meinung.

Unschlüssig, ob er nun zurückweichen sollte oder nicht, suchte er den Augenkontakt zu seiner Ziehmutter und versuchte ihre Mimik zu deuten. War sie überrascht, oder besorgt? Angst war das nicht oder doch?

Junior fiel es immer noch schwer die feinen Züge der kleinen Leute zu lesen. Seine Mutter bildete keine Ausnahme. Bei den Orks war es für ihn noch am einfachsten ihre Minen zu deuten. Während er noch darüber grübelte, was Hirikos aufgerissener Mund und Augen bedeuten konnten, war der Naturgeist bereits zu ihm aufgeschlossen.

Die Kälte biss ihn regelrecht in die großen schaufelartigen Hände und seinen Bauch, an dem er den in einen Lederbeutel verstauten Pflanzenballen behutsam presste. Reif bildete sich auf dem einzelnen Blatt und den beiden zarten Trieben, die der Ast vor kurzem erst entwickelt hatte. Auch seine Hände überzogen sich mit feinen Eiskristallen, während sein Bauch so sehr schmerzte, dass er sich ein wenig krümmen musste und laut rülpste.

„Kalt“, bibberte der nun frierende Oger in der harten Sprache seines Volkes und begann mit den Zähnen zu klappern. Eilig kam Hiriko zu ihm herangehüpft und berührte seine eisigen Glieder.

„Armer Schatz. Armer, armer Schatz.“

„Hast du das gesehen?“

„Ja, habe ich. Was ist mit Drya passiert?

„Das war wirklich unheimlich.“

„Stimmt. Meinem armen Kleinen ist ganz kalt und die Pflanze ist sogar gefroren.“

„Heißt das, es war alles umsonst?“

Manchmal verzweifelte Hiriko an Nirilis’ Fragen. „Woher soll ich das wissen?“

„Weiß auch nicht. Aber was machen wir jetzt?“

„Wir müssen sie irgendwie vorsichtig wieder auftauen, bevor sie eingeht.“

„Super! Eine Runde Gruppenkuscheln!“

Hiriko seufzte und wollte schon die Augen verdrehen, als sie verstand, was Nirilis meinte. Wenn sie ganz stofflich waren, besaßen sie eine Körpertemperatur und konnten damit Wärme abgeben.

Ganz vorsichtig, darauf bedacht, die nun noch zerbrechlichere Pflanze nicht zu verletzen, kuschelte sie sich an einen Arm ihres Ogers und versuchte so viel Wärme wie möglich an ihn und den Zweig weiterzugeben. Nirilis schmiegte sich an die andere Seite. Junior grinste dümmlich und klapperte dabei weiter mit den Zähnen, während er auf die beiden Dryaden herabblickte.

Indes näherten sich die Reiter weiter.

7. Ronja

Die Sichtung des Gebäudes hatte Ronja und ihren Leuten Mut gemacht, doch dies war nur von kurzer Dauer. Der Turm, den sie erreicht hatten, erhob sich inmitten des sich sonst scheinbar unendlich erstreckenden Waldes wie ein dicker steinerner Bau, dem ein zu groß geratener Specht schwer zu Leibe gerückt war.

Ein schmales Gebiet um den Turm herum war von Büschen und Bäumen freigehalten worden. Vielleicht würde man sogar sagen, dass sich das Gebäude im Zentrum einer kleinen Lichtung befände, hätten die Baumriesen ringsumher nicht jeden Fitzel Himmel zurückerobert. Von ihrer Position aus konnte sie nur einen Teil des Gebäudes sehen, das dann in dem dichten, höher liegenden Blätterdach verloren ging. Etwas tiefer unter dieser Decke prangte ein ordentliches Loch im Gemäuer. Dieses Indiz war jedoch nicht das Einzige, was auf schweren Ärger vor nicht allzu langer Zeit hindeutete. Ein ebenso klarer Hinweis waren die zahlreichen Layfanleichen. Etliche lagen einzeln verstreut, teils auch in kleinen Grüppchen um den Fuß des Turmes herum. Die meisten Kreaturen schienen gänzlich unverletzt, was jedoch an ihrem Zustand nicht viel änderte. Sie waren und blieben tot. Allesamt. Das Fehlen einer offensichtlichen Todesursache ließ Ronja mit besonderem Bedacht vorgehen, auch wenn sie am liebsten sofort das Gemäuer gestürmt und es nach Ashley durchkämmt hätte. Doch hier war Zauberei am Werk, da war sie sich fast sicher.

Eins hatte sie gelernt, seit sie Ashley kennengelernt hatte. Bei Magie musste man mit allem rechnen. Also unterdrückte sie ihren Impuls und ließ stattdessen Freiwillige als Späher vorausgehen. Angespannt hatte sie das Vorankommen ihrer Leute beobachtet und war ehrlich erleichtert, als sie schließlich den Eingang des Gebäudes erreichten, ohne von einer magischen Falle niedergestreckt zu werden. Soweit so gut, dachte der Rotschopf und schickte mit einigen knappen Worten weitere Leute los. Sie würden Ashley finden, komme was wolle!

8. Ingbold

Lektor Ingbold wachte weiter, auch wenn es ihm langsam wie eine Ewigkeit vorkam. Allein mit seinen Gedanken, die nur gelegentlich durch die Schattenkatze unterbrochen wurden, wenn diese wieder einmal einen der anderen Zaubersprüche fraß, zerrte langsam an seinen Nerven. Als Erikson schließlich blinzelnd die Augen öffnete, war seine Freude ebenso ehrlich und aufrichtig wie seine Überraschung.

„Ihr seid wach, mein Freund? Ich bin so froh! Wie geht es Euch?“

„Hatten wir uns nicht auf Du geeinigt?“, erwiderte Sven mit schwacher Stimme.

„Ihr seid bei Verstand! Ich, ich meine, dir geht es gut, wenigstens besser. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass es dir gut geht! Mein guter Freund! Mein lieber, teuerster Freund!“

„Ähm, danke?“Sven richtete sich langsam auf, seinen Schädel haltend und das Gesicht gequält verziehend. Sein langes rotes Haar stand ihm in allen Richtungen zu Berge und seine Stimme war leise und belegt. „Aua. Ach du meine Güte. Ich fühle mich schrecklich.“ Nach einer kleinen Pause ergänzte er: „Was ist passiert?“

Die Euphorie des Lektors dämpfte diese Frage etwas und Besorgnis schlich sich in seine Miene. „Ihr wisst es nicht mehr?“

„Ich weiß nicht, was ich wissen soll. Aber du bist derjenige, der ständig unsere Vereinbarung vergisst.“

„Ja natürlich. Du hast recht. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?“

„Naja, ich erinnere mich an … an Hirikos Besuch und dass wir uns später über etwas unterhalten haben.“

„Sehr gut, mein Freund. Weißt du noch, worüber?“

„Wir … wir sprachen über meine Verlobte. Richtig?“

Zwischenspiel

Das Abendrot heute war besonders schön, doch die Königin der Vier Flüsse beachtete das Naturschauspiel mit keinem Blick. Beunruhigt studierte sie das Schriftstück, welches sie in Händen hielt, um kurz darauf die junge Kriegerin anzuschauen, die ihr das Schreiben überreicht hatte.

„So viele?“

„Ich fürchte ja, meine Königin. Die Kommandantin, der ich Eure Befehle übergab und die mir dies für Euch mitschickte, hat als Reaktion auf die vielen Vagabunden und Abtrünnigen die Patrouillen verstärkt und erste Erfolge erzielt. Einige der Männer konnten festgesetzt und nach Zweibrücken geschafft werden, wo sie auf euren Richtspruch warten.“

„Und sie ziehen alle zur Küste?“

„Ja. So wird es erzählt. Ich selbst habe zweimal aus einiger Entfernung solche Gruppen gesehen, während ich die Botschaft transportierte. Es sind sogar Frauen dabei.“

„Dabei habe ich sie gewarnt. Genau davor! Die schändliche Magie der Astronauten wirkt immer noch und sie wird stärker und stärker.“ Kurz dachte die Monarchin nach. „Du kannst gehen“, entließ sie ihre Kriegerin und wandte sich an eine der anderen anwesenden Frauen. „Wir können nicht länger warten. Sobald wir Zweibrücken erreichen, werden wir gegen die Astronauten ziehen. Wir müssen ihnen Einhalt gebieten, bevor es zu spät ist.“

„Was ist mit der Entscheidung des Kurtais? Es ist nicht klug, sich dem Willen der Göttin zu widersetzen“, fragte eine ihrer Clanfrauen vorsichtig.

„Diese Entscheidung hat nichts mit dem Willen unserer Göttin zu tun, sondern wurde von Verblendeten getroffen“, entgegnete die Königin barsch.

„Ich entnehme Euren Worten dass Ihr Euch dazu entschieden habt, den Richtspruch der Göttin weiter zu ignorieren?“

Die anwesenden Frauen blickten sich zu der neuen Sprecherin um. Eine in die Robe der Weisen Frauen gekleidete Kriegerin stand am Rand des improvisierten Versammlungsplatzes, deren massiges Erscheinungsbild klar erkennen ließ, dass sie eine Rüstung unter ihrer Robe trug. Die beiden Säbel an ihrer Seite zeigte sie aber offen.

Die Kapuze der Frau verdeckte ihr Haar, doch ihr Gesicht war gut zu sehen.

„Du? Ich habe dich doch weggeschickt. Wieso trittst du mir erneut unter die Augen, Jane, Botin von Laylay?“

„Die Frist, die ich Euch gewährte, ist verstrichen. Ich bin gekommen, um Eure Antwort zu hören und danach zu handeln. Beugt Euch dem Richtspruch der Göttin. Ich bitte Euch im Namen der Großen Mutter und des Friedens.“

„Bitten? Bitten!“ Speicheltropfen flogen durch die Luft, als die Königin die Worte schrie. „Du und die Große Mutter drohen mir?! Offen und vor meinen Leuten?! Mir?! Der Königin der Vier Flüsse?!“ Stolz richtete sich die Monarchin auf. „Nein. Ich lehne eure Bitte ab.“ Angewidert verzog sie ihr Gesicht. „Die Haltung der Großen Mutter ist widerlich. Es ist die Pflicht jeder Clanfrau, die unseren vor Bedrohungen zu schützen. Die Astronauten sind Fremde. Gefährliche noch überdies.“

„Sie gehören zu den Clans wie die Vier Flüsse auch. Das Kurtai hat es so entschieden. Beugt Euch dem Richtspruch. Ich bitte Euch ein letztes Mal.“

„Bettel wie du willst“, geiferte die Königin aufgebracht. „Verlauste Eindringlinge sind das, kein Clan. Sie verstehen unsere Art zu leben nicht und wollen es auch nicht. Dafür wollen sie das, was uns gehört. Stück für Stück. Sie sind Parasiten, die sich zwischen uns einnisten, uns schwächen und innerlich ausbluten lassen. Weißt du, wie viele zu ihnen unterwegs sind? Ja? Weißt du es?“ Die Königin wedelte mit den Papieren, die sie immer noch in Händen hielt. „Hunderte und aberhunderte. Es werden täglich mehr. Es ist zu einer verfluchten Völkerwanderung ausgewachsen!“

„Überdenkt …“, begann die Botin beschwichtigend, wurde aber sogleich von der Monarchin unterbrochen.

„Nein. Das Kurtai ist ein Fehler gewesen. Ich hätte es nie einberufen sollen. Ich war das, nicht die Göttin. Verstehst du das denn nicht? Die Astronauten sind unsere Feinde. Auch wenn sie dies unter hübschen Worten und Blumenwiesen verstecken. Die anderen Clans sind ihrem Zauber erlegen und verblendet, wir von den Vier Flüssen sind es nicht.“

„Es bleibt also dabei? Ihr lasst Euch nicht erweichen und zum Umdenken bewegen?“

„Natürlich nicht, Närrin! Hast du mir nicht zugehört? Solange ich atme, werde ich die Clans schützen. Ich bleibe dabei. Krieg den Astronauten!“

Zum Missfallen der Monarchin war der Beifall ihrer Vertrauten, die sie zur abendlichen Unterredung gebeten hatte, verhaltener als von ihr erwartet. Doch bevor sie ihren Ärger darüber artikulieren konnte, zog die Kriegerschwester der Weisen Frauen ihre Säbel und flüsterte in die nun erschreckte Stille hinein:

„So sei es, Eure Entscheidung ist gefallen. Die Göttin gnade Euch.“

Die graublauen Augen unter der Kapuze ihrer Kontrahentin waren für die Königin urplötzlich unangenehm deutlich zu erkennen. Sie hat die Augen eines Wolfes, dachte sie schaudernd. Die Augen eines Raubtiers. Die andere sprach indes weiter, nun lauter und regelrecht feierlich.

„Möge die Göttin über Euch richten und ich ihr Werkzeug sein. Stellt Euch mir also im Kampf, Gerichtete, denn das wird Euer Schicksal sein.“

„Du wagst es, solche Worte gegen mich zu führen? Für wen hältst du dich, dass du glaubst, über mich richten zu können?!“

„Ich bin nicht Euer Richter, nur der Henker. Also los. Verteidigt Euch, wenn Ihr denn könnt oder sterbt mit einem Gnadenstoß.“

Nun schritt die Frau mit gesenkten und leicht zur Seite geneigten Waffen auf die Königin zu, während diese zurückwich und erbleichte. Sie war nur leicht gerüstet, zog aber blank und wich weiter zurück. Andere Frauen zogen nun ebenfalls ihre Klingen, doch nur eine von ihnen stellte sich der unbeirrt weiterschreitenden Kriegerin in den Weg.

„Halt, du kannst nicht durch.“

Die Kriegerschwester versuchte einfach an der Amazone vorbeizugehen, doch wieder versuchte die andere, sie aufzuhalten. Eine schnelle Bewegung ließ diese Bemühung scheitern und die Frau der Vier Flüsse zurücktaumeln. Die Wolfsäugige hatte ihrer Kontrahentin mit dem Säbelknauf die Nase gebrochen.

„Das ist meine einzige Warnung an euch. Ich bin im Namen der Göttin hier, um ein heiliges Werk zu verrichten. Stellt euch zwischen mich und sie“, sie deutete zur Königin, deren Gesicht nun schweißnass glänzte, „und ihr werdet das gleiche Schicksal erleiden.“

Damit setzte sie ihren Weg fort, während die blutende Frau hinter ihr aufbrüllte:

„Tötet die Verrückte, sie will unsere Königin meucheln!“

Nun kam doch Bewegung in drei weitere Frauen, während sich die Verletzte wieder aufrappelte. Schreiend gingen zwei der Bewaffneten auf die weiter stur voranschreitende los. Kurz bevor die Hiebe sie treffen konnten, wich sie aus und parierte gleichzeitig.

Dann wurde es seltsam. Die Botin war ausgewichen und hatte danach ihren Weg zur Königin fortgesetzt. Gleichzeitig hatte sie die andere Angreiferin pariert und stemmte sich nun gegen den Hieb.

Aus einer waren zwei Botinnen geworden. Die eine Robenträgerin nahm plötzlich den eben noch erwiderten Druck von ihrer Waffe und drehte sich zur Seite, dabei vergebens die andere Amazone attackierend. Die zweite Botin wurde simultan von der dritten Herbeigestürzten aufgehalten. Dieses Mal duplizierte sich diese Attentäterin nicht, sondern fälschte den Hieb einfach ab, um der Amazone ihre andere Klinge in den Unterschenkel zu rammen.

Die Clanfrau mit der gebrochenen Nase hatte ihre Überraschung nun auch überwunden und griff ebenfalls an. Wütend hackte sie auf die schon ohnehin von zwei Gegnern bedrängte Robenträgerin ein. Die anderen beiden witterten ihre Gelegenheit und setzten zugleich nach. Doch die Angriffe wurden durch die Klingen der Botin aufgehalten. Nein nicht Botin, Botinnen. Dieses Mal hatte sich die Kriegsschwester des Klosters verdreifacht, sodass nun jede der Clanfrauen eine eigene Gegnerin hatte.

Nun entwickelte sich ein regelrechtes Gefecht, vier gegen vier, während die Königin nun vollends aus der Fassung: „Was steht ihr hier dumm rum? Auf in den Kampf!“, kreischte.

Als sich keine der Frauen rührte, aber ihre kämpfenden Clanfrauen eine Wunde nach der anderen davontrugen, brüllte sie fast verzweifelt:

„Seht ihr denn nicht, dass es genau das ist, wogegen wir kämpfen? Das ist die falsche Zauberei der Astronauten!“

Einen Moment zögerte die Monarchin noch, dann schwang sie ihre eigenen Waffen und ging ebenfalls zum Angriff über. Sie war immer noch eine Clankönigin und das bedeutete, dass auch sie ihren Blutzoll beitragen würde. Weitere Frauen, inspiriert von ihrer Haltung, fassten sich nun doch noch ein Herz und stürzten hinterher. Andere blieben wie erstarrt stehen, fassungslos, das Unglaubliche begaffend. Der Rest ging auf die Knie und betete schockiert zur Göttin.

9. Junior

„Es funktioniert nicht“, jammerte Nirilis als die Sonne schon begann, die Nacht anzukündigen.

„Das merke ich auch“, erwiderte Hiriko, deren Verzweiflung beharrlich anwuchs. Junior bibberte immer noch, hielt die Pflanze aber weiter tapfer in seinen Armen und ließ die Dryaden gewähren.

„Was machen wir denn jetzt? Der Ast erfriert!“

„Ich weiß auch nicht!“ Tränen traten in Hirikos Augen und ihre Lippen bebten.

Das Dreiergespann war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass keiner von ihnen bemerkte, wie die Reiterschar sie schließlich erreichte. Erst als die Frauen sie in einem großen Bogen umrundeten, gelangte ihre Anwesenheit ins Bewusstsein der beiden Naturgeister.

Junior blieb weiter vollkommen ruhig. Hiriko hatte ihm gesagt, dass ihm nichts passieren würde. Es war für ihn fast undenkbar, dass sich seine Ziehmutter irrte oder sie ihn anlügen würde. Zwar benahmen die kleinen Leute, die gerade angekommen waren, sich seltsam und er hätte vermutet, dass sie nichts Nettes vorhatten, aber was wusste er schon. Seine Mutter war schlau und kannte alles. Und damit war die Sache erledigt.

Hiriko löste just in diesem Moment, zu seinem tiefsten Bedauern, ihre Umarmung und wandte sich den Neuankömmlingen zu. Auch Junior betrachtete die Fremden. Bei den Sieben handelte es sich klar um Amazonenkriegerinnen. Doch irgendetwas war anders, unterschied sie von den anderen Clanfrauen, denen sie bisher begegnet waren. Für ihn war es schwierig die Unterschiede zu bestimmen, aber er gab sich Mühe.

Sie ritten wie die anderen auf Pferden, trugen ähnliche Kleidung und, bis auf eine, auch die Lederrüstung der Clans. Die Frau, die sich am meisten von ihren Schwestern abhob und als einzige eine der Metallrüstungen trug, wie er sie bisher nur während des Kampfes von Zweibrücken gesehen hatte, schien die Anführerin zu sein. Das hatte seine Mutter offenbar ebenso erkannt, denn sie rief ihr etwas zu. Die Reiterinnen schienen aber nicht zu verstehen und so rief seine Mutter weiter.

Da Hiriko nicht mit ihm, sondern mit den Frauen sprach und sie außerdem die seltsam schnelle Sprache der Menschen benutzte, verstand er nicht den Sinn der Worte. Doch er merkte sehr wohl, dass seine kleine Ziehmutter sich Sorgen machte. Nirilis hörte nun ebenfalls auf ihn zu umarmen, sodass nur noch die kalte Pflanze in seiner Umklammerung übrig blieb. Das fand Junior ziemlich doof, rührte sich aber weiter nicht.

Die kleine Frau in Metall hatte jetzt augenscheinlich eine Entscheidung getroffen und zog ihre Waffe. Nun wurde Junior doch nervös. Vor allen Dingen, weil er spürte, dass es seine Mutter mit der Angst bekam. Er brauchte nur einen Schritt, um bei ihr zu sein. Die anderen Amazonen folgten dem Beispiel ihrer Führerin und zogen ebenfalls blank. Er schaute seine Mutter an.

Die Reiterinnen wendeten ihre Pferde. Er fragte: „Pferdefrauen doch böse?“

Die Tiere beschleunigten, sie nickte bekümmert. Er gab ihr die Pflanze.

Die Frauen hoben ihre Säbel, er beugte sich hinunter und gab Hiriko einen Kuss.

Die Anführerin kam schnell heran und machte sich zum Schlag bereit. Ihre Gefolgschaft dicht hinter ihr. Junior spannte seine Muskeln an und holte aus.

Er war nicht der Schnellste, doch das war gar nicht nötig. Wenn man genug Zeit hatte, um auszuholen, zu zielen und zuzuschlagen, war es egal, wie schnell man war. Nur der Treffer zählte. Und Junior hatte dieses Glück und noch viel mehr. Er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite.

Die Kriegerin schien nicht damit gerechnet zu haben, dass der Oger, der sich die ganze Zeit ungewöhnlich passiv verhalten hatte, sich im letzten Moment doch noch für den Angriff entschied.

Das Leben inmitten der Astronauten, die fast ausschließlich aus kleinen Leuten bestanden, wenn er einmal von dem großen, grünen Nichtoger absah, hatte ihn eins gelehrt. Diese wuseligen Wichte waren allesamt viel schneller als er. Es sei denn, er tat etwas, mit dem sie nicht rechneten.

Außerdem hatte er viele Gelegenheiten, sich seine Zeit mit ihnen zu vertreiben, wenn seine Mutter beschäftigt oder ohne ihn unterwegs war. Da die Interessensgebiete eines Ogers relativ überschaubar waren - seine Lieblingsbeschäftigungen waren das Essen, dann sich zu raufen und zum Schluss, anderen beim Singen zuzuhören. Er hatte auch immer wieder an verschiedenen Kampftrainingseinheiten teilgenommen, die zwar unorganisiert und oftmals spontan, aber im Grunde immer irgendwo im Lager durchgeführt wurden. Bei den lustigen Raufereien die er gerne beobachtete, hatte er durchaus etwas gelernt und sich sogar ein paar Dinge bei den anderen abgeschaut, die er nun das erste Mal richtig einsetzte.

Vermutlich hatte noch nie zuvor im Universum ein Oger ein derartiges Kampfmanöver durchgeführt, wie Junior es tat. Das Ausholen und Draufhauen war es nicht. Dies war durchaus üblich unter seinesgleichen, auch wenn Junior in diesem Moment seine schöne große Keule, die er im Meer verloren hatte, schrecklich vermisste. Dass ein Oger aber nicht mit beiden Beinen am Boden blieb sondern seinem Gegner auf äußerst unübliche Art entgegensprang, sah man wirklich nicht alle Tage. Und der Kampfstil seines Vaters war es sicher nicht.

So, mit zusätzlichem Schwung aus seinen Beinen, wuchtete er seinen nach hinten gebeugtem Arm nach vorne und traf das galoppierende Pferd genau am Kiefer, während Juniors restlicher Körper das Tier seitwärts rammte. Er hatte sich das von einem der Orks abgeschaut, der auf diese Weise selbst ein Reitschwein stoppen konnte. Das fiese Knirschen, als er dem armen Tier den Kiefer gleich mehrfach brach und gnädigerweise auch gleich in die Bewusstlosigkeit schickte, entlockte dem Oger ein feines Lächeln auf seinen tumben Zügen, doch fertig war er damit nicht.

Der Hieb der Reiterin gegen ihn traf ins Leere und sie ging gemeinsam mit ihrem Pferd zu Boden. Den Rest erledigten Tempo, Flieh- und Schwerkraft. Nicht, dass Junior auch nur einen blassen Schimmer von solcherlei Dingen hatte.

Den Naturkräften war seine Ignoranz gleichgültig, sie taten einfach, was sie taten, während Junior, nun in bester Laune, den günstigen Schwung nutzte, den er durch den Aufprall erhalten hatte. Er folgte der Kraft, wie er es von einem der Goblins gelernt hatte, fing sie ein und lenkte einen Großteil davon durch eine gelungene Drehung in die Wucht seiner nächsten Attacke. Wieder musste ein bemitleidenswertes Tier wegen der Dummheit seines Besitzers Qualen erleiden und ging zu Boden.

Dieses Mal stockte der Schwung des Ogers merklich und er geriet kurz aus dem Takt. Dem Hieb der dritten Reiterin konnte er dadurch zwar nicht mehr entgehen, aber es gelang ihm, sie sich im Gegenzug zu packen und aus dem Sattel zu reißen. Verärgert und mit blutender Schulter schleuderte er sie auf die nächste Heranreitende und sah gerade noch, wie sie gemeinsam mit einem Flammeninferno auf ihre Gefährtin aufschlug.

Junior riss seine Arme schützend nach oben und drehte sich von Hitze und Flammen weg, als das brennende Pferd mit seiner schreienden Reiterin auf ihn prallte und ihn umriss. Die Flammen bissen wie zuvor die Kälte der Pflanze und nun brüllte auch Junior, den brennenden Kadaver von sich wegstoßend. Dann war es vorbei. Leichen, blutig und brennend, lagen nun da, wo zuvor nur Gras gewesen war. Junior hielt seine verletzte Schulter und blickte sich um. Dass es so effektiv war, Amazonen zu werfen, war ihm neu.

Über ihm ging derweil der Drache zum Landeanflug über.

10. Hiriko

Hiriko verstand es nicht. Wie konnte das alles passieren?

Eben noch hatte ihr Ziehsohn sie zärtlich auf die Stirn geküsst, doch dann war das Chaos mit voller Wucht um sich griff. Hiriko spürte wie Kälte in ihr aufstieg.

Erschreckt fuhr sie vor dem frostigen Gefühl zurück und ließ den Wurzelballen los, den sie in Händen hielt, nur um erneut zusammenzufahren und sofort wieder nach dem wertvollen Zweig zu greifen. Noch nicht ganz vom Schreck erholt, die Pflanze fest umklammert und erneute Kühle von der Wurzel auf sich übergreifen spürend, kam das erste Gespann aus Ross und Reiterin, wie eine Lawine auf sie zu gestürzt.

Das bewusstlose Pferd spürte nicht mehr, wie es starb, als es sich überschlagend dicht an der Dryade vorbei wälzte. Die Schreie seiner Reiterin verstummten erst, als der schwere Leib des Tieres über sie hinweg walzte.

Zitternd stand Hiriko da, bis Nirilis sie zur Seite zerrte und so eine Kollision mit der nächsten Amazone und ihrem Tier verhinderte. Erst als der Oger durch das brennende Pferd getroffen wurde, kam Hiriko wieder zu sich, setzte ihre eisige Fracht behutsam zu Boden, um dann schnell zu ihrem Ziehsohn zu eilen, um sich um ihn zu kümmern.

„Mein tapferer Kleiner, lass mich sehen, was die bösen Frauen mit dir getan haben.“

Die Fleischwunde an Juniors Schulter sah schlimmer aus, als sie war, und auch die Brandwunden waren nur oberflächlich. Hiriko lächelte ihren Ziehsohn erleichtert an, der ihre Aufmerksamkeit offensichtlich genoss, und sagte:

„Gut, dass nichts Schlimmeres mit dir passiert ist. Was hast du dir nur dabei gedacht, dich so auf sie zu stürzen?“ Sie drückte ihn so fest sie konnte. „Aber du bist auch mein Held. Das hast du wirklich gut gemacht. Wo hast du das gelernt?“

Nun grinste der Oger noch breiter. „Astronaut“, brummte er ungelenk, aber verständlich. „Junior - Astronaut.“

„Ja, das bist du. Ein Astronaut wie wir alle.“ Tanaka drückte ihren Oger noch einmal und küsste ihn ungestüm auf die Wange, nachdem sie ihn zu sich heruntergezogen hatte. „Und ein großer noch dazu.“

Mehrere kräftige Windstöße ließen die Dryade zum landenden Drachen schauen, der nun mit besorgtem Ausdruck auf sie zukam und dröhnend seine Stimme erhob.

„Geht es euch gut?“

Hiriko nickte, blickte aber verärgert zurück. „Ja schon“, entgegnete sie. „Das war aber ganz schön knapp.“ Beiläufig streichelte sie ihren Oger, als sie den Drachen tadelte. „Das war sehr unvorsichtig. Du hättest Junior mit deinen Flammen schlimm verletzen können.“

„Das war nicht meine Absicht“, entschuldigte sich das geflügelte Ungetüm. „Ich hatte allerdings den Eindruck, dass der Oger an sein Limit stieß. Der Zusammenstoß war ein unglücklicher Zufall.“

„Dass du Junior nur zufällig verletzt hast, macht es nicht besser. Du hättest besser achtgeben müssen.“

Der Drache stutzte. „Ich tat was ich konnte. Doch hatte ich kaum eine Wahl. Oder hätte ich euch etwa nicht helfen sollen?“

„Schon gut“, winkte Tanaka nun ab. Der Drache hatte es nur gut gemeint. „Weißt du, wer die Frauen waren?“

Der Geschuppte betrachtete die Leichen und nickte. „Abtrünnige.“

„Abtrünnige?“

„Ja. Verstoßene ihrer Clans.“

„Greifen sie immer so ohne weiteres an?“

„Wenn sie sich überlegen fühlen? Ja, meistens.“

„Aber wieso? Ich sagte ihnen doch, dass wir in Frieden reisen.“

„Sie haben nichts. Kein Heim, kein Clan, keine Sicherheit. Sie sind verwildert und leben nach dem Faustrecht.“

„Das ist traurig. Aber es ist gut, dass du wieder da bist. Du kommst gerade recht.“

„Das ist mir auch aufgefallen.“

„Nein, die Frauen meine ich nicht. Wir haben Drya gefunden.“

„Tatsächlich? Wo ist sie?“ Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argons Stimme bebte nun vor Vorfreude.

Hiriko ließ die Schultern hängen und deutete wortlos auf den gefrorenen Zweig. Es dauerte einen Moment, bevor der Anblick das majestätische Geschöpf zusammenfahren ließ. Hiriko hatte noch nie einen erschrockenen Drachen gesehen. Wahrlich ein erschütternder Anblick.

„Was … ist … geschehen?“, fand der Geschuppte schließlich seine Sprache wieder. Seine Stimme war brüchig und voller Gram.

„Wir wissen es auch nicht so genau. Nachdem wir Drya gefunden hatten, ist sie in ihre Pflanze, die daraufhin vereiste.“

„Was … bedeutet das?“

„Ich bin mir nicht sicher“, gab Hiriko zu.

„Sie stirbt“, stellte Nirilis fest.

„Das kannst du doch nicht sagen!“, blaffte Hiriko, obwohl sie spürte, dass ihre Freundin die Wahrheit sagte. Auch sie spürte, dass es zu Ende mit dem Zweiglein ging.

Der Drache brüllte. Dann schnaufte er:

„Nein! Nein, nicht noch einmal. Das kann ich nicht akzeptieren! Niemals! Ich werde nicht zulassen, dass sie ein weiteres Mal stirbt!“

„Was willst du denn tun?“, fragte Nirilis mitleidig. „Ich weiß nicht, wie wir helfen können. Und Hiriko auch nicht.“ Tanaka nickte nur und schaute den Drachen traurig an.

„Doch. Es gibt etwas, das ihr tun könnt.“

„Und was soll das sein?“, fragte Hiriko überrascht.

„Bringt mich zu ihr.“

„Was?“ Beide Dryaden stießen zur gleichen Zeit diesen überraschten Laut aus. „Wie meinst du das?“, ergänzte Hiriko.

„Die Kraft unseres Liedes hat meine geliebte Freundin zu uns zurück gebracht, als ich sie tot glaubte. Soll meine Lebenskraft die ihre sein, auf dass ihre Pflanze sich erholt.“

„Du weißt nicht, was passieren wird. Wir wissen nicht, was passieren wird!“

„Das ist egal. Bitte bringt mich in Dryas Refugium.“

Hiriko schaute ratlos zu Nirilis, die ebenso zurückblickte und mit ihren Schultern zuckte. Beide Dryaden schwiegen, bis Tanaka schließlich zögerlich nickte.

„Einverstanden“, erklärte sie da dem Drachen. „Wir werden dir helfen.“

11. Boris

Kommandant Boris Iwanowitsch Koschkin stand dicht an der Barrikade und hielt seinen Speer zum Stoß bereit. Jedes Mal, wenn er eine Gelegenheit bekam, stieß er gnadenlos auf eine der Kreaturen ein, die von der anderen Seite her versuchten, Teile aus dem Haufen zu entfernen. So wie jetzt gerade auch.

An die kindlichen Schreie, die die Kreaturen ausstießen, wenn man sie verletzte, würde der Russe sich nie gewöhnen können. Wenn er aber verhindern wollte, dass diese Wesen durchbrachen, blieb ihm keine andere Wahl. Als er seinen Speer durch die Lücke zurückzog, die er nutzte, um die Gegner zu attackieren, tippte ihn jemand auf die Schulter.

Ein Mann, ebenfalls mit einem Speer bewaffnet, deutete in Richtung des Raumes und signalisierte, dass er Boris’ Platz einnehmen wolle. Koschkin nickte dem Mann schwer atmend zu und wandte seine Aufmerksamkeit dem Kellerraum zu.

Faqech redete mit zwei Amazonen und winkte ihn zu sich. Leise schimpfend versuchte er seine aufsteigende Müdigkeit abzuschütteln, während er zu ihr herüber schlurfte. „Gibt es etwas Neues?“, kam er gleich zum Kern.

„Ja, ich denke schon“, begann Fang gedehnt.

„Ah. Und was?“

„Die Königin dieses Clans ist tot und sie hat keine Nachfolgerin hinterlassen. Die Erste Reiterin, die ihren Platz ersetzte, ist während der Kämpfe in der Burg gefallen, ebenso wie ihre Stellvertreterin.“

„Das tut mir leid für die Küstenjäger“, erwiderte Koschkin. „Allerdings sehe ich nicht, worauf du hinaus willst.“

„Das ist der Grund, warum die Frauen nicht wissen, was sie nun tun sollen. Ich glaube, die Leute hier in der Kammer sind die letzten Überlebenden der Burg. Vielleicht sogar vom gesamten Clan der Küstenjäger.“

„Meinst du wirklich?“

Ungläubig schaute sich Koschkin in dem düsteren Raum um. Sah man von ihren eigenen Leuten ab, war die Mehrzahl der Anwesenden weiblich. Es gab unter den Erwachsenen fast niemanden, der nicht wenigstens vierzig Jahre und älter war.

Nur ein paar der Männer und vielleicht ein oder zwei Dutzend Frauen waren jünger. Viele von ihnen schienen wiederum kaum ihre Pubertät hinter sich gebracht zu haben. Der Rest bestand aus Kindern. Unter ihnen war das Geschlechtsverhältnis relativ ausgeglichen und die Altersspanne reichte vom Säugling bis in die Flegeljahre.

„Bist du sicher? Das kann ich kaum glauben. Manche Dörfer, die wir durchquert haben, besaßen mehr Einwohner. Wie viele sind das hier? Hundertfünfzig? Zweihundert vielleicht.“

„Ich schätze, es sind noch ein paar mehr, aber du hast recht. Eine ungewöhnlich geringe Größe für einen Clan, der ein so großes Territorium kontrolliert. Wenn ich es richtig verstanden habe, war das nicht immer so. Der Niedergang des Clans scheint mit der Krankheit ihrer Königin und dem Auszug deren Tochter zu tun zu haben.“

„Was für eine Krankheit? Und wohin ist die Prinzessin gezogen?“

„Bei der Krankheit soll es sich um eine Art Husten gehandelt haben. Nichts, was normalerweise tödlich wäre, doch die Königin war alt und ihr Körper zu schwach, um sich zu wehren.“

„Was ist mit ihrer Nachfolgerin? Ich meine, wenn sie so alt war, gab es doch bestimmt jemanden, der ihre Stellung erben sollte, oder?“

„Richtig. Aber ein paar Monate zuvor war die Prinzessin mit fast der Hälfte der Bewaffneten des Clans aufgebrochen, um an den Grenzen nach dem Rechten zu sehen. Die Dörfer dort berichteten von Problemen mit den Layfanen.“

„So harmlos, wie die Amazonen es anfänglich behauptet haben, scheinen die Viecher jedenfalls nicht zu sein.“

„Sie waren es offenbar zuvor, bis eben vor einigen Monaten.“

„Was ist passiert?“

„Das wissen die Frauen selbst nicht. Die Königin wurde krank und die Prinzessin kehrte nicht zurück. Es wurden weitere Trupps ausgesendet, um nach ihr und ihren Kriegerinnen zu suchen, aber auch diese blieben fast alle verschwunden. Die doch zurückkehrten, berichteten von verlassenen Dörfern. Entvölkert, geplündert und von Kämpfen gezeichnet.“

„Was haben die Küstenjäger daraufhin getan?“

„Die Königin schickte weitere Truppen. Das war etwa, zum gleichen Zeitpunkt, als wir ebenfalls in das Territorium der Küstenjäger eindrangen.“

„Darum haben sie so mit den Säbeln gerasselt ohne wirklich ernst zu machen.“

„Ja. Vermutlich hätten wir deutlich mehr Schwierigkeiten mit ihnen gehabt, wären nicht bereits so viele ihrer Kräfte an anderer Stelle gebunden gewesen.“

„Also war ihr Ultimatum und das alles ...“

„Nur ein Trick, um uns glauben zu machen, dass sie immer noch über ihre alte Stärke verfügen“, beendete Fang den Gedanken von Koschkin.

„Und wie passen die evakuierten Siedlungen, durch die wir gezogen sind, als wir dem Fluss zur Küste folgten?“

„Die Küstenjäger hatten schon von uns gehört, bevor wir eintrafen. Denk daran, welcher Ruf uns vorauseilte. Sie haben die Bewohner in Dörfer umgesiedelt, die vom Fluss, der Küste und den Wald, aus dem die Layfane stammen, möglichst weit entfernt waren.“

„Also gibt es doch noch mehr Mitglieder des Clans?“

„Vielleicht. Aber durch den Dauersturm hier an der Küste wissen sie nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich denke, sie befürchten, dass die Orte ebenso Ziel der Layfane sind wie ihre Burg, nur dass die Siedlungen deutlich weniger gut geschützt sind.“

„Und da die Befestigungsanlagen hier diese Viecher nicht aufhalten konnten, glauben sie, dass die Ansiedlungen bereits gefallen sind?“

„So sieht es aus. Doch selbst wenn sie bisher unbehelligt geblieben sind, ändert das nichts an der Tatsache, dass dieser Clan kurz vor einem Kollaps steht. Es sind nur wenige Dörfer und nur eines davon ist von Frauen bewohnt. Wie du selbst weißt, dienen die Siedlungen den Amazonen als eine Art Ruhesitz und Kinderkrippe.“

Koschkin nickte und dachte nach.

„Was ist mit dem Dorf, zu dem Ronja unterwegs ist?“

„Die Kriegerinnen halten es für verloren, da die Layfane bis hierher vorgedrungen sind.“

„Wie stark war die Verstärkung, die sie dorthin geschickt haben?“

„Es waren einige. Ich vermute, dass die Truppe der Prinzessin ähnlich groß war wie die, die wir Ronja mitgegeben haben.“

„Verdammt und zugenäht“, schimpfte Koschkin. „Wenn die Frauen, die sich hier auskennen, nicht zurückkamen, ist Ronjas Truppe ebenfalls gefährdet. Von Ashley ganz zu schweigen.“

„Das habe ich auch schon überlegt. Aber eine Hilfe oder auch nur eine Botschaft an sie ist im Moment unmöglich.“

„Das weiß ich auch. Aber was ist mit dem Artefakt der Meerfeen?“

„Das, was angeblich vor dem Feind über dem Spiegel schützt? Ich weiß es nicht. Warum fragst du jetzt danach?“

„Wir haben uns doch überlegt, dass das mit dem ‚Feind über den Spiegeln’ niemand anderes als diese verfluchten lebenden Dynamos gemeint sein können.“

„Bitte wovon redest du?“ Faquech blickte forschend zu ihm auf.

„Na, von den verflixten Silberdrachen natürlich“, erklärte der Russe leicht genervt.

„Ach so, ja das stimmt.“ Die Schamanin nickte verstehend. „Aber wieso nennst du sie Dynamo?“

„Na, weil sie Strom produzieren.“

„Strom?“ Der Goblinin war anzusehen, dass sie versuchte, seinen Gedanken zu folgen. „Du meinst die Blitze, oder?“

„Ja, die Blitze. Genau.“

„Sowas. Ich lerne immer noch neue Worte deiner Sprache.“

„ Ähm ja. Schön. Wo war ich?“ Koschkin fluchte irritiert, bevor er weitersprach. „Genau. Wir wissen also, dass die Küstenjäger dieses Artefakt an sich brachten und die Meerfeen zwangen, sich ihren Wünschen zu beugen, bis das Meeresvolk sich diesen, diesen … Ach wie heißt das Vieh doch gleich?“

„Du meinst Schrigoran.“

„Ja genau. Bis sie sich diesen Schrigoran als Alternativschutz suchten und gegen die Amazonen rebellierten.“

„Stimmt, soweit kann ich dir folgen. Worauf willst du hinaus?“

„Ich frage mich zweierlei. Wo ist dieses Artefakt jetzt und warum setzen die Amazonen es nicht mehr ein?“

„Das sind gute Fragen, aber was hat das mit unserer Situation zu tun?“ Koschkin wollte bereits den Mund öffnen, um seine Gedanken zu erklären, als Faqech fortfuhr. „Ah, ich glaube, ich verstehe. Du meinst, wenn wir dieses Artefakt finden und es wirklich dafür sorgt, dass man vor den Silberdrachen geschützt ist, könnten wir mit Ronjas und Tilsegs Trupps Verbindung aufnehmen.“

„Genau. Außerdem könnten auch die Amazonen davon profitieren und nach ihren Dörfern sehen.“

„Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde sie danach fragen. Aber das kann dauern. Mein Westländisch ist nicht besonders gut.“

„Besser als meins allemal.“

Die Schamanin lachte. „Ja. Mit Sprachen hast du’s wirklich nicht. Dein Quägch ist auch sehr lustig.“

„Ja, ja, ja, schön, dass ich dich amüsieren kann. War sonst noch was?“

„Ja. Sie haben sich für unsere Hilfe bedankt und bitten uns, ihnen dabei zu helfen, die Burg zurück zu bekommen.“

„Hast du nicht eben gesagt, der Clan steht vor dem aus?“

„Hab ich. Aber darum geht es nicht, es ist auch ihr Zuhause.“

„Schön. Wenn wir das Meerfeenartefakt haben wollen, bleibt uns sowieso keine Wahl. Hier unten ist es vermutlich nicht. Und wenn doch, befindet es sich in der Barrikade oder wurde bereits von den Drecksviechern wieder entfernt.“

„Gut, dann werden wir also weiterhelfen. Ich rede mit den Amazonen darüber, wo das Artefakt sein könnte. Leg dich erst einmal schlafen. Du brauchst deine Kraft, wenn wir einen Ausfall versuchen wollen.“

Koschkin fluchte, nickte aber. Worauf hatten sie sich nur eingelassen, als sie an der Tür zu dieser Burg klopften?

„Gut. Du hast recht.“

Er wollte sich schon abwenden, um ein Plätzchen zum Schlafen zu suchen als Faqech ihm nochmals ansprach.

„Boris?“

„Hast du schon über meinen Vorschlag nachgedacht?“

Er wusste sofort, was sie meinte, und zögerte seine Antwort mit einem weiteren Fluch hinaus. Erst dann drehte er sich um und brummte:

„Ja, das habe ich.“

„Und? Hast du auch eine Antwort für mich?“

„Noch nicht“, gab er nun fast flüsternd zu. Dann, etwas lauter: „Du erhältst eine Antwort von mir, wenn wir mit diesem Steinhaufen hier fertig sind.“

Wenn Faqech ihn so ansah, wie sie es gerade tat, wurde es Boris immer ein wenig mulmig.

„Na gut. Einverstanden“, stimmte sich schließlich zu, stellte sich auf die Zehenspitzen, während sie ihn zu sich herunterzog und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Schlaf gut“, flüsterte sie sanft.

Koschkin lief ein wohliger Schauer über den Rücken, für den er sich sofort schämte, ohne genau zu wissen warum. Auch sein Gesicht wurde heiß. Wurde er etwa rot? Das war ihm seit … ja, seit er ein Teenager war nicht mehr passiert. Schnell wandte er sich ab, brummte ein „Danke, du auch“, und suchte sich einen Ort, wo er sich verkriechen konnte. Jetzt war er heilfroh, dass es kaum Licht in diesen dunklen Keller gab.

Faqech grinste nur und kehrte zu ihrem Gespräch mit den Kriegerinnen zurück.

12. Junior

Als es vorbei war, blieb er allein zurück. Vorsichtig trat er näher und betrachtete den Ast, der nun mehr war als zuvor.

Sein Stängel war nun abnormal dick und bildete eine Form, die Junior problemlos wiedererkannte. Ein Drachenleib, nicht größer als seine Handfläche, umschlang nun den restlichen Ast zur Gänze.

Junior betrachtete das Unglaubliche eine Weile und überlegte, was er nun tun sollte. Hiriko, Nirilis und der Drache waren nun da drin und er hier draußen. Sollte er warten oder nachhause zurückkehren?

Ein Stöhnen unterbrach seine Gedanken und er bemerkte eine der Frauen, die von dem Flammeninferno des Drachen erfasst worden war. Sie lebte anscheinend noch. Junior stand auf und ging zu ihr, um sein Werk zu beenden.

Vielleicht konnte er bei der Gelegenheit auch gleich einen Happen essen. Aber nein. Seine Mama mochte nicht, wenn er von kleinen Leuten naschte. Also ließ er es sein.

Die Frau keuchte, stöhnte und schaute ihn mit großen, trüben Augen an. Er hatte schon sein Bein gehoben, um ihr mit einem kräftigen Tritt das Genick zu brechen, als ihm etwas einfiel. Bedächtig stellte er seinen Fuß wieder ab und betrachtete die Frau noch ein bisschen länger.

„Junior - Astronaut“, sagte der Oger schließlich und packte die Frau an ihrer verschmorten Garderobe.

Sie leistete keine Gegenwehr und schrie auch nicht, sondern stöhnte nur ein bisschen mehr. Tatsächlich war auch die zweite Reiterin, deren Pferd er getötet hatte, bei näherer Begutachtung noch am Leben. Zu ihr legte er die andere Amazone und schnürte sie sicherheitshalber zusammen, so wie er es von seinem Vater gelernt hatte.

Dann ging er fort und fing eins der Pferde. Die Mähne des Tieres war weggeflämmt, dass Fell rußverschmiert und am Hals hatte es Brandblasen. Aber es lebte und konnte laufen. Er band es an seine beiden Gefangenen, plünderte noch etwas die Nahrungsmittel in der Satteltasche und schaute noch einmal nach der kleinen Drachenpflanze. Danach legte der Oger sich erst einmal schlafen, denn es war schon spät geworden und er war müde.

Vielleicht wäre am nächsten Morgen auch seine Mutter wieder da. Wenn nicht würde er die Pflanze und die Frauen ins Lager in den Hügeln bringen. Dort war der große grüne Nichtoger. Dem machte es Spaß, kleine kaputte Leute wieder ganz zu machen. Ihm würde er die Frauen bringen. Und vielleicht konnte er ihm auch dabei helfen, dass seine Ziehmutter wieder zurückkam. Ja. Der Grüne wusste bestimmt, was zu tun war.

Mit einem zufriedenen Lächeln kuschelte der Oger sich an die mollig warme Pflanze und schlief fast sofort ein.

Zwischenspiel

Seufzend setzte sich die mächtigste Frau im Land der Amazonen in ihren Stuhl. Müde rieb sie ihre geröteten Augen und wischte sich eine Träne weg, die ihre letzte Vision ausgelöst hatte. Das Rascheln einer Robe und das anschließende Räuspern kündigten Mara leise an.

„Warum kommst du zu so später Stunde zu mir, mein Kind?“

„Die Kriegsschwester Jane ist zurück, Große Mutter.“

Anstelle einer Antwort nickte die Alte müde und blickte dann ihrer sofort davoneilenden Novizin hinterher. Traurig schüttelte sie ihren Kopf, doch dann änderten sich ihre Züge unmerklich. Sie hatte gerade eine Idee, wie sie zwei Probleme auf einmal angehen konnte. Als Mara schließlich mit der weißhaarigen Kriegerin zurückkehrte, lächelte sie sogar. Trotzdem kam sie gleich zur Sache.

„Wie ist es ausgegangen?“

„Leider hat sich die Königin der Vier Flüsse nicht umstimmen lassen und bestand weiter darauf, die heiligen Riten des Kurtais zu missachten. Die Strafe der Göttin ist vollstreckt worden.“

„Gab es viele Opfer?“

„Nein, Große Mutter. Nur die Königin selbst musste sterben, auch wenn es einige Verletzte gab.“

„Was glaubst du, werden sie sich nun fügen?“

„Das zu beurteilen liegt nicht an mir. Ich bin nur ein Werkzeug. Aber wer auch immer nun den Thron der Vier Flüsse besteigt, sie kennt nun die Strafe der Göttin.“ Die Alte wandte sich nun an ihre sich im Hintergrund haltende Assistentin. „Was meinst du, Mara?“

„I… ich?“ Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen. „Aber Große Mutter! Was soll ich dazu sagen? Ich … ich bin doch nur eine Novizin!“

„Glaubst du immer noch, dass eine einfache Novizin der Großen Mutter dient?“

„Aber …“ Die junge Frau wurde ganz rot. „Aber mehr bin ich doch auch nicht.“

„Das glaubst du wirklich?“

„Ich bitte um Verzeihung, Große Mutter, aber … das … das hat nichts mit Glauben zu tun.“ Nun senkte die Novizin ihren Kopf verschämt. Das erneute Seufzen der Alten ließ sie regelrecht zusammenzucken.

„Was ist mit deiner Schuld?“

„Ich …“

„Willst du wiedergutmachen, was du angerichtet hast, als du die Königin der Astronauten mit dem Artefakt deiner Mutter wegteleportiertest?“

„Ich …“, die Novizin stockte. „Ja, Große Mutter, das würde ich gerne. Mir tut das alles sehr leid, aber ich hatte einfach solche Angst. Ich …“

Das Oberhaupt des Klosters hob ihre Hand und brachte Mara augenblicklich zum Schweigen. Anstatt sie weiter auszufragen, richtete die Herrin des Klosters ihre Aufmerksamkeit wieder auf die andere Frau. „Wärst du bereit, einen weiteren Auftrag auszuführen, obwohl du zuvor so lange unterwegs gewesen bist und ich dir anschließend auch noch diese schwere Bürde auferlegte?“

„Ich lebe, um der Göttin zu dienen, Große Mutter. Was verlangt Ihr von mir?“

„Willst du etwas näher treten, sodass ich deine Stirn berühren kann?“

Jane tat, wie ihr geheißen und beugte sich leicht zur Großen Mutter herab, worauf die Alte sie berührte. Beide Frauen verharrten einige Augenblicke in ihrer Bewegung. Die gerüstete Kriegerin in der Robe der Weisen Frauen und die Große Mutter, deren Finger genau oberhalb der Nasenwurzel die Stirn der Wolfsäugigen berührte.

Mara trat nervös von einem Fuß auf den anderen und knibbelte an ihren Fingernägeln, während sie gespannt beobachtete, was vor sich ging. Dann war es plötzlich vorbei, die Kriegerschwester richtete sich wieder auf, während die Alte ihren Arm sinken ließ.

„Das ist eine gewaltige Aufgabe, die Ihr auf meine Schultern legt, Große Mutter.“

„Wirst du die Herausforderung annehmen?“

Nun grinste Jane, wodurch ihr wölfischer Ausdruck noch verstärkt wurde. „Das ist einmal etwas anderes. Ich bin sicher, dass es sehr interessant werden wird. Aber Euch ist klar, dass Ihr nichts Geringeres als ein Wunder von mir erwartet, nicht wahr, Große Mutter?“

„Wer kennt die Wege der Göttin, wenn nicht sie?“

Jane erkannte den Segen in den Worten und erwiderte: „Möge sie mich auf meinem Weg begleiten. Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Große Mutter.“ Damit drehte sich Jane um und machte Anstalten zu gehen.

„Worauf wartest du noch?“

Die Frage der Großen Mutter klang unschuldig, doch lief Mara ein Schauer über den Rücken.

„Ich?“

„Ja, du“, antwortete die Kriegerschwester anstelle der Alten. „Du wirst mich begleiten.“

„Was?“ Mara konnte es nicht fassen.

„Komm und trödle nicht. Wir haben einiges zu tun.“

Anstatt der Aufforderung nachzukommen oder darauf zu antworten, wandte sich Mara direkt an ihre Vorgesetzte. „Ich … aber … Große Mutter!“

„Wolltest du nicht Wiedergutmachung leisten?“

„Genau.“ Janes Stimme war jetzt schneidend. „Darum wirst du mit mir kommen, um die Königin der Astronauten zu suchen. Und jetzt komm, ich wiederhole mich nicht gern.“

Völlig verdattert folgte die Novizin der Kriegerschwester zögerlich. Nachdem beide Frauen den Balkon verlassen hatten, sank die Große Mutter in sich zusammen und seufzte ein weiteres Mal. Im Grunde tat ihr die kleine Novizin leid. Sie so in ihr Schicksal zu stoßen, war nicht ungefährlich. Aber es wurde Zeit, dass Mara lernte, was noch alles in ihr steckte. Sie besaß die Anlagen und das nötige Wissen. Dafür hatten die Göttin und ihre Ausbildung gesorgt. Aber das reichte nicht aus.

Mara fühlte es nicht. Sie war zu sehr in ihren eigenen Selbstzweifeln verhaftet, als dass sich ihr Potenzial entfalten konnte. Das Kloster schien wahrlich nicht der richtige Ort dafür. Vielleicht konnten die Herausforderungen der Suche sie endlich wachrütteln.

Außerdem würde es ihr gut tun, das Gefühl zu haben, ihren Fehler, auch wenn er versehentlich geschehen war, wiedergutzumachen. Entweder war Mara nach diesem Abenteuer die Frau, die sie in ihr sah, oder es war hoffnungslos und sie musste sich tatsächlich nach einer anderen Nachfolgerin umschauen. So oder so, es konnte nicht schaden und wer wusste schon, wozu es sonst noch gut war.

13. Ronja

Ronjas Vorsicht zahlte sich aus, auch wenn sie trotzdem einen Preis bezahlen musste. Das Dämmerlicht setzte bereits langsam wieder ein, als es geschah. Es war anders gekommen, als sie dachte, denn nicht Magie, sondern das Gebäude selbst erwies sich als Falle. Gut zwanzig ihrer Leute befanden sich gerade innerhalb des Gebäudes, als ein großes Stück Mauerwerk neben der klaffenden Lücke im oberen Teil des Turms nachgab und einfach in sich zusammenfiel.

Dumpfes Grollen setzte ein, als weitere Stücke des Bauwerks nachgaben. Schneller und schneller griff Unheil um sich, bis die lädierte Etage dröhnend einstürzte. Ronja schrie auf, als es zum Bruch kam, die höher liegende Etagen nicht länger getragen wurden und zunächst wie in Zeitlupe, dann immer schneller herab sackten. Als dann der Rest des gebrochenen Mauerwerks herunterstürzte, geriet der nun völlig haltlose Gebäudeteil immer weiter in Schräglage, was jedoch durch das Astgewirr weiter oben zu einem gewissen Grad ausgeglichen wurde. Donnernd und tosend rumpelten Gestein, Möbeltrümmer und ein Meer aus Blättern auf den Erdboden herabsegelte, als die oberen Etagen in sich zusammenbrachen. Eine Wand aus Staub wirbelte mit Wucht auf sie zu und verbarg, wie das Geröll den Turmstumpf unter sich begrub. Ronja fluchte entsetzt, während eine Vielzahl von Stimmen zeigte, dass ihre Kameraden diese Emotionen teilten. Als der Krach des Einsturzes verstummte und sie alle in eine dicke Staubwolke gehüllt waren, rief sie hustend, doch so laut sie konnte:

„Los! Vorwärts! Es sind noch Astronauten in dem Trümmerhaufen!“

Das Atmen tat weh und ihre Augen brannten, doch sie rannte, so schnell sie konnte. Hustende Schatten, kaum sichtbar im Staub, folgen ihr in Scharen.

14. Tilseg

Die Arbeiten an Hirikos und Nirilis’ Pflanzen kamen gut voran, warfen aber neue Probleme auf. Ganz davon abgesehen, dass er noch nicht wusste, wie sie Hirikos Pflanzen endgültig aus dem Boden bekommen sollten, ohne das Wurzelwerk grob zu beschädigen. Das würde in der Tat schwierig werden.

Mit einem Durchmesser von fast drei Metern und einer Tiefe von annähernd zwei Metern blieb auch noch das Problem des Transports. Ein Karren, der die entsprechende Menge Erdreich zusammen mit der Pflanze in sich aufnehmen konnte, war ein schweres Vehikel und musste entsprechend stabil konstruiert werden. Tilseg schätzte nur das Gewicht des benötigten Erdreichs auf bis zu eine halbe Tonne. Das musste erst einmal bewegt werden.

Alternativ konnten sie die Pflanze natürlich auch ohne Erde transportieren. Das löste das Problem des Gewichts, behielt aber weiter die Schwierigkeit der Größe und erhöhte signifikant das Risiko und die Anzahl der zu erwartenden Transportbeschädigungen.

Der effektivste Weg wäre, eine radikale Stützung des Wurzelwerks vorzunehmen, ebenso wie beim oberen Teil der Pflanze, doch das würde Hiriko nicht akzeptieren.

Ein verzwicktes Problem.

Seit Kurzem spielte der Doktor mit einer weiteren Option, die jedoch auf Wenn-Dann-Optionen beruhte. Hiriko hatte schon mehrfach bewiesen, dass sie das Wachstum und die Form ihrer Pflanze beeinflussen konnte. Tilseg überlegte, ob dies nur während des Wachstums geschehen konnte oder auch später noch möglich war. Er hatte dies zwar noch nicht beobachtet, aber er würde sie danach fragen, sobald er die Gelegenheit hatte.

Als ein Goblin an ihn herantrat, um ihn anzusprechen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf ihn.

„Frauen aus dem Kloster wollen unsere Anführerin sprechen.“

„In der Tat? Dann bring sie zu mir.“

Der Goblin grinste, nickte und beeilte sich, die Amazonen zu holen. Das pummelige Mädchen kannte Tilseg bereits vom Kurtai, doch die andere Frau kannte er nicht. Sie trug eine Kapuze, die ihre Züge zum Teil verdeckte, doch die Rüstung unter ihrer Robe und ihre Bewegungen zeigten deutlich, dass er es hier nicht mit einer normalen Novizin zu tun hatte.

„Ich grüße euch im Namen der Astronauten. Ihr wolltet mich sprechen?“

Die Novizin blickte zu Boden und ihre Begleiterin zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.

„Du führst also diese Gruppe von Astronauten? Gut, ich habe von dir gehört und auch, dass ihr einige Dinge anders handhabt.“

„In der Tat. Wollt ihr mir vielleicht erzählen, wie ich euch helfen kann?“

„Wir sind nicht hier, um euch um Hilfe zu bitten vielmehr wollen wir sie euch anbieten.“

„Faszinierend. Wobei möchtet ihr uns denn helfen?“

„Wir sind gekommen, um euch darin zu unterstützen, eure Königin wiederzufinden.“

„In der Tat? Das ist aber sehr nett von euch. Darf ich fragen, welche Faktoren zu eurer Entscheidung geführt haben?“

„Wir sind hier, weil die Große Mutter es will und Mara ihre Schuld begleichen möchte.“

„Ich habe ihre Zeugenaussage während ihrer Befragung durch das Kurtai gehört. Es war ein Unfall.“

„Es ist sehr freundlich, dass ihr dies so seht. Was sagt ihr? Wollt ihr unsere Hilfe haben oder nicht?“

„Ist immer willkommen, doch meist hat sie ihren Preis. Also sagt mir, welchen Preis hat eure Hilfe und welche Form hat sie?“

„Die Hilfe ist bedingungslos und uneingeschränkt. Es ist das Mindeste, was das Kloster tun kann, um die Schande wiedergutzumachen, dass eure Königin in unserer Obhut zu Schaden kam.“

„Also ist der Preis die Wiedergutmachung. Gut. Eine Frage habe ich noch.“

„Fragt.“

„Was werdet ihr tun, wenn wir eure Hilfe ablehnen?“

Die Wolfäugige überlegte kurz. „Dann werden wir sie ohne euch suchen. Schon die Ehre verlangt es.“

„Gut, danke für eure Aufrichtigkeit. Ihr dürft uns begleiten, wenn ihr es wünscht. Doch werden wir zunächst zur Küste reisen. Dorthin, wo die anderen unseres Clans lagern.“

„Wirklich?“ Die Kriegerin schien tatsächlich überrascht, fing sich aber schnell wieder. „Gut, was auch immer ihr für richtig haltet. Wir sind hier, um zu helfen, nicht, um zu befehlen oder zu fordern.“

Tilseg, kurz berechnend, ob er die Frau auf ihre Reaktion ansprechen sollte, beschloss es erst einmal dabei zu belassen. Er blickte schelmisch auf die Frauen hinab und sagte:

„Ich hätte in der Tat etwas, wobei ihr helfen könntet. Ich benötige viel Material, um Hiriko Tanakas Pflanze transportieren zu können. Vielleicht kann das Kloster uns in diesem Punkt helfen.“

„Mara wird alles Nötige veranlassen.“

Die Novizin zuckte bei diesen Worten zusammen.

„Nicht wahr?“

Sie nickte geflissentlich.

15. Hiriko

Nirilis und sie hatten den Drachen berührt und danach die kalte Pflanze. Hiriko hatte bei dem Gedanken daran, sich ins Innere des Gewächses zu begeben, schon geschaudert. Ihrer Freundin schien es nicht besser zu ergehen. Trotzdem hielten sich die beiden Dryaden an ihr Versprechen und drangen durch die Eisschicht.

Ihr Gefühl beim Übergang vom Diesseits in Dryas Reich war sogar noch schlimmer, als wenn man durch gestorbene Dinge hindurchglitt. Hirikos Essenz selbst zog sich zusammen, doch dann war es vorbei und sie war durch die Barriere hindurch.

Es war dunkel, jedenfalls fast. Das Leuchten, was in ihrer eigenen Pflanze omnipräsent zu sein schien, war auch hier. Doch die Intensität war um ein Vielfaches schwächer, kaum wahrzunehmen. Ihre Begleiter waren neben dem körperlichen Kontakt nur durch eine schwache Korona zu erkennen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das funktioniert“, meldete Nirilis sich zu Wort.

„Ehrlich gesagt geht’s mir genauso“, entgegnete Hiriko ihrer Freundin.

„Drya!“, rief der Drache.

Die beiden Nymphen blickten sich um. Doch zu sehen gab es nichts. Allein die Tatsache, dass der Drache immer noch seine wahrhaftige Größe besaß, deutete darauf hin, dass dieser Ort eine entsprechende Größe aufwies, sodass Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon sich nicht den Kopf stieß.

„Drya!“ Nun brüllte der Geschuppte aus vollem Leibe. Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Drya!“

Wieder und wieder hallten die Rufe. Und tatsächlich. Etwas reagierte schließlich auf seine Rufe und eine Gestalt schälte sich endlich aus der Dunkelheit, die keine war, und trat auf sie zu.

„Bist du es wirklich, mein Herz?“, flüsterte sie.

„Ja, ich bin es“, antwortete der Drache mit belegter Stimme. „Ach, Drya, meine Geliebte. Es ist so viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Verzeih mir meine Torheit.“

„Was hat dich aufgehalten, mein Herz?“

„Das Leben. Erst deine Schwestern hier haben die Erinnerung an dich wieder lebendig gemacht und als ich dann zu dir zurückkehrte, schien es zu spät für uns.“

„Ja. Ich war weit weg und habe fest geschlafen. Aber dann habe ich dein Lied gehört.“

„Es war ein richtiges Wunder. Ich dachte, du seist verloren.“

„Ich auch, mein Liebster. Ich auch. Mein Lebensfunke, doch gerade erst neu aufgeflammt, entfernte sich so schnell von mir. Und ich? Ich war so langsam. Dann kam die Kälte. Auch als ich meinen Lebensfunken wiederfand, blieb sie bei mir.“

„Ich habe es gesehen und fühle es. Aber nun bin ich bei dir.“

„Ja mein Herz, das bist du.“

Fasziniert beobachtete Hiriko, wie die schemenhafte Kontur der Walddryade immer dichter wurde. Mit neuer Körperlichkeit schmiegte sich Drya an die Brust des Drachen, der regelrecht erbebte, bevor er seinerseits eine Pranke um seine zierliche Geliebte legte.

Nirilis, merklich bewegt, nahm Hirikos Hand und schniefte leise vor Rührung. Auch Hiriko glaubte vor Glück überzulaufen. Das war alles so romantisch. Vor allem, wenn man die Gefühle der Liebenden so stark wahrnehmen konnte, wie sie jetzt gerade. Sie waren schier überwältigend.

16. Boris

Diese verflixten haarigen Viecher waren wirklich nicht besonders schlau, dafür aber umso beharrlicher. Bevor überhaupt an einen Ausfall zu denken war, hatten sie ihre Gegner weiter mit Speerstößen durch die Barrikade dezimiert: Die Layfane sorgten dabei selbst dafür, dass ihre Speere immer neue Ziele fanden.

Unbeirrt bemühten sich die Bestien immerzu die Barrikade zu durchbrechen. Lagen zu viele ihrer Artgenossen im Weg, so wurden diese kurzerhand weggeschafft. Sich vielleicht um Verletzte zu kümmern, anstatt ihre Körper nur grob wegzuschleifen, kam den Wesen dabei jedoch nicht in den Sinn. Als endlich keine Kreaturen mehr nachstürmten, um ein weiteres Teil aus der Barrikade herauszuzerren, schien Kommandant Koschkin der rechte Zeitpunkt gekommen, um zu einem Gegenangriff auszuholen.

Also waren es diesmal seine Leute, die an der Barrikade rüttelten und Stück für Stück beiseite räumten. Da die Layfane sie nicht daran hinderten und auch nicht kontinuierlich die entstehenden Lücken stopften, wie sie es zuvor getan hatten, gelang ihnen ihr Vorhaben auch recht zügig. Gleiches galt auch für den darauf folgenden Vorstoß.

In der Kelleretage lebte nichts mehr, das ihnen noch hätte Widerstand leisten können. Auch auf ihrem Weg hinauf in die Hauptburg der Festungsanlage wurde ihr Vorankommen zwar von gelegentlichen Scharmützeln begleitet, die durch ein paar herumstreunenden Layfane verursacht wurden, doch alles in allem klappte die Rückeroberung hervorragend. Schon nach wenigen Stunden war die Hauptburg gesichert und fest in der Hand seiner Leute.

Nun stand er gemeinsam mit Faqech in der geräumigen, wenn auch recht niedrigen Haupthalle der Burg, die ein großes Portal zum Innenhof der Festung besaß, und starrte gemeinsam mit ihr auf die sich dort draußen ergießenden Regenfäden, die immer wieder von Blitzschlägen und den Ladungen der Silberdrachen durchzuckt wurden.

„Soweit, so gut“, brummte der Russe. „Aber hier ist erst mal Schluss. Ohne das Meerfeenartefakt kommen wir nicht weiter. Anscheinend haben die Nebengebäude keinen direkten Zugang zu diesem hier und durch die Suppe da draußen kommt niemand von uns durch.“

„Wenigstens gilt das auch für die Layfane. Wenn die Frauen sich nicht irren, lungern noch einige mehr von ihnen in den für uns unzugänglichen Bereichen des Komplexes.“

„Stimmt. Aber wenn das Artefakt dort irgendwo ist, sitzen wir auf dem Schlauch. Apropos! Hast du noch etwas herausgefunden?“

„Nein. Die Frauen wissen nichts über einen Gegenstand, der infrage kommen könnte.“

„Verdammt. Also wissen wir im Grunde immer noch nicht, wonach wir genau suchen müssen.“

„So ist es.“

Fluchend fuchtelte der Russe mit den Armen. „Fantastisch. Und wo fangen wir jetzt an?“

„Naja. Irgendwo müssen wir ja beginnen. Ich denke, wir durchkämmen einen Raum nach dem anderen, um sicher zu gehen, dass wir alle Layfane gefunden haben. Dann schauen wir weiter. Vielleicht stoßen wir ja durch Zufall auf etwas, das uns weiterhilft.“

„Gut. Machen wir es so. Ich schnapp mir ein paar Leute und beginne im Keller. Gehst du nach oben?“

„Klar. Wieso nicht.“

„Gut“, brummte Boris wieder. Als er sie dann verließ, maulte er leise vor sich hin. Sie mussten etwas suchen, von dem sie keine Ahnung hatten wie es aussah oder wirkte. Das konnte ja heiter werden.

Zwischenspiel

Dragar und seine Gefährten waren der geräumigen Schneise lange gefolgt und hatten schließlich eine frisch abgeholzte Lichtung erreicht. Die Bäume waren nicht gefällt, sondern umgerissen oder regelrecht entwurzelt worden.

Inmitten der Verwüstung lagen die abgerissenen Stämme. Zu einer Art chaotischem Haufen aufeinander geschichtet, dienten sie einer gewaltigen blauen Kreatur als Ruheplatz.

Das Sonnenlicht reflektierte sich auf zahlreichen kleinen, glatten Flächen der Haut des Wesens. Das Funkeln zog den Blick Krogars unwiderstehlich an und dann in seinen Bann.

Mit offenem Maul, leicht sabbernd und mit verträumtem Gesichtsausdruck, betrachtete der Muskelberg fasziniert die Reflexionen und Lichtspiele auf dem mächtigen Körper. Das neue Geschöpf des Meisters schien indessen zu schlafen. Und doch hielt es Dragar für klüger, erst einmal zu beobachten.

„So etwas Großes hat der Meister noch nie geschaffen“, flüsterte der Bär.

„Da hascht du Recht, Bo. Genau dasch dürfte die Urschache schein, warum der Meischter nun ein Scheischhaufen ischt.“

„Ssie issst gewachsssen, ssseit sssie den Turm verlassssssen hat“, zischte der Schlangenmensch dazwischen.

„Dasch schehe ich schelbscht, Asch“, tadelte Dragar ihn. „Dasch Loch wäre schonscht schicherlich beträchtlicher geweschen. Wie grosch mag esch jetscht schein?“

„Ich würde sagen, ungefähr doppelt so hoch wie Krogar“, schätzte der Bär.

„Wenn sssie ssso weiter macht, wird sssie irgendwann unter ihrem eigenen Gewicht zzzusssammenbrechen.“

„Meinscht du? Bischher scheint esch jedenfallsch gut damit schurecht gekommen schu schein.“

„So schön.“

Der Wolfsmensch schaute zu dem Minotaurus empor. „Schicher, esch ischt recht hübsch anschuschehen, Krogar. Aber trotschdem schollten wir schunächscht einen Schicherheitschabschtand daschu halten. Schicher ischt schicher.

„Ich weissssss immer noch nicht, warum wir überhaupt hier sssind“, zischte Asss frustriert. „Wir hätten einfach im Turm bleiben sssollen dasss war unssser Zzzuhaussse, da waren wir sssicher.“

„Was ihr hier treibt, würde ich auch gerne wissen“, mischte sich nun eine neue Stimme ein. Bär, Wolfsmensch und das Schlangenwesen schauten kollektiv in die Richtung, aus der sie angesprochen wurden. Nur der Minotaurus starrte weiter auf den blauen, funkelnden Leib zwischen den Baumstämmen.

„Schieh mal einer an“, begann Dragar eine Erwiderung und fletschte die Zähne zu einem Grinsen. „Wenn dasch nicht dasch vorlaute Lieblingschschpielscheug desch Meischtersch ischt.“

„Ich habe einen Namen!“

„Tatschächlich? Na scho wasch. Hat der Meischter schich doch erbarmt, dir endlich einen Namen schu geben?“

„Niemalsss. Dasss Lügenmaul war viel zzzu frech, alsss dasss der Meissster sssich zzzu ssso etwasss herabgelassssssen hätte.“

„Nein. Der Meister war es nicht, der mich benannte.“

„Dasch ischt ja richtig schpannend. Wer schonscht war esch denn?“

„Sie war es!“ Der Waschbär deutete auf die gewaltige Kreatur, die in ihrem Bett aus Bäumen lag und zu schlafen schien.

„Du meinscht, esch kann tatschächlich schprechen?“

„Sie konnte es einmal. Seit ihrer Verwandlung allerdings kam noch nichts Vernünftiges aus ihr heraus.“

„Ssso ein Ssschwindler“, zischte Asss „Wiessso sssollte sssie ssso etwasss tun? Wiessso ssso einem Flohzzzirkusss wie dich zzzu einer Perssson erheben?“

„Weil sie nicht so dumm ist wie du und nicht so grausam wie der Meister.“

„Ssschwätzzzer, ich werde dich verssschlingen. Der Meissster kann dich jetzzzt nicht mehr bessschützzzen.“

„Dich auch nicht, Ass“, grollte der Bär da. „Vergiss das nicht. Mir juckt es schon gehörig in den Tatzen.“

„Dasch reicht jetscht! Genug geschankt! Alscho gut, Waschbär, wie lautet alscho dein Name und wasch machscht du hier drauschen?“

Der Waschbär trat nun vollends aus dem Gestrüpp und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Damit reichte er dem Wolfsmenschen noch nicht einmal bis zu den Knien. Trotz dieser Größendiskrepanz war seine Haltung voller Stolz, als er verkündete:

„Keine-Ahnung! Freut mich, euch neu kennenzulernen.“

17. Junior

Ungerührt stapfte Junior seinem Ziel entgegen. Er verschnürte die Körper der beiden verletzten Amazonen gut und hängte sie über dem Pferd. Dann führte er das Tier am Zügel, während er mit seinem anderen Arm die warme Drachenpflanze trug.

Er hatte zwar wieder etwas Hunger, aber ansonsten war er bester Laune. Weshalb, dass wusste der Oger nicht genau, aber im Grunde war ihm dieser auch egal.

Zum Leidwesen einer seiner Gefangenen, die zu ihrem Unglück bei Bewusstsein war, und zum Schrecken der Umgebung schmetterte er außerdem ein orkisches Krippenlied, bei dem er jedes Wort, dass ihm gerade nicht einfallen mochte, durch einen schrägen Grunzlaut ersetzte.

Während Junior so seines Weges ging, hinterließ er eine Spur aus wild wuchernden und hektisch aufblühenden Pflanzen, ohne dass es ihm auch nur einen Moment lang auffiel.

Gut gelaunt und leichten Schrittes, näherte sich Hirikos Ziehsohn also unaufhaltsam dem Lager der Astronauten in den Hügeln des Klosters von Laylay, als erneut Reiter auf ihn zuhielten.

Wieder kleine Leute auf Pferden, wie er feststellte. Der Oger beschloss diese Clanfrauen erst einmal zu ignorieren und folgte weiter seinem unsichtbaren Weg, aufblühende Natur hinter sich zurücklassend.

Doch schließlich hatten die Frauen ihn eingeholt und riefen etwas in der schnellen Sprache der hier lebenden Menschen. Er kannte nur einige Brocken dieser Sprache. So etwas wie: ‚Hunger’, ‚mitmachen’ oder ‚nicht hauen’.

Er beschloss, dass eine Unterhaltung wenig Sinn machte, und versuchte den Kriegerinnen auszuweichen. Doch diese versperrten ihm erneut den Weg und wiederholten ihre Worte. Nun blieb der Muskelberg stehen.

Bisher hatten die Frauen ihre Waffen nicht gezogen und ritten auch nicht schreiend auf ihn zu. Das war gut. Aber sie schienen auch entschlossen, ihn nicht in Ruhe zu lassen. Das war nicht gut.

Angestrengt dachte der Oger nach, was seine Mutter jetzt tun würde. Das dauerte eine Weile und verunsicherte die Amazonen merklich. Vielleicht lag es auch daran, dass währenddessen das Gras zu seinen Füßen eilig wuchs und Blumen ihre Blüten in rekordverdächtiger Geschwindigkeit ausbildeten, um sie so schnell es ging der Welt zu präsentieren. Schließlich hatte er sich zu einem Satz durchgerungen. Er öffnete den Mund und sprach bedächtig und in seinem besten Westländisch:

„Nicht hauen. Junior - Astronaut!“

Ob die Frauen ihn verstanden hatten, konnte der Oger zwar nicht genau sagen, aber auf jeden Fall zeigten seine Worte Wirkung, denn die kleinen Leute redeten aufgeregt aufeinander ein, nachdem sie ihn zunächst nur perplex und stumm angestarrt hatten. Schlussendlich aber machten sie Platz und ließen ihn ziehen. Er grinste freundlich, als er an ihnen vorüberging, was jedoch dazu führte, dass eines der Pferde in seiner Nähe durchging und mitsamt seiner Reiterin davon galoppierte.

In einem Moment der Überraschung hielt er inne und schaute dem fliehenden Tier hinterher, dann erst setzte er sich wieder in Bewegung. Dass die Frauen ihm in gebührendem Abstand folgten, nachdem sich ihre Kameradin wieder angeschlossen hatte, bemerkte der Muskelberg zwar, doch beachtete er sie nicht weiter. Er hatte Wichtigeres zu tun und keine Zeit zum Spielen.

18. Hiriko

Während die ungleichen Liebenden sich an sich schmiegten und die beiden Dryaden sie verzückt betrachteten, wurde es heller und heller in dem Raum. Nein, das Wort war unzureichend. Hiriko löste ihren Blick und sah sich um. Halle war noch untertrieben. Dryas Reich war riesig, ja geradezu gewaltig. Ungläubig bestaunte die Dryade ihre Umgebung. Der hölzerne Boden ähnelte dem in Hirikos Pflanze, nur war dieser völlig mit filigranen Mustern übersät. Während sie die Schönheit bewunderte, die darin steckte, erinnerte sie sich an Nana, die Waldnymphe, deren Heim an Deck eines der Schiffswracks weit draußen in der Bucht wurzelte.

Die Muster erinnerten sie auch ein wenig an deren Wohnsitz. Doch gab es in Nanas Zuhause nicht nur hübsche Verzierungen, sondern auch noch einen Haufen anderes Leben. Die Nymphe auf dem Schiff hatte im Laufe der Zeit neben einer Vielzahl von Pflanzen auch eine kleine Armee aus Insekten, etlichen Vögel und ein paar Menschen zu sich nachhause eingeladen und so ein regelrechtes Ökosystemen in ihrem Reich erschaffen. Auch in Nirilis’ Pflanze hatte sie solche Zeichen gesehen, aber die Atmosphäre dort war düster und deprimierend. Zumal die vielen Schädel und Zaubersprüche der in ihrem Symbiosepartner festsitzenden Zauberer beständig weiter wuchsen. Dryas Heim schien keine solchen Altlasten oder andere Gäste zu beherbergen.

„Wie groß kann ein Dryadenheim eigentlich werden?“

Diese von Hiriko aus Verwunderung ausgesprochene Frage war an niemand speziellen gerichtet. Trotzdem antwortete Nirilis ihr. „Weiß nicht. Ich glaub, es gibt eigentlich keine Grenze.“

„Das ist wirklich unglaublich“, flüsterte Tanaka überwältigt.

„Ja. Es ist unglaublich, dass es funktioniert.“

„Bitte?“

„Na, schau dich doch mal um! Es funktioniert wirklich.“

Hiriko schaute, aber verstand nicht. Zu sehr war sie von den Eindrücken gefesselt.

„Ich meine die Idee von unserem Drachen, Drya mit seiner eigenen Lebenskraft zu helfen. Es klappt tatsächlich. Dryas Heim erhält durch ihn neue Kraft. Das siehst du doch, oder?“

Hiriko nickte zaghaft. Natürlich, die Helligkeit des sich selbst erschaffenden Leuchtens. Das war es, was ihre Freundin meinte. „Du hast recht, das ist wirklich toll!“

Gemeinsam betrachteten die beiden Dryaden ehrfürchtig den Vorgang der Wiederbelebung des Ortes, bis Hiriko etwas anderes ins Auge fiel.

„Was ist denn das da hinten?“

Nirilis spähte in die gleiche Richtung.

„Ich glaube das Ende der Höhle. Eine Wand! Oder meinst du nicht?“

„Doch, aber was glitzert da so?“

„Wo? Ach, das! Weiß auch nicht.“

Hiriko betrachtete das sich immer noch eng umschlungene Pärchen aus Drache und Nymphe, dann blickte sie ihre Freundin an.

„Meinst du, Drya hat etwas dagegen, wenn wir uns ein bisschen umschauen?“

„Nein. Ich glaube nicht“, erwiderte Nirilis leichthin. „Aber wir könnten sie auch selbst fragen, wenn du dir unsicher bist.“

„Ich mag sie nicht stören“, gestand Hiriko ihr. „Die beiden sehen gerade so glücklich aus.“

„Stimmt, finde ich auch. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn wir uns ein wenig umsehen. Sollen die beiden ihr Wiedersehen erst einmal richtig genießen.“ Nun lächelte die Nymphe schelmisch. „Komm schon. Lass uns schauen, was da hinten so funkelt.“

Hiriko nickte und grinste zurück. Gemeinsam machten sie sich auf, die Quelle des Glitzerns zu inspizieren.

19. Boris

Als sie vom Keller aus die Burg zurückeroberten, hatten sie sich nicht lange mit verschlossenen Türen aufgehalten. Stattdessen sicherten sie nur zügig die zugänglichen Räume, bevor sie die oberen Stockwerke bestürmten. Nun aber nahmen sie sich auch die verschlossenen Türen und Tore vor, die es hier unten noch zur Genüge gab. Die Frauen der Küstenjäger zeigten sich kooperativ und öffneten die Türen, zu denen sie noch Schlüssel besaßen. Die wenigen übrigen brachen sie unter deren Aufsicht kurzerhand auf.

Offenbar hatten die Erbauer der Burg die natürlichen Höhlen und Spalten für ihre Zwecke genutzt und zu zahlreichen Kellerräumen ausgebaut. Überwiegend schienen sie zur Lagerung gedacht gewesen zu sein, doch nun waren die meisten von ihnen leer und verlassen. Wenn die Amazonen den ganzen Lagerraum wirklich einmal genutzt hatten, waren sie wirklich weit von der früheren Blüte ihrer Kultur entfernt. Der Komplex war weitläufig und verwinkelt obendrein. Ohne die Markierungen, die sie fanden, und der mäßigen Ortskenntnis der Clanfrauen konnte man sich hier tatsächlich völlig verlaufen.

Zwei Bereiche traten aus dem Einerlei aus Lagerfläche scharf heraus. Zum einen das Mausoleum der Burg, zu dem die Küstenjäger nur Frauen Zugang gewährten. Eine Amazone aus seinem Trupp und mehrere Frauen der Küstenjäger begingen diesen Bereich schließlich allein. Ergebnislos.

Und dann war da noch die Wasserkaverne. Ebenfalls eine recht große Höhle, von mehreren natürlichen Säulen getragen. Der Grund der Höhle war von Meerwasser geflutet, das durch einen breiten Riss in der Felswand eindrang. Die Kraft der Wellen des aufgepeitschten Wassers drangen bis hierher vor und wühlte den Wasserspiegel selbst in dieser geschützten Kaverne auf. Von seiner Position aus führte eine steinerne Treppe hinab zum Wasser. Die Stufen endeten an einem hölzernen Steg, an dem eine ganze Reihe größerer Fischerboote befestigt waren. Etliche, der in den Wellen wogenden Schiffe schienen schon bessere Tage erlebt zu haben, aber ein paar schienen durchaus noch seetüchtig.

„Ein kleiner geschützter Hafen mit direktem Zugang zum Meer. Sehr interessant“, grummelte Koschkin. Ja, interessant schon, aber unerheblich. Er suchte gerade keine Boote, sondern ein Artefakt. Während er sich durch die Kellerräume arbeitete, hatte er weiter darüber nachgedacht und wurde dabei immer mürrischer. Viel verstand er ja nicht von Magie und dem ganzen Zeug, doch schien das Artefakt zurzeit nicht aktiv zu sein. Wenn es denn tatsächlich hier irgendwo in der Festung versteckt war. Wie sollte man so etwas nur finden? Es könnte sich direkt vor seiner Nase befinden, ohne dass er es erkannte. Vielleicht war es ja eins der Boote da unten, ein einfaches Schmuckstück oder sonst etwas. Es konnte einfach alles sein. Nun fluchte der Russe, während seine Leute grob überprüften, ob von hier eine Gefahr ausging, dann zogen sie weiter.

Endlich hatten sie auch den letzten Winkel der Burguntergeschosse erkundet, die sich als ein Gefängnis einschließlich angrenzendem Folterkeller und einer natürlichen Wasserquelle entpuppten. Das kräftige Rinnsal wurde in einer Furche eingefasst, zu einem Becken geleitet, bevor das Wasser andernorts wieder in einem Kanal abfloss. Irgendwie an eine Badewanne erinnert, konnte Koschkin nicht glauben, dass dieses hier tatsächlich auch so genutzt worden war. Das Wasser war eisig kalt.

„Das war’s dann wohl hier unten“, brummte der Kommandant frustriert und gab Zeichen, dass er in den Hauptsaal der Burg zurückkehrte. Vielleicht hatte Fang ja mehr Glück bei ihrer Suche gehabt. Aber irgendwie bezweifelte er das stark.

20. Junior

Junior hatte es nicht mehr geschafft, das Lager der Astronauten zu erreichen. Vorher war er Opfer der Schlafschönblüten und ihrem betäubendem Duft geworden, die durch die Kraft der Dryaden hier nun schon zum zweiten Mal, in so kurzer Zeit erblühten. Der Oger war müde geworden, hatte schließlich angehalten und sich hingesetzt. Dann, kurze Zeit darauf, kippte er schlicht nach hinten und blieb einfach liegen.

So fand Tilseg den schlafenden Oger schließlich auch. Das Pferd und auch die Amazonen, die er bei sich führte, schliefen ebenso. Der grüne Hüne musste nicht viel nachrechnen, was der Grund für das rege Pflanzenwachstum war und deponierte den Wurzelballen mit den Ästchen, das von dem hölzernen Drachen umschlungen wurde, in sicherer Entfernung zum Lager.

Dabei wählte er ebenfalls eine Stelle, an der genügend Schlafschön wuchs. Zwar glaubte er nicht wirklich daran, dass der Pflanze hier ein Leid geschah, doch bestand ein ausreichendes Restrisiko, um solcherlei Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Anschließend schickte er einen seiner Leute mit einer mündlichen Nachricht zum Clan der Drachenklauen, bevor er sich schließlich Junior, dann den Amazonen und zuletzt dem verletzten Tier zuwandte.

Dass der Oger unterwegs Ärger bekommen hatte, war offensichtlich. Ebenso war Tilseg klar, wo sich der Drache aufhielt. Doch wo waren Hiriko und Nirilis? Vielleicht konnte Hirikos Ziehsohn etwas Licht ins Dunkel bringen, sobald er ausgeschlafen hatte.

Nacheinander brachte er seine Patienten aus dem Wirkungsbereich der einschläfernden Pflanzen und versorgte ihre Wunden. Da er bei den beiden bewusstlosen Kriegerinnen nicht wusste, ob sie Freund oder Feind waren, ließ er sie anschließend bewachen, auch wenn er darauf verzichtete, sie wieder zu verschnüren, wie der Oger es getan hatte. Auch sie konnten eventuell eine wertvolle Informationsquelle darstellen.

„Die Drachenklauen sind hier“, wurde er schließlich angesprochen, als er gerade begonnen hatte, einen Umschlag für das Pferd anzufertigen, um dessen Brandwunden zu behandeln.

„Ich werde mich mit ihnen beschäftigen, wenn ich hier fertig bin.“

Der Mann, der zu ihm getreten war, nickte nur und entfernte sich wieder, um seine Worte an die am Rande ihres Lagers wartenden Frauen zu übermitteln. Erst als der Grüne seine Arbeit beendet hatte, folgte er ihm. Sobald er nah genug an die Kriegerinnen herangekommen war, um nicht mehr schreien zu müssen, rief er ihnen: „Ich grüße euch“, entgegen. „Willkommen in unserem Lager.“

„Ich grüße dich ebenfalls, Tilseg, Sprecher der Astronauten. Wir sind wegen der Nachricht hier, die dein Bote uns brachte. Wir sind verwundert, dass unsere Königin zu euch und nicht zu uns zurückgekehrt ist.“

„Junior, unser Oger, brachte den Drachen zu uns. Folgt mir, ich bringe euch zu ihm.“

Mit gebührendem Abstand zu der Zone, wo die Wachstumsprozesse der Natur merklich zunahmen, hielt er an und deutete ins Zentrum der sprießenden Pracht.

„Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon befindet sich dort.“

„Wo? Ich sehe ihn nicht.“

„Korrekt. Die Gräser verdecken ihn.“

„Mit Verlaub. Kniehohes Gras vermag unsere Königin nicht zu verdecken.“

„Mir scheint, meine Botschaft wurde nicht vollständig übermittelt. Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon ist zurzeit Gast im Heim einer Dryade namens Drya.“

„Doch, auch das teilte der Bote mit. Aber es fällt uns schwer, diesen Umstand zu glauben.“

„Wenn ihr es wünscht, werde ich hinübergehen und die Pflanze emporhalten, sodass ihr sie sehen könnt. Der Anblick wird euch überzeugen.“

„Ich werde dich begleiten.“

„Ihr wisst über die Wirkung von Schlafschön Bescheid?“

Die blonde Amazone, die schon einige graue Strähnen in ihrem halblangen Haar aufwies, stockte. Dann nickte sie verstehend.

„Also gut. Wir warten.“

Tilseg marschierte durch das hohe Gras und die zahlreichen Blumen, bis er die Drachenpflanze erreicht hatte. Seit er sie hier abgesetzt hatte, war allenfalls etwas mehr als eine Stunde vergangen. Der Zauber, welcher aus ihr wirkte, hatte jedoch schon dafür gesorgt, dass helle Wurzeltriebe aus dem Ballen herausgebrochen waren. Auch hatte das Ästchen oberhalb des Drachen mehrere kleine Triebe ausgebildet. Vorsichtig versuchte der Grüne, das Pflänzchen anzuheben.

Schnell wurde ihm klar, dass der Ballen bereits Wurzeln in die Erde geschlagen hatte und er unterbrach sein Tun. Einen Moment blieb der Hüne grübelnd über dem Gewächs stehen, während die Amazonen ihn aus sicherer Entfernung beobachteten. Dann nutzte er seine große Hand als improvisierte Schaufel und hob ein gutes Stück Erde unter dem Ballen gleich mit den neuen Wurzeln aus.

Während er dann die Drachenpflanze in die Höhe streckte, fiel ihm auf, dass sie insgesamt an Volumen gewonnen hatte und auch schwerer war als zuvor. Tilseg rechnete auf Hochtouren, warum die Pflanze erst jetzt so ein Verhalten zeigte und nicht schon während Junior sie transportiert hatte. Oder hatten sich die stattfindenden Prozesse irgendwie beschleunigt? Eine schnelle Antwort auf diese Fragestellung fand er jedoch nicht.

„Bring die Pflanze zu uns!“, rief die Sprecherin der Drachenklauen bestimmt.

„Diese Option scheidet aus. Dazu müssen wir die Schlafschönwiese zunächst hinter uns lassen.“

Tilseg rechnete noch intensiver, doch es wollte ihm kein stichhaltiger Grund einfallen, warum er den Frauen ihre Königin verweigern sollte. Also deutete er in eine Richtung, die er dann selbst einschlug. Als um ihn herum schließlich keine Schlafschönblüten mehr auszumachen waren, wartete er auf die Amazonen der Drachenklauen.

Die Frauen waren sichtlich bestürzt, als sie den Miniaturdrachen von nahem sahen und tuschelten aufgeregt miteinander.

„Wie ist das geschehen?“, fragte die Blondine ihn.

„Das ist in der Tat eine spannende Frage, die ich leider nicht beantworten kann.“

„Unsere Königin würde uns nicht so im Stich lassen!“

„Etwas muss sie gezwungen haben.“

„Vielleicht wurde sie von dem Naturgeist dieser Pflanze überrumpelt?“

„Ist es nicht egal? Sie ist verloren!“

„Inkorrekt.“ Tilsegs Stimme setzte sich spielend über den Stimmenwirrwarr hinweg. „Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon hat davon berichtet, früher bereits Gast dieser Dryade gewesen zu sein. Folglich ist er nicht verloren, wenn auch gerade für uns andere unerreichbar.“

„Also schön.“, entgegnete die graumelierte Blondine nun. „Ich glaube dir. Die Königin wird wiederkehren. Das ist gut. Übergib sie uns nun, damit wir nachhause zurückkehren können, um dort auf ihre Rückkehr aus dem Heim des Naturgeistes zu warten.“

„Ich verstehe euer Ansinnen, doch bitte ich um Aufschub.“

„Weshalb? Warum wollt Ihr unsere Herrscherin in Eurer Obhut behalten?“

„Wargiriuns-Aranarich-Deregal-Merac-Argon ist es nicht direkt, sondern die Nymphe, dessen Gast er ist. Hiriko Tanaka, die Dryade unseres Clans, erhofft sich Antworten auf einige drängende Fragen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Drya uns bei einem wichtigen Problem helfen kann, ist sehr hoch. Nehmt ihr eure Königin nun mit, tragt ihr auch diese Chance mit euch fort.“

„Ich verstehe. Gut. Wir werden noch etwas bleiben, damit euer Naturgeist Gelegenheit für sein Gespräch erhält. Ich bestehe jedoch darauf, dass wir unsere Königin mit uns nehmen und in unser Lager bringen.“

„Dem widerspreche ich nicht.“

„Gut. So übergebe uns die Pflanze und schicke euren Geist bald zu uns, damit wir endlich heimkehren können. Das Kurtai selbst hat viel zu lange angehalten und die Zeit drängt langsam. Wir werden nicht sehr lange warten.“

Tilseg übergab also das Drachengewächs an die Blondine und schaute dann den Drachenklauen nachdenklich nach. Wieso drängte die Zeit sie, fragte er sich. Die Amazonen dazu zu befragen, hätte nichts gebracht, das wusste er zu gut. So sehr die Drachenklauen ihnen auch während des Kurtais beigestanden hatten, ihre internen Angelegenheiten behielten sie nach wie vor für sich.

Etwas schien die Frauen zu beunruhigen, das war offensichtlich. Und was immer es war, es hatte mit ihrer Heimat zu tun. Außerdem hatte die Erkenntnis über den aktuellen Zustand des Drachen diese Emotionen noch deutlich verstärkt.

Die blonde Sprecherin ließ sich nicht viel anmerken, doch der Anstieg der Stresshormonkonzentration in ihren Ausdünstungen war Tilseg nicht entgangen. Ihre Begleiterinnen hatten weit weniger Körperbeherrschung als sie. Ihnen stand die Furcht regelrecht ins Gesicht geschrieben, als sie den mit der Pflanze verbundenen Drachen sahen.

Was immer diese Frauen so beunruhigte, es war eine ernste Sache. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zeitspanne, die er von den Drachenklauen erhalten hatte, äußerst begrenzt war, blieb hoch, egal wie oft er seine diesbezüglichen Berechnungen wiederholte. Er musste schnell herausbekommen, wo sich Nirilis und Hiriko Tanaka aufhielten. Ansonsten war Sven Eriksons Chance auf Freiheit bald auf dem Weg ins Gebiet der Drachenklauen.

Zwischenspiel

Fast achthundert Frauen unter Waffen hielten sich nun in der Ortschaft Zweibrücken auf, nachdem die Abordnung der Vier Winde mit ihrer toten Königin dort eingetroffen war. Die Neuigkeiten über den Tod der Monarchin und die Umstände, wie sie starb, verbreiteten sich daraufhin wie ein Lauffeuer unter den bereits anwesenden Kriegerinnen. Schneller noch als die eilig zusammengerufene Versammlung der angesehensten und hochrangigen Frauen vor Ort zusammenfinden konnte, um zu beraten, was nun geschehen sollte. Ganz Zweibrücken beschäftigte sich aktuell mit einer einzigen Frage, die auch Schwerpunkt der anberaumten Zusammenkunft war. Wer würde den Clan in Zukunft leiten? Keine einfache Frage. Die Königin hatte eine Tochter, doch sie war noch ein Kind und nicht in der Lage, dem Clan vorzustehen. Eine Erste Reiterin hatte die Monarchin noch nicht neubestimmt, nachdem Adele, die diesen Titel zuletzt geführt hatte, während des Attentats auf die Herrin der Säbelfanten getötet worden war.

Auch die Kämpfe mit den Astronauten und gegen die Untoten hatte die Führungsriege des Clans ausgedünnt. Folglich befanden sich unter den Anwesenden nur wenige altgediente Kriegerinnen. Die meisten anderen waren noch recht jung und fast alle erst kurze Zeit in ihrer Position. Nachgerückte, da ihre Vorgängerinnen gefallen waren. Diejenigen unter ihnen, die am Kurtai teilgenommen hatten und auch Zeuge der Hinrichtung ihrer Monarchin waren, berichteten, was sich zugetragen hatte, und zeigten ihre Wunden. Anschließend wurde beraten. Es gab Stimmen, die den Astronauten die Schuld an allem gaben und dafür plädierten, dem letzten Willen ihrer Monarchin zu folgen und den Clan der Astronauten bis aufs letzte Blut zu bekriegen. Doch die meisten Anwesenden reagierten gemäßigter. Seit die Fremden in das Land der Vier Flüsse eingedrungen waren, hatte es Tote gegeben. Natürlich waren die Astronauten Eindringlinge in ihrem Land gewesen. Und zunächst hatte ihre Königin rechtmäßig gehandelt und sie bekämpft solange sie auf ihrem Territorium waren.

Doch das Kurtai war heilig und die Strafe, die ihre Monarchin erhalten hatte, schien vielen insgeheim gerecht. Zumal die Botin des Klosters ihr mehrfach Gelegenheit gegeben hatte, das Richtige zu tun und sich dem Willen der vereinten Clans und der Göttin selbst zu beugen. Daher überwog zuletzt die Mehrheit, die für die Einhaltung des Richtspruchs des Kurtais stimmte. Es sollte Frieden herrschen, schon allein, damit der Clan sich erholen konnte. Die Vier Flüsse würden eine neue Erste Reiterin wählen, die regieren sollte, bis die Prinzessin alt genug war, ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Sollten sich die Befürchtungen ihrer toten Königin doch erfüllen und die Astronauten den Untergang der Clans planen, würden sie gerüstet sein. Viel weniger Einigkeit zeigte sich bei der Fragestellung, wie sie mit Deserteuren und flüchtigen Männern umgehen sollten, die weiterhin in Richtung Küste unterwegs waren, um sich den Astronauten anzuschließen. Hier gab es Stimmen, die den Tod aller Vertreter forderten oder den gemäßigteren Ansatz, lebenslange Zwangsarbeit in den Minen. Aber es gab auch Stimmen, die argumentierten, dass die Gräueltaten der Strafexpeditionen, die durch die Königin persönlich ausgeschickt worden waren, nur dafür sorgten, dass sich noch mehr Männer, aber auch Frauen auf den Weg machten und zu den Astronauten überliefen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739445762
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Helden Action Drachen Astronauten Magie Rollenspiel Amazonen Geister Spannung Furry Episch Fantasy High Fantasy Roman Abenteuer Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Thorsten Hoß (Autor:in)

Thorsten Hoß wurde in den Siebzigerjahren geboren und wuchs im Rheinland auf, wo er heute noch lebt. Mit Legasthenie geschlagen, brauchte es sehr lange, bis aus seiner Liebe zu Geschichten eine Leidenschaft zum Schreiben wurde. Im Rahmen seiner pädagogischen Arbeit entwickelte er zudem das Rollenspielsystem Lunaria und die gleichnamige Welt, bevor er begann, seine Lunariaromane zu schreiben.
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Titel: Land der Astronauten