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Weil wir zueinander gehören

von Lena Viajera (Autor:in)
150 Seiten

Zusammenfassung

Schicksalsschläge verändern das Leben von Maike Fuchs und Christina Wagner. Für Maike rückt die Chance auf die Erfüllung ihrer großen Liebe unerwartet in greifbare Nähe. Christina kämpft von einem Tag auf den anderen um ihr Leben. Beide erkennen, dass es im Leben nicht immer geradeaus geht, und dass die Abzweigungen mitunter die Essenz des Lebens darstellen. Eine dramatische Geschichte über Schicksal, über Leidenschaft und die Frage, was uns wirklich glücklich macht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Weil wir zueinander gehören

 

Von Lena Viajera

 

 

Plötzlich

Bernd Fuchs

 

Die sommerliche Hitze ließ die Luft über dem Asphalt flimmern. Der Himmel war strahlend blau und Bernd Fuchs genoss den Anblick der satten grünen Wiesen, die die Landstraße säumten. Viel zu selten schloss er sich den Motorradtouren an, die seine Freunde regelmäßig unternahmen.

Bernd war dreiundsechzig Jahre alt und Schriftsteller. Er zählte heute zu den Glücklichen seiner Zunft, die davon leben konnten.

 

Das war nicht immer so gewesen. Er erinnerte sich noch gut an die Anfänge, als er, um gerade genug Geld für seinen Lebensunterhalt zu haben, alle möglichen und unmöglichen Nebenjobs gemacht hatte. Zum Beispiel war er als junger Mann eine ganze Weile mit dem Pudel seiner Nachbarin, einer einsamen Hausfrau um die Vierzig, Gassi gegangen. Er hatte sich stets gewundert, warum die gesunde Frau, die sich sowieso ständig zu langweilen schien, nicht selbst mit dem Tier spazieren ging. Bis ihm eines Tages klar wurde, dass sie ihm gerne an die Wäsche wollte und der Hundesitter-Job nur ein Vorwand war. Die Freundschaft mit dem Pudel und die regelmäßigen Spaziergänge endeten an diesem Tag abrupt. Sein Kontakt zur Nachbarin beschränkte sich fortan auf ein reserviertes Kopfnicken, allenfalls kombiniert mit einem gemurmelten Gruß.

 

Alles änderte sich, als seine Frau Sabine in sein Leben trat. Sie erdete ihn und half ihm, die richtigen Prioritäten zu setzen. Bernd Fuchs war unordentlich und die Ideen in seinem Kopf ließen ihn häufig sprunghaft handeln. Er fing tausend Sachen gleichzeitig an und vergaß zwischendurch, an welchen Projekten er überhaupt gerade arbeitete.

Wie gerne erinnerte er sich an die frühen kleinen Erfolge. Die ersten, mit seinem eigenen Sciene-Fiction-Roman verdienten tausend Mark, zum Beispiel.

Aber noch lieber dachte er an die Leserbriefe, die er damals erhalten hatte. Seine kleine, aber feine Leserschar ließ ihn spüren, dass sie sein Werk aufmerksam gelesen hatten und sich sogar mit den Protagonisten seiner Geschichten identifizieren konnten. Nach und nach war eine Fangemeinde gewachsen, die heute eine stattliche Zahl an Mitgliedern vorweisen konnte.

 

Bernd fuhr an dritter Stelle der Kolonne und summte leise vor sich hin.

Sein Motorrad, ein roter, vollverkleideter Sporttourer von Honda, trug ihn über den Asphalt. Er liebte seine VFR 1200 F, obwohl Sabine strikt gegen die Anschaffung gewesen war. Sie fürchtete um die Risiken, die mit dem Motorradfahren verbunden waren. Als er ihr von seinem Traum, ein Motorrad kaufen zu wollen, erzählte, hatte sie es zunächst als Symptom einer Midlife-Crisis abgetan. Aber als er Abend für Abend in Fachzeitschriften blätterte, ihr mit leuchtenden Augen von Hubraum, Drehmoment und Antriebsarten berichtete, änderte sie ihre Taktik. Sie schleppte Statistiken über Unfalltote herbei und rechnete ihm vor, dass unter Berücksichtigung von Zulassungsmenge und Jahresfahrleistung ein Motorradfahrer ein 20-fach höheres Unfall- beziehungsweise Sterberisiko hatte, als ein Autofahrer. Sie zeigte ihm Bilder von schrecklichen Verkehrsunfällen. Bis dahin hatte Bernd nicht geahnt, wie leicht man massenweise grauenvolle Bilder im Internet finden konnte.

Allen Bemühungen von Sabine zum Trotz hatte er sich eines Tages das Schmuckstück gegönnt. Seither hegte und pflegte er es, fuhr ab und zu mit Freunden auf eine Tour, aber seine Frau hatte er bis heute nicht dazu überreden können, einmal mit ihm mitzufahren – geschweige denn, eine Tour mit ihm zu machen. Aber was nicht war, konnte ja noch werden, machte er sich Hoffnung.

Die Straße vollführte eine langgezogene Kurve, an deren Ende sich riesige Rapsfelder erstreckten. Das leuchtende Gelb zwang Bernd dazu, die Augen zu Schlitzen zu verengen. Euphorie überkam ihn. In dem sicheren Wissen, dass ihn keiner hören konnte, sang er lauthals eines seiner Lieblingslieder: „Nanana your own waaaay.....“.

Die Straße wurde breiter und Bernd beschleunigte. Seine Honda hatte eine fantastische Straßenlage. Er spürte, wie sein Motorrad den Luftwiderstand brach, und schloss zu seinem Vordermann auf. Einige Minuten fuhren die beiden Männer nebeneinander her, dann tippte der ehemals Zweite der Kolonne lässig an seinen Helm und ließ Bernd vorbeiziehen.

Die Straßen waren an diesem Augusttag wie leer gefegt. Die hochsommerliche Hitzewelle hatte die meisten schon früh ihre Häuser in der Stadt verlassen und einen schattigen Platz an einem der vielen Badeseen aufsuchen lassen. Ohne den Fahrtwind hätte Bernd es keine fünf Minuten in seiner Motorradkombi ausgehalten.

Eine Hightech-Schutzausrüstung war Sabines Bedingung gewesen, damit er überhaupt in die Nähe seiner Honda durfte. Neben Helm, Kombi und Spezialstiefeln schützte ihn ein Rückenprotektor und Reflektoren an Armen und Beinen. Einige seiner Kumpels hatten ihn belächelt, als er ihnen so ausstaffiert, das erste Mal unter die Augen getreten war. Aber an gesundem Selbstbewusstsein mangelte es Bernd nicht, und er respektierte Sabine und ihren Wunsch nach dem größtmöglichen Schutz für die Liebe ihres Lebens viel zu sehr, als dass er wegen ein paar kleinen Frotzeleien seiner Kumpels auf die Schutzausrüstung verzichtet hätte.

Die Landstraße führte die Männer vorbei an unbemannten Obstständen, an denen man Kirschen mitnehmen und den Kaufpreis in eine Kasse des Vertrauens stecken konnte. Bernd beschloss, auf dem Rückweg ein Kilo von den köstlichen reifen Früchten mitzunehmen. Sabine würde sich bestimmt freuen und vielleicht würde sie ja ihren köstlichen Kirsch-Streusel-Kuchen damit backen.

Der Gedanke an Kuchen ließ Bernd das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Bald würden sie ihr heutiges Ziel, einen Gasthof an einem See, der für seine hervorragende gutbürgerliche Küche bekannt war, erreichen. Sie planten, dort einzukehren, zu essen und in endlosen Gesprächen mal wieder die alten Zeiten aufleben zu lassen.

Bernd würde dort in den Genuss all der fettigen Speisen kommen, die ihm Sabine zuhause regelmäßig verbot. Bei dem Gedanken daran schlich sich ein beinahe kindliches Grinsen in das Gesicht des Dreiundsechzigjährigen.

Bernd richtete den Blick auf seinen Vordermann. Der signalisierte, dass er beabsichtigte, sich nach hinten fallen zu lassen. Bernd antwortete mit einem Handzeichen, dass er verstanden hatte, und beschleunigte erneut. Auf der langen Geraden überholte er seinen Kumpel und setzte sich damit an die Spitze der Kolonne.

Er liebte den Sound, die seine Maschine produzierte, wenn er Gas gab und beschleunigte. Dieses satte Knattern und die Kraft des Motors, die er als leichte Vibrationen im ganzen Körper spürte, wenn er schneller wurde.

Bernd genoss auch die Blicke der Leute, die sie ihm und seiner Maschine zuwarfen, wenn er mit diesem satten Sound an ihnen vorbeifuhr. Heute hatte er allerdings kein Publikum. Nur ein paar Kühe schauten teilnahmslos von ihren Schattenplätzen unter den Bäumen am Rand der Weiden auf die Gruppe Motorradfahrer.

Die Straße war leer, breit und in ausgezeichnetem Zustand.

Bernd beschleunigte erneut. Die Endorphine durchströmten seinen Körper und ließen ihn übermütig werden. Der Tacho zeigte jetzt 130 km/h an. ‚Yeah, Baby!‘, dachte Bernd. Er spürte, wie der Gegenwind auf seinen Oberkörper traf, und presste sich dichter an den Bauch der Maschine.

140 km/h.

Die Straße schien ewig nur geradeaus zu verlaufen. Die Bäume am Straßenrand flogen an Bernd vorbei.

150 km/h.

Er spürte die Vibrationen in seinen Armen. Er musste den Lenker mit ganzer Kraft festhalten, aber er hielt problemlos die Spur.

160 km/h.

‚Das ist ein echter Rausch.‘, schoss es ihm in den Kopf. ‚So muss es sich anfühlen, high zu sein.‘

170 km/h.

Er wusste, das seine Honda 250 km/h fahren konnte, und er hatte bereits jetzt das Gefühl, zu fliegen. Er spürte sein Herz rasen und hörte das Pochen in seinen Ohren.

180 km/h.

Er sah den Gegenstand auf der Fahrbahn viel zu spät.

Sein Vorderrad geriet ins Schlingern, Bernd verlor die Kontrolle über die Maschine. Er war nicht mehr in der Lage, sich am Lenker festzuhalten. Eine unbeschreiblich mächtige Kraft zerrte an seinem Körper, wollte ihn mit aller Macht von dem Motorrad trennen. Er versuchte, die Beine gegen den Rumpf der Maschine zu pressen, ohne Erfolg.

Die physikalischen Kräfte, die auf ihn einwirkten, waren zu stark und schleuderten ihn von der Maschine durch die Luft. Panik ergriff ihn, als er realisierte, dass er den Boden unter den Füßen verloren hatte.

Sein Herz raste und er hatte das Gefühl, es würde zerspringen. ‚So fühlt sich Todesangst an.‘, dachte er.

Wie in Zeitlupe nahm er wahr, dass er über eine kleine Gruppe Sträucher hinwegflog und sich sein Körper ein letztes Mal für ihn unkontrollierbar zur Seite drehte.

 

Der Aufprall war schrecklich. Bernds Körper wurde gnadenlos zerschmettert. Die Schutzkleidung verhinderte nur, dass seine Körperteile in alle Richtungen verstreut wurden. Ein grauenvoller, unerträglicher Schmerz breitete sich in ihm aus. Dann wurde es dunkel.

‚Sabine.‘, war Bernds letzter Gedanke, bevor er für immer von der Dunkelheit verschlungen wurde.

 

Abschied

Maike Fuchs

 

Stille beherrschte den großen Zentralfriedhof. Endlose Grabsteine, soweit das Auge reichte. Am Eingang standen die jahrhundertealten Steine, deren Inschrift man kaum noch entziffern konnte. Einige trugen einen Aufkleber auf der Rückseite. Sie waren von den Friedhofsgärtnern wegen Einsturzgefahr markiert worden.

Es war Mittwochvormittag und nur wenige Menschen zu sehen. Vereinzelt waren Angehörige, vorwiegend ältere Frauen, mit der Grabpflege beschäftigt, aber sobald sie den Trauerzug sahen, wandten sie den Blick ab und schauten betreten zu Boden.

Eine lange Menschenschlange schritt schweigend hinter dem Sarg her. Die Sommersonne brannte unbarmherzig auf ihre Köpfe, kein Lüftchen regte sich. Ihre Schritte knirschten leise auf dem Sandweg. Viele, viel mehr als von Maike erwartet, waren gekommen, um dem berühmten Schriftsteller Bernd Fuchs die letzte Ehre zu erweisen.

Maike lief direkt hinter den Sargträgern, ihre Mutter dicht an ihrer Seite. Beide trugen schwarze lange Kleider, obwohl dies angesichts der Hitze eine wahre Zumutung war. Der schwarze Stoff schien die glühend heißen Sonnenstrahlen wie ein Magnet anzuziehen und Maikes Rücken war bereits klatschnass.

Vielen Trauergästen liefen kleine Rinnsale die Schläfen entlang und nicht wenige Männer wischten sich wieder und wieder mit den Einstecktüchern ihrer Sakkos über die Stirn.

Sabine Fuchs hatte eine beachtliche Dosis Beruhigungsmittel benötigt, um an der Beerdigung ihres Mannes teilnehmen zu können. Sie krallte ihre Hand fest in den Arm ihrer Tochter. Trotz der Hitze fühlte sich die Hand der frischgebackenen Witwe eiskalt an und ihre Lippen zitterten. Jeder einzelne Schritt, den sie hinter dem Sarg tat, schien ihr ein weiteres bisschen ihrer verbliebenen Kraft zu rauben.

 

„Wir nehmen heute Abschied von einem geliebten Ehemann, einem liebevollen Vater, guten Freund und geschätzten Schriftsteller.“, begann der Pfarrer, als sich alle an dem frisch ausgehobenen Grab versammelt hatten. Auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißtropfen gesammelt und seine Stirn glänzte nass. Aber er konzentrierte sich ganz und gar auf den Moment und seine Aufgabe und ließ sich von der Hitze nicht ablenken.

Maike hörte nur mit halbem Ohr zu. Die ganze Szenerie erschien ihr unwirklich. War das wirklich ihr Vater, der da vorne in dem Sarg lag? Der Mann, der vor wenigen Tagen noch putzmunter mitten im Leben stand? Mit dem sie über ihre Träume und Wünsche für die Zukunft gesprochen, mit dem sie gelacht, geweint und diskutiert hatte? Es kam Maike so vor, als könnte die Antwort nur nein lauten. Unterbewusst rechnete sie damit, dass Bernd Fuchs jeden Moment neben seiner Frau auftauchen und jemand erklären würde, dass es sich um ein tragisches Missverständnis gehandelt habe.

Ihr Blick schweifte über die Trauergäste. Viele Kollegen, mit denen ihr Vater zu Lebzeiten unzählige angeregte Diskussionen über seine Bücher oder über die Werke der Kollegen geführt hatte, waren gekommen. Nicht wenige hatten Tränen in den Augen.

Willy, der wohl älteste Freund und Mentor ihres Vaters, stand unsicher am Rand und konnte seinen Blick nicht von dem frisch ausgehobenen Grab abwenden. Er stand auf wackeligen Beinen und stützte sich auf seinen Wanderstock. Willy ging, wie Maike wusste, schon stramm auf die Achtzig zu und manchmal wollten die Beine ihn nicht mehr richtig tragen. Aber er war eitel und das einzige Hilfsmittel, zu dem er sich hatte überreden lassen, war ein mit kunstvollen Schnitzereien verzierter Wanderstock aus Holz. Maikes Vater hatte erzählt, dass Willy ihn extra hatte anfertigen lassen und dass die Schnitzereien lauter in sich verschlungene Figuren aus seinen Büchern darstellten. Willy war ebenfalls Science-Fiction-Autor. Er hatte immer an Bernd geglaubt und ihn wie ein großer Bruder, den Bernd nie hatte, unter seine Fittiche genommen. Jetzt musste er mit ansehen, wie sein Schützling vor ihm begraben wurde. Dies war etwas, was außerhalb seiner durchaus enormen Vorstellungskraft gelegen hatte.

Auch die gesamte Motorradgruppe vom Tag des Unfalls war gekommen. Bei ihrem Anblick hatte sich Sabines Körper verkrampft. Es fiel ihr sichtlich schwer, den Bikern keinen Vorwurf zu machen, obwohl die tatsächlich keine Schuld an Bernds tödlichem Unfall trugen.

Keiner vermochte zu begreifen, warum Bernd Fuchs plötzlich in einen Geschwindigkeitsrausch hineingeraten war. Die beiden Biker, die hinter Bernd gefahren waren, konnten nur fassungslos berichten, dass er immer schneller geworden sei. Sie hatten zunächst an einen Defekt der Bremsen oder etwas Ähnliches geglaubt. Keiner konnte sich vorstellen, dass Bernd einfach immer weiter Gas gegeben hatte. Aber die forensische Untersuchung des Motorrads hatte keinen technischen Defekt festgestellt.

In einigem Abstand, im Schatten der Bäume, stand eine Handvoll Journalisten. Mitten im sommerlichen Nachrichtenloch kam ihnen ein berühmter Schriftsteller, der mit dem Motorrad tödlich verunglückte, gerade recht. Maike war froh, dass sich bisher kein Journalist an die Familie herangewagt hatte, und hoffte, dass dies auch so bliebe.

Ihr Blick fiel auf ihren Bruder Robert. Er war mit seiner Freundin Anna gekommen, die Maike bisher nicht persönlich kennen gelernt hatte. Anna war hübsch, wie Maike feststellte. Vielleicht ein kleines bisschen pummelig, aber nicht dick. Vor allem hatte sie ein wunderschönes Gesicht, mit einem sinnlichen Mund mit vollen Lippen und großen, strahlenden Augen. Sie strahlte Wärme und Offenheit aus. Ihr Gesicht erinnerte Maike an eine berühmte Schauspielerin, deren Name ihr aber nicht einfallen wollte.

Es fiel ihr schwer, Robert mit einer anderen Frau zu sehen. Sie schämte sich deswegen. Ihr Bruder hatte es verdient, glücklich zu sein und eine Frau an seiner Seite zu haben.

Dass Maike selbst gern diese Frau gewesen wäre, durfte nie ein Mensch erfahren.

Manchmal, in einsamen Momenten, hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, mit ihm zusammen zu sein. Von ihm berührt zu werden. Obwohl sie wusste, dass dies falsch und verboten war.

Robert war nur ein Jahr jünger als Maike. Als die beiden in die Pubertät kamen, hatte sich zwischen ihnen eine knisternde Spannung entwickelt.

Es gab einen Schlüsselmoment, an den sich Maike gut erinnern konnte. Die Geschwister waren mit Freunden im Freibad gewesen und sie hatte sich nach dem Schwimmen umgezogen. Sie hatte sich kurz umgeblickt, keinen Menschen in Sichtweite erspäht und sich dann kurzerhand ihr Bikinioberteil ausgezogen, um sich abzutrocknen. Genau in dem Moment, in dem sie oben ohne dastand, kam Robert um die Ecke. Er blieb stehen und betrachtete sie. Er sagte kein einziges Wort.

Maike konnte sich noch gut an seinen Blick erinnern. Und an die Schmetterlinge in ihrem Bauch, als sie das Gefühl hatte, er mochte, was er sah. Ihr gefiel auch, was sie sah. Robert mit nacktem Oberkörper, in Badehosen, die seinen knackigen Po gut zur Geltung brachten.

Die Szene war viele Jahre her, und doch konnte sich Maike daran erinnern, als wäre es gestern gewesen.

Schon als kleine Kinder waren die Geschwister eng verbunden gewesen, hatten viel zusammen gespielt und unternommen. Aber als Maike zu ihrem eigenen Erschrecken festgestellt hatte, dass sie sich zu ihrem Bruder hingezogen fühlte, war sie erschrocken und schämte sich. Nie hatte sie diese Gefühle gegenüber Robert oder sonst irgendeiner Menschenseele offenbart.

Sie hatte keine Ahnung, ob er ähnliche Gefühle für sie hegte. Zwar hatte sie sich oft eingebildet, er würde sie ab und zu wie zufällig berühren, oder ihr sehnsüchtige Blicke zuwerfen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber sie wusste nicht, ob sie ihrer eigenen Wahrnehmung in diesem Punkt glauben konnte.

Sie hatte es irgendwann nicht mehr ertragen, in seiner Nähe zu sein. Ihre Gefühle für ihn schienen mögliche Gefühle für andere Männer zu blockieren.

Durch den räumlichen Abstand und den allenfalls sporadischen Kontakt wollte sie diese Blockade beseitigen.

 

Die sommerliche Hitze ließ die Beerdigung mehr und mehr zu einer Tortur werden. Keiner der Trauergäste hatte es sich nehmen lassen, schwarz zu tragen, und die Sonne brannte unerbittlich, obwohl es noch Vormittag war. Maike merkte, wie ihre Mutter leicht schwankte. Sie legte ihren Arm um sie. Robert musste den gleichen Gedanken gehabt haben. Auch er legte seinen Arm um Sabine.

Die Berührung der Geschwister war unvermeidlich. Sie fühlte sich für Maike wie ein elektrischer Schlag an. Unwillkürlich fuhr sie zurück. Robert hatte sich ebenfalls erschrocken und seine Hand zurückgezogen.

Wie elektrisiert sahen die Geschwister sich an. Maike starrte in Roberts braune Augen und traute sich nicht, zu blinzeln. Ihr Augen brannten. Sie hatte das Gefühl, sobald sie blinzeln würde, wäre der Moment vorbei.

Nach einigen Sekunden, die sich für Maike wie eine Ewigkeit anfühlten, wandte Robert den Blick ab und die Geschwister hakten sich beide in stiller Übereinkunft – jeder an einer Seite – bei Sabine unter.

Auf einmal ist alles ganz anders

Christina Wagner

 

Christina Wagner saß mit ihren Eltern und ihrer Schwester im Wartebereich der Onkologie. Es war kein geschlossener Raum, sondern eine Ausbuchtung des Krankenhausflurs. Alle paar Minuten kam eine Krankenschwester, ein Arzt oder Patienten den Flur entlang. Die Krankenhausangestellten erkannte man bereits daran, dass sie schnell liefen. Die Patienten hatten es nicht so eilig. Sie erkannte man an blasser Haut, Augenringen und oftmals einem Gesichtsausdruck, der Schmerz offenbarte.

Christina beobachtet ihre jüngere Schwester Laura. Die Sechsundzwanzigjährige saß auf dem festgeschraubten Plastikstuhl, wippte nervös mit den Knien und kaute an ihren Nägeln herum. Das hatte sie sich eigentlich schon lange abgewöhnt.

Christinas Mutter Bärbel hatte die Haltung eines Zinnsoldaten angenommen. Stocksteif saß sie auf einem Plastikstuhl neben Laura und starrte auf ihre Fußspitzen.

Martin Wagner, Christinas Vater, hatte es nicht auf dem Stuhl ausgehalten. Er tigerte nervös den Flur auf und ab und schaute alle paar Sekunden um die Ecke, um zu sehen, ob Christina bereits aufgerufen wurde.

Christina horchte in sich hinein. Sie spürte Aufregung, spürte, wie sich das Adrenalin in ihrem Körper ausbreitete. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal so aufgeregt gewesen war. ‚Gleich ist es vorbei. Gleich hat das Warten ein Ende und ich weiß Bescheid.‘, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie bemühte sich, langsam und gleichmäßig ein- und auszuatmen und dabei zu zählen. ‚Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Ausatmen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Einatmen.‘

„Frau Wagner, bitte?“, die Stimme der Krankenschwester riss alle aus ihren Gedanken. Christina erhob sich, die übrigen Familienmitglieder taten es ihr nach. Die Schwester blickte kurz prüfend zu Christina. Als diese nickte, fuhr die Krankenschwester fort: „Hier entlang.“

Christina folgte ihr. Hinter ihr im Gänsemarsch ihre Schwester, ihre Mutter und als Schlusslicht ihr Vater.

Nach kurzem Weg wurden sie in ein Arztzimmer geführt. Es war relativ klein und wurde von einem großen Schreibtisch vor dem Fenster dominiert. Davor standen zwei Besucherstühle. Christina nahm auf einem von ihnen Platz. Ungefragt nahm Laura den zweiten in Beschlag. Sie rückte ihn näher an Christina und nahm ihre Hand. Dankbar lächelte Christina ihre Schwester an.

Obwohl sechs Jahre zwischen ihnen lagen, war ihr Verhältnis gut. Sicher, das war nicht immer so gewesen. Als Christina in die Pubertät kam und sich ihre Freiräume absteckte, kam ihr ihre kleine Schwester oft ins Gehege. Es wurde gezankt und gepetzt und nicht wenige Male flossen Tränen. Aber heute war sich Christina sicher, dass Laura schätzen konnte, was Christina damals letztlich für sie beide erkämpft hatte. Laura hatte es, als sie in das Alter kam, zum Beispiel wesentlich leichter gehabt, auf Partys zu dürfen. Ihre große Schwester hatte bereits bewiesen, dass die Welt nicht unterging, wenn die Tochter am Samstagabend ausging.

 

Die Tür ging auf und der Arzt betrat das Zimmer. Er stellte sich als Doktor Weberknecht vor. Christina kannte ihn bereits, er hatte die Untersuchungen durchgeführt.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete Christinas Akte im PC und warf einen letzten, prüfenden Blick auf das Dokument.

‚Wie kann man eigentlich damit leben, anderen Menschen täglich schlechte Nachrichten zu überbringen? Wie geht man damit um?‘, schoss es Christina kurz durch den Kopf. Sie blickte suchend in das Gesicht des Arztes. Sah man ihm an, dass er es gewohnt war, schlechte Nachrichten zu überbringen? Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken.

Doktor Weberknecht redete nicht lange um den heißen Brei herum. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es für Christina in Ordnung war, dass ihre gesamte Familie anwesend war, sagte er in ruhigem, sachlichen Ton: „Frau Wagner, ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, dass sie an Leukämie erkrankt sind.“

 

‚Leu-kä-mie‘, Christina Wagner formte die Silben lautlos mit ihren Lippen.

Eben noch hatte sie sich über Dinge aufgeregt, die ihr jetzt völlig trivial erschienen: Der Hund des Nachbarn hatte mal wieder mitten auf den Gehweg gekackt und der Benzinpreis war schon wieder angestiegen. ‚Na und?‘, dachte sie und Bitterkeit überkam sie, ‚Was interessiert mich das, wenn ich vielleicht nächstes Jahr schon tot bin?‘

Die Worte des Arztes hallten in ihrem Kopf nach: „Bösartige Zellen klonen sich unkontrolliert.“ Gegen ihren Willen stellte sich Christina vor, wie kleine, mit spitzen Zähnen und großen Mäulern ausgestattete Monster durch ihre Adern preschten und sich in alles hineinfraßen, was ihnen in den Weg kam. Trotz der Hitze bekam sie eine Gänsehaut.

„Nun.“, stellte Bärbel Wagner fest. „Das Gute ist wohl, dass der Arzt gesagt hat, dass es sich um eine akute Leukämie handelt.“ „Was soll daran gut sein?“, fragte Laura, Christinas jüngere Schwester, tränenerstickt. „Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die Heilungschancen bei einer akuten Verlaufsform deutlich größer als bei einer chronischen.“, schaltete sich jetzt ihr Vater ein.

Nachdem Christina in den letzten Wochen ständig müde gewesen und einen Infekt nach dem anderen gehabt hatte, hatte ihr Hausarzt sie zu einem Spezialisten überwiesen. Der hatte einige Tests durchgeführt und ihr heute die niederschmetternde Diagnose mitgeteilt.

Christina, die auch heute im Alter von zweiunddreißig Jahren noch immer eine sehr enge Verbindung zu ihren Eltern und ihrer Schwester hatte, hatte sofort den Familienrat einberufen. Jetzt saßen sie zu viert im Wohnzimmer der Eltern und versuchten, jeder auf seine Weise, die Neuigkeit zu verdauen.

Bärbel schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Wie geht es denn nun weiter?“, fragte sie. „Zunächst bekomme ich Medikamente.“, flüsterte Christina. Sie merkte, wie ihre Stimme zitterte. „Und die Suche nach einem geeigneten Stammzellenspender wurde gestartet. Dies scheint aber der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen zu gleichen. Offenbar muss ich eine Person finden, deren Gewebemerkmale mit meinen identisch sind.“

Während Christina ihrer Familie diese Informationen vortrug, hatte sie das Gefühl, eine völlig andere, fremde Person würde an ihrer Stelle sprechen. Laura schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben, denn sie sprang auf, nahm ihre Schwester in den Arm und sagte: „Liebes, ich glaube, du stehst völlig unter Schock.“ Christina nickte. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus in den Garten. Der Rasen war von der Hitze völlig verdörrt und die meisten Blumen ließen die Köpfe hängen. ‚So fühle ich mich auch‘, dachte sie.

„Wir lassen uns natürlich alle testen.“, hörte sie ihren Vater wie durch Watte. „Vielleicht sieht dann in ein, zwei Tagen die Welt schon ganz anders aus.“

Christina wollte es so gerne glauben. Aber der Arzt hatte ihr offen und ehrlich gesagt, dass der genetische Zwilling schwer aufzuspüren und jeder fünfte Patient keinen geeigneten Spender finden würde. Christina spürte Traurigkeit in sich aufkommen. Sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Aber der Kloß in ihrem Hals schwoll unaufhaltsam an und sie musste hart schlucken.

Und dann heulte sie. Sie weinte so sehr, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Ihr ganzer Körper wurde von ihrem Schluchzen durchgeschüttelt.

Fleisch und Blut

Maike Fuchs

 

„Er war ein Chaot.“, sagte Sabine. Sie hatte den Raum von Maike unbemerkt betreten und sich neben sie gestellt.

Maike befand sich im Arbeitszimmer ihres Vaters. Es war ein großer, gemütlich eingerichteter Raum, in den an vielen Stunden am Tag die Sonne hereinschien. Die Wände waren voll mit Bücherregalen und ein großer Schreibtisch stand vor dem Fenster. Bernd Fuchs hatte gerne rausgeguckt, wenn er über sein neuestes Werk nachdachte.

Behutsam strich sie mit ihren Fingern über einen Stapel maschinenbeschriebenes Papier.

„Einmal hat er am Abend vor dem Abgabetermin die Hälfte seines Manuskriptes verloren. Er hat wie ein Wilder gesucht und geflucht. Gefunden hat er es letztlich in der Altpapiertonne. Er sah aus wie ein Schwein, nachdem er sie durchwühlt hatte.“, erzählte Sabine.

„Papa hat ja auch nie einen Computer, sondern immer nur diese hier benutzt, nicht wahr?“, antwortete Maike und berührte leicht eine nicht mehr ganz neue Schreibmaschine. Ihre Mutter lächelte versonnen. „Ja, er konnte auf Computern einfach nichts Schönes produzieren, sagte er immer.“, antwortete sie leise.

Unschlüssig standen die beiden Frauen in dem Arbeitszimmer von Bernd Fuchs. Maike wollte hier Abschied nehmen. Dies war der Raum, in dem sich ihr Vater am liebsten aufgehalten hatte, hier hatte er seiner Fantasie freien Lauf gelassen und seinen Traum gelebt. ‚Wer kann das schon von sich sagen?‘, dachte Maike. Sie war sicher, dass ihr Vater einer der seltenen Menschen gewesen war, der in seinem Beruf echte Erfüllung gefunden hatte.

Ihr Blick fiel auf einen großen Pappaufsteller, der ein freundlich aussehendes Alien zeigte. Es war eine Figur aus einem seiner Romane und der Verlag hatte zur Veröffentlichung des Buches eine große Party gegeben und die Protagonisten in Pappform überall aufgestellt. Einen dieser Pappkameraden, wie Bernd sie genannt hatte, hatte er anschließend mit nach Hause genommen und in seinem Arbeitszimmer platziert. „Manchmal führen wir wirklich gute Gespräche.“, hatte er mal schmunzelnd gesagt.

„Ich lasse dich ein wenig allein mit Papa.“, sagte Sabine und verließ den Raum auf leisen Sohlen.

Maike setzte sich in den bequemen Ledersessel an Bernds Schreibtisch. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Bilder von ihr selbst als kleines Mädchen, das bei ihrem Papa auf dem Schoß auf eben diesem Ledersessel sitzt und versucht, mit ihren kleinen Fingern an die Schreibmaschine zu kommen, kamen ihr ins Gedächtnis.

Ab und zu hatte sie es geschafft, dann befanden sich mitten zwischen Papas Worten Passagen mit gagagaga oder grspigjewr oder ähnlichem Unsinn. Eine solche Seite, die Bernd besonders gut gefallen hatte, hatte er gerahmt und in seinem Arbeitszimmer aufgehängt. „Das ist Kunst von zwei Füchsen!“, hatte er immer gesagt und die Seite jedem gezeigt, der ihn in seinem kleinen Reich besuchen kam.

Maike wusste, dass er diese Seiten, so wie sie waren, an seine Lektorin abgab. ‚Die muss ihre helle Freude daran gehabt haben.‘, dachte Maike schmunzelnd.

Tränen der Rührung schlichen sich in ihre Augen. Sie stand auf, ging zu dem Bilderrahmen und weiter entlang des Bücherregals. Sie entdeckte einen Bereich voller Fotoalben. Bernd Fuchs war wirklich chaotisch gewesen. Die Alben waren unbeschriftet und jede Menge loser Fotos fielen heraus, als Maike eines der Alben öffnete. Sie sah Kinderfotos von Robert und von ihr, wie sie auf dem Spielplatz waren, Enten fütterten oder am Strand Burgen bauten. Ein Bild, auf dem Robert und Maike beide mit eisverschmierten Gesichtern direkt in die Kamera grinsten, ließ Maike laut auflachen. Sie schloss das Album und stellte es in das Regal zurück. Anschließend bückte sie sich, um die herausgefallenen Fotos aufzuheben.

Dabei stellte sie fest, dass es sich nicht ausschließlich um Fotos handelte. Es waren auch kleine Zettel darunter, zum Beispiel ein völlig verblasster Einkaufszettel aus einem Kaufhaus und ein uralter Busfahrschein. Es sah so aus, als hatte Bernd Fuchs einfach den Inhalt seiner Jackentaschen in das Album hineingestopft.

Plötzlich stockte Maike der Atem. In ihren Händen hielt sie die Urkunde eines Standesamtes. Geburtsurkunde lautete die Überschrift. Es bescheinigte die Geburt einer Maike Rüdiger. Besagte Maike Rüdiger sollte heute zweiunddreißig Jahre alt sein und am selben Tag Geburtstag haben wie sie selbst. Ihre Gedanken rasten. Sabines Geburtsname lautete nicht Rüdiger. Und Bernd hieß schon immer Fuchs. Wer war Maike Rüdiger?

Sie wühlte hektisch in den restlichen Papieren.

Ein Gedanke drängte sich mit Macht in ihr Bewusstsein, aber sie ließ ihn nicht zu.

Ein Album nach dem anderen riss sie aus dem Regal, klappte es auf und schüttelte es über dem Boden aus. Unzählige Fotos, Schnipsel und Papiere flogen kreuz und quer durch den Raum. Achtlos ließ Maike die Alben auf den Boden fallen. Auf Knien durchsuchte sie die Unterlagen vor ihr.

Schließlich entdeckte sie eine zweite Urkunde. Eine Adoptionsurkunde. Sie bescheinigte, dass Sabine und Bernd Fuchs eine Maike Rüdiger adoptiert hatten und diese Maike Rüdiger künftig den Familiennamen Fuchs trug. Maike wurde schwindelig. Sie klammerte sich an einem Schreibtischbein fest und zwang sich, weiter zu atmen. Es rauschte in ihren Ohren, als ob jemand einen Wasserhahn in ihrem Kopf geöffnet hatte.

Im selben Moment hörte sie ein Poltern. Maike hob den Kopf und konnte nur noch tatenlos mitansehen, wie Sabine Fuchs ohnmächtig wurde und im Fallen heftig mit dem Kopf gegen die Tischkante stieß. Instinktiv sprang Maike auf und eilte zu Sabine. Die gab keinen Ton von sich. Maike bekam Panik. Sie rief laut: „Mama! Mama!“. Sabine reagierte nicht. Maike rüttelte an ihrer Schulter. Keine Reaktion. Zu guter Letzt gab sie ihr eine Ohrfeige.

Das leise Stöhnen, das Sabine daraufhin von sich gab, versetzte Maike in unglaubliche Erleichterung. Doch als Sabine sich aufsetzen wollte, erbrach sie sich heftig mitten auf den Stapel Fotos direkt vor ihr. „Ich rufe einen Krankenwagen.“, sagte Maike ernst und fischte ihr Smartphone aus der Hosentasche. Sabine legte ihre Hand auf Maikes Arm und wollte sie davon abhalten, doch Maike insistierte: „Keine Widerrede. Womöglich hast du eine Gehirnerschütterung oder sowas.“

Spaziergang

Christina Wagner

 

Christina genoss den Schatten der Bäume. Sie lief eine Strecke im Wald entlang, auf der sie schon seit Jahren nicht mehr unterwegs gewesen war. ‚Komisch, dass man an Plätze aus der Vergangenheit zurückkehrt, wenn man weiß, dass man vielleicht keine Zukunft mehr hat.‘, dachte sie. Sie lief langsam und achtete bewusst auf ihre Umgebung. Ihre Schritte wurden von dem weichen Waldboden geschluckt, so dass sie das Gefühl hatte, sich lautlos zu bewegen.

Ihre Eltern und ihre Schwester hatten gestern ihre Speichelproben abgegeben und nun wartete die Familie gespannt auf die Laborergebnisse. Die Nachricht über Christinas Diagnose hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Reaktionen waren einhellig Schock und Entsetzen.

‚Man geht wie selbstverständlich davon aus, dass es einen selbst nicht trifft. Man weiß, dass es so etwas wie Leukämie gibt, aber man zieht nicht einmal für den Bruchteil eines Augenblickes in Betracht, dass man selbst erkranken könnte.‘, dachte Christina.

Voller Rührung musste sie an ihre Nachbarin denken. Die hatte noch am gleichen Tag eine nahe Apotheke aufgesucht, um sich typisieren zu lassen. ‚Und ich habe während ihres letzten Urlaubs ihre Balkonblumen vertrocknen lassen.‘, erinnerte sich Christina schuldbewusst. Gegen ihren Willen kamen ihr die Tränen.

Sie spürte schon wieder die Übelkeit, die mit der Medikamentenbehandlung einherging. Ihre Zunge schien größer und schwerer zu sein als sonst und sie hatte heute Morgen beim Haarekämmen eine große Menge verlorener Haare in ihrer Bürste vorgefunden.

Christina wollte leben. Dessen war sie sich absolut sicher. Tief in ihrem Inneren spürte sie aber, dass sie sich auch mit dem Sterben auseinandersetzen musste. Sonst würde die Angst davor sie auffressen. Ihr war klar, dass es noch viele Therapiemöglichkeiten gab und dass eine große Anzahl Menschen dafür kämpfte, dass sie weiterleben konnte. Aber sie machte sich auch bewusst, dass all diese Bemühungen fehlschlagen konnten.

Was wäre dann? Sie hatte gelesen, dass in anderen Kulturen der Tod nicht gefürchtet, sondern als Teil des Lebens akzeptiert und sogar verehrt wurde.

Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Laura und ihre Eltern ohne sie weiterleben würden. Wie sie an Weihnachten oder an Christinas Geburtstag an sie denken und sich an sie erinnern würden.

Christina fragte sich, ob sie etwas bedauern würde, wenn sie bald sterben müsste. Ob es etwas gab, was sie jetzt unbedingt noch unternehmen wollte. Nur für den Fall.

Sie näherte sich einer großen Wiese. Es war mehr Moos als Gras, und sie verspürte ganz plötzlich Lust, mit nackten Füßen darüber zu laufen. Kurzentschlossen zog sie ihre Sandalen aus und lief barfuß weiter. Der feuchte, kühle Moosboden fühlte sich wunderbar an. Sie lief langsamer, rollte die Füße bewusst ab und spürte den weichen Untergrund an ihren Sohlen.

Seit ihrer Diagnose war noch nicht viel Zeit vergangen. Dennoch hatte sie das Gefühl, die Welt seitdem bewusster, mit geschärften Sinnen wahrzunehmen. ‚Falls ich das alles überlebe, möchte ich diese Lebensweise beibehalten.‘, dachte Christina. ‚Ich möchte die kleinen Freuden und Dinge des Alltags schätzen.‘

Ihr wurde bewusst, dass sie falls ich überlebe gedacht hatte.

Nervenflattern

Maike Fuchs

 

Die Schritte der Krankenschwester, die in ihren Clogs über den Flur eilte, quietschten. Maike starrte auf die Fugen zwischen den einzelnen Fliesen.

Hinter der Tür zu ihrer Rechten lag die Frau, die sie ihr Leben lang für ihre Mutter gehalten hatte.

Eine Ärztin war bei ihr. Sie hatte Maike hinausgeschickt.

‚Sie ist nicht meine Mutter.‘, dachte sie, ‚Sie haben mir all die Jahre nichts von der Adoption erzählt. Bernd ist gestorben, ohne mir die Wahrheit zu erzählen.‘.

Maikes Augen folgten dem Verlauf der Fliesen. An der Wand angekommen, stockte sie. Und ließ endlich den Gedanken zu, der sich ihr seit dem Moment, in dem sie die Adoptionsurkunde in ihren Händen gehalten hatte, mit aller Macht aufdrängte: ‚Und Robert ist nicht mein Bruder.‘.

 

„Was ist passiert?“, fragte eine atemlose Stimme neben Maike. Robert stand vor ihr. Sie hatte das Gefühl, ihr Herzschlag würde für einen Moment aussetzen.

Er sah gehetzt aus und die Sorge um seine Mutter stand ihm ins Gesicht geschrieben. Offenbar war er direkt aus dem Büro hierher geeilt. Er trug eine dunkelgraue Anzughose und ein weißes, kurzärmeliges Hemd. Den Kragen hatte er geöffnet und die Krawatte schaute aus seiner Hosentasche heraus. Robert Fuchs war Architekt und sehr erfolgreich in diesem Beruf.

Ungeduldig wippte er jetzt vor Maike hin und her. „Sie ist plötzlich ohnmächtig geworden und beim Fallen mit dem Kopf gegen den Schreibtisch gestoßen.“, antwortete Maike. Sie klopfte mit der flachen Hand auf den leeren Platz neben sich. „Du kannst da jetzt eh nicht rein, eine Ärztin ist bei ihr.“, sagte sie. Zögernd setzte Robert sich. Minutenlang sprach keiner ein Wort.

Maike war es, die die Stille durchbrach: „Sie wollte keinen Krankenwagen.“

„Das habe ich mir gedacht.“, antwortete Robert.

„Weißt du noch, wie sie sich damals den Zeh gebrochen hat und partout nicht zum Arzt wollte?“, ergänzte er nach einer Weile.

„Oh ja, der Zeh ist erst blau, dann grün und dann gelb geworden. Und sie ist ewig gehumpelt und hat Sandalen getragen, obwohl es schon total kalt draußen war.“, erinnerte sich Maike und schüttelte den Kopf bei der Erinnerung an damals.

„Und Schuld war die Mieze.“, sagte Robert lächelnd.

Auch Maike huschte ein Lächeln über das Gesicht. „Stimmt! Mieze musste ja unbedingt vom Baum gerettet werden.“, erinnerte sie sich.

„Weil Katzen ja viel schlechter klettern können als Mama.“, vollendete Robert ihren Gedanken.

Ihre Blicke trafen sich. Maike sah in seine braunen Augen und sie entdeckte kleine Lachfältchen in den Augenwinkeln. Sie schmunzelte. „Was ist?“, fragte er neugierig. „Ach, nichts.“, antwortete sie, immer noch schmunzelnd. Er boxte sie sanft in die Seite. „Nun sag schon.“, drängte er, ohne es besonders ernst zu meinen. Maike lachte, dabei fiel ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Wie selbstverständlich strich Robert sie beiseite und sah sie direkt an. „Wie geht es dir?“, fragte er leise.

 

„Sie können jetzt hinein.“, unterbrach sie eine energische Stimme neben ihnen. „Aber bleiben sie heute nicht mehr zu lange. Ihre Mutter ist am Ende ihrer Kräfte und ich habe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben, damit sie schnell einschlafen kann.“ Maike und Robert waren aufgesprungen. Die Ärztin sah müde und erschöpft aus. ‚Eine Mütze Schlaf würde ihr sicher auch guttun.‘, dachte Maike.

 

Behutsam öffnete sie die Tür zu dem Krankenzimmer. Sabine Fuchs war in einem Zweibettzimmer einquartiert worden, aber die andere Patientin befand sich im Augenblick nicht darin. Ihr Bett war zerwühlt und ein riesiger Blumenstrauß teilte sich die kleine Fläche ihres Nachtschrankes mit einem Stapel Groschenromane, einem Plüschteddy und einer Flasche Mineralwasser. An dem Metallgestell des Bettes hatte jemand einen Heliumballon in Herzform mit der Aufschrift Für meine Perle angeknotet.

Sabines Bereich wirkte dagegen steril und lieblos. Bei dem überstürzten Aufbruch ins Krankenhaus war keine Zeit zum Einpacken persönlicher Gegenstände gewesen und während der Wartezeit vor dem Zimmer war Maike so mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, einen Blumenstrauß oder sowas zu besorgen.

Sabine Fuchs saß halb aufrecht im Bett. Sie war blass und die weiße Bettwäsche ließ sie regelrecht durchsichtig erscheinen. Bei Maikes Anblick senkte sie ihren Blick. Sie hatte die Hände auf dem Schoß über der Bettdecke gefaltet. Maike fiel auf, dass Sabine ihre Hände so stark verkrampft hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Robert schien nichts davon zu bemerken. Er setzte sich zu seiner Mutter auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. Er drückte sie und schaute ihr besorgt ins Gesicht. „Was machst du bloß für Sachen.“, sagte er tadelnd.

Sabine schüttelte nur stumm den Kopf. Ängstlich guckte sie zu Maike. Die war hilflos und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie ging ein paar Schritte zum Fenster und schaute hinaus.

Die Sonne ging gerade unter und die Patienten, die laufen konnten, nutzten die Zeit, um bei leicht gesunkenen Temperaturen einen Spaziergang durch den kleinen Park vor dem Krankenhaus zu unternehmen.

Robert wirkte irritiert. Sein Blick wanderte zwischen Maike und seiner Mutter hin und her. Aber keine der Frauen machte Anstalten, die Situation zu erklären. Schließlich zuckte er mit den Schultern, seufzte leicht und erklärte: „Na gut Mama, wenn du nichts mehr brauchst, lassen wir dich jetzt schlafen. Die Ärztin hat uns nur ein paar Minuten gegeben. Sie sagt, du musst dich ausruhen.“

Sabine nickte. „Danke, dass ihr hier wart.“, flüsterte sie mit bebender Stimme.

Robert lächelte und sagte: „Aber das ist doch selbstverständlich. Du hast uns einen ordentlichen Schreck eingejagt.“

 

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte er Maike, kaum dass sie das Zimmer verlassen hatten.

Maike war verschlossen. „Nein.“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Sie fühlte sich im Moment einfach nicht in der Lage, etwas zu sagen oder zu erklären.

Robert schien zu überlegen, ob er insistieren sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Am Bürgersteig angekommen, blieb er stehen. „Ich parke da vorne.“, sagte er und deutete nach links.

„Ich gehe da lang zur Bahn.“, erwiderte Maike und zeigte in die andere Richtung.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739451916
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Wohlfühl-Lektüre verbotene Liebe Herzklopfen Unterhaltungsroman Chick Lit Urlaubsroman Happy End Kitsch Frauenroman Liebesroman Liebe

Autor

  • Lena Viajera (Autor:in)

Was gibt es Schöneres, als ein Buch zu lesen? Eins zu schreiben! Mit ihren Geschichten möchte Lena Viajera unterhalten, zum Nachdenken anregen und ihren Leserinnen und Lesern ein paar vergnügte Stunden bescheren. Was sie zum Schreiben gebracht hat? In Büchern ist alles möglich. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und jede Idee kann Wirklichkeit werden.
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Titel: Weil wir zueinander gehören