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Pflichtjahr bei Helena

von Katharina Mohini (Autor:in)
596 Seiten

Zusammenfassung

Alles begann mit dieser unmoralischen Wette: »Ich knacke jede Festung zwischen siebzehn und siebenundvierzig«, warf sich Christoph überzeugt in die Brust. Der Womanizer, Partylöwe und Egomane Christoph Baumann, jüngster Spross einer Hamburger Reeder-Familie, gab sich redlich Mühe, seinem schlechten Ruf in der Gesellschaft gerecht zu werden. »Aber wärst du auch in der Lage, mit ein und derselben Frau ein Jahr lang unter einem Dach zu leben?« »Warum nicht!« Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. »Meinetwegen nehme ich die Erste, die durch diese Tür marschiert.« Ausgerechnet jetzt will es das Schicksal, dass jene Frau durch die Tür tritt, mit der Christoph kurz zuvor aufs Heftigste aneinandergeraten war: Helena Reckenhusen, die bekanntermaßen elitärste, hochnäsigste und gefühlskälteste Frau der Stadt, kann zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, welche Launen das Schicksal für sie bereithalten wird. Mit Hilfe seines besten und einzigen Freundes Phillip gelingt es Christoph, sich »undercover« als Chauffeur der Familie in Helenas Kreise einzuschleichen. Der Startschuss in ein Abenteuer, das nicht nur das Leben der beiden Protagonisten in ein Gefühlschaos stürzen, sondern für immer verändern wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Katja wusste wirklich, wie man sich in Szene setzte. So wie sie sich in den Armen ihres Trainers wiegte. Wie dieser dabei mit vagem Anschein von Professionalität versuchte, ihre Körperbewegung zu koordinieren. Jede Bewegung, jedes Lachen, das zu ihr herüberdrang, wirkte so natürlich. Ja, man konnte schon neidisch werden auf die beste Freundin.

Wenn da nur nicht dieser enervierende Ton wäre, der jedes Mal erklang, wenn eine Filzkugel aufs Feld katapultiert wurde. Dazu dieses künstliche Lachen der beiden, wenn das Paar den Tennisball um Längen verfehlte.

Helena Reckenhusen unterließ es, ihren gemischten Gefühlen ein Kopfschütteln folgen zu lassen. Um Katja und ihr ausgeprägtes Liebesleben musste man sich wirklich keine Sorgen machen. Wie um ihr eigenes, warf sie sich mit einer Spur von Trotz vor und ließ dem sehnsüchtigen Stich in ihrer Magengegend nicht den Hauch einer Chance. Was Katja zu viel hatte, versagte sie sich selbst seit Langem. Mehr oder weniger … Doch das war gut so. Tief durchatmend fuhr sie sich mit der Hand durch ihr wallendes, aschblondes Haar. Dann winkte sie ihrer Freundin kurzentschlossen zu, ergriff ihre Handtasche und flüchtete sich auf die etwas luftiger gelegene Sonnenterrasse des Tennisklubs, wo Helena sogar einen ruhig gelegenen Einzeltisch für sich fand. Weiter von ihrer Skepsis geleitet, ließ sie ihre Blicke über die Anlage schweifen. Nein, der weiße Sport war definitiv nichts für sie. Zu öffentlich und ständig auf dem Präsentierteller. Zumindest was die taxierenden Blicke gewisser Herren betraf, von denen sich der Großteil gemeinhin als Alphamännchen bezeichnen würde. Nicht dass sie sich mit ihrer Figur verstecken musste, weiß Gott nicht! Nur musste man nicht jedem gleich zeigen, was man besaß.

»Guten Morgen, gnädige Frau. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« Der Kellner reichte ihr eine schmale Speisekarte.

»Ein stilles Mineralwasser, bitte. Und …«, sie blätterte lustlos in der Karte. »Ist der Caesar Salad zu empfehlen?«

»Frisch, wie eben gepflückt. Alles vom Biobauern«, versprach der Kellner und notierte ihre Bestellung.

»Bitte ohne Croutons.«

Er nickte und bedankte sich bei ihr mit einem zurückhaltenden Lächeln.

Von ihrem Platz aus konnte Helena die Tennisstunde ihrer besten Freundin gut übersehen. Drei weitere Trainingsstunden gab sie dem neuen Schwarm in Katja Friedrichsens Leben. Danach würde Katja den jungen Mann und erst recht diese Sportart nur noch langweilig finden.

Das war nicht nett, aber wenigstens ehrlich. Wieder einmal nahm sich Helena vor, nicht ständig auf die Eigenarten ihrer Mitmenschen herabzuschauen. Schon gar nicht auf die von Katja! Diese war, seitdem sie sich kannten, also gute zwanzig Jahre lang, schon immer die „Forscherin“ gewesen, die die Jungs sammelte wie ihr alter Biologieprofessor seine Käfer und Schmetterlinge. Nein, korrigierte Helena sich energisch. Solch herablassende Bewertungen waren weder ihres Standes würdig, noch passten sie zu dem Bild, das sie von sich in der Öffentlichkeit repräsentiert wissen wollte.

»Der Caesar Salad, ohne Croutons. Und ein stilles Mineralwasser, gnädige Frau«, riss sie der Kellner aus ihren Gedanken.

Helena nickte knapp und ergriff das in eine simple Serviette gewickelte Besteck. Skeptisch musterte sie die Gabel, vermied es aber, den Mann zurückzurufen. Eine Steakgabel zum Salat. Ein Sterne-Restaurant war das hier weiß Gott nicht. Lustlos pikte sie ein Salatblatt auf und tunkte es in die blass wirkende Vinaigrette. Trotz aller Zweifel, gar nicht einmal schlecht, entschied sie und probierte ein Stück von der Pute. Zu früh gefreut. Die war recht bissfest und schrie danach, sofort heruntergespült zu werden. Kaum hatte sie ihr Glas abgesetzt, folgte die Gabel, den schweren Holzgriff voran, den Gesetzen der Schwerkraft.

Klar, das musste ja so kommen! Ehrlich beleidigt musterte Helena ihre nagelneue weiße Bluse, auf der in Bauchnabelhöhe ein unübersehbarer Fleck prangte. Ein Fall für die Altkleidersammlung. Leise fluchend sammelte sie Gabel und Salatblätter von ihrem schwarzen Kostümrock, der hoffentlich keine bleibenden Spuren zurückbehielt. Der Appetit war ihr jedenfalls restlos vergangen.

Helena hatte nach dem vergeblichen Blusen-Rettungsversuch gerade erneut an ihrem Tisch Platz genommen, als Katja mit ihrem Sport-Ass die Stufen heraufkam. Ihr Lächeln wirkte entschlossen und selbstsicher. Wie üblich, ergänzte Helena im Stillen.

»Leni, darf ich dir Niels vorstellen?« Katja zog ihren Begleiter übermütig an ihre Seite, lachte hell und schlug sich mit dem Racket sanft gegen ihre wohlgeformten Beine. »Niels, das ist meine beste Freundin Leni.«

»Wie oft habe ich dir bereits gesagt, dass ich diesen Spitznahmen nicht mag!«

Die Gemaßregelte erwiderte den bitterbösen Blick mit einem schmelzenden Lächeln, das so etwa sagte: „Rede du nur, du kannst mir ja doch nicht böse sein.“

»Reckenhusen«, stellte sich Helena knapp vor und berührte die Hand des Sportlehrers mehr, als dass sie sie ergriff.

»Etwa DIE Reckenhusen? Von der Reederei Reckenhusen?«

Demonstrativ hochnäsig blickte die kühle Schönheit an Niels Fischer vorbei. Der junge Mann war lang genug in einem der vornehmsten Hamburger Tennisklubs beschäftigt, um zu wissen, mit welchem Typ Frau er es hier zu tun hatte. Frustrierte, frigide Unternehmergattin mit offensichtlichem Hang zur Selbstbeweihräucherung. Nur den obligat fetten Ehering vermisste er an ihrer Hand. Aber sie war eh nicht sein Fall. Zu alt, zu zickig und zu sehr von sich eingenommen. Er schenkte ihr ein herablassendes Lächeln, das dem ihren annähernd gleichkam.

»Dann wollen wir uns mal umziehen, ehe wir uns hier den Tod holen.« Seine Hand umfasste die zarte Hüfte seiner Schülerin, die sich seinen Avancen ihr gegenüber bedeutend offenherziger gab.

»Tja, Leni«, Katja vermied im letzten Moment, der frustriert wirkenden Freundin die Zunge rauszustrecken. »Treffen wir uns in fünfzehn Minuten? Drinnen an der Bar.«

Helena bezweifelte, dass sich ihre Freundin in der Kürze der Zeit so weit gestylt hatte, um ihr Versprechen einzuhalten. In der Hoffnung, dass es hier – so viel Gehässigkeit musste sein – keine Gemeinschaftsduschen gab, erhob sie sich, ergriff ihre über dem Stuhl hängende Kostümjacke und begab sich ins Innere des Gebäudes. Wo sie sich zumindest etwas klimatisierte Zustände erhoffte.

»Phips, alter Schwede! Ich hätte dich in der Ecke festnageln können!« Überschwänglich schubste Christoph Baumann seinen Trainingspartner und besten Freund Phillip von Staden in Richtung Tennislounge; ihrem beliebten Treffpunkt, wenn sie wieder mal mit den Freunden hier abhingen. »Squash ist echt nicht dein Ding, Digger! Bis du deinen Hintern in Bewegung gesetzt hast!« Was war das eigentlich für ein perverser Gestank, der sie begleitete … Christoph schnupperte skeptisch an seinem Polohemd und bedauerte ehrlich die Duftnote des Deos, das er sich ungefragt geborgt hatte. Seine zaghafte Einsicht ging im Gejohle einer Gruppe junger Leute unter, die es sich auf den Sofas und Sesseln in besagter Lounge bequem gemacht hatte.

Mit einem Siegerlächeln und der huldvollen Entgegennahme von Ovationen fläzte sich Christoph auf die nächstgelegene Couch und wühlte sich seufzend in die Polster hinein. »Leute, Phips wird immer besser. Dreimal 11 zu 5.«

Es war Christoph Baumanns ureigene Art, den Freund zu loben und für sich selbst die Glückwünsche einzuheimsen. Sein Blick blieb an der schnuckeligen Melanie haften, die ihn bislang noch nicht hatte kennen- und schätzen lernen dürfen. Die eindeutigen Signale, die sie aussandte, verrieten ihm, dass dieser Augenblick nicht mehr lange auf sich warten ließ. Mit einem siegessicheren Lächeln wischte er das lästige Zupfen an seiner Schulter fort. Erneutes Zupfen. Irritiert ließ er seinen Blick den eigenen Arm hinaufwandern. Oh, là, là!!! Er strich sich seinen in die Augen hängenden Pony aus der Stirn, um die attraktive Frau schräg hinter ihm besser in Augenschein zu nehmen. Diese Grazie schien ein älteres Semester zu sein, befand sich aber in einem ziemlich brauchbaren Zustand. »Ich hätte gern ein T-Bone-Steak, Schnuckelchen. Medium. Dazu ’ne Backkartoffel, aber eine, die auch ihren Namen verdient.«

Statt dass sie seine Bestellung mit einem schmelzenden Lächeln aufnahm, verfinsterte sich ihr eigentlich hübsches Gesicht noch weiter. Etwas irritierte …

»Kommen Sie endlich von meiner Jacke herunter, sie ungehobelter Flegel!«, hob ein wahres Keifen an, während sie wütend am besagten Kleidungsstück zerrte.

Taumelnd kam Christoph in die Höhe. Reine Verblüffung eroberte seinen bislang gutmütigen Gesichtsausdruck.

»So eine Rücksichtslosigkeit habe ich noch nicht erlebt!« Helena Reckenhusens zornige Blicke wanderten zwischen diesem ungehobelten Rohling und ihrer verknautschten Kostümjacke hin und her. »Was fällt Ihnen ein, sich wie ein stinkender Hammel auf meiner Kleidung zu suhlen!«

Demonstrativ zog sie ihr eigentlich hübsches Näschen kraus. Christoph blieben für einen Moment tatsächlich die Widerworte im Halse stecken. Mann, was für ein Drachen! »Nun spiel dich nicht wie ’ne frigide Krawallschachtel auf, Mädchen. Bring deinen Kaftan ruhig in die Reinigung …« Das herrische Wetterleuchten in ihren grauen Augen ließ ihn fasziniert stocken.

»Frigide Krawallschachtel!?!«

Wenn die beim Kuscheln genauso viel Feuer hätte … Wäre ’ne echte Alternative. Kaum hatte Christoph das erotische Kopfkino eingeschaltet, als es ganz in der Nähe seines Ohres knallte und sich ein unangenehmes Brennen über sein Gesicht fortpflanzte.

»Chauvinist! Bauernlümmel!«, schoss sie unbeherrscht ihre Flüche auf ihn ab und fegte um die eigene Achse. Mit wehenden Haaren rauschte sie durch die Tür und riss die Frau mit sich, die gerade durch dieselbe kam.

»Äh, was war das eben?« Christoph rieb sich die noch immer brennende Wange und blickte verständnislos auf die johlenden Freunde.

»Das war definitiv nicht die Serviermaus, für die du sie gehalten hast.« Selbst Phillip von Staden musste ein schadenfrohes Schmunzeln unterdrücken. Vor allem behielt er wohl erst einmal für sich, mit wem der Freund da aneinandergeraten war. Helena Reckenhusen war nicht die Frau, die man sich leichtfertig zum Feind machen sollte.

»Endlich hast du bekommen, was du dir seit Jahren redlich verdient hast.« Eine ruhige und doch tragende Stimme durchschnitt die fröhlichen Gespräche der anderen wie ein Damaszenerschwert.

»Was willst du damit sagen?«

»Das weißt du genau, Baumann.« Sebastian Krusemark hielt dem kühlen Blick des anderen ungerührt stand. »Es kotzt nicht nur mich an, wie du mit den Frauen umgehst!«

Selten hatte Christoph solch unverblümte Meinung einstecken müssen. Zumal das zustimmende Nicken hier und dort nicht gerade für ihn und seine Beliebtheit sprach. Er begann vorsichtig in sich hineinzuhorchen. Nur nicht zu tief. »Krusemark, ich habe mich damals bei dir entschuldigt. Das mit deiner Freundin … Wäre ich es nicht …«

»Das tut hier nichts zur Sache!«, würgte der andere ihn unwirsch ab. »Was mich ankotzt, ist deine Oberflächlichkeit, deine herablassende und verletzende Art, mit der du die Frauen behandelst.«

»Komisch, dass mir die Mädels das selbst noch nie so gesagt haben.«

»Vielleicht liegt es daran, dass du sie viel zu schnell fallen lässt. Oder daran, dass du einfach immer nur über dich redest.«

Christoph wurde allmählich sauer. Betont langsam strich er sich den Pony aus der Stirn und knurrte herausfordernd: »Willst du damit sagen, ich würde die Frauen nicht respektvoll behandeln und mich nicht binden können?«

»Korrekt! Dir geht doch der Arsch auf Grundeis, wenn auch nur eine zu dir sagt, dass sie dich liebt. Das allein wäre für dich schon ein Zuviel an Verpflichtung.«

Auf Vorwürfe stoisch reagieren war eine von Christophs Spezialitäten. Nur wenn diese der Wahrheit deutlich nahekamen, war es eine andere Sache. »Ich knacke dir noch jede Festung zwischen siebzehn und siebenundvierzig.«

»Das mag schon sein.« Krusemarks Lachen lockerte die angespannte Stille um sie herum nur unwesentlich auf. »Aber wärst du auch in der Lage, mit ein und derselben Frau – sagen wir ein Jahr lang – unter einem Dach zu leben?«

Diese Provokation vor der gesamten Clique würde er Krusemark irgendwann heimzahlen, schwor sich Christoph. Eine solche Herausforderung konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Melanie schien sich bereits jetzt von ihm zu distanzieren. Dabei wäre sie wohl die Richtige. Vielleicht konnte er es mit ihr aushalten? Zumindest ein Jahr lang, relativierte er sogleich seine Gedanken. »Klar schaffe ich das.«

»Beweise es.«

Erneut ging ein Raunen durch die Gruppe.

»Wie willst du es haben? Soll ich mir gleich hier eine vom Fleck wegschnappen?«

»Du klingst ziemlich siegessicher.«

»Wieso nicht? Manchmal ist es schon eine Last …« Er strafte sein Gegenüber mit einem herablassenden Grinsen.

»Gut, dann wirst du wohl nichts dagegen haben, wenn wir deinen Willen und dein Durchhaltevermögen ein wenig forcieren?«

»Ich bin dabei. Um was geht’s?«

»Hundert Mille?«, schlug Sebastian Krusemark vor.

Ein weiteres herablassendes Lachen. »Ne! Wenn, dann lass uns richtig rangehen. Eine Tussi glücklich machen, kostet bei mir schon was. Zudem muss ich einen Verdienstausfall ebenfalls einplanen.«

»Ich verstehe. Du willst also richtig wetten. Schlag mir eine Summe vor.«

»Zweihundertfünfzigtausend, alles andere ist Kinderkacke.«

Den Leuten um sie herum stockte der Atem.

Phillip stieß seinen Freund in die Seite und flüsterte aufgeregt: »Chris, mach keinen Scheiß. Der will dich doch nur foppen.«

»Wie recht du hast, Baumann.« Krusemarks Schmunzeln vertiefte sich. »Alles andere geht bei euch ja eh nur aus der Portokasse.«

Jeder in der Runde wusste, was gemeint war. Die Reederei und Internationale Spedition Bertram Baumann war allen ein Begriff. Mindestens ebenso sehr wie die Art, in der der jüngste Spross des Firmeneigners sein Leben genoss.

Chris hatte längst das Pro und Kontra für sich ausgeblendet. Im Geiste rieb er sich die Hände. Diese Summe würde reichen, seine große Leidenschaft, den Rallyesport, in der nächsten Saison selbst zu finanzieren. »Okay, ich bin dabei. Auszahlung heute in einem Jahr. Fang schon mal an zu sparen.«

»Nein, mein Lieber, das hier wird richtig und unter Zeugen aufgesetzt. Meine Bedingungen zu dieser Wette: zwei Wochen Zeit, um die Auserwählte klarzumachen und dann 365 Tage unter einem Dach. Keine Verheiratete, keine Verlobte.«

»Hört sich gut an.« Christoph fühlte sich wie benebelt. »Weder verlobt noch verheiratet. Damit kann ich wirklich leben.« Er lachte zufrieden. »Waren das alle Einschränkungen?«

»Respekt, du scheinst dir ja noch immer siegessicher zu sein.«

»Warum nicht! Manchmal kann es ein wahrer Fluch sein, aber die Bräute stehen nun mal wimmernd Schlange vor meiner Kammertür. Möchte sonst noch jemand wetten?« Christoph drehte sich übermütig um die eigene Achse.

»Mir scheint, es steht für dich noch nicht genug auf dem Spiel, oder? Okay, an mir soll es nicht liegen«, bot Sebastian Krusemark provokativ einen höheren Einsatz an.

»Du sagst es.«

»Gut! Zu dem schnöden Mammon setze ich meinen 612er Scaglietti gegen deinen 911er GT2. Einer von uns wird im nächsten Jahr echte Tränen in den Augen haben.«

Christophs Herzschlag setzte für einen Moment aus. Nicht nur, dass Krusemark mit dem Einsatz ihrer Sportwagen der Luxusklasse den Wettbetrag praktisch verdoppelte. Der Verlierer würde wirklich etwas einbüßen, das er so nie wiederbekam. Sein Blick huschte zu Phillip, der aufgesprungen war und entsetzt abwinkte.

»Ich möchte auf der Stelle den Geschäftsführer sprechen!«

Die Sekretärin blickte verwirrt auf die beiden Frauen, die in ihr kleines Büro gestürmt kamen. »Herr Offen ist zurzeit leider nicht im Hause. Kann ich vielleicht behilflich sein?«

»Es ist eine Frechheit, wie man hier als Frau und Gast behandelt wird! Nicht nur, dass sich Ihr Gastronomiebetrieb auf dem Standard einer Pommesbude befindet. Nein, hier wird man auch noch von wildfremden Männern belästigt und beleidigt.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich verstehe nicht?«

»Was meine Freundin damit sagen will, ist, dass sich in der Lounge eine Gruppe von Herrschaften befindet, die dem Renommee dieses Clubs eher schaden«, mischte sich nun die jüngere der beiden Frauen ein.

Das Lächeln der Angestellten schwand und machte einem ehrlichen Bedauern Platz. »Ich möchte mich vielmals für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die Sie erleiden mussten. Ich werde Ihre Beschwerde unverzüglich an Herrn Offen weiterleiten. Wenn ich auch befürchten muss, dass sich an der Situation leider nicht viel ändern wird.«

»Wie soll ich das verstehen?«

Die Miene der Sekretärin sagte nichts anderes, als dass sie bereits am eigenen Leibe ähnliche Erfahrungen gesammelt hatte. »Ich habe vorhin den bewussten Herrn gesehen und kann mir bereits denken, über wen Sie sich beschweren möchten. Das Problem ist nur: Die Reederei Baumann ist einer unserer Hauptsponsoren.«

»Baumann?«

»Ja, Reederei Bertram Baumann. Christoph Baumann, den Sie offensichtlich meinen, ist der Juniorchef.«

Baumann! Diese Erkenntnis brachte bei Helena Reckenhusen erst recht das Blut in Wallung. Nicht nur, dass dieses Unternehmen ihr in letzter Zeit die Kundschaft mit seinen Dumpingangeboten abwarb, verband ihre Familien auch noch seit gefühlten Jahrzehnten eine wahre Feindschaft. Nun hatte sie also den Junior kennenlernen dürfen. Ja, dieses Früchtchen passte nahtlos in die Reihe dieser Hasardeure hinein.

»Katja, komm, wir haben hier nichts mehr verloren.« Wütend zog Helena die willenlos hinter ihr herstolpernde Freundin mit sich.

»Fehlt also nur noch die passende Grazie.« Christoph atmete tief durch und trommelte mit den Händen erwartungsvoll auf die Sessellehnen. Um das Geld machte er sich keine Sorgen, aber seinen 911er wollte er nur ungern verlieren. Kurz erinnerte er sich daran, welche Summen es ihn allein gekostet hatte, diesen in limitierter Stückzahl gebauten Männertraum überhaupt sein Eigen zu nennen.

»Wie ich dich kenne, brauchen wir uns darüber keine Sorgen machen, oder?« Sebastian Krusemark konnte es noch immer nicht fassen. Das Gefühl, diesen Arsch endlich an seiner wunden Stelle getroffen zu haben, war unvergleichlich. Ein Jahr lang würde er diesen Minusmenschen leiden sehen und dann … Übermütig schlug er vor: »Nehmen wir doch einfach die nächste Frau, die durch diese Tür kommt.«

»Wenn man ihr nicht einen Sack übern Kopf ziehen muss. Geil! Das ist wie bei einer Wundertüte«, scherzte Baumann und fügte im vollen Brustton der Überzeugung hinzu: »Okay, die Wette gilt. Ledig und hübsch muss sie sein, dann beweise ich euch, dass mehr in mir steckt, als ihr Dumpfbacken alle glaubt. Die Nächste, die durch diese Tür kommt!«

Phillip sah an seinem Freund vorbei auf die besagte Tür, die Chris aber auch so richtig in die Schei… Er erbleichte sichtlich.

Ein anerkennender Pfiff und herzhaft einsetzendes Lachen verrieten Christoph, dass das Schicksal ihm seine neue Traumfrau ausgeknobelt hatte. Siegessicher lächelnd wandte er sich um. Sein Herz rutschte ihm nun doch für mehr als einen langen Moment in die Hose. Herr im Himmel! Tief durchatmen und durch.

»Un moment, jeune femme.« Christoph erhob sich und stellte sich der Eintretenden mit einer Verbeugung in den Weg. »Ich denke, ich muss mich vielmals bei Ihnen für mein ungebührliches Benehmen von eben entschuldigen.« Er schenkte dem Racheengel, der vor ihm stehen blieb, sein berüchtigtes schmelzendes Lächeln. Es fiel ihm wahrlich nicht schwer, bei dem, was sich ihm bei genauerem Hinsehen bot. Übersah man einmal, dass sie ihn echt wütend anfunkelte, wirkte alles an ihr mehr als passabel. Ihre Ausstrahlung, ihr Auftreten, ja das ganze Outfit passte – bis auf einen fetten Fleck auf ihrer Bluse – zu einer erfolgreichen und selbstbewussten Geschäftsfrau. Dankbares Alter und kein Ehering, soweit er sehen konnte. Sein bevorzugtes Beuteschema. »Wie schaut es aus, darf ich meinen Fauxpas bei einem gemeinsamen Dinner ausbügeln?«

Schweigend sah Helena an dem Mann vorbei. Die Gruppe der jungen Leute, die mit spannungsgeladenem Schweigen jede ihrer Regungen verfolgte, irritierte sie immens. Dieser ungehobelte Kerl bannte erneut ihren Blick. War er in der Tat der Meinung, dass mit einem Essen und ein paar ungelenken Worten alles aus der Welt geschafft war? Ein grässlicher Kerl, wie er da in seinen billigen Klamotten vor ihr stand, um ihr seine Aufwartung zu machen. Erbärmlich nach irgendeinem Ramschdeo stinkend. Die Krönung jedoch waren diese Surferfrisur und der ungepflegte Vollbart. Ja, dieser Kerl passte perfekt in den Baumann-Clan hinein. Im Rücken spürte sie die schützende Hand Katjas. Doch statt sich heldenmutig zwischen sie und diesen … Menschen zu werfen, hielt sich die Freundin schweigend im Hintergrund.

Christophs Lächeln vertiefte sich und schloss dabei die hübsche Frau mit ein, die hinter seiner „Auserwählten“ stand. Warum nur war diese nicht zwei Schritte schneller gewesen? Das Leben hätte so einfach sein können. Er erinnerte sich, dass ihn sein Gegenüber weiter scharf musterte. »Darf ich Ihr Schweigen als Zustimmung werten? Ich heiße Christoph. Christoph Baumann, ganz zu Ihren Diensten.«

Helena Reckenhusen übersah demonstrativ die Visitenkarte, die er ihr entgegenhielt. Stattdessen drohte sie ihm mit vibrierender Stimme. »Wenn Sie mir nicht augenblicklich aus dem Weg gehen, vergesse ich in der Tat den Rest meiner guten Erziehung. Alles Weitere besprechen Sie bitte mit meinem Anwalt.«

Der Stoß gegen seine Brust kam für Christoph völlig unerwartet und schon rauschte sie an ihm vorbei. Die andere Perle schenkte ihm nur ein verwirrtes Lächeln und folgte dann ihrer Freundin.

»Eins zu null für Krusemark«, kam es aus den Tiefen des Raumes.

»Die Wette steht, Baumann«, bekräftigte Christophs Gegenspieler und zwängte dessen Hand in die seinige. »Sie gehört dir. Ach, und denke daran, in zwei Wochen musst du die Auster geknackt haben.«

Der Zirkus zog weiter und ließ zwei mehr oder weniger nachdenklich dreinschauende junge Männer zurück.

»Du weißt, um was du dich da eben gebracht hast, oder?« Phillip von Staden war die Ruhe selbst. Jetzt wo eh alles zu spät war, erfasste ihn euphorische Untergangsstimmung. »Von deinem 911er kannst du dich definitiv verabschieden, würde ich mal sagen. Und was dein alter Herr dazu …«

»Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Digger. Ich muss nur noch ihren Namen und die Adresse rausbekommen, dann wird das mit der Braut schon laufen. Sollst mal sehen, die steht auf Typen wie mich. Hart und ein wenig schmutzig.«

»Sag mal, du Depp! Du weißt wirklich nicht, mit wem du dich da eben angelegt hast, oder?«

»Ich werde sie das Jahr über wohl besser kennenlernen, als ich es mir jetzt vorzustellen vermag.« Christoph konnte nicht anders. Er musste seinen besten Freund einfach ein wenig auf die Schippe nehmen. »Wer weiß, vielleicht hast du sogar eben die zukünftige Frau Baumann kennengelernt. Das dankbare Alter scheint sie zu haben. Ist nicht so ein Junggemüse.«

»Ja, da wirst du recht haben. Ich meine, Helena Reckenhusen ist so knapp an die Vierzig.«

»Wer … sagtest du?« Christoph suchte nach festem Halt. »Reckenhusen? Etwa die Reckenhusen?«

»Bingo! Und wenn ich auch unsere innige Freundschaft damit aufs Spiel setze. Aber das mein Lieber, das hast du dir echt mal verdient. Mehr kann man sich gar nicht in die Scheiße reiten, als du es heute geschafft hast.« Phillip klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Respekt, mein Alter.«

Christoph blickte zu seinem Freund auf. Es war echt komisch zu spüren, wie einem sämtliches Blut in die Füße sackte. Ziellos irrten seine Gedanken hin und her, ohne irgendwo anzudocken. Reckenhusen! Shit! Der Alte würde ihm den Kopf abreißen, wenn er mit der frohen Nachricht kam. Fünfhunderttausend auf einen Schlag versenkt. Das wäre selbst für einen Christoph Baumann ein mehr als passabler Erfolg, hörte er bereits Thorsten, seinen älteren Bruder, fluchen. »Phips, ich glaube, jetzt habe ich doch ein kleines Problem.«

Phillip reckte die Nase stumm in die Höhe und ließ den Kopf ruckartig nach unten fallen. Eine inbrünstigere Bestätigung konnte man wirklich nicht verlangen.

»Wie soll ich die Reckenhusen in zwei Wochen davon überzeugen, was für ein toller Kerl ich bin? Was weiß ich eigentlich von der? Nichts, außer dass sie ’ne Krampfhenne und ausgemachte Emanze sein soll!«

»Ich glaube, du solltest dir erst einmal darüber Gedanken machen, wie du dir das Bargeld beschaffst. Wenn dein alter Herr dir gleich den Kopf abreißt, wird sich die gute Helena gar nicht erst anstrengen müssen, dir an die Gurgel zu gehen.«

»Oh Mann. Alter, du musst mir helfen! Ich werde auch meinen Erstgeborenen nach dir benennen.«

»Zumindest hast du deinen schrägen Humor nicht verloren.« Phillip von Staden rieb sich die Wange und inhalierte die unangenehme Wolke Aftershave, die ihm entgegenschlug. Nachdenklich musterte er den erneut dumpf vor sich hinbrütenden Freund. Er würde ihn noch ein wenig zappeln lassen. Das hatte Chris sich wahrlich verdient. »Vielleicht habe ich einen Plan B.« So viel konnte er ihm verraten. »Aber du musst zu deinem Alten. Oder hast du das Geld flüssig? Krusemark wird darauf bestehen, dass ihr eure Einsätze deponiert. In der Zwischenzeit will ich versuchen, ein paar Leute an alte Zeiten zu erinnern.«

»Phillip, wenn du es schaffst, dass ich bei der reinkomme, dann kannst du wirklich alles von mir bekommen. Echt! Ich verspreche dir, wenn ich halbwegs heil aus der Sache herauskomme, setze ich mich in Sachen Weiber zur Ruhe.«

Schön wäre es, dachte Phillip bei sich und knurrte: »Ich werde dich beizeiten daran erinnern, aber nun bring mich erst einmal nach Hause.«

Kapitel 2

Freitagmorgen. Hafen-City. In aller Herrgottsfrühe um zehn Uhr siebenunddreißig. Christoph Baumann parkte seinen 911er vor dem imposanten Firmengebäude der Reederei Baumann. Die Wagen seines Vaters und des älteren Bruders standen wie gewohnt auf ihren Plätzen. Hussa, das würde einen Spießrutenlauf geben. Skeptisch blickte er an der rot geklinkerten Ziegelfront empor. Hinter diesen Mauern sollte bereits seit Jahren ein eigenes Büro auf ihn warten; und das tat es wohl auch. Nur war er bislang auf diesem Ohr sehr schwerhörig gewesen. Ihm dämmerte, dass er für ein weiteres Entgegenkommen des Alten um eine verbindliche Zusage nun nicht mehr herumkam.

Christoph nahm den Fahrstuhl in den obersten Stock und sah nachdenklich über die im Sonnenschein glitzernde Elbe. Grandios! Manch einer bekam auf dem Weg zum Schafott nicht so einen herrlichen Ausblick geboten.

»Hallo Krügerchen, ist Papa zu sprechen?« Christoph hatte den geräumigen Schreibtisch der Chefsekretärin umrundet und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Er durfte es ungestraft, schon seitdem er als kleiner Hosenmatz auf ihrem Schoß gesessen hatte.

»Guten Morgen, Chris. Du wirst bereits von den beiden erwartet.« Ihr bedauernder Blick verriet, dass nebenan mindestens Windstärke 14 herrschte. »So wütend habe ich die zwei selten erlebt.«

»Die Buschtrommeln scheinen ja richtig gut zu funktionieren. Tu mir einen Gefallen, Krügerchen? Ich möchte, dass auf meiner Beerdigung zehn blonde Jungfrauen das Ave-Maria singen.«

»Ich denke, deine Scherze sind heute wirklich nicht angebracht.«

»So schlimm?« Christoph registrierte ihr ernstes Nicken. »Dann wünsch mir Glück und noch ein langes Leben.«

Es wirkte wie in einem dieser Mafiafilme. Der Patriarch saß an einem großen Schreibtisch, der Stiefellecker stand versetzt hinter ihm.

»Hallo zusammen. Was machen die Geschäfte?«

»Dank dir können wir von Glück reden, wenn wir dieses Jahr keine roten Zahlen schreiben.« Thorsten Baumann, Vizechef und designierter Nachfolger des Vaters umrundete den Schreibtisch, während der Alte seinen Jüngsten weiterhin schweigend musterte. Mit Wut im Blick baute sich Thorsten vor dem fünfzehn Jahre jüngeren Bruder auf. »Manches Mal glaube ich fest daran, dass dich eine böse Macht zu uns geschickt hat, um uns eines Tages das Genick zu brechen.«

»Deine Theatralik ist unangemessen, Thorsten«, ließ sich Bertram Baumann zum ersten Mal vernehmen. »Und du, Christoph: hierher!«

Letzterer tarnte sein krampfhaftes Schlucken, indem er den Bruder mit einem lässigen Handwedeln beiseitescheuchte. Langsam trat Christoph vor den großen, vermutlich aus einer einzigen Eiche gedrechselten Schreibtisch. Von dem meist gütig dreinschauenden Blick unter der Pracht aus vollem, schneeweißem Haar war nichts mehr übrig. Jemand aus der Clique hatte ihn verpfiffen. Der „Old British Gentleman“, wie ihn die Presse gern titulierte, war nicht mehr existent. Nein, Bertram stand kurz vor der Explosion. In den scharfkantigen Zügen des Alten war bereits das Toben zu erahnen, das seinen Ausbruch nehmen und ihn verschlingen würde. »Paps, ich glaube, ich muss da mal eine Transaktion mit euch besprechen. Hundertprozentig sicher und hundert Prozent Gewinnspanne in einem Jahr.«

»Ist das auch wieder so eine Idee wie deine letzten Erfolge?« Thorsten setzte sich in einen der protzigen Ledersessel, die als Sitzgruppe beinahe ein Viertel des Raumes einnahmen. Erwartungsvoll schlug er ein Bein über das andere.

»Fünfhunderttausend.« Christoph ärgerte sich. Zum einen über das affige Gehabe seines „unfehlbaren“ großen Bruders, zum anderen über den eigenen kläglichen Unterton.

»Du wirst uns sicher noch ein wenig mehr über dein geplantes Geschäft erzählen.«

Christoph überging den erneuten Einwurf und wandte sich dem Vater zu. »Es hängt noch zu vieles in der Schwebe, um jetzt ausführlich darüber zu berichten. Zuvor muss ich euch erst einmal mit ins Boot kriegen. Zweihundertfünfzigtausend kann ich derzeit nicht allein meistern.«

»Hör bloß damit auf, uns erneut in eines deiner windigen Geschäfte hineinzuziehen! Wir wissen diesmal sogar, worum es sich handelt.« Thorsten schoss in die Höhe und stapfte wütend auf den Bruder zu. Speicheltropfen sprühten auf diesen herab, als er ihm die Leviten las. »Macht es dir eigentlich Spaß, unser sauer verdientes Geld immer wieder zum Fenster hinauszuschmeißen? Ich habe die Schnauze von deinen Weiber- und Rallye-Geschichten restlos gestrichen voll!«

»Du musst ja nicht!«, wurde nun auch Christoph lauter. »Zur Not kann ich immer noch mein Penthaus beleihen.«

»Da sieht man mal, was für ein toller Kaufmann du bist!« Thorstens Lachen ließ echte Belustigung durchscheinen. »Du hast noch nicht einmal begriffen, dass dir deine Weiberfalle gar nicht gehört, sondern Firmeneigentum ist.« Er fuhr zu seinem Vater herum und drohte ihm in seiner Rage: »Wenn du diesem Bankrotteur noch einen Euro zuschusterst, muss ich mir wirklich überlegen, ob ich hier noch am richtigen Platz bin. Ich habe schließlich eine Familie zu ernähren!«

Bertram Baumann blieb ruhig in seinem Sessel sitzen. Ja, er lehnte sich sogar entspannt zurück und musterte seine beiden so grundverschiedenen Söhne für unendlich lange Momente. Irgendwann schien er, nach Rücksprache mit sich selbst, zu einem Entschluss gekommen. »Thorsten, ich denke, du hast mit der Sache in Nahost genug um die Ohren. Ich möchte dich nicht davon abhalten.«

Die Äußerung des Vaters duldete keinen Widerspruch. Das wusste auch der Vizechef des Unternehmens. Dennoch kam er nicht umhin, nochmals zu warnen. »Ich habe eben keine Scherze gemacht.«

Bertram Baumann unterließ es, darauf zu antworten. Sein Blick sprach Bände. Er wartete, bis sein Ältester das Büro verlassen hatte. »Ich könnte jetzt einen Kognak gebrauchen.«

Christoph nickte und begab sich an die Bar, um den Wunsch des Vaters zu befolgen. Dabei vermied er den offensichtlichen Fehler, sich ebenfalls aus den reichlich vorhandenen Vorräten zu bedienen. »Bitte schön, zum Wohle.«

Bertram Baumann musterte den jungen Mann, der vor dem Schreibtisch stehen geblieben war und mit unterschwelliger Nervosität auf das wartete, was da kommen mochte. Enttäuschung, anders konnte er sein Gefühl für ihn nicht umschreiben. Alles an Christoph war eine einzige Enttäuschung. Selbst der einfachste seiner Kontorboten hatte mehr Stil und Esprit als der eigene Sohn. Die unrühmlichen Frauengeschichten, die immer wieder für Stadtgespräche sorgten, diese Popperfrisur, oder wie das heute hieß, und dann diese Kleidung … Er schüttelte resigniert den Kopf und kam zum Anliegen ihres Treffens. Zumindest zu dem aus eigener Sicht. Aus der obersten Schublade entnahm er einen schmalen Aktenordner.

»Christoph, ihr habt euch oft darüber lustig gemacht, dass ich ein alter Pennschieter sei, weil ich alle Ausgaben nachrechne. Dir mag es seltsam vorkommen, doch anders kann man, auch heutzutage, kein Unternehmen führen.« Das Räuspern klang wie die nahende Eruption eines Vulkans. »Was für das Geschäft gilt, das gilt erst recht für die Familie.« Sein Sohn stand vor ihm und blickte ihn stumm an. Und doch signalisierte seine Körperhaltung Nervosität und Unsicherheit. Der junge Mann wusste sehr wohl, welchen Blödsinn er anstellte. Da war er sich sicher. »Ich habe mir in der letzten Woche die Mühe gemacht und einmal durchgerechnet, was mich meine Kinder in den letzten Jahren gekostet haben.«

»Aber wir haben doch auch wieder etwas eingebracht, oder?«, wagte Christoph einen ersten Einwand und erntete dafür einen bitterbösen Blick.

»In der Tat, das habt ihr. Gerade in deinem speziellen Fall würde ich diese Tatsache jedoch nicht noch besonders hervorheben. Dadurch wäre dein Manko noch weitaus katastrophaler, als es ohnehin ist.«

In einem Anflug von Trotz verschränkte der Gemaßregelte die Arme vor der Brust und blickte stumm zu Boden.

»Thorsten, seine Familie eingeschlossen, hat mich sage und schreibe etwas über eine Million gekostet. Eine Summe, die er durch seine Arbeit für das Unternehmen beinahe wöchentlich wieder hereinholt. Christina, mit ihren drei Kindern und einem Mann, der zumindest gut verdienender Chefarzt ist, hat mich an die drei Millionen gekostet.« Bertram Baumann holte tief Luft und erinnerte sich daran, was ihm sein Kardiologe geraten hatte. »Kommen wir zu dir, mein Sohn. Was meinst du, wie viel du mich bislang gekostet hast?«

Christina, nur drei Millionen? Christoph fragte sich allen Ernstes, ob er mehr verprasst hatte als seine kaufrauschwütige Schwester. Okay, eine aktive Teilnahme am Rallyesport war nicht gerade billig, aber erst vor drei Jahren hatten sie in der Rallye 200 den fünften Platz gemacht.

»Hat es dir die Sprache verschlagen, mein Sohn? Ich will dir gern helfen. Du führst das Minus mit sage und schreibe Sieben-Komma-acht-Millionen an!« Der Senior zog die Summe beinahe genüsslich auseinander und registrierte erste Spuren von Reue und Verlegenheit in den Blicken des Sohnes. »Ich hoffe inständig, dass du so viel Ehre und Anstand in dir hast, um zu erkennen, dass es so nicht weitergehen kann?«

»Du hast ja recht, Papa. Es ist in letzter Zeit einiges ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Aber dass es so viel ist, hätte ich nun wirklich nicht gedacht. Ich versuche es wiedergutzumachen. Ehrlich!« Christoph wagte einen Blick aufwärts, traf jedoch auf wenig Gutmütigkeit. »Paps, ich habe mich diesmal wirklich in die Scheiße geritten. Aber ich kann mich da ganz allein wieder herausholen und muss den Einsatz nur als Sicherheit hinterlegen.«

»Ich will gar nicht erst wissen, welchen Blödsinn du nun wieder angestellt hast. Sag mir bitte nur, wie es mit dir weitergehen soll? Das ist das Einzige, was mich interessiert.«

»Ich will mich nun wirklich um die Firma kümmern. Doch zuerst muss ich diese Sache von der Backe haben. Dieses eine Jahr brauche ich noch.«

»Gut, dann höre meine Bedingungen.«

Christoph wagte zum ersten Mal, ein wenig aufzuatmen. Wenn sein Alter ihm diese Chance gab, dann gelobte er den Göttern wirkliche Besserung.

»Vielleicht bereitet dir der Auftrag, den ich für dich habe, sogar ein wenig Spaß«, schickte Bertram Baumann seinen Ausführungen aufmunternd vorweg. »Du wirst Anfang der nächsten Woche nach Südafrika fliegen und in unserer Dependance in Kapstadt dafür sorgen, dass die Unstimmigkeiten, die ich in den letzten Wochen aufgedeckt habe, abgestellt werden.«

»Südafrika?« Konnte es denn noch schlimmer kommen! Christoph bezweifelte, ob er diesen Auftrag innerhalb einer Woche erledigen und zudem, ganz nebenbei, das Herz einer erwiesenermaßen berüchtigten Krampfhenne erobern konnte.

Sein Vater redete weiter, als wäre ihm der erschrockene Einwurf nicht zu Ohren gekommen. »… In den letzten beiden Jahren sind dort Gelder in Millionenhöhe verschwunden. Du wirst den oder die Schuldigen finden und zur Rechenschaft ziehen.«

»Wie soll ich das denn anstellen? Ich bin doch kein Schnüffler. Gibt es da unten nicht auch so etwas wie Staatsanwälte und Polizisten?«

»Die gibt es. Du wirst jemanden aus dem Justizministerium, der mein vollstes Vertrauen hat, kontaktieren können. Aber ich verlasse mich darauf, dass nichts davon an die Öffentlichkeit gerät.«

»Deine Gründe würden mich, ehrlich gesagt, sehr interessieren.«

»Ich befürchte, dass nicht nur irgendwelche Mitarbeiter in Kapstadt in diese Sache involviert sind. Sie müssen einen Komplizen hier in der Zentrale haben. Darum werde ich niemanden aus der Firma hinzuziehen. Nicht einmal deinen Bruder.«

Ha, da gab es endlich mal etwas, was diese Blödbacke nicht wissen durfte. Christoph musste wider Willen lächeln. Allein die Aussicht, die väterliche Dankbarkeit nur für sich allein zu genießen, wäre Antrieb genug zuzusagen. Wenn … Ja, wenn die Sache mit einer gewissen Helena Reckenhusen nicht im Raum stünde. Ein Jahr unter einem Dach. Er müsste sie wohl kidnappen, narkotisieren und in einem Kral verstecken, damit er überhaupt noch eine Chance behielt, die Wette zu gewinnen.

»Wenn du bereit bist, das für uns und die Firma zu erledigen, werde ich dir das Geld geben und einen Schlussstrich unter deine Torheiten setzen. Ansonsten erhältst du neben der gewünschten Summe letztmalig einhunderttausend Euro und wirst anschließend für alle Zeiten aus der Erbfolge ausgeschlossen. Überlege es dir. Es ist mein letztes Angebot.«

»Jetzt machst du aber Scherze.« Christoph suchte vergeblich nach einem humorvollen Funkeln in der Miene des Alten.

»Glaubst du wirklich, dass mir deine Eskapaden auch nur einmal ein Schmunzeln abverlangt haben? Nein, mein Sohn, ich scherze beileibe nicht.«

»Wohl nicht.« Christophs Schultern sanken herab. »Darf ich mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen? Ich muss eine Nacht darüber schlafen.«

»Morgen früh erwarte ich deine Entscheidung.« Bertram Baumann scheuchte seinen Sohn mit einem Handwedeln hinaus und beugte sich über seine Arbeit.

Gleich wache ich auf und alles ist nur ein Albtraum. Die letzten zwei Tage waren ein einziger Albtraum! Christoph wankte ins Vorzimmer.

»Christoph, Junge«, drang Krügerchens besorgte Stimme wie durch Watte zu ihm hindurch. »Du siehst aus, als wäre dir gerade der Tod begegnet.«

»Ja, so ähnlich kann man es wohl beschreiben.« Er holte sein Handy hervor und verließ grußlos das Büro. Nach dem dritten Freizeichen wurde abgenommen. »Phips, hast du was erreicht?«

»Eh Mann, ich kann zaubern, aber nicht hexen! Etwas Zeit musst du mir schon geben.«

»Zeit ist gerade das, was ich überhaupt nicht mehr habe.«

»Was willst du damit sagen?«

»Mein Alter macht mir die Hölle heiß. Ich muss mir das Geld verd… Halt, ich sehe doch noch eine Möglichkeit. Phips, bitte krieg das mit der Reckenhusen in Gang!« Er beendete das Gespräch und verließ eilig das Gebäude, um seine Idee in die Tat umzusetzen.

***

In rekordverdächtiger Zeit erreichte Christoph das Gebäude an der Elbchaussee, in dem seine Wohnung lag. Mit dem Lift fuhr er von der Tiefgarage direkt in sein Penthaus. Firmenbesitz, dass ich nicht lache, regte er sich über seinen pedantischen Bruder auf. Mit traumwandlerischem Geschick umkurvte er auf seinem Weg ins Arbeitszimmer die herumliegenden Gegenstände. Das musste die Putzfrau endlich einmal beseitigen. Er öffnete ein Fach in seinem Schreibtisch und kramte ein altes, abgegriffenes Adressbuch hervor. Piet … Verdammt, wie hieß der Mann noch mit Nachnamen? Mühle. Ne, da war was Holländisches dran. Möhlen, er blätterte hektisch durch das Buch. Auch nicht, da war mehr. Ja, da war es wieder. Pieter van der Möhlen. Hoffentlich stimmte die Nummer noch. Das Festnetz erzählte ihm, dass dieser Anschluss nicht belegt sei. Handy! Wenigstens war hier ein Freizeichen.

»Piet hier, wer da?«

»Bist du das, Piet? Pieter van der Möhlen.«

»Mama?«

»Quatsch! Ich bin es, Christoph Baumann. Dein alter Kommilitone aus Hamburg. Eh Alter, wie geht es dir?«

»Christoph! Mensch, wir haben ja seit ewigen Zeiten nichts mehr voneinander gehört. Wo drückt der Schuh?«, übte sich sein Gesprächspartner in Hellseherei.

»Ich habe ein Problem, bei dem du mir mit deinem Wissen, deiner Begabung und auch deiner Herkunft perfekt helfen könntest. Du müsstest nur für zwei bis drei Wochen abkömmlich sein.«

»Das ließe sich in der Tat einrichten. Meine frische Ex hat mich sitzen lassen. Nun ist der geplante Kluburlaub all-inclusive auf Fuerte gestrichen.«

»Ich könnte dir deine freie Zeit besser vertreiben. Was hältst du von einem Flug nach Südafrika? Kapstadt, all-inclusive. Dazu die Chance auf ein wenig Detektivarbeit in einem florierenden Logistikunternehmen mit vielen Zahlen und Fakten.«

»Hört sich gut an«, kam es vom anderen Ende her.

* * * * *

Irgendwie erfüllte es Christoph mit Stolz. Am ersten Tag, an dem er, wenn auch inoffiziell, für die Firma arbeitete, war er früher im Laden als sein Besserwisserbruder. Selbstsicher nahm er den Fahrstuhl in die oberste Etage des Baumann-Imperiums. Ja, bei den Baumanns arbeitete man schließlich auch am Samstag.

»Morgen Krügerchen, ist mein Papa schon ansprechbar?«

Überrascht sah die Chefsekretärin auf. »Christoph? Du? Und das zweimal in einer Woche!«

»Ja, das sollte man sich rot im Kalender anstreichen.« Er gab ihr einen überschwänglichen Kuss auf die Wange, schnappte sich Kaffeekanne und zwei Becher und eilte schnurstracks ins Büro des Vaters. Es tat richtig gut, wenn man überall überraschte Gesichter fabrizierte. »Moin Paps, du erwartest noch eine Antwort.« Er schenkte die Becher randvoll und schob einen davon in Richtung des Alten, der ihn fragend musterte. »Ich mache den Job. Aber nur zu meinen Bedingungen.«

»Höre ich da einen gewissen Baumann’schen Unterton heraus?« Bertram Baumann lächelte zum ersten Mal. »Und? Wie hast du es dir vorgestellt?«

»Ich brauche das Geld, um das ich dich gestern bat, bis Ende der Woche auf mein Konto. Außerdem benötige ich natürlich ein wenig Spielgeld, um in Kapstadt gut unterzukommen.« Zweimaliges verzögerungsfreies Nicken segnete die ersten Forderungen ab. »Ach ja, ich werde dort unter anderem Namen auftreten.«

»Hast du nicht ein paar Kriminalromane zu viel gelesen?«

»Ich glaube kaum, dass ich als Christoph Baumann die Auskünfte bekomme, die mein Vater wünscht. Sollte es sich – wie du sagtest – um Millionen handeln, möchte ich nicht erst testen, wie viel Spaß diese Kriminellen verstehen, sollte ich auffliegen.« Es verunsicherte Christoph doch ein wenig, dass sein Vater reagierte, als hätte er diese Möglichkeit nicht bedacht. »Ich werde dort als Pieter van der Möhlen auftauchen und nur dir und deinem Kontaktmann, dessen Namen ich noch benötige, Rechenschaft ablegen. So wird es passieren – oder gar nicht!«

Bertram Baumann atmete befreit auf und verdrängte die Frage, ob seine gestrige Standpauke nicht schon viel eher hätte stattfinden müssen, auf einen späteren Zeitpunkt. Diese musste auf Christoph jedenfalls wie eine Initialzündung gewirkt haben. »Gut, so machen wir es. Wann fliegst du?«

»Sobald du mich instruiert hast und ich das Geld auf meinem Konto weiß. Nun guck nicht so. Wir sind beide Geschäftsleute, oder?«

* * * * *

Phillip von Staden kontrollierte nochmals den Sitz seiner Krawatte und feilte ein wenig an seinem unschuldig wirkenden Lächeln. Der Plan muss aufgehen, wiederholte er zum ungezählten Male gebetsmühlenartig. Er fühlte in der Innentasche seines Sakkos die Einladung zur Schiffstaufe.

In der Zeltstadt, die man hier am Containerterminal aufgebaut hatte, herrschte bereits reges Leben. Eine Schiffstaufe war nicht alltäglich; zumal das neue Schiff der Reederei Reckenhusen „Helena Reckenhusen“ heißen sollte und die Namensgeberin diesen Dampfer persönlich taufen würde.

Phillip dachte an den gestrigen Nachmittag zurück. Und daran, dass er sich nach all den Jahren bei der Familie Reckenhusen gemeldet hatte. Er habe zufällig den Artikel über die anstehende Schiffstaufe gelesen und sich an die guten alten Zeiten erinnert. Onkel Johannes hatte sich über seinen Anruf aufrichtig gefreut und ihm sogleich eine VIP-Einladung zukommen lassen, damit er dem Fest beiwohnen und die Familie wiedersehen könne. Er wäre außerordentlich erfreut, seinen verschollenen Verwandten endlich einmal wiederzutreffen, hatte Onkel Johannes zudem auf die Einladung geschrieben. Ein wenig schuldig fühlte Phillip sich schon. Aber es brachte nichts, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln. Das Ergebnis zählte.

Der Eigner und die Patin waren offensichtlich noch nicht eingetroffen. Phillip mischte sich unter die Leute, grüßte mal hierhin und unterhielt sich dort mit wildfremden Leuten. In der Nähe von Rednerpult und Tribüne bezog er schließlich seinen Posten.

Er musste nicht lange warten, bis ein glänzend gepflegter Oldtimer auf den Platz rollte und in seiner Nähe zum Halten kam. Zwei Frauen sowie ein junger Mann entstiegen dem Luxusgefährt und waren einem älteren Herrn behilflich, ebenfalls sicher auf den Boden zu gelangen. Das war Onkel, eigentlich Großonkel, Johannes. Den kannte Phillip noch aus seiner Kindheit, wie auch die bildschöne Frau neben ihm. Helena, seine Großcousine, die immer nur ein Naserümpfen für den lütten Phillip hatte und damals längst verlobt war. Phillip erinnerte sich schwach, dass es seinerzeit sehr viel Wirbel um sie gegeben hatte. Irgendwie hatte sich ihr Bräutigam kurz vor der Hochzeit totgefahren, oder so ähnlich. Helena war zu dem Zeitpunkt bereits schwanger und hatte sich nach der Geburt des Jungen von der Außenwelt förmlich abgeschottet. Wenn es seitdem etwas von ihr zu lesen gab, waren es meist Erfolgsmeldungen in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen. Die sogenannte feine Gesellschaft sprach wenig über sie. Und wenn sie es tat, schwang meist ein pikierter Unterton mit. In der Art, dass sie in einem Kloster besser aufgehoben wäre, ihr herrisches Gebaren dies jedoch unmöglich machen würde. Phillip hatte sich nie dafür interessiert und hätte es auch weiterhin nicht. Schließlich trug er den Makel, nur die verarmte, bucklige Verwandtschaft zu sein. Sein eigentliches Interesse basierte einzig darauf, den besten Freund zu unterstützen. Bei der blödsinnigsten Wette, die je geschlossen wurde.

Helena Reckenhusen – war es erst vorgestern gewesen, dass sie sich im Tennisklub begegnet waren? – hatte ihre schlechte Laune zu Haus gelassen und winkte mit einem sympathischen Lächeln in die Runde. Der stattliche junge Mann neben ihr musste ihr Sohn Jonas sein. Das letzte Mal hatte er ihn auf dem Arm gehalten, als er wohl gerade einmal selbst in seinem Alter war. Phillip atmete tief durch und schüttelte erneut das schlechte Gewissen ab, das er sich für Christoph aufladen würde.

»Hallo, sind Sie auch so aufgeregt?«

Erschrocken zuckte er zusammen, als er dicht neben sich eine betont weibliche Stimme vernahm. Es war niemand anderes als die rassige Frau, die er vorgestern in Helenas Begleitung gesehen hatte. »Ja, ein wenig.« Er wagte es kaum, sie anzuschauen. Aus Furcht davor, sie würde ihn wiedererkennen. Dann konnten sie nämlich ihren gut ausgeklügelten Plan gleich vergessen.

»Es ist meine erste Schiffstaufe«, gestand sie dem wildfremden Mann und blickte mit glänzenden Augen zum Schiff hinüber.

Ihr sinnverwirrendes Parfum war selbst in der kleinsten Brise wahrzunehmen und zog ihn vollends in den Bann. »Meine letzte Schiffstaufe ist schon lange her«, erinnerte er sich wehmütig an etwas, was ihm gerade in den Sinn kam. »Mein Segelboot. Ich habe es Katja getauft. Als ich den kleinen batteriebetriebenen Propeller unter dem Rumpf eingeschaltet habe, ist sie losgefahren und kehrte nie mehr zurück.«

»Oh, das ist aber traurig.« Sie verzog ihren süßen, kirschrot glänzenden Mund, als ginge ihr sein Verlust persönlich zu Herzen. Ein plötzliches Lächeln. »Aber nun ist sie ja wieder da. Ihre Katja, meine ich.«

»Wie das?«

»Ich heiße Katja. Wirklich!«, bekräftigte sie mit einem hellen Lachen und hakte sich bei ihm ein, als wäre es für sie die natürlichste Sache der Welt.

»Ist das jetzt ein Zeichen? Ich heiße Phillip«, …und hoffentlich spürst du nicht, dass mich deine Nähe zittern lässt und langsam in den Wahnsinn treibt, ergänzte er im Stillen. »Phillip von Staden.«

»Phillip«, wiederholte sie leise und sah ihn aus ihren geheimnisvollen, dunkelgrün funkelnden Augen an. Eine leichte Brise verfing sich in ihrem langen rotbraunen Haar. Mit einer ihr angeboren scheinenden Eleganz strich sie es zurück. »Das ist ein schöner Name. Von Adel?«

»Ich weiß nicht? Wenn, dann wohl nur der verarmte.«

»Ist doch nicht schlimm«, tröstete sie ihn schmunzelnd. »Ich bin auch nicht von edlem Geblüt … Nur die beste Freundin von Helena. Kennen Sie sie?«

»Helena? Ja. Obwohl ich bezweifle, dass sie sich noch an mich erinnern wird. Ich bin ihr Cousin zweiten Grades.«

»Das ist ja ein Ding! Davon wusste ich ja gar nichts.« Sie zog ihn lebhaft mit sich und steuerte auf die kleine Gruppe zu, die sich in der Nähe des Rednerpultes versammelt hatte. »Ich stelle dich gleich mal vor. Leni freut sich ganz bestimmt, dich wiederzusehen. Die Familie Reckenhusen zählt nämlich nicht viele Köpfe, musst du wissen.«

Phillip fühlte sich in einen rauschartigen Zustand versetzt. Es lief alles wie am Schnürchen. Noch besser, als er es sich je hatte ausmalen können. Katja führte ihn mitten in den Pulk der Honoratioren, schob den Wirtschaftssenator einfach zur Seite und zupfte ihre Freundin am Arm. Herrlich, was war das für eine impulsive Frau! Sie hatte sich ihn einfach geschnappt und gab ihm das Gefühl, gemeinsam alle Klippen des Lebens zu meistern. Die Ernüchterung schlich sich umgehend ein. Eine Frau wie Katja durfte er als Langweiler, der er nun mal nachgewiesenermaßen war, auf Dauer wohl nur von Weitem vergöttern.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Senator«, himmelte Katja den irritierten Würdenträger an und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Freundin, die offensichtlich nicht wusste, ob sie lachen oder schimpfen sollte. »Helena, du glaubst ja gar nicht, wen ich kennengelernt habe. Das ist Phillip! Phillip von Staden.«

Ein wachsames Lächeln überlagerte Helenas Unmut. Ihr Blick bannte den jungen Mann. Es schien, als würde sie sich an etwas erinnern, was längst vergangen war.

»Phillip, dein Cousin … oder so ähnlich. Jedenfalls etwas mit Temperatur.«

»Temperatur? Katja, nun komm bitte wieder herunter.«

Phillip musste herzhaft lachen. »Phillip, dein Cousin zweiten Grades.« Er gab Katjas Hand zögernd frei und ergriff dafür Helenas.

»Phillip! Ja, natürlich erinnere ich mich an dich. Papa erzählte gestern davon, dass ihr miteinander telefoniert hättet. Schön, dass du kommen konntest. Wir müssen nachher unbedingt miteinander reden.«

»Ja gerne«, pflichtete er ihr bei und trat in die hintere Reihe zurück, damit seine Cousine ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen weiterhin nachkommen konnte. Er sah sich um und gewahrte seine quirlige Eintrittskarte im engsten Familienkreis.

»Herr Reckenhusen, das ist Phillip.« Katja fing ihre neueste Eroberung ein und stellte sie den beiden Männern vor.

Der ältere Herr strahlte sie fröhlich an. Selbst für ihn schien Helenas Freundin ein wahrer Jungbrunnen zu sein.

»Phillip! Wie schön, dass du kommen konntest.« Johannes Reckenhusen breitete die Arme aus und begrüßte den Neuankömmling herzlich. »Erzähl mir bitte, wie geht es deinen Eltern? Wie geht es dir? Junge, ich hoffe, du hast heute viel Zeit mitgebracht. Wir müssen uns nachher lange und ausführlich miteinander unterhalten.«

»Danke schön, Onkel Johannes. Gerne nehme ich dein Angebot an und ganz besonders vielen Dank, dass ich heute dabei sein darf.«

»Dafür nicht. Sag, wie findest du sie, die Helena?«

»Das Schiff oder mein Cousinchen?«

»Beide natürlich!« Johannes Reckenhusen ließ ein weiteres sympathisches Lachen erklingen und zog den jungen Mann, der sich bislang abseits gehalten hatte, an seine Seite. »Phillip, das ist mein Enkel Jonas Johannes. Helenas Sohn.«

»Tach.« Der Vorgeführte verzog die Mundwinkel und musterte den angeblichen Verwandten mit der natürlichen Skepsis, die denen angeboren ist, welche ein Leben lang notgedrungen die besondere Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen erleiden müssen.

»Moin Jonas. Schön zu sehen, dass aus dem lütten Windelpaket ein stattlicher junger Mann geworden ist.«

Katja überging das aufkommende Schweigen mit ihrem glockenhellen Lachen. »Klar ist etwas aus Jonas geworden! Ich bin schließlich seine Patentante.« Sie nahm den Jungen, der noch in dem glücklichen Alter war, sich gegen derartige weibliche Inbesitznahme zu sträuben, in den Arm und herzte ihn.

Das Knistern in den Lautsprechern unterbrach die Familienzusammenführung und leitete die Gäste auf ihre Plätze.

* * * * *

Zum gleichen Zeitpunkt am anderen Ufer der Elbe, nur ein wenig mehr in Richtung Abendland.

Christoph stand vor dem großen Panoramafenster und starrte auf die in der Sonne glitzernde Wasserfläche des großen Flusses hinab. Es war ein ungewohnt mulmiges Gefühl, dem er da nachspürte. Alles um ihn herum war im Fluss. Nichts war mehr aufzuhalten. Diese wahnwitzige Wette mit Krusemark war nur der Auslöser. Die jahrelange Stagnation mit ihren immer wieder gleichen, längst ermüdenden Ritualen brach auf und hinterließ in ihm die ängstlichen Fragen nach einem ehrlichen „Wohin“. Die Erkenntnis, dass er die letzten Jahre seines Lebens mehr als sinnlos gelebt hatte, kam ihm nicht zum ersten Mal. Trotzdem war es diesmal anders.

Was wäre aus ihm geworden, hätte Sybille damals den Mut aufgebracht und ihn mit dem konfrontiert, was sie letztendlich umgebracht hatte? Er wäre nicht daran zerbrochen, würgte es voller Zorn und Ohnmacht in ihm hinauf. Vielleicht wäre er schneller erwachsen geworden? Zumindest bedeutend schneller als das Kind, das er seitdem geblieben war. Er vergrub die schmerzvollen Gedanken, ehe sie die Chance erhielten, sich zu etablieren. So wie er es immer getan hatte.

Ob Phillip etwas erreicht hatte? Ob er überhaupt etwas erreichen konnte? Sein bester, sein einziger Freund klang heute Morgen zwar sehr siegessicher. Doch was er plante und wohin die Reise ging, das wusste Phips anscheinend selbst nicht. Das war auch so ein Ding. Phillip hielt nach all den Jahren noch immer unverbrüchlich zu ihm. Dabei hatte das Arschloch Christoph Baumann solch einen Freund gar nicht verdient. Auch das sollte … nein, das musste anders werden.

Er griff zum Telefon und rief erneut bei Phillip an. Als sich die Mailbox ein weiteres Mal meldete, legte er auf. Phips’ Handy war seit Stunden tot. Wann rief er nur zurück? Auf was musste er sich einstellen? Wie gelang es ihm, Helena Reckenhusens Herz zu erobern? „Das ist nicht das Problem, du Knaller!“, beschwerte sich das neu erwachte Gewissen, das sich längst noch nicht richtig in ihm zu Hause fühlte. „Frage dich lieber einmal, wie du überhaupt ihre Sympathie erringst und ein ganzes Jahr am Leben erhältst!“

* * * * *

Alles war wie am Schnürchen gelaufen. Die strahlende Taufpatin hatte, wie es sich gehörte, eine Schampusflasche am Rumpf des Schiffes zerschellen lassen. Alle Ansprachen waren gehalten, alle Glückwünsche überbracht. Langsam leerte sich der Platz, auf dem bald wieder die Container Carrier herumbrausen würden.

»Willst du nicht zurückfahren?«, rief Helena ihrer Freundin über das Dach des Oldtimers hinweg zu und klimperte lockend mit den Autoschlüsseln.

»Ne, meine Liebe. Ich habe vorhin gesehen, wie du drehen und kurbeln musstest. Das ist nichts für mich zartes Wesen«, rief diese zurück.

»Ich kann das, Mama!«, erbot Jonas sich.

»So weit kommt es noch. Das eine Jahr wirst du noch warten müssen.« Helena war das ewige Thema leid. »Ich habe gleich gesagt, lasst uns den Daimler nehmen. Aber nein, die Herrschaften wollten ja unbedingt einen auf protzig und chic machen!«

Traurigkeit schwang in Onkel Johannes’ Stimme mit, als er leise zu seinem wiedergefundenen Großneffen sagte: »Ich wünschte mir, ich könnte meinen alten Liebling selbst sicher durch die Stadt bewegen. Aber meine Kräfte lassen das einfach nicht mehr zu.«

»Dann wäre es doch Zeit für einen Chauffeur, oder?« In Phillip begann der Keim einer vagen Hoffnung Wurzeln zu schlagen.

»Den haben wir. Doch unser Walter kommt ebenfalls in die Jahre. Seit seinem grauen Star können wir ihn eigentlich nur noch in Haus und Garten beschäftigen.«

»Das ist echt blöde«, pflichtete Phillip ihm bei und schlug stattdessen vor: »Okay, dann werde ich den Bugatti fahren. So etwas habe ich mir schon immer einmal gewünscht. Wenn eine der Damen so nett wäre, mit meinem Wagen nachzukommen? Dann bräuchte ich heute nicht bei Nacht und Nebel in diese verlassene Gegend fahren.«

Die Frauen rissen sich förmlich darum, den unscheinbaren Passat zu fahren.

Besser konnte es für einen selbst ernannten Undercoveragenten nicht laufen, fand Phillip. In einer geselligen Herrenrunde würde er seinen jüngst geborenen Plan schneller in die Tat umsetzen können als gehofft. Er stellte umständlich den Sitz ein, auf dem zuvor ganz offensichtlich eine Frau gesessen hatte. Er war beileibe kein Macho, aber mit dieser Einstellung und dem riesigen Lenkrad hätte er sich wichtige Körperteile in kürzester Zeit auf Dauer ruiniert. Kurz darauf wusste er, warum weder Helena noch Katja darauf erpicht waren, dieses Schmuckstück über die Straßen zu fahren. Ein halbes Pfund Traubenzucker war Pflicht, ehe man sich hinter das Lenkrad setzte. Aber laufen tat die alte Dame. »Herrlich, das ist wirklich etwas ganz anderes als die heutigen Autos.«

»Nur dass ich viel zu selten damit loskomme«, seufzte Johannes Reckenhusen ein weiteres Mal.

»Lass den Kopf nicht hängen, Opa. Wenn ich erst einmal den Lappen habe, dann machen wir jedes Wochenende Spritztouren. Bald ist es so weit! Auch wenn Mama dagegen ist, dass ich den Führerschein mit siebzehn mache!«, ereiferte sich Jonas vom rückwärtigen Sitz aus.

»Das ist trotzdem eine lange Zeit«, kam Phillip seinem Großonkel zuvor und erntete von diesem ein leichtes Kopfnicken. »Und euer Chauffeur – wird der nicht wieder?«

»Walter ist auch an die siebzig. Ich glaube nicht, dass es etwas bringen wird. Er ist eben genauso ein Wrack, wie ich es bin. Wir alten Männer sitzen am liebsten zusammen auf der Bank, sprechen über damals und schauen zu, dass die anderen richtig arbeiten.«

»Das ist doch Quatsch, Opa! Du bist immer noch gut in Schuss und zeigst uns Jungen, wie es geht«, kam ein erneuter Einwurf von hinten. »Und wenn wir einfach so fahren? Ich meine, ohne dass ich einen Führerschein habe?«

»Gerade dann wirst du erwischt und kannst mit Glück noch einmal zehn Jahre auf den Lappen warten«, gab Phillip zu bedenken. »Ihr solltet einen neuen Chauffeur einstellen. Am Geld kann es doch wohl nicht liegen?«

»Pffft«, schnaubte Jonas und rollte übertrieben mit den Augen. »Ne, nur zeig mir mal den Typen, mit dem meine Mutter zufrieden wäre oder der es mit ihr aushält.«

»Helena? Ist sie denn so wählerisch?«

»Wählerisch ist in der Tat leicht untertrieben«, bestätigte Johannes Reckenhusen die Äußerung seines Enkels.

»Wie viele Chauffeure haben sich denn bis jetzt beworben?«

»Zehn waren es bestimmt«, kam es erneut von Jonas. »Wenn die nicht gleich von selbst geflüchtet sind, hatte meine Mutter mit ihrem angeborenen Liebreiz immer etwas an ihnen auszusetzen. Zu jung, zu alt, zu aufmüpfig. Irgendetwas fand sie immer!«

»Und, was meint ihr, wäre ein weiterer Versuch möglich?«

»Was? Einen Chauffeur zu finden?«

»Ja. Ich hätte da nämlich jemanden, der auf der Suche nach solch einem Job ist. Ledig, keine weiteren Verpflichtungen, ziemlich weit in der Welt herumgekommen und in Sachen Autos hat er ein Händchen wie Don Juan bei den Frauen.«

»Wo gibt es denn heutzutage noch so etwas?« Johannes Reckenhusen sah ihn mit hoffnungsvoll schimmernden Augen an.

»Ich weiß, ihr kennt mich kaum. Aber warum sollte ich euch etwas vormachen? Christoph ist ein Ass in allem, was mit Autos zu tun hat. Nebenbei ist er mein bester Freund. Für den kann ich meine Hand ins Feuer legen.« Das mit den Autos mochte stimmen, aber alles andere …? Darüber wollte Phillip lieber nicht nachdenken.

»Was meinst du, Jonas Johannes? Wir sollten beim Kaffee gleich einmal mit deiner Mutter darüber reden.«

»Okay, aber ich gucke mir den Knaben auch genau an.«

Phillip betrachtete den Jungen im Rückspiegel. Jonas war ein aufgewecktes Kerlchen, dem man bereits jetzt ansehen konnte, aus welcher Schmiede er kam. Tja, mein lieber Christoph, da wirst du einiges leisten müssen, wenn du hier einen Fuß auf den Boden bekommen willst. Irgendwie gönnte er es dem Freund. Bei aller brüderlich empfundenen Nächstenliebe.

Dunkel erinnerte sich Phillip an das bescheidene Heim der Reckenhusens. Als er nun durch das schmiedeeiserne Tor hindurch in eine parkartige Landschaft gelangte, stockte ihm doch der Atem. Die Reckenhusens waren in vierter oder fünfter Generation erfolgreiche Reeder. Sie hatten nicht nur Geld gescheffelt, sondern damit auch etwas Tolles erschaffen, dachte Phillip, als er den geschwungenen hellen Kiesweg zum bombastischen Anwesen hinauffuhr. Irgendwie war er stolz darauf, zumindest entfernt mit dieser Familie verwandt zu sein. Schließlich war seine Großmutter eine geborene Reckenhusen.

»Soll ich den Bugatti gleich in die Garage fahren?«

»Gern, ich steige nur aus, dann kann Jonas Johannes dir zeigen, wo er stehen soll.« Johannes Reckenhusen mühte sich aus dem Wagen und ließ sich bereitwillig von den Damen helfen, die gleich hinter ihnen eingetroffen waren.

»Hier, Phillip.« Niemand konnte seinen Namen so schön hinhauchen, wie Katja es nach so kurzer Zeit bereits beherrschte. »Ich habe dir nicht einmal eine Beule hineingefahren.«

»Das ist aber wirklich schade«, flachste er und lächelte zu ihr hinauf.

»Ups, du bist der erste Mann, der sich darüber beschwert.«

»Na ja, wir hätten sonst Adressen und Telefonnummern austauschen müssen.« Phillip versuchte gar nicht erst zu ergründen, woher er seinen ungeheuerlichen Mut nahm, mit solch einer Frau zu flirten. Es kam einfach über ihn. Katja gab ihm den Mut, alles zu schaffen. »Du glaubst gar nicht, was daraus alles entstehen könnte.«

Katja beugte sich zu ihm herab und schloss ihn in den Bannkreis ihres verführerischen Parfums ein. So nahe, dass man sogar ihre süßen, kleinen Sommersprossen erkennen konnte, die sie unter einem Hauch von Make-up verborgen hatte. Mit einer Stimme, die allein die Sünde pur war, raunte sie ihm zu: »Vielleicht sollte man es auf einen Versuch ankommen lassen.« Dann richtete sie sich mit einem selbstsicheren Lachen auf und eilte Helena und deren Vater hinterher.

»Hey, Phillip. Wenn du dich und deine Hormone langsam wieder unter Kontrolle hast, könnten wir fahren.« Jonas, der sich auf den Beifahrersitz begeben hatte, grinste ihn unverhohlen an. »Katja ist schon ein heißer Feger, was?«

»Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen.«

»Außer dem, was ich einem sehr guten Freund raten würde.«

»Und, was würdest du ihm raten?«

»Verliebe dich nicht zu sehr. Katja ist zwar ein toller Kumpel, aber Beständigkeit ist nicht gerade ihr Sternzeichen.«

Phillip unterließ es, darauf einzugehen. War es die Abgeklärtheit des Jungen oder einfach nur die Erkenntnis, dass dieser Rat längst zu spät kam? Außerdem musste er achtgeben, die anderen Nobelkarossen nicht beim Einparken zu rammen. Sein anerkennender Pfiff bewertete die ansehnliche Fahrzeugflotte. Ja, Christoph würde sich hier pudelwohl fühlen. Wenn er denn das Glück, die Geduld und die Ausdauer besaß, die man bei einer Frau wie Helena dringend benötigen würde.

Als Jonas und Phillip das Haus durch das Hauptportal betraten, war der nachmittägliche Kaffeetisch bereits gedeckt. Das hielt Phillip nicht davon ab, sich erst einmal staunend umzusehen. Auf die eine Art erlesen hanseatisch, auf die andere dennoch modern und lebenswert, wie er an diesem riesigen Bildschirm erkannte, auf dem ein Nachrichtensender leise irgendwelche News verkündete. »Hübsch habt ihr es hier«, gestand er der Hausherrin und trat an den gedeckten Tisch. »Habt nochmals Dank für die Einladung.«

»Wir freuen uns sehr, dass du dich gemeldet hast, Phillip. Auch ich habe schon oft mit dem Gedanken gespielt, mich bei dir und deinen Eltern zu melden. Aber die Zeit läuft einfach so rasend schnell und es gibt so viel zu erledigen, dass das Private meist zuerst auf der Strecke bleibt.« Helena bedeutete ihnen, Platz zu nehmen und sagte mit einer gefassten Trauer in der Stimme, wobei sie ihren Vater liebevoll ansah: »Seitdem Mama nicht mehr da ist, sind solche Familienzusammenkünfte leider ganz eingeschlafen. Was ich sehr schade finde.«

»Das tut mir auch leid.« Phillip senkte den Kopf, um nicht zu verraten, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, die ehrliche Gastfreundschaft dieser Leute zu missbrauchen. »Wie lange ist es jetzt her, dass deine Mutter gestorben ist?«

»Fünf Jahre werden es im November«, flüsterte sie und wandte sich ihrem Vater zu, der in der Nähe in seinem Sessel saß und sichtlich ermattet die Nachrichten verfolgte. »Papa, kommst du? Wir wären so weit.«

Mühsam raffte sich Johannes Reckenhusen auf und folgte der Bitte seiner Tochter. Das Gehen fiel ihm offensichtlich schwer, trotzdem verzichtete er auf eine Gehhilfe oder Ähnliches. Zumindest schien er heute die gute Laune für sich gepachtet zu haben.

»Schön, dass ihr uns noch Gesellschaft leistet«, wandte er sich an Katja und seinen Großneffen. Wie sie da nebeneinandersaßen und heimlich Blicke austauschten. Ja, das wäre schon ein schönes Paar. Liebe auf den ersten Blick, konstatierte Johannes Reckenhusen mit wohligem Schauer und musterte dann seine Tochter. Helenas Blicke schienen seine Gedanken nicht zu teilen. Wieder einmal. Er kannte seine Tochter besser als jeder andere und dachte wehmütig daran, wie es damals war. Dirk von Wöhren war alles andere als der perfekte Schwiegersohn gewesen. Aber er hatte Helena zumindest glücklich gemacht. Mit seinem Tod und den anschließenden schlimmen Enthüllungen über ihn und seine Machenschaften war das Strahlen in ihren Augen erloschen und hatte einem harten, unnachgiebigen Blick Platz gemacht …

»Papa, dein Tee wird kalt.«

Ja, und bemuttern tat sie ihn. Je älter er wurde, umso schlimmer wurde es. Helena musste allmählich eine andere Beschäftigung finden, sonst konnte das für ihn auf Dauer noch anstrengend werden. Er räusperte sich. »Kinder, wo wir alle so schön beisammensitzen, möchte ich auf ein Gespräch zurückkommen, das wir Männer vorhin im Wagen geführt haben.«

»Ach!« Helena blickte den Vater skeptisch über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Wurden da wieder vollendete Tatsachen geschaffen?«

»Habe ich dich schon einmal übergangen? Ich meine, in letzter Zeit? Heute?« Reckenhusen schmunzelte. »Nichtsdestotrotz habe ich mich entschieden, dass wir unbedingt einen neuen Chauffeur benötigen. Zumindest für die Zeit, solange Jonas Johannes noch keinen Führerschein besitzt. Ich möchte daher, dass du dir Phillips Freund anschaust, ob er für uns geeignet ist. Und das bitte – wohlwollend!«

»Papa, ich bin immer wohlwollend.« Helenas Blicke entsprachen in diesem Augenblick nicht wirklich ihrer Behauptung. »Aber wenn es dir so sehr am Herzen liegt, dann meinetwegen.« Sie wandte sich ihrem Cousin zu. »Wann kann sich dein Freund bei uns vorstellen?«

Der Angesprochene stellte seine Kaffeetasse ab und rechnete im Geiste. Christoph auf die neue Situation einstellen, einen halben Tag. Sein Outfit völlig umstellen, fünf bis sechs Tage. Christoph auf devoten Mann und Chauffeur trimmen, Jahre! »Ich meine, dass Christoph gegen Ende der kommenden Woche wieder in Hamburg ist. Vielleicht etwas eher, wenn ich ihm berichte, dass er hier endlich Arbeit findet.«

»Nicht so schnell mit den jungen Pferden«, ruderte Helena zurück. »Erst einmal würde ich gern das eine oder andere über deinen Freund erfahren.«

»Schieß los. Ich weiß sogar, wann er die Masern hatte.« Irgendwie schade, dass Chris nicht mitbekam, wie sehr er nun verkauft wurde, bedauerte Phillip. Er musste nur alles im Kopf behalten, um es Chris gegenüber zu wiederholen. Also hieß es, möglichst dicht bei der Wahrheit bleiben und dafür sorgen, dass Helena nicht erfuhr, wer Chris wirklich war.

»Als Erstes würde ich gerne erfahren, was für ein Typ dein Freund ist und welche Gründe dafürsprechen, dass gerade er unsere Erwartungen erfüllt.«

»Christoph und ich kennen uns seit frühester Jugend. Er ist ein Kumpel, mit dem man wirklich Pferde stehlen kann, und steht für einen ein, wenn man tief drinnen steckt. Nach der Schule hatten sich unsere Wege leider ein wenig getrennt. Er hatte wegen einer Frau echt die Bodenhaftung verloren. Nein, nichts mit Knast«, steuerte Phillip sogleich hinterher, als er Helenas Blick gewahrte. »Aber er schmiss nach dem Studium alles hin und verschwand für lange Zeit. Eigentlich bis vor ein paar Monaten.« Über Phillips Gesicht lief eine wehmütige Erinnerung, die er sich bei den Gedanken an tolle Zeiten auslieh. »Nun ist er wieder hier und will ordentlich etwas in Sachen Arbeit nachholen. Wegen der Rente, wie er sagt.«

»Wo hat er sich denn so herumgetrieben?«, kam die Frage von Katja.

Phillip sah in die anderen Gesichter, die bislang interessiert seinen Ausführungen gefolgt waren und offenbar nichts dagegen einzuwenden hatten, dass die Freundin der Familie am Kreuzverhör teilnahm. »Es gibt wohl keinen Kontinent, auf dem er nicht war.« Phillip flocht ein Stöhnen ein und überlegte fieberhaft, was er glaubwürdig präsentieren durfte. »Ich weiß, dass er kurz in Australien war. Bei Indien bin ich mir nicht sicher. Dann einige Jahre in den USA. Da hat ihn die Leidenschaft für den Rennsport gepackt. Er ist eine Zeit lang als Werksfahrer bei den verschiedensten Rennklassen gefahren.« Oh Gott, flehte Phillip, hoffentlich behielt er den ganzen Lebenslauf, den er hier vom Stapel ließ. »Jedenfalls war er zuletzt in Afrika.«

Die Blicke fast aller leuchteten bei seinen Ausführungen über den angeblichen Weltenbummler. Außer bei der skeptisch dreinschauenden Helena, die nun ihre Serviette betont langsam zusammenfaltete und vor sich ablegte. »Bei dieser Vita würde mir kaum einfallen, mein berufliches Vorankommen mit der langweiligen Arbeit als Chauffeur fortzusetzen.«

Genau das hatte Phillip insgeheim befürchtet. Nur, wie hätte er Christophs „arbeitsfreie“ Jahre anders rechtfertigen sollen? Zumal das einzig echte Arbeitgeberzeugnis, das Chris würde vorlegen können – das der Reederei Baumann – ausgelebter Selbstmord wäre. Nein, da war ein häufig wechselnder Aufenthalt im Ausland, wo es solche Bescheinigungen hoffentlich nicht gab, die beste Alternative.

»Ich denke mir, dass Christoph eine längere Auszeit von seinen Abenteuern sucht. Wenn ich es richtig deute, hat er einiges durchgemacht. Klar, das hört sich jetzt dramatisch an, aber ich meine, du solltest ihn selbst danach fragen.«

Helena suchte die Aufmerksamkeit ihrer Familie und erntete ein zustimmendes Nicken. »Ich würde mich freuen, wenn du am kommenden Freitag Zeit hättest, um mit deinem Freund hier vorbeizuschauen.«

»Danke Helena, das werde ich dir nicht vergessen.«

»Ich habe nur gesagt, dass ich ihn mir anschaue. Von Einstellen war noch nicht die Rede.«

* * * * *

Zerschlagen, aber glücklich kehrte Phillip an diesem Abend in sein Appartement im Stadtteil Wellingsbüttel zurück. Ein Blick auf die Alster war bedeutend günstiger als einer auf die Elbe. Und doch wollte er mit dem Freund auf keinen Fall tauschen. Nicht einmal für ein Penthouse mit Elbblick. Nur einsam war es. Etwas, was ihm noch nie so bewusst geworden war wie an diesem Abend.

Der Anrufbeantworter blinkte hektisch. Seufzend rief Phillip die Anrufe ab. Zum Schluss waren es siebzehn Anrufe, mit immer demselben Text. »Ruf bitte an, wenn du zu Hause bist!« und »Wie war es?« Konnte es denn sein, dass Chris’ Allerwertester langsam auf Grundeis ging?

Es hatte noch nicht mal geklingelt, als auf der anderen Seite abgenommen wurde.

»Alter! Erzähl, was hat sich ergeben? Nun komm schon!«

»Siebzehn Anrufe! Du bist schlimmer als meine Mama.«

»Bitte Phips, kannst du mir nicht einfach nur berichten, was aus dem geheimnisvollen Date geworden ist?«

»Es sieht sehr gut aus. Wenn du nicht alles vermasselst, dürftest du gute Aussichten haben, sehr bald mit Helena Reckenhusen faktisch „unter einem Dach“ zu leben.«

»Du Himmelshund hast es wirklich geschafft! Nun komm schon, wen muss ich dafür beglücken?«

»Das, mein Lieber, ist ein Spruch, den du schnellstens einmotten wirst. Und nicht nur diesen«, versprach Phillip ihm ernst. »Wir haben ab morgen viel, sehr, sehr, sehr viel an dir herumzufeilen und zu lernen.« Er ließ das Gesagte beim anderen sacken. »Also, noch hast du die Chance, einen Rückzieher zu machen und nur fünfhundert Mille in den Sand zu setzen. Überlege es dir, denn nachdem du dich entschieden hast, gibt es kein Zurück. Und noch was. Nicht nur dein zukünftiger Lebensweg wird von unserem Erfolg abhängen. Mehr habe ich heute nicht zu sagen. Geh ins Bett und schlafe rechtzeitig. Morgen um zehn bin ich bei dir.«

Phillip legte den Hörer auf und zog den Stecker aus der Anschlussdose.

* * * * *

Es war Sonntagmorgen. Soweit konnte er sich erinnern. Doch das war kein Bimmeln von Kirchenglocken. Da hämmerte jemand wie ein Irrer in unbestimmten Folgen auf dem Klingelknopf herum. Knurrend wälzte sich Christoph aus dem Bett und erblickte ein grauenhaftes Gespenst in der verspiegelten Wand des Schlafzimmers. Erneutes nervtötendes Klingeln. Oh Mann, sein Kopf brummte wie ein geplatzter Bienenstock. Er wankte über den Flur.

»Ja, was ist denn!« Das Fluchen degenerierte zum erbärmlichen Krächzen.

»Mach auf, Alter. Die Brötchen sind da!«, flötete es aus der Gegensprechanlage.

Christoph drückte auf alle Knöpfe, die das Gerät aufwies, und wankte zurück ins Schlafzimmer, wo er erneut auf dem zerwühlten Bett zusammenbrach.

Der letzte Hauch von Ruhe hielt nicht lange an. Gerade einmal, bis Phillip die Kaffeemaschine in Gang gesetzt und die Brötchen aufgeschnitten hatte. Christoph schlich, wie er aus dem Bett gekommen war, an den liebevoll gedeckten Frühstückstisch. »Womit habe ich das verdient?«

»Allein durch deine liebevolle Güte, dein herzliches und aufopferungsvolles Wesen. Such es dir aus.« Phillip biss genussvoll von seinem Brötchen ab und grinste ihn frech an. »Wie ich feststellen darf, hast du dich gestern Abend noch einmal zünftig von deinem alten Leben verabschiedet. Ja, das ist gut so, denn das wird das letzte Mal für viele Monate gewesen sein.«

Die Wandlung, die in Christoph vor sich ging, war faszinierend. Selbst seine karnickelroten Augen blickten mit einem Male klar in die Welt hinaus. »Phips, bitte erzähle endlich, was du erreicht hast. Kennst du jemanden, der mich bei ihr reinbringt?«

»Jupp. Mich. Meiner einer.«

»Bitte, ich bin mit den Nerven am Ende. Die letzten drei Bräute wollen mir meinen Hals oder andere wichtige Körperteile abschneiden, ein vermeintlicher Freund bringt mich mit seiner Wette an den Bettelstab und mein alter Herr schickt mich nach Südafrika. Ich kann nicht mehr!«

»Südafrika, das hört sich gut an. Sogar sehr gut! Nur hoffe ich für dich, dass du das irgendwie abwimmeln kannst.«

Nun war es an Christoph, für ein erstes Lächeln Pate zu stehen. »Ja. Ich ahne, dass ich eine Reckenhusen nicht wirklich davon überzeugen kann, mit mir in einen Kral zu ziehen. Also habe ich einen guten alten Freund angerufen. Er wird für mich einspringen und sich als Christoph Baumann alias Pieter van der Möhlen ausgeben. Offiziell arbeite ich dort für meinen Vater undercover und muss nur ihm Bericht erstatten. Das ließe sich alles perfekt steuern.«

»Du bist gar nicht auf den Kopf gefallen.« Phillip ordnete im Geiste die so positiven neuen Entwicklungen in seinen Masterplan ein. »Also bist du für die Welt hier abwesend und kannst dich voll auf deinen neuen Job konzentrieren. Das ist guuut. Sogar seeeehr gut!«

»Ein Job? Arbeiten?« Chris schluckte trocken. »Bitte, spann mich nicht noch länger auf die Folter!«

Phillip nickte feierlich und begann von seinen gestrigen Erlebnissen zu berichten. Nur selten wurde er von dem immer unruhiger werdenden Freund unterbrochen. Schließlich beendete er seine Ausführungen mit eindringlichen Worten. »Der alte Christoph Baumann muss endgültig und unwiederbringlich verschwinden. So ehrlich und rücksichtslos musst du dir gegenüber sein. Anders wirst du eine Helena Reckenhusen nie von dir überzeugen können.«

»Klar, aber muss es denn so ein affiger Chauffeurjob sein? Ich meine, ich kann doch auch als Millionärssohn aus Texas auftreten.« Christoph verstummte, als er den wütenden Blick registrierte, mit dem Phips ihn maß. Richtig wütend!!!

»Millionärssohn aus Texas! Verdammt! Hast du Idiot noch immer nicht begriffen, was hier auf dem Spiel steht? Chris, du bist ganz unten! Alle Welt sieht in dir das Arschloch, das du im Grunde genommen bist. Komm endlich aus deiner selbst gewählten Verbannung heraus und begreif, dass die Welt sich weiterdreht. Lass Sybille los und gib ihr die Ruhe. Gib vor allem dir den Segen und begreife endlich, dass du von deinem Weg der Selbstzerstörung runtermusst.«

Phillip verlor selten die Beherrschung. Aber diese Entfaltung von Kraft und Vorwurf schleuderte Christoph auf seinen Stuhl und presste ihn hilflos gegen die Lehne.

»Ich mache diesen ganzen Mist nur mit, weil du mein bester Freund bist!«, setzte Phillip aufgebracht einen drauf. »Entweder du machst es nach meiner Version, und das von ganzem Herzen, oder du kannst zusehen, wo du bleibst! Ich habe Helena gestern richtig kennenlernen dürfen und weiß, dass sie nicht nur eine bewundernswerte Frau, sondern für dich, den jetzigen Chris Baumann, viel zu schade ist!«

Schwer atmend setzte sich Phillip und starrte den verblüfften Mann an, der ihm gegenübersaß. Noch ein einziges, ein falsches Wort und er würde aufstehen und nie wieder mit diesem Idioten reden, nahm er sich ehrlichen Herzens vor.

Christoph nickte apathisch und erhob sich. Langsam wankte er ins geräumige Wohnzimmer und stellte sich vor die große Panoramascheibe.

Das war starker Tobak. Einzig Phips hatte nach so vielen Jahren das Recht, sich ihm gegenüber derartig auszukotzen. Er sprach zu seinem schwachen, selbst dort noch heruntergekommen wirkenden Spiegelbild. »Meinst du, ich könnte mich wirklich noch ändern und aus meiner alten Haut heraus?«

Phillip wagte kaum aufzuatmen. »Vielleicht? Wenn du es wirklich willst. Ich glaube noch immer an dich und den wahren Kumpel, der du damals für mich warst.«

»Wird mir der neue Christoph Baumann gefallen?«

»Ich hoffe es inständig! Zumindest wird er nicht mehr dieser Arsch sein, der alles und jeden von oben herab behandelt und ausnutzt.«

»Du weißt, dass jeder andere nach solch einem Spruch mit gebrochenem Blick vom Stuhl kippen würde?«

»Beim alten Chris, ja. Der neue müsste sich solche Standpauken gar nicht erst anhören.«

Chris drehte sich um und sah den Freund verunsichert an. »Und, womit fängt der neue Chris an?«

»Der würde jetzt seine Bude aufräumen und sich zugleich anhören, wie sein neues Leben aussieht.«

»Aufräumen?«

»Ja, und morgen früh geht es zum Friseur. Guck nicht so, das Gemüse auf und um deinen Kopf kommt runter.«

Abwesend fuhr sich Christoph mit der Hand über den Bart. Phillip sah nicht so aus, als ob er sich auf den einen oder anderen Deal einlassen würde. Es musste wohl sein … Und irgendwie fing er an, sich über seine anstehende Verwandlung zu freuen. Es war längst überfällig.

* * * * *

Die nächsten Tage gingen ins Land. Tage voller Hoffnung, neuem Mut und so manchen Rückschlägen. Der wahre Christoph Baumann wuchs mit seinen neuen Zielen und begann immer häufiger, an den alten zu zweifeln. Die ganze Zeit über war Phillip an seiner Seite und begleitete ihn in guten wie in schlechten Momenten. Er berichtete ihm von Helena Reckenhusen, ihrem Wesen und Charakter. Alles, was er wissen musste, um die ersten gemeinsamen Tage mit dieser bemerkenswerten Frau zu überleben. Phillip outete sich als Perfektionist. Nichts überließ er dem Zufall. Er hatte ihm eine modische Kurzhaarfrisur diktiert, sein Bart war Geschichte, Turbobräuner, Sportstudio und Geländeläufe. Selbst in ein Oldtimermuseum hatte er ihn geschleppt, damit er zumindest ein Gefühl für die alten Schätze bekam, die er zu pflegen und zu fahren hatte.

Schließlich kam der besagte Freitag …

Kapitel 3

Christoph setzte die Klinge des Nassrasierers an und zog sie im eleganten Schwung über die Wange. Mittlerweile ging es ihm gut von der Hand und er sah nicht mehr aus wie ein aus dem Schlachthof entwichener Bulle. Auch die helleren Gesichtszüge, dort wo sich einst sein Bart befand, waren dank Turbobräuner einer ebenmäßigen Gesichtsfarbe gewichen. Dennoch fand er Phips’ Beharren auf vollständiger Verwandlung reichlich übertrieben. Wenn er auch in ehrlichen Momenten zugeben musste, dass er nun bedeutend attraktiver aussah. Zumindest blickten ihm weitaus mehr Bräute … sorry, Damen hinterher. Doch auch das war nun Vergangenheit. Keine Frauengeschichten mehr! Das stand ganz oben auf der Liste mit Phillips Geboten.

Phips hatte ihn die letzte Nacht über allein gelassen. Mit der Begründung, dass es sein ureigenes Ding sein würde, den alten Chris endgültig in der Versenkung verschwinden zu lassen und noch einmal in sich zu gehen, ob es das wert war. Theatralisch fand Christoph, war aber im Grunde dankbar für die einsamen Stunden. Der neue Chris hatte aufgeräumt, die Putzfrau für die nächsten Monate abbestellt und sich noch einmal von seinem 911er verabschiedet, der für die nächsten Monate in der Tiefgarage einstauben würde. Sein Liebling passte nicht zur Rolle, die er als proletenhafter Chauffeur darzustellen hatte. Auch hier war Phips kompromisslos geblieben. Seine Post war postlagernd und nicht einfach an die neue Adresse umgemeldet. Bertram Baumann wähnte seinen Sohn in Kapstadt, wo Piet van der Möhlen bereits gelandet war und seine Arbeit erfolgreich aufgenommen hatte. Piet war sogar so weit von ihm instruiert worden, dass er sich, sollte sich Helena Reckenhusen nach Christoph Baumann und seinem Leumund erkundigen, als sein ehemaliger Arbeitgeber ausgab. Alles Mögliche war generalstabsmäßig geplant und durchdacht. Nur noch die unbedingt nötigen Stränge zu seinem alten Leben würden aufrechterhalten bleiben.

Christoph spülte den Rasierer aus und reinigte das Becken. Ein letzter Blick in den Spiegel. Ihn blickte ein ernst und vor allem gereift wirkender Mann an. »Mensch Baumann, wo hast du dich nur die ganze Zeit über versteckt? Wünsch mir Glück. Viel Glück.«

* * * * *

»Ist es nicht herrlich, wenn man einfach mal den lieben langen Tag faulenzen kann«, seufzte Katja und räkelte sich auf ihrer Sonnenliege.

»Ja.« Helena blinzelte nach nebenan. Manchmal beneidete sie die jüngere Freundin um deren, in ihren Augen, makellosen Körper. Dass Katja mit ihren etwas über dreißig Jahren noch immer ein gefragtes Fotomodel war, sprach für sie. Mit einem zufriedenen Seufzen fügte sie an: »Schön, dass Papa momentan so gut drauf ist, dass er von sich aus ins Büro wollte. Aber so ganz frei nehme ich mir ja auch nicht. Schließlich muss ich mir ja diesen neuen Chauffeur ansehen. Wohlwollend«, steuerte sie mit einem pikierten Unterton nach.

»Auf den bin ich schon so was von gespannt.«

Helena kannte diesen Tonfall, und sie kannte ihre Freundin. »Katja, ich möchte dich inständig darum bitten, dass du dir diesen Mann nicht gleich in deine Trophäensammlung einverleibst. Sollte ich ihn einstellen, möchte ich nicht, dass er mit seinem Kopf und seiner Männlichkeit bei dir ist. Haben wir uns verstanden?«

»Du gönnst einem aber auch gar nichts mehr!« Katja zeigte ihren süßen Schmollmund. »Aber gut, wenn dir so viel daran gelegen ist.«

»Du würdest mir damit wirklich einen großen Gefallen tun.« Helena stützte sich auf ihren Ellenbogen und sah sie prüfend an. »Übrigens, wo wir gerade über Männer reden. Mein Cousin Phillip scheint dir doch zu gefallen, oder?«

Nun war es an Katja, das Schweigen zur Kunst zu erheben.

Helena musterte sie weiterhin. Sie kannte Katjas Männerverschleiß. Aber bei Phillip, zu dem ihre Familie nach so vielen Jahren endlich wieder Kontakt gefunden hatte, war Katja nach ihrer gewohnt anfänglichen Begeisterung sehr zurückhaltend geblieben. Dabei konnte man Phillip wirklich nicht als hässlich bezeichnen. Ein bisschen ernst wirkte er, und schüchtern vielleicht. Ihrer Meinung nach genau der Gegenpol, den Katja nötig hatte, um langsam auf den Boden der Tatsachen zu kommen und häuslich zu werden. »Nun komm schon. Ich weiß, dass ihr euch mindestens zweimal getroffen habt.«

»Ja ja, Phillip ist schon ein ganz Netter.«

»Ein ganz Netter?«, echote Helena. »Nun verblüffst du mich doch.«

»Wieso? Nur weil ich vielleicht noch nicht mit ihm geschlafen habe?«

»Allein das wäre bemerkenswert.« Nur Helena durfte so direkt sein, zumal sie noch einen oben draufsetzte. »Was ist? Steht er schon auf deiner Abschussliste?«

Wieder schwieg Katja ungewöhnlich lange, ehe sie sibyllinisch antwortete. »Er ist zu nett. Das macht mir Angst.«

»Ein Psycho? Komm hör auf!«

»Du weißt ganz genau, was ich damit meine.«

Helena ahnte, was Katja beschäftigte, und entschied sich dafür, nicht weiter in sie zu dringen. Stattdessen fragte sie. »Du hast ihn gegoogelt?«

»Klar habe ich das! Wie auch deinen Christoph Baumann.«

Helena verzichtet auf eine erfolglose Diskussion betreffs des „deinen“. »Und? Erzähl, was hast du herausgefunden?«

Katja seufzte leise. »Über Phillip konnte ich nicht viel mehr herausfinden, als das, was er mir von sich aus erzählt hat. Er ist wohl ein ziemlich guter Projektmanager bei so einer Baumarktkette. Aber da war mir einfach zu viel Fachchinesisch drin.«

Helena gab es auf, sie weiter über Phillip auszufragen. Katja blieb diesmal verschlossen wie eine Auster. »Und dieser Baumann?« Mit Schrecken erinnerte sie sich plötzlich an den hässlichen Zwischenfall im Tennisklub. Hieß dieser Mann nicht ebenso? Was, wenn dieser unmögliche Mensch nun Phillips Freund war? Der Ekel ließ sie erbeben und ihr Adrenalin überkochen. Sollte er ruhig kommen. Das hier wäre ihr Heimspiel.

»… Millionen Mal.«

»Was denn?«, kehrte Helena in die Realität zurück.

»Du fragtest nach deinem Christoph Baumann.« Katja musterte die Freundin und schmunzelte leicht über deren Reaktion. Ehe Helena erneut anfing, lautstark zu dementieren, fuhr sie fort. »Es gibt wohl mehrere Leute dieses Namens. Aber als ich Hamburg, Reederei und eine Prise Skandal eingab, hatte ich wohl nur noch einen auf der Liste. Dein spezieller Freund aus dem Tennisklub. Weißt du noch? Der dürfte eine größere Fangemeinde als Madonna haben. Partys, Saufgelage, Trennungsgerüchte. Die saloppe Bezeichnung Bezirksbefruchter fand ich recht lustig. Hoffentlich ist das nicht der, den Phillip uns heute anschleppt.«

»Das glaube ich weniger. Phillip ist nicht der Mensch, der sich mit solchen Leuten abgibt, oder? Wann, sagtest du, wollten sie kommen?«

»Ich glaube, er sagte etwas von Nach … mittag?«

* * * * *

Phillip lenkte seinen Wagen auf das riesige Grundstück, das sich hinter einer mit Efeu bewachsenen Mauer verbarg. Christoph fiel der Unterkiefer herab, als sie die Auffahrt zu dem imposanten Herrenhaus hinauffuhren. »Ich wusste nicht, dass man Reichtum … so pervers protzig hervorheben kann.«

»Nicht pervers. Stilvoll«, wies Phips seinen Freund tadelnd zurecht und parkte den Wagen auf dem geräumigen Rondell. »Wir wären da. Dein Zuhause für die nächsten zwölf Monate. Vorausgesetzt, du baust keinen Scheiß.«

»Phips, ich glaube, ich bekomme einen Riesenbammel.«

»Solltest du auch. Aber ich weiß, dass du das schaffen kannst. Sei einfach nur wieder der tolle Mensch, der du einmal warst.«

»Gut, dann lass uns.« Christoph riss die Tür auf und stemmte seine billigen Kaufhaustreter in den hellen Kies. Sein leises »Ich will es wirklich schaffen«, behielt er für sich.

»Jonas, Schatz! Was machst du da?« Helena beschattete ihre Augen.

Der junge Mann, der am Poolrand saß, schaute seine Mutter über die Schulter hinweg an. »Nichts Mama, muss nur was reparieren.« Sein ertapptes Grinsen hätte seine Mutter alarmieren müssen.

Irgendetwas heckte der Junge wieder aus, spürte Helena ihren Gefühlen nach. Jonas kam in ein Alter, in dem ihm so manches Mal die mahnenden Worte eines älteren Mannes fehlten. So einsichtig war sie längst. Ihr Vater war in diesem Sinne nicht wirklich ein hilfreicher Kandidat. Wie waren ihr diese Auseinandersetzungen zuwider, die sich zwischen ihr und ihrem stark pubertierenden Sohn abspielten; und meist nur wegen Nichtigkeiten. Wie oft hatte sie in letzter Zeit mit sich gehadert und sich gefragt, was anders geworden wäre, wäre Dirk nicht ums Leben gekommen. Oder wenn sie den Mut gefunden hätte, einen anderen Mann an ihrer Seite zu dulden, ergänzte sie müde. Als sie das nächste Mal zum Pool hinüberschaute, war Jonas verschwunden.

»An was denkst du?« Katja hatte sich auf ihren Ellenbogen gestützt und musterte sie, wer weiß wie lange schon, nachdenklich.

Helena seufzte schwer. »Manches Mal frage ich mich, wie ich noch mit Jonas klarkommen soll? Auf alles, was ich ihm sage, findet er Widerworte und Gegenargumente.«

»Das ist doch ganz normal, Süße. Gib ihm den Raum, sich selbst zu entfalten. Lass ihn seine eigenen Fehler machen und verarbeiten. Er ist vernünftig genug, um nicht allzu sehr über die Stränge zu schlagen, oder dich womöglich gleich zur Oma zu machen.«

Helena erbleichte bei dem Gedanken, der ihr bislang noch gar nicht gekommen war. »Meinst du, er hat schon eine Freundin?«

Katja schmunzelte verhalten. »Soll ich mal als seine Patentante mit ihm reden?«

»Würdest du das für mich tun? Ich meine, zu dir hat er doch immer einen guten Draht.«

»Ich will sehen was … Ihhhhh!« Quietschend sprang Katja auf und floh in Richtung Terrasse. Ein fingerdicker Wasserstrahl folgte ihr und wanderte zur zweiten Liegestelle zurück, wo Helena noch immer nicht realisierte, was mit ihnen geschah.

Lachend pumpte Jonas seine riesige Wasserpistole auf und schickte den nächsten Wasserstrahl auf seine Mutter, die nun ebenfalls aufsprang und jauchzend vor der Attacke ihres Sohnes flüchtete. Statt wie ihre Freundin in den Schutz des Hauses zu flüchten, sprintete sie zum Pool und ergriff einen Wassereimer. »Na warte! Dich werde ich jetzt duschen.«

»Ihr lahmen Schnecken kriegt mich ja doch nicht!« Lauthals lachend verschwand er hinter der großen Buchsbaumhecke.

Helena verstärkte ihre Bemühungen, den Junior einzuholen. Nur noch wenige Meter; und er sollte nur nicht glauben, sie hätte Angst davor, über den Kiesweg zu laufen.

Auf das Klingeln am Hauptportal hatte ihnen niemand geöffnet. Sie waren zwar früh dran, aber vom Personal sollte zumindest jemand da sein. Phillip sah mit einem verstohlenen Schmunzeln auf das nervös zappelnde Etwas neben sich. Von Christophs sprichwörtlicher Selbstsicherheit war nichts zu erkennen.

»Nun komm schon, klapp mir hier nicht zusammen. Wenn Helena verspricht, dass sie dich heute sehen will, dann steht sie zu ihrem Wort. Vielleicht rechnet sie nur noch nicht mit uns.« Phillip schob den Freund vor sich her, um das Anwesen zu umrunden.

»Habt ihr denn keine Zeit ausgemacht?«

Vor ihnen wurde es plötzlich lebendig. Ein junger Mann huschte in einer affenartigen Geschwindigkeit um sie herum und verschwand lachend in die Richtung, aus der sie gerade kamen. Kaum hatte sich Christoph von dem ersten Schrecken erholt, traf ihn der zweite weitaus heftiger. Der Wasserschwall erwischte ihn von oben bis unten.

»Oh, mein Gott!« Die Frau, die plötzlich vor ihm stand, ließ den Eimer fallen und hielt sich erschrocken beide Hände vor den Mund. »Oh, das ist mir ja so peinlich!«

Christoph schüttelte sich wie der berühmte begossene Pudel und spürte die unangenehme Feuchtigkeit, die sich immer schneller durch seine Kleidung fraß. Der erste Schrecken wich einer Spur von vagem Humor. »Heißt das, die Stelle ist bereits vergeben?«

»Es ist mir wirklich unheimlich peinlich«, beteuerte die Bikinischönheit ein weiteres Mal und wischte ihm ziemlich erfolglos die Wassertropfen von der Schulter. »Bitte, kommen Sie mit. Ich glaube, wir müssen Sie erst einmal trockenlegen.« Trotz ihrer Beteuerung zuckte es verdächtig um ihre Mundwinkel herum.

»Das ist ja ein schöner Empfang«, lästerte Phillip und hielt der hinzukommenden Katja die Hände entgegen, die diese geflissentlich übersah.

War es nicht immer so gewesen, fragte Phillip sich und kämpfte gegen die stoische Reaktion an, die sich wie gewohnt in ihm breitmachen wollte. Kaum war Chris in der Nähe, wurde er selbst von den Frauen wie Luft behandelt. Mit zusammengebissenen Zähnen folgte er dem Freund, der von beiden Frauen flankiert zu einem Umkleidehäuschen geführt wurde.

Helena bedeutete Katja und Phillip, in der großzügig gestalteten Ruhezone Platz zu nehmen. »Bitte haltet euch während meines Gespräches mit Herrn Baumann zurück. Wenn ich euren Rat benötige, werde ich mich an euch wenden.«

»Frau Reckenhusen?«

Helena drehte sich um. Sie konnte es beim besten Willen nicht vermeiden, herzhaft loszulachen. »Bitte entschuldigen Sie mein unmögliches Benehmen, Herr Baumann. Erst setze ich sie unter Wasser und nun mache ich mich auch noch über Sie lustig.« Sie wandte sich errötend ab, um ihn nicht mit einem weiteren Lachanfall zu brüskieren. Aber es half nichts. In dem alten, graublau gestreiften Bademantel ihres Vaters und mit seiner darunter hervorschauenden Anzughose sah der junge Mann aus wie ein muselmanischer Teppichhändler.

»Es ist schon in Ordnung«, stimmte er in ihr Lachen ein und brachte eine formvollendete Verbeugung zustande. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, können wir das Vorstellungsgespräch auch verschieben. Ich meine …« Seine Stimme versiegte, als er in ihren hellgrauen, bis in sein tiefstes Innerstes hineinschauenden Augen versank. »Ich meine, wenn ich überhaupt eine Chance auf die Stelle habe.«

Helena unterbrach den intensiven Blickkontakt und atmete tief durch. »Das wollen wir jetzt klären. Auf jeden Fall werde ich Ihnen versprechen, dass ich Sie nicht jeden Tag dusche.«

»Da bin ich wirklich beruhigt. Von meiner Seite aus ist das die halbe Miete.«

»Dann lassen Sie uns sehen, wie gut wir beim Rest zusammenpassen.« Sie erwiderte sein angedeutetes Augenzwinkern und deutete auf eine gemütlich wirkende Sitzgruppe, in der Katja und Phillip bereits Platz genommen hatten.

Christoph raffte das Revers des Bademantels zusammen und setzte sich, so vornehm wie möglich, neben Phips. »Keine komischen Bemerkungen, Bursche«, unterband er den Ansatz eines Lästerns.

»Nun gut, Herr Baumann.« Helena Reckenhusen wurde sachlich und zauberte eine dünne Ledermappe hervor, der sie einige Papiere entnahm. Darunter die wenigen Bewerbungsunterlagen, die sie über Phillip erhalten hatte. »Bevor ich zu Ihren recht spärlichen Zeugnissen komme, habe ich eine ganz persönliche Frage an Sie.«

»Gerne.«

»Sie heißen Christoph Baumann. Sie sind nicht etwa der Mann, der …«

»Oh Mann, nicht schon wieder!«, unterbrach er sie mit einem gequälten Stöhnen. Voller Verbitterung sah er sie an und sagte resigniert. »Sagen Sie bitte nicht, dass mir mein Lieblingsfreund und Namensvetter auch diesen Job vermasselt. Und das, bevor ich auch nur beweisen kann, was in mir steckt.«

»Sie sind nicht der Christoph Baumann, der, ich will mich höflich ausdrücken, eine ziemlich traurige Berühmtheit erlangt hat?«

»Nein, nur einer von drei oder vier Namensvettern, die alle unter diesem einen Chaoten zu leiden haben. Nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, aber ich könnte diesen Kerl ungespitzt in den Boden rammen.« Er schien ehrlich erbost und wandte sich dem Freund zu. »Phips, ich habe dir gleich gesagt, dass Frau Reckenhusen allein dieser Verdacht reicht, um mich abzuschießen.«

»Seien Sie doch nicht gleich so pessimistisch!«, milderte Helena erschrocken ab. »Ich habe diesen Menschen ebenfalls kennenlernen dürfen. Ihr Auftreten zeigt mir, dass Sie eher das Gegenteil von diesem Mann sein dürften.« Sie nahm sich ein Blatt mit ihren Notizen und suchte den Blickkontakt des unerwartet sympathischen Bewerbers. Nichtsdestotrotz wollte sie sich keine Laus in den Pelz setzen; selbst wenn diese zugegebenermaßen sehr attraktiv aussah. »Kommen wir zum eigentlichen Thema zurück.« Helena flocht eine Kunstpause ein, um den Ernst der Situation aufzuzeigen und zugleich ihre eigenen Gefühle zu verschließen. »Ich gehe davon aus, dass Phillip Ihnen etwas über ihren zukünftigen Aufgabenbereich erzählt hat. Vor allem darüber, was die Familie Reckenhusen bei einem ihrer engsten Mitarbeiter voraussetzt und erwartet?«

»Ja, er hat kein Blatt vor den Mund genommen.«

»Dennoch fühlen Sie sich berufen, sich zu bewerben?« Eine kühle Herausforderung schwang mit.

»Es hört sich interessant an. In den letzten Jahren konnte ich eine Menge Erfahrungen sammeln, die mir bei der anstehenden Aufgabe nützlich sein können. Ich würde gern, wie sagt man, sesshaft werden, bin ledig, ungebunden und habe keine anderweitigen Verpflichtungen.«

»Wie ich sehe, haben Sie ein abgeschlossenes BWL-Studium? Und nicht einmal schlechte Noten. Es würde mich ehrlich interessieren, warum Sie Ihren … ungewöhnlichen Lebensweg gewählt haben?«

»Die Agentur für Arbeit hat einen Extraschalter für BWL-Studenten. Raus aus der Enge und noch einige andere Gründe, die Sie eher langweilen dürften.«

Sein Blick signalisierte Helena, dass ihm weitere Fragen in die private Richtung nicht genehm waren. Sie akzeptierte es und versteckte sich hinter ihren Notizen. »Von Phillip habe ich erfahren, dass Sie die letzten Jahre über im Ausland tätig waren. Leider vermisse ich hier die Zeugnisse Ihrer Arbeitgeber.«

»Das ist in der Tat schwierig zu bewerkstelligen. In Australien habe ich mich ziemlich erfolglos in den Opalminen versucht. Die Jahre darauf habe ich mich in den Staaten herumgetrieben. Nascar, Nationwide Series. Hier und dort und für die verschiedensten Rennställe. Wenn Ihnen an glaubwürdigen Zeugnissen gelegen ist, kann ich Ihnen wohl nur meinen letzten Chef, Pieter van der Möhlen, in Kapstadt nennen.«

Helena musterte den Mann, der nicht nur unheimlich attraktiv war, sondern den auch etwas Geheimnisvolles umwehte. Beinahe erschrocken blockte sie die anstürmenden Gefühle ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Wie zufällig verhüllte sie mit dem Pareo ihr nacktes Bein, um sich keine weitere Blöße zu geben. »In welcher Tätigkeit waren Sie bei ihm angestellt?«

»Als Chauffeur und Mädchen für alles. Möchten Sie, dass ich ihn anrufe?«

»Nein, seine Nummer wird mir reichen.«

Christoph zögerte erst und meinte dann zurückhaltend: »Okay, aber er ist … Ich meine, er lebt ein wenig zurückgezogen. Berufen Sie sich in jedem Fall auf mich, sollte man versuchen, Sie abzuwimmeln.«

Ein kühles Nicken. »Kommen wir zu Ihren zukünftigen Aufgaben. Soweit Sie noch Interesse haben.«

»Das Interesse besteht weiterhin.« Christoph spürte sein Herz bis zum Hals hinauf pochen. Diese Reckenhusen war eine sympathische, aber auch verdammt selbstbewusste Frau. Toll!!! Nur, wie sollte er das ein ganzes Jahr lang mit ihr aushalten? Sein Blick huschte zu Phillip. Der Freund und seine attraktive Angebetete verhielten sich mehr als passiv.

»Ich erwarte von Ihnen, dass Sie rückhaltlos Ihre Zeit für die Familie und das Unternehmen einbringen. Das heißt, Sie werden hier auf dem Grundstück leben. Freizeit nur nach vorheriger Rücksprache. Sie sind zuständig für Einsatz, Pflege und Instandhaltung des hauseigenen Fuhrparks. Zudem erwarte ich, dass Sie unserem Hausverwalterpaar bei schweren Arbeiten und auch sonst Hilfe leisten, wenn diese nötig ist. Außerdem versteht es sich von selbst, dass ich Alkohol, Frauengeschichten, unangemeldete Besuche oder gar rauschende Feste auf keinen Fall dulde.«

»Zölibat extremo«, murmelte Katja und kassierte einen scharfen Blick ihrer Freundin, ehe diese ihn erneut auf den Bewerber richtete.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass meine Forderungen für Sie und andere in dieser Runde extrem sein mögen. Für ein überdurchschnittliches Gehalt erwarten wir eine ebensolche aufopferungsvolle Leistung. Wenn Ihnen das zu „Zölibat extremo“ ist, sollten wir an dieser Stelle enden.«

Nun war es an Christoph, sich zurückzulehnen und die Forderung seiner zukünftigen Chefin zu überdenken. Ihre Blicke trafen sich erneut. Diesmal besaß er den längeren Atem. »Bei meinem letzten Chef habe ich nichts anderes getan. Ich wüsste also nicht, was einem Versuch entgegenstehen sollte.«

Der aufklaffende Bademantel präsentierte Helena eine gebräunte, wenig behaarte Männerbrust, die sich sanft hob und senkte. Ihre Zungenspitze tanzte unbewusst über die Lippen. Sein sympathisches Lächeln erweckte erneut ein Kribbeln in ihr, das sie erschrocken alarmierte. Sie fühlte sich ertappt. Erneut errötend richtete sie sich auf und strich ihr Haar hinters Ohr. »Also gut, versuchen wir es. Zwei Monate auf Probe.«

»Gut, lassen Sie es uns miteinander versuchen.« Das „Baumannlächeln“ ließ sich nicht vermeiden und es erfüllte auch diesmal seinen Zweck.

Helena Reckenhusen erhob sich und richtete verstohlen ihren Pareo. Doch der Wind fuhr ihr immer wieder unter den leichten Stoff und hob diesen an. Sie registrierte, wie er schüchtern niederblickte, um sie nicht zu echauffieren. »Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen gleich Ihren Arbeitsplatz. Vielleicht ist Herr Konrad bereits zurück und kann Ihnen erste Fragen zum Fuhrpark beantworten.«

»Ich würde wirklich gern meinen neuen Arbeitsplatz kennenlernen. Nur, meinen Sie nicht, dass wir ein wenig … overdressed sind?« Er zupfte am Bademantel und legte lächelnd den Kopf zur Seite.

»Stimmt, der muselmanische Teppichhändler und seine Bauchtänzerin.« Helena lachte herzerfrischend und erschrak zugleich über den Vergleich, der ihr unbeabsichtigt über die Lippen gerutscht war. »Ihre Kleidung ist bestimmt noch klitschnass. Wenn Sie erlauben, werde ich mich schnell umziehen und zusehen, dass wir für Sie etwas Annehmbares finden.« Sie warf ihm ein Lächeln über ihre Schulter zu und eilte in Richtung Herrenhaus davon.

»Das lief doch besser als gedacht«, kommentierte Phillip die Situation und ließ seine Blicke zwischen Katja und dem besten Freund schweifen. Ihre offenherzige Reaktion Chris gegenüber war für ihn nichts Neues. Doch diesmal zerriss ihm die Erkenntnis das Herz. Trotz allem erinnerte er sich an die Etikette. »Darf ich euch bekannt machen? Katja, das ist Chris, mein bester Freund. Chris, das ist Katja, die wundervollste Frau, die ich je getroffen habe.« Letzteres betonte er besonders. Als ob das bei dem alten Chris auf Gehör stoßen würde, flüsterte eine gehässige Stimme tief in ihm.

»Hallo Chris, schön dich kennenzulernen.« Katja trat mit wiegenden Hüften auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Ich freue mich, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden.«

»Lassen wir uns überraschen.« Christophs Blicke huschten unmerklich zu seinem Freund, der mehr als unglücklich wirkte. Sein Instinkt sagte ihm, dass Phillip kein leichtes Spiel haben würde, dieses quirlige Geschöpf für sich zu begeistern und zu halten.

»Bist du der Neue?« Ein junger Mann war zu ihnen getreten und musterte ihn in einer Mischung aus Desinteresse und Belustigung. »Ich soll dir das hier geben.« Er warf ihm ein T-Shirt zu und drehte sich grußlos um.

»Danke schön«, rief Chris ihm herausfordernd hinterher. »Und wer ist das?«

»Das war Jonas.« Katja sah ihrem Patensohn kopfschüttelnd hinterher. »Helenas … Ich meine Frau Reckenhusens Sohn.«

»Sympathisch. Hat ein richtig einnehmendes Wesen.« Chris schulterte das Shirt und wandte sich in Richtung Umkleidehäuschen. »Ich geh mich dann mal hübsch machen.«

Christoph bot schon einen gewöhnungsbedürftigen Anblick, als er kurz darauf mit edler Hose und verwegenem, knappsitzendem Heavy-Metal-Shirt zurückkehrte. Sie umrundeten die Villa und trafen am Portal eine in ein attraktives Sommerkleid gehüllte Konzernerbin an. Das ältere Pärchen an ihrer Seite wurde ihm als Gisela und Walter Konrad vorgestellt. Herr Konrad sei Chris’ Vorgänger und aufgrund seines Alters und der nachlassenden Sehstärke nur noch bedingt in der Lage, die Aufgaben als Chauffeur wahrzunehmen. »Als Gärtner und Mädchen für alles wäre zudem genug zu tun«, ergänzte Helena Reckenhusen die Vorstellung und tätschelte dem Älteren liebevoll die Schulter. Seine Frau Gisela sei die gute Seele im Haus und führe dort uneingeschränkt das Regiment.

»Tag, Herr Baumann. Sie wollen also meine Lieblinge übernehmen?« Walter Konrad musterte den jungen Mann. Sein verhaltenes Schmunzeln verriet, dass Frau Reckenhusen Vorarbeit geleistet und Verständnis geweckt hatte. »Wenn Sie mögen, lassen Sie uns zur Remise gehen und schauen, was wir Ihnen so zu bieten haben.«

Die kleine Karawane machte sich auf den Weg und umrundete das Herrenhaus. Diesmal auf der anderen Seite. Ohne dass das parkähnliche Ensemble groß gestört wurde, kamen sie über eine breite Kiesauffahrt zu einem etwas tiefer liegenden Bereich des Grundstücks. Vor einer Kulisse aus hohen alten Bäumen schmiegte sich eine kleine Häuserzeile im Landhausstil an. Das vordere Haus stand in einem bunten Meer von Blumen eingebettet und beherbergte die Wohnung des Verwalterehepaars. Der Weg verbreiterte sich zu einem weiträumig angelegten Wendeplatz, der die ganze Länge einer großzügig gebauten Remise einschloss. Christoph zählte sechs großformatige geschlossene Tore und eine schmalere Haustür. Alles befand sich in einem einwandfrei gepflegten Zustand.

»Na, was möchten Sie zuerst sehen? Unsere Wagenflotte oder Ihre Räumlichkeiten?«

»Was für eine Frage, Herr Konrad. Die Wagen natürlich.«

Konrad war an das erstbeste Tor getreten und blickte sich zu der Chefin um, die sich bislang im Hintergrund hielt. »Frau Reckenhusen, möchten Sie nicht unsere Schätze vorführen?«

»Nein, Walter. Da möchte ich mich nicht einmischen. Aber wenn ich zuhören darf?«

Walter Konrad und seine Chefin schenkten sich dankbare, verständnisvolle Blicke, registrierte Christoph. Vielleicht war sie ja gar nicht diese Krampfhenne, als die er sie kennengelernt hatte; oder dem Ruf nach, der ihr vorauseilte.

Die Torflügel schwangen geräuschlos auf und fielen wie von Magneten gezogen in ihre Bodenanker.

Christoph sackte buchstäblich der Unterkiefer herunter, als er eintrat und sich im Scheine der selbsttätig einschaltenden Beleuchtung die Schätze seinen Blicken offenbarten.

»Ich glaube das nicht! Ein 500 CL.«

»Der alltägliche Dienstwagen«, versprach Walter Konrad und fügte all die technischen Finessen und Feinheiten an, die der Wagen zusätzlich besaß und von dem alle anderen, außer Herrn Baumann, herzlich wenig verstanden. »Schauen Sie einmal dort hinten. Da steht der größte Schatz unseres Seniorchefs. Und auch meiner«, fügte er mit leisem Stolz an.

»Ist das wirklich ein Bugatti?« Christoph stand vor ihm wie ein Kind vor dem Weihnachtsmann. Hier kam er in das Reich seiner Vorbereitungen. Oldtimer waren nicht ganz seine Stärke, aber nach Phips’ Exkurs im Automuseum konnte er zumindest mitreden und dieses Edelstück vielleicht sogar fehlerfrei fahren.

»Ein Typ 57 von 1937. Alles Originalteile.« Walter Konrad tänzelte wie eine Ballerina zwischen all den anderen Schätzen auf sein „Kind“ zu.

Christoph folgte ihm und nahm die sieben oder acht weiteren Fahrzeuge in sich auf. Wenn er darüber nachdachte, welch Aufhebens er um seinen 911er machte … Wie hätte Helena Reckenhusen erst angeben können. Das war eben der Unterschied zwischen vermögend und reich, musste er neidlos anerkennen. Er sah sie an, als wäre sie die gute weiße Fee.

Diese Fee beantwortete lächelnd seine nicht gestellte Frage. »Irgendwie muss man ja vorankommen. Manchmal geht es nicht anders, da muss man Stil und Klasse zeigen. Das ist übrigens meiner.« Sie klapste einem glänzend schwarzen Mercedes SLK 55 AMG liebevoll auf den Kotflügel. »Aber vorrangig werden Sie den 500er fahren. Oder auch den Bugatti, wenn Walter es erlaubt. Mein Vater liebt diese beiden Wagen und für Herrn Reckenhusen möchte ich Sie schließlich vorrangig einstellen.«

Walter Konrad deutete auf einen Zugang an der schmalen Seite der Garage. »Wenn Sie mögen, dann kann ich Ihnen gerne noch den Rest Ihrer neuen Arbeitsstätte zeigen.«

»Sind da noch mehr „Leckerlis“?«, kam Chris nicht umhin zu fragen.

»Nur die alltäglichen und eine Werkstatt, die es uns ermöglicht, kleinere Reparaturen selbst durchzuführen. Sie haben Erfahrung und Kenntnisse darin?«

»Die meisten Wagen habe ich noch immer wieder zum Laufen bringen können. Wenn es technischer Natur war«, relativierte Christoph. »Bei der Elektronik will ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen.«

»Das geht mir genauso. Man kann nicht alles wissen.« Walter Konrad führte seine kleine Touristengruppe durch einen schmalen Flur mit Treppenaufgang auf die andere Seite des Gebäudes. Auch hier schaltete sich die Deckenbeleuchtung automatisch ein. Der großzügig bemessene Raum offenbarte sich den Eintretenden als hervorragend bestückte Werkstatt. Selbst eine Werkstattgrube war vorhanden. Chris ließ den Blick über die Werkzeugschränke wandern. Liebes Bastlerherz, was willst du mehr! Allein die Möglichkeit, dieses kleine Reich zu nutzen, hätte den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben.

Walter Konrad registrierte die Ergriffenheit des sympathischen Nachfolgers. Er betätigte einen Schalter und die Sicherungsbügel um die offene Grube versanken im Boden aus Kiefernholzpflaster. »Der Chef hat nichts vergessen, was man zur Hege und Pflege unserer kleinen Flotte braucht«, erklärte er mit stolzgeschwellter Brust. »Am liebsten krempelt er sich selbst die Hemdsärmel auf und packt noch mit an.«

»Das müssen Sie nicht auch noch besonders hervorheben«, stöhnte Helena mit humorvollem Unterton. »Wenn Herr Baumann spätabends aus dem Bett fällt, nur weil mein Vater die Idee hat, an einem Auto herumzuschrauben, habe ich den Ärger.«

»Nicht von mir. Ich schraube eher mit.« Chris betrat die heiligen Hallen und sah sich um. Weitere Fahrzeuge standen hier. Weniger exklusiv, aber trotzdem gut gepflegt, Ein VW Kombi für das Alltägliche und ein robuster Geländewagen britischer Machart. Die Reckenhusens waren für alle Eventualitäten gut gerüstet. Selbst so etwas wie Fahrräder und ein aufgemotztes Moped, das sicher dem Junior gehörte, fehlten nicht.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gerne noch Ihre privaten Räumlichkeiten zeigen. Zum Spielen haben Sie hier unten noch genug Zeit.« Sie sagte es mit einem Augenzwinkern, das ihren Worten die mütterliche Strenge nahm.

Über die Treppe gelangten sie zu den oberen Räumlichkeiten der Remise. Mit den Worten »Linkerhand befinden sich weitere Gästewohnungen, die aber kaum genutzt werden« öffnete sie die Tür und trat in einen kleinen Flur, von dem weitere abgingen. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen?«

Chris warf einen Blick hinter die erste Tür. Ein kleines, aber funktionelles Bad mit einer Duschkabine. Nicht hypermodern, aber er befand sich ja auch nicht in einem Penthaus.

Sie hatte die Tür zum nächsten Raum geöffnet. »Die Küche. Sie ist nicht groß, aber für einen Singlehaushalt ist alles vorhanden, was nötig ist. Wenn Sie mögen, können Sie Ihre Mahlzeiten aber auch gerne mit der Familie Konrad zusammen im Herrenhaus zu sich nehmen. Frau Konrad würde sich freuen.«

»Ja, das ist ein nettes Angebot.« Tanzveranstaltungen konnte man hier wirklich nicht durchführen, registrierte Christoph nebenbei. Der letzte und größte Raum war ein kombiniertes Wohn- und Schlafzimmer, dessen Bettstelle durch eine halbhohe Wand und daraufgesetzte Regale abgeteilt war. Auch nicht weltbewegend, aber sauber und ordentlich. Eben alles auf einen perfekten, proletarischen Singlehaushalt abgestimmt. Zölibat extremo inklusive.

»Meinen Sie, Sie könnten sich hier wohlfühlen? Natürlich können Sie sich auch gern anders einrichten«, bot Helena ihm im gleichen Atemzug an. Sie suchte in seiner Miene nach einer Reaktion. Bei den Fahrzeugen hatten seine Augen geleuchtet. Hier wirkten sie gerade einmal höflich interessiert.

»Ich glaube schon. Die Hauptsache ist doch ein festes Dach über dem Kopf. Ein eigenes kleines Reich, in dem ich Phips nicht mehr auf den Nerv gehe.«

»Jetzt hör aber auf! Du bist immer pflegeleicht gewesen«, protestierte der Freund, der erst jetzt zu seiner Sprache zurückfand. »Nur mach mir keine Schande, wenn Helena dich einstellt.«

»So schlimm wird es mit uns schon nicht werden«, kam sie Herrn Baumann zuvor und zwinkerte ihm zuversichtlich zu. »Also, von meiner Seite aus würde ich vorschlagen, dass wir es miteinander versuchen.«

»Okay, wenn ich nicht jeden Tag mit einem Eimer Wasser begrüßt werde, bin ich dabei.«

Sie errötete bei seinen Worten und schlug in die dargebotene Hand ein. »Abgemacht. Dann schlage ich vor, Sie richten sich hier über das Wochenende ein und beginnen am Montagmorgen mit Ihrem Dienst für das Haus Reckenhusen.«

»Na, mein Alter. Das lief doch besser als gedacht, oder?« Phillip ließ sich in den kunstledernen Sessel fallen und sah sich in Christophs zukünftigem Wohnzimmer um. »Ich meine, mit ein wenig Geschick können wir dir das hier richtig heimelig machen.«

Chris stand am verglasten Erker und sah seiner neuen Chefin und ihrer Freundin hinterher, wie sie in Richtung Herrenhaus gingen. Für ihr Alter sah sie einfach nur rassig aus und ihr Gang … Halt, rief er sich zur Ordnung. Es gab mehr als nur einen Grund, warum diese Frau für ihn absolut tabu sein musste.

»Sag mal, träumst du?«

»Was?« Chris ließ von den Frauen ab und wandte sich zögernd dem Freund zu. »Mensch Phips, in was haben wir uns da hineingeritten!«

»Wir?« Phillip erhob sich und trat an seine Seite. »Das haben wir echt dem alten Chris zu verdanken. Beschwer dich bitte bei dem. Dein wahrer Job wird sein, das hier nicht zu vermasseln!«

»Ich weiß nicht.« Bei Chris wuchs die Panik im Quadrat. »Hast du ihre Augen gesehen? Es ist, als könne sie einem bis in die tiefsten Abgründe der Seele hineinsehen! Phips, ich weiß nicht, ob ich das auf die Reihe kriege. Deine Cousine hat eine Ausstrahlung, wie ich sie noch nie zuvor bei einer Frau erlebt habe.«

»Was hast du denn erwartet? Helena hat einen Job, der immer noch eine reine Männerdomäne ist. Zudem ist sie alleinerziehend und hat ständig mit Avancen von Machos wie deinem Alter Ego zu kämpfen. Das schaffst du nicht mit unschuldigem Lächeln und Augenklimpern.«

»Und wieso hat diese Frau keinen Mann?«

Phillip grinste gehässig. »Das, mein Lieber, fragst du sie am besten selbst. Aber wo wir gerade über Frauen reden: Was hältst du von Katja?«

»Willst du meine ehrliche Meinung hören?« Chris legte ihm seine Hand auf die Schulter und registrierte, wie das Grinsen des anderen flackernd erlosch. »Katja ist eine tolle Frau. Aber … Ich will ehrlich sein, sie wird dich verbrennen. Zumindest wenn du weiter der liebe nette Typ von nebenan bleibst. Diese Frau hat ein Feuer, das leicht entflammt, das du aber nur schwer am Leben erhalten kannst. Und sollte dir das tatsächlich gelingen, dann wirst du dieses Feuer nie mehr löschen können.«

»Das sagst du nur, weil ich dich in die Lakaienrolle bei Helena gebracht habe!«, kam es trotzig.

»Nein, das sage ich dir als dein bester Freund. Dieser liebenswerte Softi, das Weichei Phillip von Staden würde, wie er jetzt vor mir steht, an dieser Liebe zerbrechen«, gestand Christoph ihm hart, aber ehrlich. Er hatte das Fotomodel Katja Friedrichsen gegoogelt, nachdem Phillip ihm von ihr vorgeschwärmt hatte. Nur würde er sein Wissen über sie nicht mit ihm teilen.

Phillip schwieg, aber es war zu spüren, wie enttäuscht er über Christophs vernichtendes Urteil war. Ernüchtert wechselte er das Thema.

Keine hundert Meter Luftlinie weiter wurden ähnliche Gedanken ausgetauscht.

»Oh, Leni. Ich beneide dich ja so sehr«, hauchte Katja bei dem Gedanken daran, welch schöne Zeit die Freundin erwartete. »Dein Christoph ist ein Sahnestückchen. Hast du seinen Body gesehen? Hast du gesehen, wie schüchtern er manchmal wirkt? Mensch, den kannst du dir noch richtig nach deinen Wünschen formen.«

»Nun komm doch bloß mal wieder auf den Boden, Katja. Herrgottnochmal!« Helena war richtig pikiert über die direkten Worte der Freundin. »Herr Baumann wird unser Chauffeur und ganz bestimmt nicht werde ich ihn mir als Lustknaben abrichten!«

»Das eine schließt das andere doch nicht aus, oder? Nun komm schon, du hast doch auch an etwas anderes gedacht als daran, diesen Mann nur zum Autofahren zu benutzen.«

»Ich sage jetzt gar nichts mehr, meine Liebe. Nur dass ich dich nochmals eindringlich darum bitte, ihn in Ruhe zu lassen.«

»Da verlangst du wirklich eine Menge von mir! Wenn du ihn nicht willst …«

»Katja, ich meine es ernst! Spiel mit deinem Phillip, aber lass mir meinen Chauffeur!«

Katja spürte, dass aus dem lustigen Frotzeln zweier Freundinnen schnell etwas Ernstes wurde. »Phillip? Nein, ich mag nicht mit Phillip spielen.«

»Du hast Angst, dich endgültig zu verlieben. Habe ich recht?« Helena erntete bei Katja etwas, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. Betretenes Schweigen. Sanft, aber nicht weniger eindringlich ließ sie ihre Hände auf Katjas Schultern ruhen. »Wenn du spürst, dass Phillip der Richtige ist, dann halte ihn bloß fest. Und trau dich vor allem, dir gegenüber ehrlich zu sein.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass du nicht den Fehler begehen solltest, den ich mein ganzes Leben lang gemacht habe. Irgendwann stellst du fest, dass etwas sehr Wichtiges nie stattgefunden hat. Nur weil man ständig auf der Flucht vor den eigenen Gefühlen war. Du wirst eines Tages erwachen, alt sein und feststellen, dass du ziemlich einsam bist.«

»Du redest da einen Stuss zusammen!«, empörte sich Katja. »Das hört sich an, als wäre für dich das Leben schon zu Ende. Dabei bist du gerade in den richtigen Jahren und hast immer noch das Aussehen, um jeden Jungen um den Finger zu wickeln. Auch auf deinen Baumann hast du mächtig Eindruck gemacht.«

Helena lachte verloren auf. »Du vergisst eines, meine Liebe. Selbstbewusstsein, Erfolg, Mutterschaft, Vermögen … Such dir aus, was du willst, und sag mir ehrlich, welcher Mann sich neben mir wirklich wohl fühlen würde?«

Katja wischte die Argumente rigoros beiseite. »Hast du überhaupt noch mal versucht, dich nach Dirk zu verlieben? Hast du je einem Mann die Chance gegeben, dich zu lieben?«

Helena schaute verbissen schweigend vor sich hin. Es war nicht einfach, Katjas Behauptungen zu dementieren, zumal sie damit eindeutig richtiglag. Aber Katja wurde auch noch nie so belogen, hintergangen und enttäuscht, wie es ihr damals passierte. Scharf sog sie die Luft ein und bestimmte kühl: »Ich finde, wir sollten diese Themen zur Seite packen und lieber besprechen, was wir am Wochenende unternehmen.«

* * * * *

Christoph erwachte von dem Vogelkonzert, das durch das offene Fenster zu ihm hereindrang. Im ersten Moment hatte er Schwierigkeiten, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Leider kehrten die Erinnerungen Hand in Hand mit seinem schlechten Gewissen zurück. War es richtig, was er hier tat? Wohin führte dieser Weg? Würden Helena und er zueinander finden? Würde er an dessen Ende wirklich der Mensch sein, den er sich für sich selbst so sehr erhoffte? Wozu diese Fragen, sah er schließlich ein. Er hatte diesen Weg gewählt und würde ihn wohl oder übel zu Ende gehen. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er ihr unbedingt beweisen, dass er nicht dieser Unmensch war, über den sie sich gestern so sehr beschwert hatte.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Jetzt einen Kaffee. Er stand auf und blickte ratlos auf all die Taschen und Kisten, die Phips und er gestern Nachmittag hierher transportiert hatten. Er verbiss sich den enttäuschten Fluch, als er sich erinnerte, dass seine Hightech-Kaffeemaschine das Schicksal seines 911er teilte. Sie passten nicht in das Bild eines mittellosen Weltenbummlers. Überhaupt würde sein Frühstück heute sehr mager ausfallen, sollte ihm nicht noch etwas Gescheites einfallen. Wie zum Beispiel ein Vorstellungsbesuch bei Frau Konrad. Da war ja auch seine neue, billige Armbanduhr. Noch nicht einmal zehn Uhr. Zeit genug, ehe Phips auftauchte, um ihn abzuholen. Der Gedanke, Sebastian Krusemarks saublödes Gesicht zu sehen, ließ ihn sämtlichen Unmut über sein zukünftiges Los vergessen. Chris langte zu den Papieren, die auf dem Wohnzimmertisch lagen. Nein, es war kein Traum. Er lebte ab heute sozusagen mit Helena Reckenhusen unter einem Dach. Zu blöde, Krusemark, dass du die Wette in diesem Punkt leider zu schwammig aufgesetzt hast. Echt blöde! Grinsend machte er sich auf den Weg ins Bad, um einen anständigen Menschen aus sich zu machen.

Kurz darauf begab sich Christoph mit knurrendem Magen den Weg zur Villa hinauf. Hier auf der Ecke befand sich ein Nebeneingang, der, wie er richtig vermutet hatte, in den Wirtschaftstrakt des Hauses führte.

»Guck mal, Gisela, wen der Geruch von frischen Brötchen hertreibt«, begrüßte Walter Konrad den jungen Kollegen und deutete einladend auf den Platz, an dem bereits ein drittes Gedeck wartete. »Moin, Herr Baumann, Sie haben doch sicherlich Hunger?«

»Ja, wie ein Bär. Aber nennen Sie mich doch bitte Chris, oder meinetwegen auch Christoph.«

»Hallo Chris«, begrüßte Walter Konrads Frau den neuen Mitarbeiter. »Dann sind wir aber Gisela und Walter. Und, wie war die erste Nacht im neuen Heim?«

»Ist alles noch ein wenig ungewohnt, aber ich habe sehr gut geschlafen.«

»Daran gewöhnt man sich schnell. Sobald Sie sich erst einmal richtig eingerichtet und eingelebt haben, wollen Sie gar nicht mehr von hier fort. Wir arbeiten nun schon seit mehr als vierzig Jahren für die Familie und können nichts anderes sagen, als dass Sie hier den Jackpot gezogen haben. Die Reckenhusens sind die angenehmsten Arbeitgeber, die man sich nur wünschen kann – wenn man denn ihre Spielregeln beachtet.«

»Nun lass den Jungen doch erst einmal ankommen«, tadelte Walter Konrad seine Frau schmunzelnd und reichte Chris den Korb mit dem verlockend duftenden Gebäck. »Möchten Sie Kaffee oder Tee?«

»Kaffee, bitte.« Chris griff herzhaft zu und blickte Gisela Konrad interessiert an. »Würden Sie sie mir verraten? Die Spielregeln, meine ich. Ich weiß, ich nehme oft so manches Fettnäpfchen mit. Dabei würde ich gern ein gutes Bild von mir abliefern.«

»Ich weiß nicht, ob Sie Herrn Reckenhusen näher kennengelernt haben. Er ist ein Gentleman alter Schule. Korrekt und auf guten Ton bedacht.«

»Das Gleiche gilt für Helena«, bekräftigte Walter die Ausführungen seiner Frau. »Für Außenstehende mag sie manchmal unnahbar wirken, aber im Grunde ist sie ein richtiger Familienmensch. Dennoch rate ich Ihnen, vermeiden Sie es, ihr gegenüber einen zu kumpelhaften Ton anzuschlagen oder sie gar beim Vornamen zu nennen.«

»Das ist mir bereits bewusst geworden. Nur frage ich mich, warum sie manchmal so frostig wirkt und andererseits wie jemand, mit dem man Pferde stehlen kann?« Chris registrierte verwundert die plötzlich verschlossenen Mienen der beiden.

»Glauben Sie es uns einfach, wenn Sie hier alt werden wollen. Frau Reckenhusen ist ein herzensguter Mensch, aber sie schließt nicht gleich jeden in ihr Herz.« Gisela Konrad reichte erneut die Kaffeekanne herum und fuhr fort: »Dann gibt es noch Jonas Johannes. Das ist Frau Reckenhusens Sohn. Er ist nun siebzehn und noch ein rechter Wildfang.«

»Nun komm schon, Gisela. Jonas ist wie alle Jungens in diesem Alter. Was ihm fehlt, ist manchmal der Rüffel eines Vaters.«

»Den es nicht gibt?« Chris wusste durch Phillip, dass Helena alleinerziehend war. Was jedoch der Grund dafür war, darüber wollte oder konnte ihm auch sein bester Freund nichts berichten.

»Das ist ein Thema, über das in diesem Haus nicht gesprochen wird. Sie sollten es tunlichst vermeiden, darauf zu kommen.«

»Gut, dass Sie mich darauf aufmerksam machen. Gibt es sonst noch etwas, was ein tödlicher Fauxpas wäre?«

Die beiden schienen intensiv darüber nachzudenken, was für Chris richtig süß aussah. Sie wirkten wie Zwillinge. So musste es sein, wenn man lange gemeinsam durchs Leben ging. Irgendwie konnte man richtig neidisch werden, ging es ihm durch den Kopf. Wie war das wohl? Gemeinsam mit ein und demselben Menschen alt zu werden und alles miteinander zu teilen?

Gisela Konrad schien zu einem abschließenden Ergebnis gekommen zu sein. »Da fällt mir eigentlich nur noch ein, dass die Reckenhusens sehr auf ihre Privatsphäre bedacht sind. Alle Gäste sowie die Besucher der Angestellten sollten vorher angemeldet werden. Außerdem ist das obere Stockwerk dieses Hauses für die Allgemeinheit absolut tabu. Außer Fräulein Friedrichsen, meiner Wenigkeit und zwei Reinigungskräften, die mich zweimal in der Woche im Haushalt unterstützen, wünscht die Familie ausdrücklich, dass sich niemand anderes dort aufhält.«

»Warnung ist angekommen.« Chris salutierte im Sitzen. »Und nun zu meinen weiteren Aufgaben. Wo kann ich hier mit anpacken? Ich will mich ja nicht nur bei den Autos vergnügen dürfen.« Er blinzelte Walter Konrad verschwörerisch zu und erntete ein gleiches Zwinkern.

* * * * *

Phillip traf wie versprochen kurz nach elf ein. »Hallo Alter, wie ich sehe, hast du dich ein wenig eingelebt.«

»Ja. Ich habe auch keine Angst mehr, so allein im Dunkeln«, frotzelte Chris und fuhr ernst fort. »Und ich habe ein sehr informatives Frühstück bei den Konrads gehabt.«

»Die beiden sind wirklich nett, näch?«

»Ja, aber man merkt auch, dass sie Familienanschluss haben.«

»Eifersüchtig?«

»Quatsch! Ich würde nur zu gerne wissen, welch aussätzige Krankheit diese Helena hat, dass aus ihr solch eine Männerhasserin geworden ist? Oder ist sie gar eine Lesbe?«

»Helena? Lesbisch?« Phillip kratzte sich am Kopf und schüttelte im gleichen Moment denselben. »Ne, ich glaube nicht. Sie hat nur eine Menge Pech in Sachen Männer gehabt. Irgendwie ist sie wohl immer wieder an die falschen geraten.«

»Dann bin ich also keine Ausnahme«, ergänzte Chris Phillips Aussage selbstkritisch.

»Ich dachte, wir hätten den alten Chris begraben.« In Phillips Augen wetterleuchtete es. »Du magst mich jetzt auslachen, aber ich glaube, dass Helena und du … dass ihr mehr gemeinsam habt, als euch selbst bewusst ist. Wer weiß, vielleicht wird aus euch tatsächlich mal ein Paar.«

»Das kannst du vergessen! Das Herz dieser Frau zu erobern, das schafft weder der alte und erst recht nicht der neue Chris Baumann. Nein, bei der versage ich auf ganzer Linie. Chauffeur ja, aber Lover?« Chris schüttelte den Kopf und schlug sich auf die Schenkel. »So, und nun lass uns zusehen, dass wir in den Klub kommen. Ich bin heiß darauf, Herrn Krusemark ein ganz bestimmtes Schriftstück unter die Nase zu reiben.«

* * * * *

Chris’ und Phillips Eintreffen wurde lauthals begrüßt. Schon bald wurden erste Rufe nach dem Zwischenergebnis der unmoralischen Wette laut. Chris begab sich ins Zentrum der Clique. Vor Sebastian Krusemark, der ihm siegessicher entgegensah, blieb er stehen.

»Na, Baumann. Hast du die Wagenpapiere und Schlüssel von deinem 911er dabei?«

»Nein, Basti. Da muss ich dich enttäuschen.«

»Was denn! Hoffst du noch immer darauf, dass dich die Eiskönigin in ihr Kämmerlein lässt?«

»War davon die Rede?« Chris zerkaute die Worte genussvoll und holte betont gelassen den Arbeitsvertrag hervor. »Es heißt in unserer Wette „Unter einem Dach“, oder?«

»Ja?« Krusemark griff das Schriftstück und blickte drauf. »Eh, Alter. Willst du mich verarschen?«

»Nichts liegt mir ferner«, gestand Chris honigsüß lächelnd. »Mein neuer Wohnort ist seit gestern Nachmittag exakt die Anschrift, die auch eine gewisse Helena Reckenhusen in ihrem Personalausweis trägt. Ich bin Chauffeur besagter Dame, werde ein gutes Gehalt bekommen und dabei genussvoll zusehen, wie die Wochen und Monate verstreichen. Sie anzubaggern und zu poppen, davon stand nichts zur Debatte. Das heißt, Stichtag heute in einem Jahr. Fang schon mal an zu sparen, Digger!«

»Ne, das glaube ich nicht!«

Krusemarks nächste Worte gingen im johlenden Gelächter der anderen unter.

Chris ließ sich nicht lange feiern. Gleich nachdem Krusemark dem Beginn der Wette zustimmte, hielt ihn nichts mehr im Kreise der scheinbaren Freunde. Er zog den erstaunlich schweigsamen Phillip mit sich und verließ den Club, ohne dass es die anderen bemerkten.

»Oh Mann, Phips. Heute in einem Jahr lassen wir die Lucie so richtig abgehen. Du wirst natürlich auch nicht leer ausgehen. Was soll ich schon mit zwei Autos herumfahren? Ich garantiere dir, mit solch einem Wagen rutschen dir die Schnecken von allein auf den Schoß.« Voll ungebändigten Tatendrangs schlug Christoph dem schweigsamen Freund auf die Schulter, dass dieser auf seinen Wagen zutaumelte. »Eh, sag doch mal was.«

Phillip fuhr herum, packte die Kragenaufschläge von Chris’ Blouson und zog den überraschten Freund energisch zu sich heran. »Was soll ich dazu sagen, du Riesenarsch! Verdammt, was fällt dir ein, wieder den Larry zu machen! Verstehst du denn noch immer nicht, was mir diese ganze Scheiße bedeutet?« Er stieß ihn angewidert zurück. »Du glaubst gar nicht, wie es mich ankotzt, mit solch einem Poser und Menschenverächter wie dir befreundet zu sein!«

»Phips, was ist denn in dich gefahren?« Chris richtete seine Kleidung und ahnte mit einem Male, dass es gar nicht so einfach war, der Mensch zu werden, den man eigentlich in sich sehen wollte.

»Lass mich bloß in Ruhe! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so sehr in einem Menschen täuschen kann.«

»Phillip, entschuldige bitte. Ich weiß, ich habe mich eben wohl ein wenig … Ich habe mich wieder mal echt mies benommen. Aber es ist alles so neu, so verwirrend … einfach beängstigend.«

»Hör doch bloß auf! Jetzt tust du erschüttert und morgen pupst du dann wieder von vorn groß herum.« Phillip schüttelte enttäuscht den Kopf. »Du wirst es nie kapieren! Nein, ich habe die Lust verloren, dir zu glauben.«

Chris schwieg betroffen, während ein unheimlich schlechtes Gewissen die Leere in ihm zu füllen begann. Toll, hatte er wieder mal den einzigen Menschen enttäuscht, der überhaupt noch zu ihm hielt.

»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, Phillip. Ich weiß, dass ich dich maßlos enttäuscht habe. Aber lass mir meine Chance bei Helena.« Alles, jedes Wort prallte an der unversöhnlichen Miene ab. »Gib mir die Möglichkeit, dass ich ihr Herz erobern kann. Denn … Ich möchte nicht nur die Wette gewinnen. Helena ist wirklich eine Frau, in die man sich mit Haut und Haar verlieben könnte.« Da war nur Zorn, der ihm entgegenschlug. Und grenzenlose Verachtung. Ja, Phillip ballte sogar die Hände zu Fäusten. »Fährst du mich wenigstens heim? Ich meine in mein neues Zuhause.«

Das tat Phillip, aber die Fahrt verlief in eisigem Schweigen. Zum ersten Mal war es in ihrer langjährigen Freundschaft zu einem ernsten Zerwürfnis gekommen. Grußlos setzte er ihn am Straßenrand ab und verschwand mit einem Kavalierstart. Betrübt, mit dem Wissen um einen unendlich tiefgehenden Verlust trottete Chris die Auffahrt hinauf.

Die Decke fiel Christoph auf dem Kopf. Der völlig unnötige Streit und Phillips wütendes Schweigen belastete ihn ungemein. Zweimal sprach er dem Freund auf den Anrufbeantworter, ohne dabei die Hoffnung zu haben, dass er zurückrufen würde. Phillip war ein Mann mit Prinzipien und wenn man ihn dabei enttäuschte, war es schwer, seine Fehler nachträglich zu berichtigen.

Seufzend sah er aus dem Fenster. Das einladend schimmernde Blau des Pools erregte seine Aufmerksamkeit. Durfte er den eigentlich nutzen? Keiner hatte etwas Gegenteiliges gesagt, entschied er. Außerdem war niemand in der Nähe, den er belästigen würde, wenn er ein paar Runden schwamm.

»Helena?« Katja betrat nach einem kurzen Anklopfen die Zimmerflucht ihrer Freundin.

Die Angesprochene, die an einem der Fenster zum Park hin stand, erwachte aus ihrer nachdenklichen Starre.

»Ich weiß ja, dass ich nicht mit deinem neuen Spielzeug herumhantieren darf. Aber dürfte ich Herrn Baumann am Dienstagvormittag dennoch in Anspruch nehmen? Ich muss zum Flughafen.«

»Musst du fort?«

»Ja, ich habe gerade einen Anruf aus Mailand bekommen. Es hört sich nach einem sehr lukrativen Auftrag an.«

»Das lässt sich wohl einrichten.« Helena wandte sich erneut dem Geschehen zu, das sich im Park unter ihr abspielte.

Katja trat neben sie. Natürlich, wie hätte es auch anders sein können, erkannte sie zufrieden, unterließ es aber, Helena ein weiteres Mal zu necken. Der durchtrainierte, braun gebrannte Körper des Mannes, der dort unten am Rand des Pools stand, konnte einem schon wohlige Schauer über den Rücken jagen. Wenn dann noch das Funkeln der Sonne hinzukam, deren Strahlen sich in den über den Körper perlenden Wassertröpfchen brach, war die Hypnose nahezu perfekt. Helena konnte dementieren, wie sie wollte, ihr sehnsüchtiger Blick verriet alles.

»Ich werde wohl ein paar Tage unterwegs sein.« Katja rechnete nicht damit, dass sie eine Antwort bekam. Stattdessen fragte sie sich, ob man bei ihrer besten Freundin nicht doch einmal die Kupplerin spielen sollte. Helena war manches Mal so halsstarrig, dass sie in ihrem bisherigen Leben nicht nur eine Chance bei den Männern verspielt hatte. Aber so etwas musste man ja nicht gleich überstürzen.

Erfrischt und mit klarem Kopf kehrte Chris nach zwanzig langen Bahnen zur Remise zurück. Zwei der Tore standen offen, davor der Bugatti und der 500er. Dazwischen bewegte sich Walter Konrad. Er tanzte so elegant mit einem Waschschwamm um die Fahrzeuge herum, dass selbst erfahrene Wassernixen noch etwas hinzulernen konnten.

»Mensch Walter, Sie hätten mir doch sagen können, dass heute Wagenwaschen anliegt. Dann wäre ich doch nicht planschen gegangen.«

»Machen Sie sich keinen Kopf, Chris. Das ist einfach nur ein wenig Beschäftigung. Sonst verlangt Gisela noch von mir, dass ich ihr beim Abwasch helfe. Außerdem fangen Sie ja erst am Montag an.«

»Das ist doch Quatsch.« Christoph warf sein Badelaken über den Riegel des Garagentors und ergriff einen weiteren Schwamm. »Ich wollte Sie sowieso noch nach dem Dienstplan fragen.«

»So etwas gibt es hier nicht. Zu tun gibt es immer was. Das ist die Kunst, um Pluspunkte zu sammeln, mein Junge. Wenn die Reckenhusens was wollen, haben wir hier unsere Rufanlagen. In der Garage, der Werkstatt und auch oben bei Ihnen befindet sich so ein Haustelefon. Alles andere bleibt uns überlassen. Nur sauber und ordentlich sollte es sein.«

»Ich hoffe nur, dass ich mal so gut wie Sie werde«, gestand Chris dem alten Mann ehrlich ein. »Wenn man die Garage sieht. Dort könnte man auf dem Boden sogar einen Schwerverletzten operieren!«

Walter Konrad errötete bei diesem Kompliment und nahm sich vor, seiner Gisela davon zu berichten. Die fand nämlich immer etwas, was er wieder übersehen hatte.

Die Familie Reckenhusen nahm ihren nachmittäglichen Kaffee bei diesem sonnigen Wetter auf der großen Terrasse ein. Gisela hatte einen frischen Napfkuchen gebacken und freute sich über Jonas’ gesunden Appetit. Das schönste Stück mit den meisten Schokostücken hatte sie ihm längst herausgesucht.

»Hallo, junger Mann. Ich hoffe, es schmeckt?«, tadelte der Senior die Unart seines Enkels.

»Super, Opa. Ich habe nur getestet, ob nichts vergiftet ist.«

Den Flicken ans Ohr erhielt Jonas von der resoluten Gisela, die über seinen dummen Spruch gar nicht lachen konnte.

»Das geschieht dir recht«, urteilte Johannes Reckenhusen und schenkte seiner langjährigen Hauswirtschafterin ein bestätigendes Nicken. Mühsam ließ er sich in den bereitstehenden Sessel sinken. »Wie ich höre, hast du einen neuen Chauffeur eingestellt«, richtete er das Wort an seine Tochter.

»Ja, Papa. Er heißt Christoph Baumann, ist neunundzwanzig Jahre alt und schon ziemlich weit in der Welt herumgekommen. Die Unterlagen habe ich dir auf deinen Schreibtisch gelegt. Erst einmal zwei Monate auf Probe. Ich meine, mit dem könnte es vielleicht sogar etwas werden.«

»So, so, das meinst du?« Johannes Reckenhusen musste sein Schmunzeln verbergen und widmete seine Aufmerksamkeit der Haushälterin. »Und was meinst du, Gisela? Kann es etwas mit diesem Herrn Baumann werden?«

»Mein erster Eindruck ist recht positiv, Herr Reckenhusen. Er gibt sich sehr umgänglich und macht einen vernünftigen Eindruck. Wenn Walter und er zusammenhocken, gibt es eigentlich nur ein Thema. Autos!«

»Das ist doch auch wieder nur so ein Typ, der meiner Mutter schöne Augen macht und anschließend hier rumätzen will«, gab Jonas seinen unverlangten Kommentar hinzu und kassierte dafür von allen Seiten pikierte Blicke.

»Ich glaube nicht, dass wir dir beigebracht haben, so über jemanden zu urteilen. Zumal, wenn man denjenigen nicht kennt. Und selbst dann schickt es sich nicht, für einen Mann in deiner gesellschaftlichen Stellung, solch unqualifizierte Äußerungen abzugeben.« Helenas Stimme vibrierte vor unterdrückter Empörung. Der erneute Ärger über ihren Sohn raubte ihr die letzte Freude an diesem schönen Tag. Was machte sie nur falsch, dass Jonas dermaßen aus der Rolle fiel?

Johannes Reckenhusen musterte seinen Enkel schweigend. Wenn er seiner Tochter im Grunde auch recht gab, so würde das nichts an Jonas Johannes’ Verhalten ändern. Leider waren die Gene seines Vaters in diesem Fall sehr rezidiv. Was dem Jungen fehlte, war eine Autorität, zu der er aufsehen und von der er lernen konnte. Er und Walter waren dafür zu alt und Helena … Bei allem Respekt, den er für ihre Leistung und Durchsetzungskraft empfand, so war sie dennoch nicht in der Lage, ihrem Sohn das männliche Pendant zu bieten, das dieser dringend benötigte. »Gisela, ist dieser Herr Baumann bereits anwesend?«

»Ja, Herr Reckenhusen. Vorhin waren Walter und er damit beschäftigt, die Wagen zu waschen. Möchten Sie, dass er sich jetzt bei Ihnen vorstellt?«

»Nein, ich hatte ohnehin vor, nachher einmal unten vorbeizuschauen. Da werde ich ihn sicherlich kennenlernen. Jonas Johannes, magst du dann mit mir kommen?«

»Ne, Opa. Ich hab genug zu tun. Diesen „Herrn“ werde ich auch so früh genug kennenlernen.«

Helena biss die Zähne zusammen, um sich nicht erneut über den verbalen Ausrutscher ihres Sohnes Luft zu machen. In letzter Zeit fragte sie sich so manches Mal, ob es nicht besser wäre, Jonas auf ein Internat zu schicken.

Der junge Mann schien die dicke Luft zu wittern. Mit einem schrägen Lächeln erhob er sich. »Ihr müsst mich entschuldigen. Ich treffe mich heute noch mit Justus und Matthias. Es kann spät werden.«

»Um zehn Uhr bist du wieder hier!«, rief ihm seine Mutter kopfschüttelnd hinterher.

Sein Winken hieß noch lange nicht, dass er ihre Anordnung verstanden hatte, geschweige denn befolgen würde. Helena vermied es wohlweislich, den Blicken ihres Vaters Beachtung zu schenken. Ihr war die erzieherische Niederlage auch so peinlich bewusst, ohne dass sie weitere Kommentare hierzu benötigte.

Zu zweit ging alles noch einmal so schnell, stellte Walter zufrieden fest und sah stolz auf den glänzenden Fuhrpark, der wieder picobello in der Garage stand.

»Du, Walter, wenn nun doch einmal Probleme mit dem Bugatti auftauchen – hast du da Adressen, wo man Ersatzteile bekommt, ohne gleich übers Ohr gehauen zu werden?«

»Dann kommen Sie ruhig zu mir, junger Mann. Ich habe weltweite Verbindungen.« Unbemerkt war der ältere Herr vor dem Garagentor aufgetaucht und blickte sich mit zufriedener Miene um. »Sie müssen Herr Baumann sein. Meine Tochter erzählte mir davon, dass wir einen neuen Chauffeur haben.«

Chris beeilte sich, dem mühsam gehenden Mann entgegenzutreten. »Ja, und Sie dürften Herr Reckenhusen sein. Mein neuer Chef. Es tut mir leid, dass ich mich noch nicht persönlich bei Ihnen vorgestellt habe. Irgendwie haben wir uns hier festgewühlt.«

»Das beweist mir wenigstens, dass Sie an Ihrer Arbeit Interesse haben.« Johannes Reckenhusen wies einladend in die Garage. »Hat Walter Ihnen alles erklärt?«

»Wenn es um den Fahrzeugpark geht, so sind wir eifrig dabei. Aber es wird bestimmt noch Tage dauern, bis ich zu Ihrer vollsten Zufriedenheit agieren kann.«

»Ach, das wird schon werden mit uns. Ich bin eigentlich recht pflegeleicht; wenn meine Tochter das vielleicht auch anders sehen mag.« Reckenhusen und Walter schenkten sich ein eingeschworenes Schmunzeln. »Ich vermute mal, als Chauffeur hätten Sie hier ein viel zu ruhiges Leben. Mädchen für alles träfe eher zu.«

»Auch dafür bin ich mir nicht zu schade«, gestand Chris und lächelte mit ihm um die Wette.

* * * * *

»Ich habe dir gleich gesagt, dass sich die Jungs wieder bei den Autos herumtreiben!«, rief Katja Friedrichsen über die Schulter hinweg und trat in die Garage, wo sie die drei Männer beim angeregten Fachsimpeln vorfand.

»Das hätten wir uns denken können.« Helena Reckenhusen betrat nach ihrer Freundin die Remise. »Gisela hat das Abendbrot bereits vor zehn Minuten aufgetragen.«

»Ist es schon so spät?« Johannes Reckenhusen tat, als schaue er erschrocken zur Uhr. Bedauernder Blick. »Dann müssen wir für heute wohl Schluss machen. Meine Altenpflegerinnen verstehen keinen Spaß, wenn ich das Abendbrot verstreichen lasse.«

»Ja, Gisela schaut auch schon auf die Uhr«, schloss Walter sich an und verließ gemeinsam mit seinem Chef die Remise.

Plötzlich fand sich Christoph mit den beiden Frauen allein. Mit einer Spur von Unbehagen registrierte er, dass sich seine neue Chefin mit ihrem attraktiven, aber wohl doch nicht ganz federleichten Fahrgestell gegen den Kotflügel des Bugattis lehnte.

»Na, Sie scheinen sich gut eingelebt und bereits Freundschaften geschlossen zu haben.«

»Freundschaften wäre nicht das passende Wort, Frau Reckenhusen. Schließlich bin ich als Chauffeur eingestellt. Aber ich freue mich sehr, dass ich einen so interessierten und vor allem versierten Seniorchef habe.«

Helena musterte ihn von oben bis unten. Er trug noch immer seine Badeshorts. Nur ein altes und verdammt knappes Shirt hatte er sich über seinen muskulösen Oberkörper gezogen. Wenn er es darauf anlegte, dass es sie antörnte, wie sich seine Brust langsam hob und senkte … Dann hatte er damit ins Schwarze getroffen. Aber das würde er nie erfahren.

»Danke, dass Sie Ihren Aufgabenbereich genau so sehen, wie ich es mir wünsche. Ich hoffe nur, es ist Ihnen auch wirklich Ernst mit Ihren Äußerungen.«

Christoph erwiderte ihren herausfordernden Blick und neigte leicht das Haupt. »In der Tat, Madame. Nichts liegt mir ferner, als mich mit meinen Arbeitgebern zu verbrüdern.«

»Dann sind wir uns ja einig.« Die Kühle in ihrer Stimme verursachte bei der atemlos danebenstehenden Freundin Frostbeulen dritten Grades. »Im Übrigen hoffe ich, dass Sie sich auch weiterhin gut einleben werden. Wenn Sie etwas brauchen, scheuen Sie sich nicht, den Konrads gegenüber Ihre Wünsche zu äußern. Ansonsten sehen wir uns Montagmorgen pünktlich um sieben Uhr vor dem Haupthaus. Ach, und kleiden Sie sich bitte etwas dezenter als in der jetzigen Aufmachung.«

»Sehr wohl, gnädige Frau.«

Es war ein stummer Kampf, der sich zwischen den beiden abspielte. Ein gegenseitiges Ausloten, bei dem niemand unterliegen wollte oder den Blickkontakt abzubrechen wagte.

Schließlich war es Katja, die die Stille unterbrach und alle davor bewahrte, den Rest des Abends hier auszuharren. »Chris, wissen Sie, ob Phillip heute noch zu Ihnen kommen wollte?«

Der Angesprochene atmete tief ein und schenkte der Freundin dieses „Eisklotzes“ ein entschuldigendes Lächeln. »Das kann ich nicht sagen, Frau Friedrichsen. Ich glaube, wohl eher nicht.«

»Katja, kommst du?« Helena Reckenhusen hatte kehrtgemacht und verließ grußlos den Raum.

Diese verdrehte gespielt die Augen und sagte mit einem Mut machenden Schmunzeln: »Nehmen Sie es der Leni nicht krumm. In Gegenwart neuer Menschen fremdelt sie manchmal ein wenig. Das wird sich noch legen.«

Chris lachte leise und pflichtschuldig. Sein Gefühl und seine Erfahrung sagten ihm etwas ganz anderes. Wenn Madame bloß nicht bereits ahnte, was um sie herum geschah. Aber Herrgott noch mal, diese Frau hatte eine Ausstrahlung, in die er sich vom ersten Moment an verliebt hatte. Das konnte in den nächsten Monaten wirklich noch heiter werden!

Kapitel 4

Christoph war überzeugt gewesen, dass es im Leben nichts mehr gab, was ihm fremd war. Der heutige Morgen bewies ihm das Gegenteil. Der Zeiger seiner Armbanduhr zeigte exakt drei vor sieben, als er mit dem 500er vor dem Portal des Haupthauses vorfuhr. Walter hatte ihn instruiert, welchen Weg die Chefin gern zur Firma nahm und auf was er zu achten hatte. Ja, und telefonisch geweckt hatte er ihn auch. Sonst wäre sein erster Tag wohl gleich der letzte gewesen.

Eine Minute vor sieben schwang der Flügel der großen Tür auf. Hübsch, konstatierte Chris und verfolgte, wie Helena Reckenhusen in ihrem schwarzen, eng geschnittenen Kostüm und den passenden hochhackigen Schuhen elegant die Stufen des Portals herabschritt. Ihr Haar trug sie heute hochgesteckt, was ihr eine noch stärkere Aura des Unnahbaren verschaffte.

»Guten Morgen, Frau Reckenhusen. Wir haben sieben Uhr und eine derzeitige Außentemperatur von vierzehn Grad. Wir dürfen mit einem sonnigen Tag und bis zu achtundzwanzig Grad rechnen.«

»Guten Morgen, Herr Baumann.« Sie schenkte ihm ein reserviertes Lächeln und ließ sich die Tür zum Fond aufhalten. »Wir fahren in die Firma.«

»Sehr wohl.« Er schloss die Tür, umrundete den Wagen und glitt hinter das Lenkrad. »Darf ich fragen, ob es bereits Planungen für den Verlauf des weiteren Arbeitstages gibt?«

Helena musterte den Ausschnitt seines Gesichtes, den sie im Rückspiegel wahrnehmen konnte. Er versuchte gewählte Worte zu finden und schrammte dabei scharf auf der Kante zwischen Witz und Seriosität entlang. »Für die Zukunft erwarte ich von Ihnen, dass Sie mich standesgemäß vor das Hauptportal fahren. Heute machen wir eine Ausnahme. Ich zeige Ihnen den Stellplatz und stelle Sie den Pförtnern vor. Dort wird in Zukunft auch Ihr Platz sein, sollten Sie sich in der Firma aufhalten. Ich erwarte, dass Sie ständig erreichbar sind.«

»Sehr wohl, gnädige Frau«, bestätigte er leise und verließ im gemäßigten Tempo das Grundstück. »Mein angestammter Platz wird beim Pförtner sein.«

»Sollten Sie befürchten, dass Ihre Tage langweilig werden … Es gibt immer etwas zu erledigen. Heute werden wir es so halten, dass ich Ihnen einen Mitarbeiter schicke, der Sie in der Firma herumführt und mit allem vertraut macht.«

»Ja, gern.« Im Rückspiegel registrierte er die Unmutsfalte auf seiner Stirn. Das „eingebildete Zicke“ konnte ihr bestimmt nicht entgehen. Doch sie kontrollierte nur den Sitz ihres Make-ups und zog den Lippenstift nach.

Zumindest schien sie nichts an seinem ruhigen Fahrstil auszusetzen zu haben, bemerkte Chris im Laufe der Fahrt zufrieden. Ansonsten hielt sich ihre Konversation sehr in Grenzen.

Es überraschte ihn keinesfalls, als er den Wagen auf den Hof eines nicht gerade klein zu nennenden Bürokomplexes in der City Süd lenkte. Die Stellfläche für den Wagen lag an exponierter Stelle, ganz in der Nähe des glasverspiegelten Haupteingangs. Hier, im fast tennisfeldgroßen Foyer, befand sich auch die Pförtnerloge. Alles strahlte die vornehme Eleganz aus, die er bei den Reckenhusens längst als Standard definierte. Den wohl fünf Meter langen Tresen teilten sich die Pförtnerei und die beiden Damen von der Telefonzentrale. Wirklich reizend, jung und hübsch, die Damen, aber Chris hielt sich mit Nettigkeiten zurück. Registrierte er doch die Blicke aus den Argusaugen seiner neuen Chefin.

»Hier also befindet sich von nun an Ihr Tätigkeitsfeld. Schauen Sie sich um und machen Sie sich bekannt. Ich werde Ihnen einen Mitarbeiter schicken, der Sie im Rest des Gebäudes herumführt und das Wichtigste erklärt. Sollte es nötig sein, erreichen Sie mich über Frau Dombrowsky, meine Vorzimmerdame. Aber ich denke, das wird kaum vorkommen.«

»Vielen Dank, Frau Reckenhusen.« Chris schenkte ihr ein, wie er hoffte, devotes Lächeln und wünschte einen angenehmen Arbeitstag.

Christoph wurde nicht lange wie ein Fremder behandelt. Schnell hatte sich ein interessantes Gespräch ergeben, als er den Vibrationsalarm seines Handys wahrnahm. Er entschuldigte sich bei den anderen.

»Hi, Chris. Hier Piet. Kann ich dich sprechen?«

»Ja, kurz. Wie ist es, hast du dich gut eingelebt?«

»Leidlich gut und ich bin auch schon ersten Dingen auf der Spur. Aber deswegen rufe ich nicht an. Du wolltest doch wissen, wenn sich eine Frau Reckenhusen bei mir meldet und Auskünfte von mir als deinem alten Arbeitgeber verlangt.«

»Das ging aber schnell.«

»Wir hatten gestern Abend ein ziemlich langes Gespräch über Chris Baumann und seine besonderen Qualitäten als Mitarbeiter.«

Piets Unterton ließ bei Christoph alle Alarmsirenen erklingen. »Du hast doch wohl nicht bis ins Unendliche übertrieben!«

»Ach wo. Ich habe dich nur als unbedingt verlässlich angepriesen. Du bist wachsam, unbestechlich und ein waghalsiger Fahrer, wenn es darum geht, deinem Chef das Leben zu retten. Ach, und du kannst ebenso gut mit einer Pistole umgehen.«

Chris stöhnte auf. »Piet, was hast nur wieder vom Leder gezogen! Die Frau muss jetzt sonst was von mir denken.«

»Quatsch, deine Kleine schien sogar sehr angetan zu sein. Von den Geschichten, die ich ihr über den Höllenhund Chris Baumann erzählt habe. So, und nun muss ich auflegen, Privatgespräche mögen die hier nicht so gern. Alles Weitere per SMS, wenn ich erste Spuren habe.«

Chris beendete das Gespräch und schüttelte den Kopf. Nun wusste er zumindest, warum sie ihn vorhin mit diesem besonderen Blick gemustert hatte. Er und mit einer Pistole umgehen.

»Entschuldigen Sie, Herr Baumann?«

Chris schwang herum.

»Guten Morgen, mein Name ist Maximilan Johannsen aus der Exportdisposition, oder ganz einfach Max. Frau Reckenhusen hat mich beauftragt Sie in der Firma herumzuführen. Haben Sie Lust?«

Und ob Christoph die hatte. Im Laufe der nächsten Stunden lernte er wohl sämtliche Abteilungen, Eigenarten und Besonderheiten des Konzerns kennen. Sein Eindruck von den Mitarbeitern und dem Betriebsklima war nicht der schlechteste. Die Prämissen der Reckenhusens wie Integrität, Flexibilität und Freundlichkeit waren auch hier an allen Orten wahrzunehmen. Zudem war das fünfstöckige Gebäude um einiges größer und imposanter als die Zentrale der Baumann-Reederei. Allein das würde reichen, um seinen Vater und ganz besonders den Bruder aufzustacheln. Wenn die beiden wüssten, wo er sich befand und für wen er arbeitete – die würden auf der Stelle tot umfallen und nicht wieder aufstehen.

Zuletzt gelangten sie in den obersten Stock, der für die Geschäftsleitung und die Abteilungsleiter reserviert schien. Hier unterließ Johannsen es, die Büros persönlich aufzusuchen und stellte ihm stattdessen die Türblätter aus Echtholz vor. Mit den Worten »Hiermit endet unsere Führung durch unser kleines Reich. Und nun möchte Frau Reckenhusen, dass ich Sie bei ihr abliefere«, verabschiedete er sich und übergab ihn an die besagte Frau Dombrowsky, Helenas Vorzimmerdame.

Chris musste gleich ans Krügerchen aus Papas Vorzimmer denken. Frau Dombrowsky besaß die gleiche mütterliche Ausstrahlung wie ihr Pendant im Baumannschen Imperium.

»Hallo, Herr Baumann. Herzlich willkommen bei uns. Frau Reckenhusen ist gleich für Sie zu sprechen. Mögen Sie so lang einen Kaffee?«

»Oh, nein danke! Ich habe im Laufe des Tages schon so viel davon bekommen. Ein anderes Mal aber gern.« Er sah sich in dem edel gestalteten Vorzimmer um. »Sehr hübsch haben Sie es hier.«

Frau Dombrowsky errötete bei dem Lob und registrierte an der Telefonanlage, dass die Chefin ihr Telefonat beendet hatte. Lächelnd betätigte sie die Sprechanlage. »Frau Reckenhusen? Herr Baumann wäre jetzt da.«

»Ja danke, führen Sie ihn in ein paar Augenblicken zu mir.«

Chris beherrschte sich im letzten Moment, einen respektablen Pfiff von sich zu geben, als er kurz darauf das Büro betrat.

Helena Reckenhusen erhob sich und kam um ihren imposanten, aufgeräumten Schreibtisch herum. »Haben Sie sich bereits ein wenig einleben können?«

»Ja, es ist wirklich beeindruckend, wie hier alles Hand in Hand geht. Etwas anderes hätte ich bei Ihnen aber auch nicht erwartet.« Sie schien sich über seine Worte aufrichtig zu freuen. Überhaupt kam es ihm vor, dass sie frischer und energiegeladener wirkte als noch am Morgen. »Sie wollten mich sprechen?«

»Ja, für heute habe ich alles in die Wege geleitet. Überdies habe ich einen Termin bei unserem Schneider bekommen. Was halten Sie davon, wenn wir gleich hinfahren und Ihnen eine schicke Dienstkleidung zusammenstellen?«

»Sehr gern.« Chris schluckte innerlich. Der Gedanke an einen affigen Lodenmantel und Schirmmütze kam einem Leberhaken gleich.

Helena hatte sehr wohl den Schatten bemerkt, der kurz über sein markantes Gesicht huschte. Es entlockte ihr ein herzhaftes Lachen. »So schlimm wird es schon nicht werden. Und hören Sie bitte damit auf, immer wieder „sehr gern“ zu sagen!«

»Sehr … okay, ich bemühe mich«, versprach er und verneigte sich mit einem Schmunzeln.

Nach einem letzten Telefonat, das sich in den Aufbruch hineindrängte, begaben sie sich zum Lift. Die Kabine des Aufzugs war ab der Hüfthöhe auf allen Seiten verspiegelt. Beinahe unmöglich, dem anderen blicktechnisch aus dem Weg zu gehen. Und Helena Reckenhusens Blicke ruhten definitiv auf ihrem neuen Chauffeur.

»Christoph.« Sie sprach ihn zum ersten Mal bei seinem Vornamen an. Ein erster Vertrauensvorschuss? »Ich habe gestern mit Ihrem alten Chef, Mijnheer van der Möhlen, telefoniert.«

Chris nickte mit emotionsloser Miene. »Ich hoffe, es geht ihm gut?«

»Ja, natürlich. Er lässt Sie herzlich grüßen und bedauert noch immer sehr, dass Sie ihn allein gelassen haben.«

Der Chauffeur verzog die Mundwinkel zu einem wehmütigen Lächeln und hob die Schultern. »War besser so. Für uns alle.«

»Er sagte mir, dass Sie ihm das Leben gerettet haben und dass er auf ewig in Ihrer Schuld stünde. Stimmt das?«

»War nicht ganz so weltbewegend. Der gute alte Piet übertreibt meist ein wenig.« Ihr Blick verlangte nach mehr. »Ja, auch ich bedaure so manches Mal, dass ich Südafrika verlassen musste. Aber nun habe ich ja eine neue Aufgabe. Die scheint auch eine Menge Spaß für mich auf Lager zu haben.«

Der Fahrstuhl hatte sein Ziel erreicht und unterband einen weiteren Versuch Helenas, das für sie spannende Gespräch fortzusetzen. Sie folgte ihm zur Limousine und ließ sich von ihm die Tür aufhalten.

»Wohin werden wir fahren?«

Helena nannte ihm die Adresse des Schneiders und erntete ein nachdenkliches Gesicht. »Gibt es ein Problem?«

»Nicht wirklich«, Chris beugte sich vor und fummelte ziemlich erfolglos an diesem Navi der neuesten Generation herum. »Ich kenne Hamburg zwar von damals. Aber in den letzten zehn Jahren hat sich wohl einiges verändert.«

»Wem sagen Sie das! Einen Augenblick mal.« Helena stieg aus und wechselte zu ihm nach vorn. »Ich zeige Ihnen den Weg.«

Chris vermied es, seine Blicke auf die wohlgeformten Beine festbrennen zu lassen. So ein knapper Rock hatte seine Reize; zumal bei ihrer Figur. Nur dass seine Gedanken sie wohl wenig in Begeisterung versetzen würden. Ein schicksalsschwerer Seufzer begleitete sein Anschnallen. »Gut, dann auf zum Schneider … der hoffentlich keinen kompletten Hampelmann aus mir macht.«

Sie gab ihm lachend einen zutraulichen Knuff an den Oberarm. »Nun machen Sie sich bloß nicht verrückt. Wir werden schon etwas Schönes für Sie finden. Versprochen.«

* * * * *

Schön war etwas anderes. Aber man konnte es tragen, fand Christoph, als sie nach gefühlten Stunden endlich die exklusive Werkstatt verließen. Für jemanden, der Anzüge nur zu Weihnachten und auf Beerdigungen trug, war es ein wahrer Kulturschock. Das alles hatte er Phips zu verdanken. Phips! Ob der Freund noch immer sauer auf ihn war? Seit ihrem unsäglichen Streit hatte er nichts mehr von sich hören lassen.

»Das war doch ein erfolgreicher Tag für uns, oder?« Helena hatte sich wieder in den Fond gesetzt und nestelte an ihren Haarkämmen und Nadeln herum. »Was halten Sie davon, wenn wir noch einmal zur Außenalster fahren, oder wollen Sie lieber gleich nach Haus?«

Er verfolgte fasziniert durch den Rückspiegel, wie sich die strenge Frisur auflöste und der wallenden Mähne Raum gab. Ihre Blicke trafen sich für Sekundenbruchteile.

»Sehr gern.«

»Christoph!«

»Jaaaa! Außenalster hört sich gut an. Ich war schon lange nicht mehr dort.«

»Gut, dann fahren wir noch für ein halbes Stündchen irgendwohin, wo es schön ist. Überraschen Sie mich.« Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr offenes Haar und lehnte sich entspannt zurück.

Chris fühlte sich das erste Mal auf einem etwas sicheren Terrain. Wenn er etwas kannte, dann waren es lauschige und romantische Plätze allerorten. Na ja, etwas weniger lauschig wäre in ihrer jetzigen Situation wohl angebracht. Doch er erkannte die Chance, die sich bot. So konnten sie sich ein wenig näher und privater kennenlernen. Er lenkte den Wagen über die Lombardsbrücke und steuerte die Pöseldorfer Seite des Alsterufers an. Hier gab es gut befestigte Wege und vor allem auch das eine oder andere nennenswerte Lokal.

»Interessante Gegend«, quittierte sie anerkennend, als er ihr die Tür öffnete. »Waren Sie schon einmal hier?«

»Ja, ist aber schon lange her. Wie schaut es aus, möchten Sie ein wenig spazieren gehen?«

»Ja, warum nicht.« Helena versuchte mit ihren hochhackigen Schuhen Halt auf dem planierten Sandweg zu finden, während sie über ihre Schulter hinweg glücklich seufzte. »Ist es nicht schön? Nach einem anstrengenden Tag in dieser wunderbaren Luft spazieren zu gehen.«

Er bot ihr seinen Arm, in den sie sich dankbar einhakte. Gemeinsam schlenderten sie eine geraume Zeit am Ufer entlang und genossen schweigend die verhältnismäßige Ruhe an diesem Ort.

»Mir geht Mijnheer van der Möhlen nicht aus dem Sinn«, begann Helena irgendwann zögerlich und spürte sogleich, wie sich sein Arm in ihrem anspannte. »Christoph, ich möchte weder neugierig noch unhöflich sein, aber es interessiert mich doch, was vorgefallen ist. Was hat Sie veranlasst, Südafrika zu verlassen?«

Chris schloss verzagt die Augen. Er wollte Helena nicht mehr belügen, als es seine Rolle von ihm verlangte, und doch spürte er, dass er sich immer weiter darin verhedderte.

»Mir geht die Sache mit der Pistole nicht aus dem Kopf. Wie weit würden Sie gehen, um … sagen wir einmal, um Ihren Chef zu schützen?«

»Es kommt auf den Chef an.« Er blieb stehen und versank erneut in ihren alle Sinne verwirrenden grauen Augen. »Es gibt nur wenige Menschen, für die ich bis zum letzten Atemzug kämpfen würde. Piet gehört zu ihnen.«

»Haben Sie jemanden töten müssen?«

Er schenkte ihr ein erlöstes Lachen. »Bei Gott, nein! Frau Reckenhusen, nun werden Sie mir nicht sentimental.« Chris musste sich zwingen, sie nicht in die Arme zu nehmen und ihr Trost zu spenden. Schluss mit weiteren Verwicklungen, nahm er sich vor. Das Thema Piet van der Möhlen und Südafrika musste ein Ende haben. »Ja, ich habe eine Waffe ziehen müssen und einen der drei Angreifer, die Piet kidnappen wollten, verletzt. Der gute Mann hat es überlebt und sitzt nun mit seinen Kollegen in einem Kapstädter Gefängnis. Mir selbst hat man damals deutlich zu verstehen gegeben, dass ich Ausländer sei und man mich wegen illegalem Waffenbesitz nicht länger dulden würde.«

»Und das war es?« Sie atmete sichtlich auf.

»Ja, alles andere wäre übertrieben. Und jetzt werde ich Sie auf einen Wein oder etwas anderes einladen und dann geht es nach Haus. Morgen ist wieder ein anstrengender Tag und ich will nicht eine Stunde lang vor Ihrer Tür warten müssen«, bestimmte er lachend und geleitete sie zu einem Lokal, das er seit langer Zeit nicht mehr besucht hatte. Der Gedanke, dass er, wenn er mit Helena Reckenhusen zusammen war, aus Vorsicht diverse Lokalitäten meiden musste, war nicht von der Hand zu weisen.

Helena bestellte sich bei der zierlichen Kellnerin einen halbtrockenen Roten und registrierte wohlwollend, dass der Mann ihr gegenüber ein Bitter Lemon orderte. Nun ruhten seine wissenden Blicke – ja, wissend, anders konnte sie es nicht beschreiben – auf ihr. Es war ihr nicht einmal unangenehm. Dabei hoffte sie inständig, dass er ihren mutigen Vorstoß, ihn ein wenig näher kennenzulernen, nicht überinterpretierte. Nicht dass es ihr peinlich wäre, mit ihm gesehen zu werden. Doch die gravierenden Standesunterschiede zwischen ihnen ließen den Gedanken an eine Beziehung völlig indiskutabel erscheinen. Es verbot sich von selbst, auch nur ansatzweise darüber nachzudenken. Eine Lady Chatterly würde sie mit Gewissheit nicht werden.

»Diese Nachdenklichkeit bei Ihnen …« Chris hatte das drängende Gefühl, sie aus ihren Betrachtungen herauszuholen. Womöglich schöpfte sie bereits Verdacht. »Ich meine, sie steht Ihnen, diese Nachdenklichkeit. Nur sollten Sie sich nicht um mich sorgen, wenn es denn so ist. Ich will damit nur sagen, dass ich Ihnen sehr dankbar bin, für die Chance, die Sie mir geben. Ich werde Sie hoffentlich nicht enttäuschen.«

Helena lächelte und senkte verschämt den Kopf. »Jetzt hören Sie bloß auf, Süßholz zu raspeln. Ich kann so manches Mal auch eine richtige Zicke sein.«

»Darauf bin ich schon jetzt gespannt.« Sein zuversichtliches Lächeln wirkte ansteckend. »Also darauf, dass wir uns nicht zu sehr an die Gurgel gehen werden.«

* * * * *

Helena klopfte an Katjas Tür. Mit höflicher Zurückhaltung betrat sie die Räume, die ihre beste Freundin im Hause Reckenhusen bewohnte, sofern sie sich in Hamburg aufhielt. »Hallo Liebes, ich weiß, es ist spät, aber darf ich dich kurz stören?«

»Nun stell dich nicht an und komm rein!« Ächzend war die junge Frau darum bemüht, die Schlösser des übervollen Koffers zu schließen. Was sie nicht daran hinderte, mit einem listigen Blick über die Schulter zu schauen. »Wir haben dich beim Abendbrot vermisst. Nicht einmal angerufen hast du.«

»Ja, Mama, entschuldige. Ich war noch ein wenig spazieren«, erklärte Helena ertappt und ging ihr zur Hilfe.

»Natürlich nicht allein?«

»Natürlich nicht. Aber es ist nicht das, was du schon wieder denkst.«

»Nun komm schon! Ich würde das Gleiche mit ihm machen. Wenn ich denn dürfte.«

»Nein, darfst du nicht. Außerdem hast du deinen Phillip«, konterte Helena fröhlich und steuerte eine sie bewegende Frage hinterher. »Wie steht es eigentlich zwischen euch?«

»Geht so.« Katja wirkte wieder einmal sehr einsilbig. Dabei sprach ihr Blick Bände. »Er hat mich heute wieder angerufen.«

»Und? Hast du ihm gesagt, dass du morgen zu Aufnahmen nach Mailand fliegst?«

Kopfschütteln.

»Mädchen, was ist nur los mit dir? Seit Tagen benimmst du dich wie durch den Wind. Das ist nicht die Katja Friedrichsen, die ich seit Jahrzehnten kenne. Seit wann weckt ein Mann solche Seiten in dir?«

Katja ließ sich hintenüber aufs Bett fallen und starrte an die hohe Decke. »Seit Phillip«, flüsterte sie kaum vernehmlich.

Helena setzte sich neben sie und ergriff ihre kalte Hand. »Da ist mehr zwischen euch, stimmts?«

»Nein … Ja. Er … Ich habe das Gefühl, dass er sich in mich verliebt hat. Dabei haben wir noch nicht einmal miteinander geschlafen. Ist das nicht verrückt?«

»Das ist überhaupt nicht verrückt. Phillip gehört nur einer Gattung von Mann an, die wir selbstbewussten, emanzipierten Frauen längst für ausgestorben halten.«

»Und das heißt?«

»Dass du dich irgendwann fragen solltest, wie deine Zukunft aussieht. Ein Mann, der dich vergöttert und auf Händen trägt, oder eine Karriere als berühmtes Model, das alle auf Händen tragen, um es irgendwann fallen zu lassen. Beides wirst du mit Phillip auf Dauer nicht teilen können.«

Statt einer Antwort verbarg Katja ihr Haupt in Helenas Schoß und begann hemmungslos zu weinen.

* * * * *

Christoph hatte den Wagen in die Remise gefahren und für den kommenden Tag hergerichtet. Der erste Tag war gelaufen und er hatte ihn überlebt, sinnierte er, als er am Garagentor stand und auf das beinahe dunkle Herrenhaus sah. Beim Senior flackerte bläuliches Licht durch die schwach erleuchteten Fenster. Der Fernseher lief, aber das tat er meist die ganze Nacht über. In Helenas Zimmerflucht, zumindest vermutete er, dass sie ebenfalls nach hinten heraus wohnte, war alles dunkel. Sein Herz pochte, wenn er an den Abend zurückdachte. Es verwirrte ihn. Auf die eine Art war sie die unnahbare, kühl kalkulierende Geschäftsfrau. Auf die andere spürte er ein Übermaß an Gefühl und Herzlichkeit. Eine Seite, die sie jedoch ständig und besonders vor sich selbst zu verstecken suchte. Herrgott, was würde das abgeben, wenn sie sich ineinander verliebten? »Von was träumst du nachts?«, warf er sich mit einem herzzerreißenden Stöhnen vor. Dazu durfte es nie kommen!

Müde und mit einer saftigen Portion Traurigkeit schlich er die Treppe zu seinem Appartement hinauf. Das Klingeln und Summen an seiner Hüfte meldete einen späten Anrufer. Fast elf Uhr. Wer wollte so spät noch etwas von ihm? Dazu auf dem neuen Handy, dessen Nummer niemand besaß, außer … Helena. Sie fühlte sich einsam. Er fummelte das Gerät vom Gürtel und las irritiert „Phips“ im Display. Sein erster Impuls war, einfach aufzulegen. Fünf Sekunden kämpfte er mit sich, dann nahm er das Gespräch an.

»Chris, bist du das?«

Der Stimme des Freundes war sämtlicher Groll abhandengekommen. Es hörte sich mehr an, als würde Phillip ertrinken. Christoph unterdrückte eine hämische Bemerkung. So wie er es vermieden hatte, ihn wegzudrücken. »Was ist mit dir?«

»Ach, ich weiß nicht.« Die fahrige Stimme sprach eindeutig von etwas anderem. »Hast du Katja gesehen?« Jede Silbe deutete darauf hin, dass Phillip nicht wirklich nüchtern war.

»Nein, das habe ich nicht. Ich weiß nur, dass ich sie morgen Vormittag zum Flughafen bringen soll.«

»Was will sie denn da?«

»Fliegen, nehme ich mal an. Mensch Phips, sieh zu, dass du in die Falle kommst! Wenn ich sie morgen gefahren habe, komme ich zu dir. Und du bleibst mit deinem Hintern aber so was von zu Haus!«

»Ja, Mama«, kam es schniefend. Grußlos legte der Anrufer auf.

Christoph erklomm den Rest der Stiegen und ahnte Böses. Wann hatte Phillip sich schon mal so die Kante gegeben? Katja? Natürlich! Ihm deftige Vorhaltungen machen, dass er nicht auf die Ratschläge hörte, und dabei selbst jeden guten Rat in den Wind schießen. Er hatte ihn vor dieser Frau gewarnt. Und nun durfte er zusehen, dass er dem besten Freund einen neuen Sinn für dessen Urknalluniversum gab.

Kapitel 5

Der Morgen begann, als wäre nichts zuvor geschehen. Herr Baumann erwartete sie pünktlich vor dem Portal und begrüßte sie mit dem gleichen Prozedere wie gestern. Insgeheim hatte Helena befürchtet, dass er sich nach ihrem „lockeren Mitarbeitergespräch“ mehr erhoffen würde. Seine freundliche und doch zurückhaltende Art zeigte ihr auf beruhigende Weise, dass sie auf der gleichen Wellenlänge schwammen. Keine Verbrüderung. Der Abend war schön und unterhaltsam. Aber das war es dann auch, entschied Helena für sich und wies ihn an, zur Firma zu fahren.

»Wenn Sie mich abgesetzt haben, fahren Sie bitte zurück und bringen Frau Friedrichsen zum Flughafen. Sie muss um neun Uhr einchecken. Das schaffen Sie doch, oder?«

»Gern, Frau Reckenhusen. Haben Sie sonst weitere Aufgaben für den heutigen Tag?«

»Mein Vater muss zum Routinecheck in das Krankenhaus Rissen.«

»Das ist erst morgen Vormittag, gnädige Frau. Wenn nichts Weiteres anliegt, würde ich mich gern um Ihren eigenen Wagen kümmern. Das Serviceheft sagt aus, dass die große Inspektion fällig ist.«

»Gut, dann kümmern Sie sich darum. Und Christoph, das mit der gnädigen Frau ersparen Sie sich bitte ebenfalls in den nächsten dreißig Jahren. Sonst erdolche ich Sie doch noch mit meiner Nagelfeile.«

Er quittierte ihr säuerliches Lächeln mit der entsprechenden Süße.

Der Rest der Fahrt verlief im Schweigen. Auch wenn beide unabhängig voneinander das Gleiche denken mochten. Die Klippen, die wir gestern fanden, haben wir heute erfolgreich umschifft.

* * * * *

Christoph hatte den Wagen im Rondell abgestellt. Danach begab er sich in die Vorhalle und suchte die Hauswirtschafterin auf. »Gisela, ich soll Frau Friedrichsen zum Flughafen fahren. Magst du ihr bitte Bescheid geben, dass ich ihr Gepäck einlade und wir dann unverzüglich aufbrechen sollten. Wir müssen mit Baustellen und Staus rechnen. Die Zeit wird knapp.« Er griff sich die beiden schweren Gepäckstücke und wuchtete sie nach draußen.

Kurz darauf erschien die Besitzerin der Koffer und eilte zielstrebig zum Wagen. Die dunkle Sonnenbrille verdeckte kaum ihren desolaten Zustand. Ebenso desolat, wie sich Phips am gestrigen Abend angehört hatte, drängte sich ihm ein Gedanke auf.

»Guten Morgen, Frau Friedrichsen.« Er wandte sich um und fand seine Vermutungen bestätigt. Verheulte Augen, dunkle Ringe unter denselben. Man musste nur eins und eins zusammenzählen. »Ich bringe Sie so schnell als möglich zum Flieger. Wenn ich Ihnen sonst etwas Gutes tun kann, sagen Sie es bitte. Übrigens, in Mailand soll es heute bis zu vierunddreißig Grad …«

»Können Sie auch mal die Klappe halten!«, fauchte sie ihn unbeherrscht an.

»Sehr wohl, gnädige Frau«, murmelte er und beobachtete, wie sich ihre Zähne förmlich in die Oberlippe gruben. Wenn sie so weitermachte, würde sie bei ihrer Fotosession definitiv den letzten Platz belegen.

»Chris, entschuldigen Sie bitte meinen Anraunzer«, kam es kurz darauf von der Rückbank. »Ich wollte Ihnen nicht über den Mund fahren. Ich habe einfach nur eine Scheißnacht hinter mir.«

»Ist schon vergessen«, gab er ihr mit einem Lächeln zu verstehen. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, sagen Sie es mir bitte. Ich weiß sehr wohl, was ich Ihnen und Phillip zu verdanken habe.«

»Danke, Chris. Aber meine Probleme … Nein, damit möchte ich Sie wirklich nicht behelligen.«

Wenn du wüsstest, dachte Chris bei sich, vermied aber, sie auf das offensichtliche Problem anzusprechen. Aber ein Vortasten lag drin. »Ich kann Sie nicht zwingen, mir Ihr Herz auszuschütten. Aber sollte es sich um einen Mann handeln … Den könnte ich zur Not auch verhauen. Es ist ein Unding, dass man eine tolle Frau, wie Sie es sind, so vor den Kopf stößt.«

»Das ist lieb von Ihnen. Aber wer sagt Ihnen, dass nicht ich es bin, die einen tollen Menschen vor den Kopf stößt?«

Sie verkroch sich in sich selbst und schwieg für den Rest der Fahrt. Für Christoph sagte es alles. Er brachte sie und ihre Koffer bis zum Check-in und verabschiedete sich mit dem Versprechen, sie bei ihrer Rückkehr wieder abzuholen.

Statt sich ohne Umwege daranzumachen, Helenas Wagen zur Vertragswerkstatt zu bringen, führte ihn sein Weg ins nah gelegene Wellingsbüttel. Es dauerte Minuten, bis sein Sturmklingeln Erfolg zeigte. Der Summer erwachte kurz zum Leben. So knapp, dass Chris gerade die Tür aufbekam. An der Haustür dieselbe Aktion. Minutenlanges Klingeln, dass er befürchtete, die Polizei müsse jeden Moment hinter ihm stehen.

»Phips, du siehst echt scheiße aus!«, untertrieb Christoph und bugsierte das menschliche Wrack ins Bad. »Du rasierst dich erst einmal. Und geh vor allem unter die Dusche. Du stinkst wie ein Iltis!«

Chris setzte einen kräftigen Kaffee auf. Ja, und noch einen Löffel. Während er den Tisch deckte, gönnte er sich den Luxus, den momentanen Zustand der beiden zu sezieren. Katja war offenbar doch nicht das liebeshungrige, oberflächliche und karrieresüchtige Ding, für das er sie gehalten hatte. Dann wäre sie heute Morgen bedeutend anders drauf gewesen. Im Stillen leistete er Abbitte. Phips, dieser Himmelhund, hatte es geschafft, einen Fuß bei ihr in die Tür zu bekommen. Nur, wie konnte er ihm dabei helfen, dass er sich denselben nicht amputieren musste. Eines stand jedenfalls fest: Gestern musste es zwischen den beiden ganz gewaltig gescheppert haben.

Erfrischt, doch deutlich ungebügelt kam Phillip kurz darauf aus dem Bad gewankt. Zumindest stank er nicht mehr nach Alkohol und auch die Haare lagen gekämmt an.

»Wie kommst du hierher?«

»Mit dem Auto.« Chris verfolgte, wie der Freund sich an den Tisch setzte und das Gesicht hinter den Händen verbarg. »Erzähl, was war gestern los? Du hast mich mitten in der Nacht angerufen und wolltest wissen, was mit Katja ist.«

»Oh Shit. Mann, das wollte ich nicht. Was habe ich alles gesagt?«

»Schwamm drüber, schließlich müsste ich mich bei dir entschuldigen.« Chris goss den Becher randvoll mit dem heißen Gebräu. »Und nun raus damit! Was läuft zwischen dir und Katja?«

»Nichts!«, krächzte Phillip, »Nichts ist los. Einfach gar nichts!«

»Gut, damit sind wir der Sache dann ja schon ein großes Stück nähergekommen. Kann es sein, dass dein „Nichts“ nichts mehr von dir wissen will? Warst du gemein zu ihr? Hast du ihr gedroht oder sie unter Druck gesetzt?«

»Nein, so war das nicht.«

»Wie dann? Und hör endlich auf, um den heißen Brei herumzureden!«

Phillip verbrannte sich den Mund und besudelte den Bademantel, was ihn offenbar wenig interessierte, geschweige denn ihm auffiel. »Katja spielt nur mit mir. Sie macht mir schöne Augen, bewundert meine Umsicht und strahlt mich verliebt an. Und wenn ich dann endlich den Mut gefunden habe, sie einzuladen und einen romantischen Abend zu planen, dann stößt sie mich vor den Kopf. Ich dürfe mir keine Hoffnungen machen. Sie sei noch nicht bereit, um überhaupt an eine feste Partnerschaft zu denken, undundund!« Seine Stimme generierte leichte Symptome von beginnendem Wahnsinn.

»Und, was ist so schlimm daran?« Chris erntete Unglaube. Pur! »Phips, du solltest dich freuen, dass sie ehrlich zu dir ist. Der alte Chris Baumann war nie so anständig zu den Bräuten, die er sich ins Bett geholt hat.«

»Jetzt hältst du auch noch zu ihr!«

»Quatsch! Ich sage nur, dass sie ehrlich ist. Und dir, als dein bester Freund, sage ich: Verlieben und begehren ist schön. Aber man sollte das Spiel von vornherein gemeinsam spielen. Nenn es meinetwegen Teamsport.«

»Ach ja! Und wieso sagt sie, dass sie mich liebt? Wieso küsst sie mich wie eine Ertrinkende und kann es gar nicht erwarten, mit mir schlafen?«

Nun war es an Chris, nach einer plausiblen Antwort zu suchen. »Vielleicht empfindet sie in der Tat mehr für dich, als sie bereit ist, vor sich selbst zuzugeben. Diese Chance kannst du nutzen.« Er ließ diese Offenbarung beim anderen sacken. »Es ist überhaupt die einzige Chance, die ich für dich sehe.«

»Und wie mache ich das?« Phillip verbarg sein Gesicht erneut hinter zitternden Händen.

»Auch du musst dich verändern, mein Lieber. Dazu dürfte eine zusätzliche Portion Schauspielkunst nicht schaden. Das ist mein Rat an dich. Werde dir endlich deiner selbst bewusst und sei mit diesem tollen Kerl zufrieden, den du immer ängstlich vor allen Leuten zu verbergen suchst. Du darfst von dir überzeugt sein und damit auch angeben. Schließlich bist du Verkäufer. Also, verkaufe dich auch endlich einmal selbst positiv.«

»Und wie?«

»Komm, zieh dich an. Wir machen jetzt das, was du mit mir angestellt hast. Du sollst mal sehen, wie lustig das wird.«

»Ich will aber nicht Katjas Chauffeur werden.«

»Du würdest dich wundern, was man als Chauffeur alles mitbekommt«, orakelte Christoph. »Wie hätte ich sonst erfahren, dass Katja nach Mailand geflogen ist und erst in drei Tagen zurückkehrt.«

»Mailand? Was macht sie in Mailand?«

»Arbeiten. Solltest du es vergessen haben: Sie ist ein gefragtes Fotomodel. Am Rande bemerkt, so zerknittert und verheult wie sie heute Morgen aussah, wird sie dort keine Lichtgestalt sein.«

»Zerknittert und verheult?«

»Mensch, zieh dich an und plappere mir nicht immer alles nach! Wir fahren los und stylen dich etwas um.«

* * * * *

Sie fuhren in ein nah gelegenes Einkaufszentrum, in dem alle Wünsche befriedigt wurden. Solange man denn genug Bares besaß. Und Chris sorgte dafür, das Phips’ Konto ordentlich Bewegung verspürte. Aus dem unscheinbaren Langweiler schälte sich ein sportlicher Jungmanager heraus. Der Friseur wuchs über sich hinaus und ließ die gescheitelte Frisur der Vergangenheit angehören. Das Ergebnis gefiel sogar seinem Träger auf Anhieb und inspirierte zu dem Ausruf: »Mensch, jetzt weiß ich erst, wie toll du dich gefühlt haben musst.«

Dem mochte Chris nicht widersprechen. Und schon schleifte er seinen besten Freund zu einem imposanten Fitness- und Wellnesstempel in der Nachbarschaft, um ihm hier gleich eine Jahresmitgliedschaft zu verpassen. Das kleine Bäuchlein sollte möglichst bald der Vergangenheit angehören.

Während Phillip sogleich prüfte, wie sein Charme und das neue Outfit beim weiblichen Geschlecht ankamen, klingelte Chris’ Handy.

»Baumann, wo treiben Sie sich jetzt schon wieder herum?«

»Hamburg?«

»Witzbold! Sehen Sie zu, dass Sie nach Haus fahren und packen Sie sich ein paar Sachen zum Wechseln ein. Dann holen Sie bei Gisela die Sachen ab, die sie für mich zusammenstellt. Wir fahren umgehend nach Kopenhagen.«

»Ja, Frau Reckenhusen. Wie viele Tage planen Sie?«

»Zwei oder drei. Sehen Sie zu.« Sie hatte das Gespräch beendet.

»Na, scheucht dich mein liebes Cousinchen?« Phips fand allmählich zu einem selbstsicheren Lächeln zurück.

»Ja, umgehend nach Kopenhagen. Das heißt, du wirst mit dem Bus zurückfahren.«

»Kein Problem. Ich habe eh vor, mich noch ein wenig mit Frau Schuster zu unterhalten.« Phillip schenkte der Dame in der Anmeldung ein herzliches Lächeln.

»Schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht. Dann macht es dir bestimmt nichts aus, wenn ich dich um einen kleinen Gefallen bitte, oder?«

»Ne, mache ich gerne. Was denn?«

»Frau Friedrichsen soll am Freitag planmäßig neunzehn siebenundzwanzig am Flughafen Fuhlsbüttel eintreffen. Sei bitte pünktlich. Und fahre sie, wohin sie möchte. Machst du das? Das ist lieb von dir.«

»Wen soll ich fahren?«, fragte Phips abgelenkt. Noch immer fasziniert von sich und seinem neuen Erfolg bei den Frauen.

»Frau Friedrichsen.« Christoph musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. Er zog Phillip zu sich herum, um seine volle Aufmerksamkeit zu erringen. »Katja, Flughafen, Ankunft Freitag neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Aber bitte freundlich. Danke schön.« Chris klopfte dem sichtbar Erbleichenden auf die Schulter und sah zu, dass er fortkam.

* * * * *

Christoph war erstaunlich schnell vorangekommen und hatte sich daheim mit dem Nötigsten eingedeckt. Nun war er beim Haupthaus vorgefahren und starrte entsetzt auf das im Entree aufgebaute Gepäck.

»Gisela, was ist denn das? Sie sagte etwas von zwei oder drei Tagen.«

»Hör auf zu schnacken, Junge. Das sind die notwendigen Dinge, die eine Frau nun mal braucht. Und hier, diese Bluse und das Kostüm bringst du bitte ordentlich und knitterfrei auf dem Rücksitz unter. Und nun sieh zu! Sie hat schon zweimal angefragt, ob du los bist.«

Chris schüttelte schmunzelnd den Kopf und murmelte: »Das wird das Nächste sein, was ich ihr austreibe. Mensch, ich bin doch kein Möbelpacker.«

Leichter Nieselregen hatte eingesetzt, als er mit dem Wagen im Konzernhof vorfuhr. Offensichtlich hatte sie bereits auf ihn gewartet und das wohl nicht zu knapp. Sobald sie ihn erblickte, rannte sie auf den Wagen zu, dass selbst der Pförtner nicht mit dem Regenschirm hinterherkam.

»Haben Sie vorher noch einen Mittagsschlaf gehalten?« Die Begrüßung fiel giftig aus.

»Der Gedanke lag nahe. Doch dann dachte ich mir, dass Sie es eilig haben könnten.«

»Baumann, Ihre Kodderschnauze müssen Sie sich wirklich abgewöhnen. Mal sehen, ob Sie noch genauso fröhlich sind, wenn ich Ihnen sage, dass wir in drei Stunden und vierzig Minuten in der Kopenhagener Innenstadt sein müssen. Pünktlich! Es geht um Millionen, die Sie sonst die Firma kosten.« Sie wuchtete ihren schweren Aktenkoffer neben sich und registrierte sein Schmunzeln im Rückspiegel. »Sie scheinen das offensichtlich als Witz aufzunehmen. Es geht um wirklich viel Geld und nicht um dänische Kronen.«

»Ich weiß. Ich musste nur gerade an meinen Vater denken, der immer behauptet hat, ich wäre keinen Pfennig wert.«

»Ihr Vater muss ein sehr weiser Mann sein.« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Also los, sehen Sie zu!«

»In drei Stunden siebenundzwanzig werden wir da sein.« Christoph trat das Gaspedal durch, sodass sein Fahrgast mit einem hellen Quietschen in die weichen Lederpolster geschleudert wurde. Mit einem Ruck riss er das Lenkrad nach rechts auf die gottlob wenig befahrene Straße. Ein weiterer panischer Quietscher folgte, als die Limousine im Neunziggradwinkel in den fließenden Verkehr hineinschleuderte, um innerhalb weniger Sekunden zügig die anderen Autos hinter sich zu lassen. Christoph registrierte mit einem Schmunzeln, wie sie über die Rücksitze purzelte.

Reichlich derangiert und schimpfend richtete sie sich wieder auf. »Scheiße, Baumann! Sind Sie des Wahnsinns fette Beute? Was soll dieser Kamikazestil?«

»Anschnallen ist wichtig. Sage ich immer wieder. Außerdem waren Sie es, die mir befohlen hat, auf dem schnellsten Wege nach Kopenhagen zu fahren.«

»Müssen Sie denn immer alles wörtlich nehmen!« Verzweifelt suchte sie nach ihrem Anschnallgurt und fluchte dabei unverständliche Worte, die ihrem Chauffeur kaum zur Ehre gereichten.

Christoph lenkte den Wagen nun mit mäßiger Geschwindigkeit durch die Stadt. Sie kamen gut voran und schon bald ließ er den Flughafen linkerhand hinter sich. Mittlerweile hatte sich auch sein Passagier wieder beruhigt. Still war es sogar. Er gönnte sich einen längeren Blick in den Rückspiegel und setzte den Wagen beinahe gegen eine mannshohe Betonmauer. Erst im letzten Moment zog er ihn mit einem erschrockenen Ruck zurück auf die Fahrbahn.

Erneut flog Helena mit einem Schreckensschrei quer durch den hinteren Fahrgastraum.

»Entschuldigung«, kam es diesmal ziemlich kleinlaut von vorn.

Was bei Weitem nicht ausreichte, um ihren gerechten Zorn zu besänftigen. »Jetzt reicht es mir wirklich, Sie Rüpel!«, brüllte Helena den armen Sünder unbeherrscht an. Sie verbarg ihren nackten Oberkörper mit der Bluse, die sie sich gerade ausgezogen hatte. »Können Sie ihre verfluchten Stielaugen nicht dorthin richten, wohin sie gehören! So eine Unverschämtheit habe ich ja noch nie erlebt, Sie sexistisches Ferkel!«

Schrecken und Verwirrtheit über den unvermuteten, aber wunderschönen Anblick, der sich ihm plötzlich geboten hatte, ließen nun auch Christoph die gebotene Höflichkeit vergessen. »Dann benehmen Sie sich wie ein vernunftbegabter Mensch und nicht wie eine Bordsteinschwalbe. Verdammte Scheiße noch mal!«, schoss es aus ihm hervor, bevor ihm seine Wortwahl bewusst wurde. »Wäre es zu viel verlangt, wenn Sie einfach sagen würden „Herr Baumann, ich ziehe mich um. Behalten Sie bitte Ihren Blick auf der Straße und nicht im Rückspiegel“«, versuchte er zu retten, was noch zu retten war.

»Bordsteinschwalbe!« Helena hatte das Gefühl, ihre Atmung müsse aussetzen. Wirklich! Was, zum Henker, nahm sich dieser Kerl noch heraus! »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, mein Herr! Und jetzt rate ich Ihnen eines! Ein Wort noch und Sie steigen hier auf der Stelle aus.«

Ein wütender Blick traf im Rückspiegel den anderen. Er schlug mit dem Handrücken gegen denselben, dass es einem Wunder gleichkam, dass dieser nicht abbrach. Christoph trat erneut das Gaspedal durch und nahm sich fest vor, auf keinen weiteren Mucks von ihr zu reagieren. Sollte sie sich doch in Sauer legen, diese … diese …

Der Wagen schoss über die Ortsumgehung gen Norden.

Irgendwann, als er sich sicher sein konnte, dass sie ihre Umkleidezeremonie beendet hatte, richtete er den Rückspiegel ein und konzentrierte sich gleich wieder auf den Verkehr. In ihm kochte es noch immer leidenschaftlich. Doch den Erfolg wollte er ihr nicht gönnen. Selbst als sie von sich aus versuchte, ein unverfängliches Gespräch aufzunehmen, schwieg er eisern und fragte erst, als sie das Stadtgebiet Kopenhagens erreichten, welche Adresse er ansteuern solle.

Sie nannte sie ihm und fügte etwas kleinlaut hinzu: »Ich wollte Sie vorhin nicht so anfahren. Sie haben ja recht mit Ihrem Vorwurf. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich mich umziehe.« Sein wütender Blick änderte sich keine Spur, erkannte Helena in diesem vermaledeiten Rückspiegel.

»Wünschen Sie, dass ich vor der Firma auf Sie warte, oder soll ich schon im Hotel einchecken?«

Über Helenas Rücken lief ein Schauer. So eine harte und unversöhnliche Stimme hatte er ihr gegenüber noch nicht angeschlagen. Dabei tat es ihr doch wirklich leid. Doch sie würde hier nicht vor ihm zu Kreuze kriechen. Darauf konnte der Herr lange warten. »Bringen Sie bitte die Sachen in unser Hotel und seien Sie in zwei Stunden wieder vor Ort.«

Er quittierte ihre Anweisung mit einem stummen Nicken. Der Wagen glitt durch den Straßenverkehr, als würde er jede Woche mit ihm durch Kopenhagen fahren. Dabei schien er sich noch nicht einmal nach dem Navi zu richten. Innerhalb weniger Minuten hatten sie die genannte Adresse, ein luxuriöses Geschäftshaus in der City, erreicht.

»Entschuldigen Sie bitte, dass es doch drei Stunden und neunundzwanzig Minuten geworden sind. Sie können mir die zwei Minuten vom restlichen Gehalt abziehen.« Er hatte ihr die Tür geöffnet und sah demonstrativ an ihr vorbei. »In zwei Stunden werde ich vor Ort sein. Viel Erfolg.«

Er ließ sie stehen und umrundete den Wagen. Über das Dach hinweg maßen sich kurz ihre Blicke, dann stieg er ein und entschwand im Feierabendverkehr der dänischen Hauptstadt. Ein erneutes Frösteln ließ Helena spüren, wie sehr sie ihn mit ihren Worten und der Drohung getroffen hatte. Verunsichert umfasste sie den Griff ihres schweren Aktenkoffers und betrat das Gebäude der angesehenen, weltweit operierenden Großspedition.

* * * * *

Wenn es in Christoph auch noch unendlich rumorte, so kam er nicht umhin, ihren Stil und ihr Standesbewusstsein zu bewundern. In einer ihrer wenigen Bemerkungen hatte sie ihm vorhin mitgeteilt, dass Frau Dombrowsky die Zimmer im Hotel „Kong Frederik“ gebucht hatte. Das Ambiente, musste er unumwunden feststellen, war wirklich königlich. Er checkte ein und trug ihre Koffer in eine geschmackvoll eingerichtete Suite. Diese Räume waren wirklich auf Ihre Hoheit zugeschnitten. Sein eigenes Zimmer war einem Lakaien angemessen, ging aber wenigstens auf den ruhigen Innenhof hinaus. Er gönnte sich den Luxus und legte sich für eine Stunde aufs Bett. Doch die Ruhe wollte sich nicht einstellen. Vielmehr steigerte er sich weiter in seinen Groll hinein. Aber verdammt noch mal, sie hatte wirklich eine tolle Figur und ihre Brüste waren wie die einer Zwanzigjährigen.

* * * * *

Frau Reckenhusen schien sich noch immer in den Verhandlungen zu befinden, musste Christoph feststellen, als er zur verabredeten Zeit vorfuhr. Hoffentlich zog sich das nicht in die Länge. So langsam spürte er nämlich, dass er seit heute Morgen nichts in den Magen bekommen hatte. Sein Versäumnis, dass er nicht zum Essen gegangen war, als es möglich war, konnte er ihr nun wirklich nicht anlasten. Er begab sich ins Foyer und suchte den Pförtner auf, der ihm versicherte, dass der Vorstand der Firma noch tagte. Eine weitere geschlagene Stunde zog ins Land, ehe sie sichtlich erschöpft in Begleitung eines gut situierten Mannes erschien.

»Haben Sie alles finden können, Herr Baumann?«

»Ja, gnädige Frau. Ihre Suite wartet auf Sie. Ruhige Hinterhoflage.«

»Danke.« Sie wandte sich dem Geschäftsmann zu. »Herr Sörensen, wir sehen uns dann morgen um zehn Uhr, um die restlichen Formalitäten zu besprechen. Es war ein netter Nachmittag mit Ihnen. Ich freue mich bereits auf den morgigen Tag.«

Der graumelierte Herr deutete einen eleganten Handkuss an und verabschiedete sie im makellosen Deutsch. »Es war nett mit Ihnen. Ich freue mich wirklich, dass wir miteinander ins Geschäft kommen. Und bitte, Sie würden mich sehr glücklich machen, wenn Sie meine Einladung für morgen Abend annehmen. Turandot von Puccini soll eine hervorragende Inszenierung sein.«

»Turandot. Desdemona … was wäre passender auf Madame zugeschnitten«, murmelte Christoph vor sich hin und kassierte den giftigen Blick seiner Chefin, die sehr wohl verstanden hatte, wie es gemeint war.

»Ja gern, Herr Sörensen. Ich freue mich schon auf einen schönen Opernabend.« Sie drückte ihrem Chauffeur den Aktenkoffer in die Hand und strebte mit einem vielversprechenden Lächeln an die Adresse des Geschäftsmannes dem Ausgang zu.

Christoph öffnete ihr die Tür, umrundete das Heck und pfefferte ihr von der anderen Seite her den Koffer auf die Rückbank. Wortlos warf er sich hinter das Lenkrad und steuerte erneut den mittlerweile bekannten Weg zum Hotel an.

»Immer noch stinkig wegen heute Mittag?« Helena, die mittlerweile erkannt hatte, wie sehr sie überreagiert hatte, startete einen erneuten Versöhnungsversuch. Sein Schweigen war Antwort genug und verhagelte ihr die Vorfreude auf den sich anbahnenden geschäftlichen Erfolg. »Christoph, nun seien Sie doch bitte nicht mehr böse mit mir.« Doch er konzentrierte sich nur noch verbissener auf einen Verkehr, der kaum vorhanden war. Herrgott, was war das nur für ein sturer Kerl! »Sagen Sie mir wenigstens, ob das Hotel einen annehmbaren Eindruck macht. Und wo man noch etwas Anständiges zu essen bekommt.«

»Frau Dombrowsky hat eine vortreffliche Wahl getroffen, gnädige Frau. Ihre Suite lässt keine Wünsche offen. Ihre Koffer habe ich hinaufgebracht. Sie haben aber bitte Verständnis dafür, dass ich die Kleidung nicht auch noch ausgepackt habe.« Zynisch steuerte er nach. »Ich möchte mich schließlich nicht erneut einem Sexismusverdacht aussetzen.«

Helena vermied es wohlweislich, auf seine revanchistische Bemerkung zu reagieren. Obwohl sie ihm dafür am liebsten eine Ohrfeige versetzt hätte. Dieser blöde Kerl!

Von der Hotelgarage aus fuhren sie in den zweiten Stock. An der Tür zu ihrer Suite übergab er ihr Schlüsselkarte und Aktenkoffer und wünschte ihr eine angenehme Nachtruhe.

»Christoph, so warten Sie doch bitte«, rief sie ihn zurück und erreichte wider Erwarten sogar sein Wahrnehmungszentrum. »Ich würde gern noch etwas Essen gehen. Und so … so giftig, wie Sie noch immer reagieren, scheinen Sie auch nichts im Bauch zu haben.« Zum ersten Mal, registrierte sie, kroch ein vages Lächeln um seine Mundwinkel. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mich begleiten. Sagen wir in einer halben Stunde?« Er nickte stumm. »Ich hole Sie auch ab?«

»Zimmer 103«, sagte er knapp und begab sich zum Lift.

Nachdenklich sah Helena ihm hinterher, wobei ihr ein Leitsatz in den Sinn kam, den ihr Vater ihr seit ihrer Jugend ständig predigte: Stell dich mit dem Personal gut und sie werden für dich alles Menschenmögliche leisten. Bei Christoph Baumann hatte sie darin bislang wohl völlig versagt.

Christoph hatte geduscht und fühlte sich danach, zumindest ein wenig, mit sich und der Welt im Reinen. Blieb nur noch dieses eine klärende Gespräch. So ließ er jedenfalls nicht weiter mit sich umspringen. Scheiß auf die Wette, fluchte er innerlich. Es klopfte.

»Sind Sie bereit?« Sie stand in seiner Tür und bot ihm einen atemberaubenden Anblick. Das betont knappe „kleine Schwarze“ stand ihr perfekt. Ein zarter, gleichfarbiger Seidenschal lockerte die Schlichtheit auf. Sein schimmernder Glanz wetteiferte mit den langen Ohrringen, die durch ihr offenes, wallendes Haar hindurchblitzten.

»Ja«, stand ihm nur ein verlegenes Räuspern zur Verfügung. Dann fand er doch noch ein bewunderndes: »Sie sehen wunderschön aus.«

Täuschte er sich, oder errötete sie wirklich?

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Sonst sehe ich Sie ja immer nur in ihrer „affigen“ Uniform.« Sie schenkte ihm ein befreites Lachen und hakte sich bei ihm ein. »Nun kommen Sie! Lassen Sie uns zusehen, dass wir endlich ins Restaurant kommen. Ich könnte einen Ochsen verspeisen.«

Es war angenehm, sich an so einer starken Schulter zu wähnen, dachte Helena auf dem Weg zum Lift. Wenn diese Schulter auch steif wirkte. Wie letztens, als sie miteinander an der Alster spazieren gegangen waren. Sein Groll ihr gegenüber war längst nicht abgeklungen.

Der Ober geleitete sie an einen Tisch in Fensternähe. »Darf ich Ihnen die Empfehlung des Hauses vortragen?«

»Gern, aber wir würden trotzdem gern in die Karte schauen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau.« Er trug ihnen das Tagesmenü vor und reichte die ledergebundenen Speisekarten. »Darf es ein Aperitif sein?«

»Ja, bitte.« Helena Reckenhusen schlug die Karte auf und warf ihrem Begleiter einen fragenden Blick zu. »Bitte, Herr Baumann. Bestellen Sie sich, worauf sie Appetit haben, die Firma zahlt.«

Christoph nickte und tat es ihr nach. Bereits beim nachmittäglichen Studium war ihm das Wasser im Munde zusammengelaufen. Die Preise waren jedenfalls gepfeffert. »Es hört sich alles vielversprechend an. Ich wäre wohl mit allem zufrieden.«

»Gut, aber beschweren Sie sich nicht, wenn ich Ihnen kein blutiges Steak bestelle«, sagte sie gut aufgelegt und sah dem Kellner entgegen. In perfektem Dänisch bestellte sie für sie beide die gefüllte zarte Putenbrust und sah dann ihren Begleiter auffordernd an. »Den Wein bestellen Sie.«

»Okay«, er versicherte sich nochmals anhand der Karte. »Ich würde einen Weißwein vorschlagen.« Er sah zum Ober auf. »Den 2009er Lomond Sauvignon Blanc. Beziehen Sie den direkt vom Erzeuger?«

»Von einem Direktimporteur.«

»Gut, dann schlage ich vor, dass wir eine Flasche nehmen.«

»Einen Südafrikaner.« Sie musterte ihn überrascht und stellte anerkennend fest. »Sie haben einen erlesenen Geschmack.«

»Das habe ich meinem ehemaligen Chef zu verdanken. Piet mochte nie allein essen gehen. Sein Unterricht in den Genüssen des Lebens war nicht vergebens«, verriet er ihr mit einem Hauch Wehmut in der Stimme, ehe er sich auf ein völlig anderes Thema besann. »Mir fällt auf, dass Sie offenbar perfekt Dänisch sprechen.«

»Und fünf weitere Sprachen«, gestand sie ihm mit einem verlegenen Lächeln. »In meiner Stellung erwarten es die Geschäftspartner, dass man sich in ihrer Muttersprache verständigen kann. Es beeinflusst den Geschäftsabschluss zumindest positiv. Beherrschen Sie auch das Dänische?«

Er winkte bescheiden ab. »Ich kann eigentlich nur einen Satz so richtig. Der mich aber durch ganz Dänemark bringen würde: Hey smukke pige, jeg elske dig.« Das verräterische Leuchten in ihren Augen versuchte er bewusst zu übersehen.

»Jeg tror med denne indstilling og udstråling du har, vil du have rigtig meget succes.« Sein irritierter Blick entlockte Helena ein herzhaftes Lachen. Dabei wäre sie, hätte sie geahnt, wie gut er selbst Dänisch sprach, vor Scham im Erdboden versunken. Ihr befreit wirkendes Lachen überzeugte ihn endgültig davon, dass sie es wert war, ihr Chauffeur zu bleiben. Er verbarg sein Wissen über ihr freimütiges Geständnis und spielte weiterhin den Ahnungslosen. »Davon habe ich nun aber auch alles verstanden. Irgendetwas mit einer Einstellung, oder?«

»Ja. So in etwa.« Sie versank in seinen Blicken und sagte leise und aufrichtig: »Chris, es tut mir wirklich leid, dass ich Sie vorhin so angefahren habe. Der Schrecken, und … Es war mir echt peinlich, dass Sie mich so sehen mussten.«

»Mit Verlaub, da muss Ihnen nichts peinlich sein. Ich war nur völlig überrascht. Es tut mir leid, aber ich bin nun mal kein Achtzigjähriger und habe komische Gedanken, wenn sich meinen Augen plötzlich so etwas darbietet.«

»Ja, ich hätte Sie darum bitten müssen, einmal für ein paar Minuten nach vorn zu schauen. Das kommt bestimmt nie wieder vor, dass Sie sich eine alte, halbnackte Frau ansehen müssen.«

»Alte Frau! Mein Gott, wenn ich jetzt nicht aufpasse, rede ich mich erneut um Kopf und Kragen.« Er wurde ernst. »Auf jeden Fall möchte ich mich ganz ehrlich für die „Bordsteinschwalbe“ entschuldigen. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam und wie ich das ungeschehen machen kann.«

»Ja, diese Titulierung hat mich wirklich sehr getroffen.«

»Das glaube ich Ihnen. Aber Sie können ebenso gut austeilen. „Sexistisches Ferkel“ macht sich nicht gut in meinen Zeugnissen.«

»Na, dann sind wir ja quitt. Schließen wir wieder Frieden?«

»Gut, versuchen wir es noch einmal miteinander«, stimmte er ihr zu und probierte den Wein, den der Ober ihm zu kosten anbot.

Es wurde ein schöner Abend, an dem sie vorzüglich miteinander speisten und nicht nur die eine Flasche Wein genossen.

Leicht angesäuselt ließ Helena sich zu ihrer Zimmertür geleiten und sah ihm tief in die Augen, während ihre Finger blind in der Handtasche nach der Schlüsselkarte suchten. »Chris, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Es war ein wirklich schöner Abend. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten.«

»Ich habe zu danken«, murmelte er leise und berührte sachte ihre Schulter. »Bis morgen früh dann. Halb neun?«

»Ja. Holen Sie mich zum Frühstück ab?«

Er nickte und schenkte ihr nochmals ein versöhnliches Lächeln, dann drehte er ab und begab sich zum Lift, der noch immer auf ihrer Etage stand. Die sehnsuchtsvollen Blicke, die sie ihm nachsandte, entgingen ihm unweigerlich.

Kapitel 6

Es war, als hätte sie längst hinter ihrer Zimmertür gewartet, vermutete Christoph, als sich diese beim ersten Klopfen öffnete.

»Guten Morgen, Herr Baumann. Haben Sie gut geschlafen?«

Sie klang fröhlich. Aber er kannte mittlerweile ihr bevorzugtes Spiel. Sobald er seine Uniform trug, waren sämtliche Gemeinsamkeiten vergessen und ungeschehen. »Ja, guten Morgen, Frau Reckenhusen. Ich hoffe, Sie hatten ebenfalls eine gute Nacht. Heute wird’s spannend, oder?«

»Nicht so spannend, wie Sie vermuten. Die Anwälte sitzen zusammen und klären alles Erdenkliche. Ich bin nur noch für die Unterschriften zuständig.«

»Nun fangen Sie nicht an tiefzustapeln«, korrigierte er sie und betrat neben ihr den Lift. »Einiges ist von meinem Studium noch hängen geblieben. Es gehört schon etwas mehr als Glück dazu, ein Unternehmen wie das Ihrige in der heutigen Zeit erfolgreich am Markt zu halten.«

»Und Sie stapeln nun ein wenig hoch«, konterte sie, freute sich aber doch über sein Lob. »Nun ist Schluss, ich habe Hunger.«

Die Uhr zeigte bereits nach zehn, als Christoph den Wagen aus der Tiefgarage fuhr, damit seine Chefin repräsentativ vor dem Entree zusteigen konnte.

»Wie sieht unser Tagesablauf aus?« Christoph hatte es vermieden, sie bereits beim Frühstück danach zu fragen. Das hätte nicht in seine kleine Fantasiewelt hineingepasst, in der er ihr gleichberechtigt gegenübergesessen hatte. Als Liebespaar … oder Ähnliches?

»Ich gehe davon aus, dass wir die Verhandlungen bis fünfzehn Uhr abgeschlossen haben. Ich rufe Sie an.«

»Soll ich bis dahin im Hotel ausgecheckt haben?«

»Nein, ich fürchte, dass ich Sörensens Einladung nicht so einfach ablehnen kann.«

»Turandot.«

»Ja«, Helena erinnerte sich an seine bittere Bemerkung von gestern Nachmittag. Dass er sie mit Desdemona verglich, tat ihr selbst jetzt noch weh. »Halten Sie sich bitte bereit, mich nach Abschluss der Verträge ins Hotel zu fahren. Ich möchte, dass Sie Herrn Sörensen und mich heute Abend chauffieren. Also nehmen Sie sich eine Mütze voll Schlaf. Es kann recht spät werden.«

Das befürchte ich auch, dachte Chris bei sich. Die Blicke, mit denen dieser „Nobelmensch“ Helena gestern verschlungen hatte, ließen sich nicht schönreden. »Ich stehe bereit. Für alles, was kommen mag.«

Ihre Blicke trafen sich erneut im Rückspiegel. Verstehend, ohne weitere Worte.

* * * * *

Christoph genoss den fast freien Tag in Kopenhagens Altstadt und dem alten Hafen. Wenn auch mit gemischten Gefühlen. Wie schön wäre es gewesen, hier bei sonnigem Wetter gemeinsam mit Helena Arm in Arm spazieren zu gehen. Dieser Gedanke kam ihm nicht wenige Male. Und immer wieder diese alles zerstörende Gewissheit, dass er sich nicht in sie verlieben durfte. Nicht solange die Wette lief. Und danach …? Eine Helena Reckenhusen war nicht die Frau, die sich ungestraft zum Kernpunkt einer idiotischen Wette machen ließ. Auch nicht nachträglich. Nein, die Chance auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr hatte er sich auf ewig vermasselt. Also hieß es, die Zähne zusammenbeißen und sich solche Träume von der Backe zu schminken.

Die Zeit verging, doch ihr Anruf blieb aus. Besorgnis machte sich in ihm breit und ließ ihn das Verwaltungsgebäude aufsuchen, in dem man offenbar noch immer tagte. Die Uhr zeigte nach sechzehn Uhr, als sie müde und schlecht gelaunt mit einem Rudel Anzugträger im Foyer erschien. Die Dänen verabschiedeten sich von ihr und den Anwälten der Firma Reckenhusen. Nachdem die Hausherren gegangen waren, ergab sich zwischen den Vieren eine hitzige Diskussion. Bis Helena ihre Anwälte einfach stehen ließ und energisch auf ihren Chauffeur zustrebte.

»Blöde Bande von Tagedieben«, fluchte sie wütend und ließ aus, wen sie damit meinte.

»Änderungen im Ablauf?« Chris nahm ihr den schweren Aktenkoffer ab und hielt die Tür auf. »Eine Gewinnerin sieht anders aus.«

»Ja! Die Verträge sind noch immer nicht unterschrieben. Die Rechtsverdreher haben hier und da ihre Einwände. Nächster Termin, morgen fünfzehn Uhr.«

Er zwinkerte ihr vertrauensvoll zu. »Machen Sie sich nichts daraus. Wir werden die Zeit schon totschlagen. Der Opernabend wird Sie bestimmt für den Ärger entschädigen.«

Sie sah ihn wenig überzeugt an, dankte ihm aber für den Versuch, in allem etwas Positives zu sehen. »Gut, fahren wir ins Hotel. Ich habe Herrn Sörensen versprochen, dass ich ihn um neunzehn Uhr abhole.«

Chris nickte nur und behielt seine Meinung über diesen Herrn weiterhin für sich.

»Haben Sie wenigstens einen schönen Tag gehabt?«

»Ja, geht schon. Eine interessante Stadt allein zu entdecken, macht eben wenig Spaß.«

»Sie können es mir glauben: Ich wäre heute viel lieber mit Ihnen durch die Straßen und Gässchen geschlendert. Meinen Sie, wir können das morgen ein wenig nachholen?«

»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Doch nun sollten wir zusehen, dass Sie sich in die Königin aller Opern verwandeln«, bestimmte er und bemerkte im Spiegel, dass sie zum ersten Mal wieder lächelte.

Während sie sich eine Etage höher für den Abend stylte, befragte Christoph Stadtplan und Internet, welches die besten Routen zu Sörensens Villa am Stadtrand Kopenhagens und von dort aus zum Kongelige Teater auf der Stadtinsel Holmen waren. Das würde echt knifflig werden. Aber es machte Spaß und er genoss ehrlich ihre Bewunderung, wenn sie wieder fasziniert feststellte, wie genau seine Zeitangaben zutrafen. Das Haustelefon riss ihn aus seinen Gedanken. Sie war dran und bat ihn, in fünf Minuten vorzufahren.

Helena ließ sich vom Hotelbediensteten die Tür zur Limousine aufhalten und bemühte sich, möglichst elegant und knitterfrei einzusteigen. Der bewundernde Blick ihres Chauffeurs tat ihr unendlich wohl und brachte sie zum Schmunzeln. »Baumann, machen Sie den Mund zu. Das bin nur ich.«

»Aber was für ein Ich! Verzeihen Sie mir, aber Sie sehen einfach wunderschön aus.« Viel zu schön für diesen alten Sack, ergänzte Christoph im Stillen.

»Kennen Sie den Weg zur Villa Sörensen? Ach, wie ich Sie kenne, ist es wieder eine dumme Frage.«

»Wir werden gegen 19 Uhr vorfahren. Hoffentlich ist ihr Gastgeber pünktlich, sonst könnte es knapp werden. Wir müssen praktisch durch die ganze Stadt zurück.« Erneut nahm er sie und ihre Ausstrahlung in sich auf und dachte mit einer Spur von Traurigkeit daran, dass nicht er der Grund für ihr Auftreten war.

»Christoph, was ist mit Ihnen? Habe ich unbewusst wieder etwas Falsches gesagt?«

»Nein, keineswegs. Es ist nur … es geziemt sich nicht, dass ich meine Meinung über Ihre Geschäftspartner kundtue.«

»Sie mögen Sörensen nicht.«

»Er hat etwas an sich, das mich beunruhigt.« Chris musste an sich halten, ihr nicht seine ganze Besorgnis zu offenbaren.

»Ich verstehe, was Sie meinen.« Sie schenkte ihm ein leises, zuversichtliches Lachen. »Seien Sie unbesorgt, Christoph. Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen. Sörensen wäre nicht der erste Möchtegerncasanova, der sich bei mir Chancen ausrechnet.«

Christoph nickte, wenn auch wenig beruhigt. »Ich werde trotzdem versuchen, in Ihrer Nähe zu bleiben.«

Sie holten Helenas Geschäftspartner ab und fuhren umgehend in Richtung Holmen. Während der Fahrt schien Kurt Sörensen sehr bemüht, sich als offenherziger und charmanter Gastgeber zu geben. Die Komplimente, die er seinem Gast machte, waren erlesener Natur und ließen selbst einen Ex-Charmeur, als den Christoph sich selbst bezeichnete, das eine oder andere Kunststücke lernen. Die Unterhaltung im Fond wurde in makellosem Dänisch geführt. Bei dem beide offensichtlich davon ausgingen, dass ihr Chauffeur nichts verstand. Christophs Befürchtungen bekamen neue Nahrung, als Sörensen nebenbei fallen ließ, dass sich seine Gattin nebst Freundin derzeit auf einem einwöchigen Mallorcatrip befände.

»Frau Reckenhusen, wir haben unser Ziel erreicht«, platzte er in die Unterhaltung. »Wann wünschen Sie, dass ich mich bereithalte?«

»Seien Sie in zweieinhalb Stunden hier«, wies Sörensen ihn an ihrer Stelle an. »Pünktlich!«

Während dieser den Wagen umrundete, sahen sich die Verbliebenen schweigend an. Es war Chris, der den Blickkontakt mit einem Gefühl der Ohnmacht abbrach.

Einen Parkplatz zu finden, war ausnahmsweise keine Schwierigkeit. Außer dem pompösen Opernhaus gab es kaum weitere Gebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft. Eines davon war ein Hotdog-Häuschen, das sich bei den dänischen Kollegen offenbar großer Beliebtheit erfreute. Den Kollegen aus dem Süden integrierte man gern im Gesprächskreis. Zumal der Tyskerne ein selten gutes Dänisch sprach. Wenn auch die Geschichten, die man sich über Kurt Sörensen erzählte, dem Deutschen weniger gefielen.

* * * * *

»Helena, Schatz aus dem sonnigen Süden. Wohin darf ich Sie nun geleiten?« Kurt Sörensen gab sich beschwingt und voller Tatendrang, als er die attraktive Frau über die Stufen hinweg zum wartenden Wagen führte.

»Kommen Sie, Mann! Seien sie etwas zügiger«, scheuchte er den Fahrer wie einen Domestiken aus alten Zeiten, als es ihm zu langsam ging.

»Kurt, seien Sie mir bitte nicht böse, wenn Herr Baumann mich zuvor im Hotel absetzt, ehe er Sie nach Haus fährt. Es war ein wirklich wunderschöner Abend, aber ich bin nun doch erschöpft und habe zudem rasende Kopfschmerzen.«

»Nichts da, liebste Helena! Sie müssen mich wenigstens noch heimbegleiten. Es gibt noch ein paar Dinge mit Ihnen zu besprechen. Dinge, die ich ungern unseren Anwälten überlassen möchte. So viel Durchhaltevermögen sind Sie mir schuldig.«

»Gut, aber fassen Sie sich bitte kurz«, gab Helena sich geschlagen und ließ sich seufzend in die Polster fallen.

Während der Fahrt durch das nächtliche Kopenhagen führte Sörensen praktisch eine Alleinunterhaltung über die Aspekte ihrer neuen Zusammenarbeit. Einmal nur trafen sich die Blicke von Fahrer und Chefin. »Rette mich«, schien sie zu sagen. Aber wie? Christoph tat das einzig Mögliche in dieser Situation. Er fuhr schneller, als die Polizei erlaubte.

»Sind wir denn schon da?« Kurt Sörensen war gerade in seinem Lieblingsthema, dem Outsourcing, aufgegangen, als dieser Mensch verkündete, sie wären angelangt. »Helena, ein Gläschen Champagner müssen Sie aber noch mit mir teilen.« Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.

»Aber nur eines, dann möchte ich wirklich zurück in mein Hotel.« Sie wandte sich an ihren Chauffeur. »Herr Baumann, Sie erinnern mich bitte daran, sollte ich nicht zurückkehren.«

»Sehr wohl, gnädige Frau. In fünf Minuten läute ich Sturm.« Er öffnete ihr die Tür, und berührte sachte ihre Schulter, während sie ausstieg. Seinen Blick voll aufgewühlter Emotionen konnte sie zwangsläufig nicht bemerken.

Ein Einschreiten seinerseits erübrigte sich. Wenige Minuten, nachdem Helena durch die protzige Villentür ins Haus getreten war, kehrte sie eilends zurück. Den völlig konsternierten Hausherrn im Gefolge. Christoph bewegte sich mit geballten Fäusten auf den Mann zu, als sie ihm zitternd in die Arme fiel.

»Jonas hat eben angerufen. Ihm geht es dreckig, wie er sich ausdrückte. Vierzig Grad und mehr Fieber. Christoph, was kann ich nur von hier aus unternehmen?«

Ein guter Trick, fand Christoph. Doch das Zittern und ihr panischer Blick, den nur eine zutiefst besorgte Mutter besaß, ließen ihn stutzen. Das war nicht gespielt. »Einen Krankenwagen«, schlug er vor und führte sie zum Wagen.

»Der war bereits am Abend da. Der Arzt meinte nur, es wäre wohl eine nahende Grippe und hat Jonas Medikamente verabreicht«, berichtete Helena atemlos. »Seitdem steigt seine Temperatur stetig. Auch Gisela klang sehr besorgt. Sie macht ihm laufend Umschläge.«

»Ab ins Auto«, bestimmte Chris entschlossen und trat dem sichtlich verstörten Geschäftsmann in den Weg. »Sie haben sicher Verständnis, dass Frau Reckenhusen sich um ihren Sohn kümmern muss. Morgen wird sie zum Vertragsabschluss rechtzeitig hier sein.« Chris bugsierte die bebende Frau auf den Rücksitz der Limousine und beeilte sich, nicht noch mehr Zeit verstreichen zu lassen.

Der Kies der Auffahrt trommelte gegen die Radkästen, als er den Wagen aus dem Stand beschleunigte und einen vor Staub und Steinschlag flüchtenden Millionär zurückließ.

»Christoph.« Helena hatte schwer mit den Tränen zu kämpfen. »Was können wir denn jetzt tun? Ich habe solche Angst um Jonas. Er ist nicht der Typ, der die Hühner unnötig scheu macht.«

»Da gibt es nur eines. Eben das, was eine Mutter unweigerlich macht.« Chris steuerte den Wagen bereits auf den nächsten Autobahnzubringer. »Schließ die Augen und versuche ein wenig Kraft zu schöpfen. Alles andere erledige ich.« Niemandem fiel auf, dass er sie liebevoll duzte. Die Zeiger der Borduhr näherten sich gegen Mitternacht. Gelegenheit, endlich einmal zu testen, was in diesem Wagen wirklich steckte.

Keine zwei Stunden später brachte Christoph die schlaftrunkene Frau zum Portal und übergab sie an die Haushälterin. »Gisela, sieh bitte zu, dass du die beiden wieder aufpäppelst«, bat er die Haushälterin, die er kurz zuvor mit einem Anruf aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen hatte. »Ich lege mich derweil ein wenig aufs Ohr. Morgen, gegen elf, muss ich die Chefin wieder nach Kopenhagen bringen.«

»Ist denn mit dir alles in Ordnung, Chris? Du siehst völlig fertig aus.«

»Mit mir ist alles okay. Sieh nur zu, dass Walter mich spätestens um neun aus dem Bett bekommt und die beiden da oben wieder fit werden. Danke.« Er taumelte zum Wagen zurück und fuhr zu den Garagen.

* * * * *

Helena hatte das befreiende Gefühl, trotz des wenigen Schlafs frisch und ausgeruht zu sein. Nun wo ihr Hausarzt heute Morgen eilends gekommen war, um, wie er anschließend schmunzelnd erklärte, den armen Jonas vor dem sicheren Tod zu retten, war ihr Kopf endlich wieder frei und sie konnte sich fragen, was geschehen war. Sie sah der staubigen Limousine entgegen, mit der Christoph nun vorfuhr. Grenzlose Dankbarkeit überflutete ihr Herz, als sie realisierte, was Christoph in der vergangenen Nacht für sie getan hatte. Selbst nach dem, wie sie ihn behandelt hatte.

»Guten Morgen.« Sie öffnete die Beifahrertür, ehe er sich aus seinem Sitz quälen konnte. Sein übernächtigtes Gesicht vertiefte ihre Besorgnis. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen nach vorn setze?«

»Guten Morgen, Frau Reckenhusen. Ist mit Jonas alles in Ordnung?«, überging er ihre Frage und fuhr an.

»Unser Doktor hat eine Angina tonsillaris festgestellt. Aber nun scheint Jonas endlich auf die Medikamente anzusprechen.«

»Dann hat es sich ja mehrfach gelohnt, dass wir so schnell zurückgekommen sind. Sie sehen heute bedeutend besser aus als das arme Häuflein Elend von letzter Nacht.«

»Chris, ich war so manches Mal richtig garstig zu Ihnen. Aber das, was Sie für mich heute Nacht getan haben, das werde ich Ihnen nie vergessen.«

»Nicht der Rede wert«, tat er ab, »Sie hätten das Gleiche doch auch für mich getan. Außerdem haben wir Sie so vor einem stadtbekannten Frauenhelden gerettet.«

»Der hatte wirklich vor, mich zu verführen. Können Sie sich das vorstellen!«

Chris lag so etwas auf der Zunge, dass er es Sörensen nicht verdenken könne, aber er wollte das gute Verhältnis nicht gleich wieder mit einem seiner verbalen Fehltritte zerstören. »Ja, das war diesem Lustmolch von vornherein anzusehen.«

»Warum bemerke ich so was nicht?«

»Vielleicht, weil Sie noch immer zu sehr an das Gute im Menschen glauben? Außerdem … Männer ticken so, wenn sie eine hübsche Frau sehen. Das ist nun mal ihr Jagdinstinkt.«

»Alle Männer?« Sie sah ihn von der Seite her herausfordernd an.

Er schmunzelte und blickte starr auf die Straße vor sich. »Ich kenne keinen, der eine Ausnahme bildet. Das ist ihr genetischer Code. Fangen oder erlegen, das ist das Beuteschema, nach dem sie evolutionsbedingt agieren müssen.«

»Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen«, versprach sie mit einem geheimnisvollen Unterton.

Chris musste unbedingt zusehen, dass sie das Thema wechselten. »Bevor wir auf die Autobahn gehen, muss ich noch tanken. Am liebsten würde ich auch noch den Wagen waschen, aber dafür fehlt uns wohl die Zeit.«

»Da vorn ist schon eine.« Helena deutete schräg nach vorn und ergriff ihre Handtasche. »Brauchen Sie sonst noch etwas? Haben Sie überhaupt gefrühstückt?«

»Gisela hat mich reichlich verwöhnt.«

Gleich nachdem er gehalten hatte, huschte sie hinaus. Christoph begab sich an die Zapfsäule, wobei seine Blicke mit etwas ganz anderem beschäftigt waren. So wie sie sich in ihrem engen Kostüm und mit den hochhackigen Schuhen elegant zum Shop bewegte. „Jäger und Sammler“, kam es ihm erneut in den Sinn. Nie zuvor war es ihm so bewusst geworden wie in diesem Moment. So sehr er sich dagegen zu wehren versuchte, umso mehr scherte sich sein Herz einen Dreck drum. »Helena, ich habe mich unsterblich in dich verliebt.«

Mit einer Wirtschaftszeitung, Schokolade und einem Beutel Süßigkeiten kehrte Helena zurück und setzte sich erneut an seine Seite. »Ich habe uns ein wenig Nervennahrung besorgt. Aber wehe, Sie erzählen zu Haus, dass ich eine Naschkatze bin.« Sie riss die Tüte auf und fütterte ihn ungefragt mit einem Weingummi. Seine erstaunlich zarten Lippen berührten dabei ihre Fingerspitzen und sandten ein Kribbeln durch ihren Körper, das man nur mit einem Stromschlag vergleichen konnte. Verwirrt suchte sie nach einem Thema, das ihn nicht spüren ließ, wie sehr sie diese Berührung empfunden hatte. »Meinen Sie, wir kommen heute gut durch?«

Er kaute und schluckte, bevor er antwortete. »Es könnte knapp werden. Heute Nacht habe ich gesehen, wie sie eine Riesenbaustelle in Richtung Kopenhagen eingerichtet haben. Wir sollten nicht trödeln.«

»Chris, wie machen Sie das eigentlich? Ich meine, dass Sie fast immer pünktlich ankommen. Ich überlege wirklich, ob ich Sie nicht auch noch als meinen persönlichen Terminplaner beschäftigen sollte.«

»Nein, das klappt nur beim Autofahren. Und da auch nicht immer. Es ist immer eine Wette, die ich mit mir selbst abhalte. Wenn ich auch zugeben muss, dass mir ihre Bewunderung guttut.«

»Ich bewundere Sie auch so.«

Er spürte ihren eindringlichen Blick, mit dem sie ihn musterte. Ihm war sehr wohl bewusst, woran sie dachte, und doch reizte es ihn, sie danach zu fragen. Ahnte sie bereits, wer er wirklich war?

Sie waren beinahe schon auf der Höhe Quickborn, als Helena offenbar zu einem Ergebnis kam. Vorher fütterte sie ihn erneut mit dem vermeintlichen Muntermacher und auch dieses Mal berührten ihre Fingerkuppen seine Lippen, strichen sogar länger als gewöhnlich über sie. Oder war das einfach nur Wunschdenken?

»Kann es wirklich sein, dass wir uns erst zwei Wochen kennen? Mir kommt es oft so vor, als wären wir seit Monaten zusammen.«

Chris gönnte ihr einen freundlichen Seitenblick und konzentrierte sich dann wieder auf den zäh fließenden Verkehr. »Ja, mir geht es ebenso. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns ganz gut ergänzen. Sie ertragen meine Kodderschnauze und ich die Zicke in Ihnen.«

»Ja« Sie musste herzhaft lachen und ergänzte mit blitzenden Augen: »Fast wie ein altes Ehepaar, näch?« Schlagartig wurde ihr bewusst, was sie soeben von sich gegeben hatte. Oh Gott, wie kam sie nur aus dieser Nummer heraus. »Wie machen wir das eigentlich mit dem Auschecken im Hotel? Ach, und Katja! Sie wollte doch heute zurückkommen. Wir sind doch nie und nimmer pünktlich zurück!«

Christoph war ihr dankbar, dass sie das heikle Thema schnell wechselte. »Ist alles geregelt. Ich habe einen zuverlässigen Ersatz gefunden, der Frau Friedrichsen vom Flughafen abholt.«

»Phillip?« Zweifelnd kaute Helena auf ihrer Unterlippe. »Ich weiß nicht, ob das im Moment die richtige Lösung ist.«

»Ich glaube schon«, widersprach er ihr. »Das sind doch erwachsene Menschen.«

»In Liebesdingen bezweifle ich das bei den beiden sehr«, pflegte Helena ihre Skepsis. »Katja ist so etwas von hin und her gerissen.«

»Ja, ich durfte sie vorgestern live erleben. Und Phips geht es kaum besser. Ich habe ihm gehörig die Leviten gelesen und versucht, ihn ein wenig auf Vordermann zu bringen. Wenn er nun nicht Katjas Herz erobert, weiß ich auch nicht weiter.«

»Phillip? Was ist denn an ihm nicht gut gewesen?«

»Alles ist gut an ihm. Nur war ihm nie bewusst, dass zu einem guten Produkt auch eine tolle Verpackung gehört. Sie sollten ihn jetzt mal sehen. Wenn er weiter auf mich hört, muss Katja sich ranhalten, um ihn für sich zu behalten.«

Helena schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Da bin ich aber wirklich gespannt, wie der aufgemotzte Phillip aussieht. Vielleicht ist er dann sogar meine Kragenweite.« Sie erstickte seine Entgegnung mit gleich zwei Weingummis.

Christoph hielt auch diesmal sein Versprechen. Eine halbe Stunde vor dem anberaumten Termin zum Vertragsabschluss erreichten sie Kopenhagen. Erneut fiel Helena ein, dass sie noch aus dem Hotel auschecken mussten.

»Kein Problem«, versprach Christoph. »Während Sie unser Geld verdienen, werde ich mich darum kümmern, dass alles eingepackt ist und wir auch wiederkommen dürfen.«

Plötzlich errötete Helena zusehends. »Das ist mir nun echt peinlich. Aber ich denke gerade daran, dass in meinen Räumen noch das völlige Chaos herrschen muss. Ich habe all meine Kleidung verstreut herumliegen, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht zumuten!«

»Keine Panik. Ich habe eine Schwester. Deren destruktiven Sinn für Kleiderablage würden Sie nie erreichen. Nur erwarten Sie nicht von mir, dass ich alles faltenfrei einpacke.«

Mit erneut aufsteigender Panik fiel Helena ein, dass auf den Betten beileibe nicht nur Oberbekleidung lag. Ihr Negligé und auch die Spitzenunterwäsche … Was würde er nur von ihr halten? Das war doch alles wirklich so, wie er es sich bei einer Bordsteinschwalbe vorstellte, oder? Ehe sie Christoph nochmals untersagen konnte, ihr Zimmer zu betreten, erreichten sie das Verwaltungsgebäude, vor dem Sörensen bereits auf sie wartete.

»So, jetzt zeigen Sie diesem Herrn mal, wie sich eine taffe Geschäftsfrau durchsetzt. Das andere erledige ich. Punktum – und nun raus!« Er langte hinter sich und drückte ihr den schweren Aktenkoffer in die Hand.

»Jawohl, mon Genéral«, salutierte sie lachend und huschte hinaus. »Bis nachher dann.«

Er winkte ihr zu und brauste in Richtung Hotel davon. Helena horchte mit einem zaghaften Gefühl in sich hinein. Das warme Kribbeln, das ihr dabei erneut über die Haut lief und tief im Magen endete, war erschreckend wunderschön.

»Frau Reckenhusen. Wie schön, dass Sie pünktlich zurückkehren konnten.« Kurt Sörensen war an ihre Seite getreten. »Ich hoffe, Ihrem Sohn geht es besser?«

»Ja.« Sie ergriff seine Hand; mit einer selbstbewussten Haltung, die auch ihm nicht entging. »Mein Chauffeur hat mich tatsächlich mitten in der Nacht heimgefahren, damit ich bei Jonas sein konnte.«

Sörensen räusperte sich. »Ihnen ist bewusst, dass dieser Mann ein wahres Goldstück ist?«

»Inwiefern meinen Sie das?«

»Der Gute reißt sich förmlich ein Bein aus, wie man so sagt, um Ihnen alle Wünsche von den Augen abzulesen. Ich habe es richtig mit der Angst zu tun bekommen, als er gestern Abend mit geballten Fäusten auf mich zugestürmt kam. Das bringt mich auch dazu, dass ich mich für mein gestriges Benehmen Ihnen gegenüber entschuldigen möchte. Ihre Schönheit und Ihr Wesen haben mich so sehr geblendet.« Er zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich hoffe, mein gestriges Verhalten, wird unsere zukünftigen guten Geschäfte nicht beeinflussen.«

Helena nickte würdevoll. »Es freut mich, dass wir dieses Thema klären konnten und uns verstehen. Gut, Herr Sörensen. Dann lassen Sie uns zusehen, ob unsere Anwälte ihr Geld wert sind.«

* * * * *

Sie hatte mit der Beschreibung des Zustands ihres Hotelzimmers wahrlich nicht untertrieben. Es sah in der Tat aus, als wären die Koffer explodiert. Ein anerkennender Pfiff huschte Christoph über die Lippen, als er sich dranmachte, ihre Wäsche zusammenzulegen. Herr im Himmel, allein mit diesen Dessous konnte sie einen Mann ohne Weiteres von sich abhängig machen. Unweigerlich stiegen die Bilder vor seinem geistigen Auge auf und verknüpften sich mit den vor ihm ausgebreiteten Realitäten. Sie, halbnackt im Rückspiegel … Er versuchte sich dagegen zu wehren, aber es half nichts. Wie sollte er es nur ein Jahr lang neben dieser Rassefrau aushalten, ohne dass ihm sein Testosteron alles versaute? Seufzend legte er die Hemdchen und den Seidenslip zusammen und verstaute sie sorgsam in dem kleinen Köfferchen.

* * * * *

Als Helena beschwingt vom erfolgreichen Abschluss und der anschließenden kleinen Feier vor das Gebäude trat, wartete ihr Herr Baumann bereits auf einem der Parkplätze. Der Wagen glänzte wie neu und auch sein Fahrer hatte eine ganz gewisse Ausstrahlung. Hups, der Champagner hatte es ganz schön in sich. Oder waren es die Worte Sörensens, die ihr erneut durch den Kopf gingen, als sie Chris dort stehen sah. Konnte es wirklich sein, dass er mehr für sie empfand? Nein, sie war doch … Ihr fiel das Rechnen plötzlich schwer. Oder war es nur der eisige Schrecken über die Jahre, die sie voneinander trennten. Elf! Diese schreckliche Zahl ließ sie schlagartig nüchtern werden. »Wehret den Anfängen!« Helena drehte sich um. Doch es stand niemand hinter ihr. Sie verabschiedete sich von den Anwälten, schlug die Einladung zur Siegesfeier mit guten Wünschen dafür aus und begab sich zu ihrem Wagen.

»So wie Sie strahlen, haben Sie es auf ganzer Linie geschafft«, begrüßte Chris sie und nahm ihr die Aktentasche ab. Fragend deutete er auf die Beifahrertür.

»Nein, Christoph. So gern ich auch wieder neben Ihnen sitzen würde, aber diese Arbeit kann nicht warten. Es gibt einiges, das ich gut von unterwegs erledigen kann und muss.«

»Sehr wohl …«

»Wenn Sie jetzt wieder gnädige Frau sagen, dann rumpelt es im Karton«, scherzte sie drauf los und ließ sich die Tür öffnen. »Sagen Sie mir lieber, ob im Hotel alles geklappt hat?«

»Ich habe die Bademäntel hängen lassen und bezahlt. Wir dürfen also wiederkommen.«

»Das ist beruhigend zu wissen. Ich meinte aber mehr, ob Sie das Chaos, das ich hinterlassen habe, wirklich haben beseitigen können.«

»Auch das ging schnell. Und ehe Sie erneut in Panik verfallen: Eine Dame vom Service war so freundlich und hat mir bei bestimmten Dingen geholfen.«

»Das ist wirklich nett von der Dame gewesen.« Aufatmend ließ Helena sich in die Polster fallen und schloss die Augen. Zwangsläufig übersah sie dabei den Schalk in seinen Augen.

* * * * *

Die Maschine aus Mailand würde pünktlich eintreffen, wenn man der Tafel Glauben schenken wollte. Seit einer Stunde befand Phillip sich am Flughafen und versuchte sein flatterndes Nervenkostüm mit literweise Kaffee zu betäuben. Er dachte an ihren blöden Streit zurück, in dem sie sich getrennt hatten. Wie würde Katja reagieren, wenn sie ihn nun sah? Mittlerweile hatte er sich in seinem neuen Outfit eingelebt und es sogar noch verfeinert. Er wirkte leger und entspannt, und so fühlte er sich eigentlich auch. Dabei wusste er, dass es nicht mehr lange so blieb. Was, wenn Katja ihn nicht mehr wollte? Dann nicht, versuchte er zum ungezählten Male in sich hineinzuhorchen. Dann würde es irgendwann eine andere Frau in seinem Leben geben.

Er atmete noch einmal tief durch und begab sich zum Ankunftsterminal.

Katja war eine der Letzten, die ihren Kofferkuli durch den Ausgang steuerten und sich suchend nach dem erwarteten Chauffeur umsahen. Ihre schlanke Figur zeichnete sich in dem leichten Sommerkleid ab, das im Luftstrom der Klimaanlage ihre langen Beine liebevoll umspielte. Wie wunderschön und sinnlich sie doch wirkte. Selbst wenn ihre derzeitige Frisur ganz das Gegenteil aussagte. Streng zurückgekämmt und zu einem festen Knoten geschlagen.

»Madame, Sie hatten einen Wagen bestellt«, offenbarte er sich ihr mit rauer Stimme.

Verwundert sah sie den auf den ersten Blick fremden Mann an. »Phillip?«

»Christoph ist leider verhindert.« Sein Frosch im Hals erwachte immer mehr zum Leben. »Helena und er sind noch auf dem Rückweg von Kopenhagen. Ich hoffe, du nimmst auch mit mir vorlieb?«

Sie sah ihn schweigend an. Und doch erzählte ihre Miene ganze Bände.

Okay, Plan B. Die Vorstellung, diesen zu ergreifen, hatte ihn irregemacht. Jetzt, wo es darauf ankam, war er die Ruhe selbst. »Ich könnte dir auch ein Taxi besorgen.« Zögernd sah er auf seine neue Uhr. »Wenn es dir unangenehm ist, meine ich. Ich habe damit kein Problem. Es gibt noch einen anderen Termin, den ich wahrnehmen müsste.«

»Du siehst so anders aus.« Sie ließ ihn weiter im Ungewissen, übergab ihm aber das Gefährt mit ihrem Gepäck.

»Findest du, es steht mir?«

»Jaaa«, kam es lang gezogen. »Wieso gerade jetzt?«

»Ich hatte das Gefühl, dass sich in meinem Leben einiges grundlegend ändern sollte.« Er flocht eine Kunstpause ein. »Im Grunde verdanke ich es dir.«

»Mir? Was willst du damit sagen?«

Phillip hob die Schultern und bugsierte gleichzeitig das störrische Gerät in Richtung Parkhaus. »Dazu kann ich nicht viel sagen. Alles ist irgendwie in der Schwebe.«

»Herr von Staden, reden Sie nicht so rätselhaft daher. Das ist nicht Ihr Stil.«

»Du willst Klartext?« Er blieb stehen und zwang sich dabei ein verlorenes Lachen ab. »Okay, ich habe in den vergangenen Tagen oft an unser letztes Gespräch denken müssen. Dabei ist mir bewusst geworden, dass du mit dem, was du mir an den Kopf geworfen hast, recht haben könntest.« Er versuchte in ihrem Blick, an ihrer Körperhaltung zu lesen. Aber sie wirkte noch immer reserviert, wenn nicht gar abweisend. »Ich will kein Klammeraffe sein und dich, wie sagtest du, zu einem Hausmütterchen degradieren.«

»Das habe ich so nicht gesagt!«

»Aber gedacht«, konterte er mit fester Stimme. Er wusste, dass das, was er nun sagen würde, alles beenden konnte. Aber war nicht alles besser als diese ständige Ungewissheit? »Ich bin mir meiner nicht sicher. Jedenfalls will ich keiner Frau sinnlos hinterherlaufen, für die ich nur ein besserer Notnagel bin. Ich will lachen und mich mit jemandem gemeinsam freuen können. Ich will mich verlieben, ohne ständig Angst zu haben, dass ein nächstes unbedachtes Wort ein erneutes Erdbeben auslöst.«

»So siehst du also unsere Beziehung?«

»Ja. So leid es mir tut, ja.«

»Und nun?«

»Ich will ehrlich sein. Es gibt noch eine andere Frau, die mein Herz erobern könnte.« Was ist daran ehrlich, du Schwein, warf er sich vor und fragte sich im gleichen Atemzug, ob Chris jemals vor dem gleichen Problem gestanden hatte.

»Ach, daher also dieser Patchouligestank an dir«, kam es spitz.

Phillip war dem Schicksal in Form von Frau Schuster vom Fitnessclub dankbar. Ihr hatte er bei seinen letzten Besuchen sein Herz ausgeschüttet. Und wenn sie auch glücklich liiert war, so war sie ihm doch eine gute Beraterin geworden in Dingen, wie Frauen dachten. Der kleine Spritzer aus ihrem Parfumflakon hatte Katja offensichtlich völlig aus dem Konzept gebracht. »Findest du, es stinkt?«

»Nuttendiesel.«

»Keine Angst, du wirst es nicht lange ertragen müssen.« Sie hatten den Wagen erreicht. Dankbar dafür, dass sie seinen Blick nicht sehen konnte, räumte er ihr Gepäck in den Kofferraum.

Wie konnte er es wagen, sie so zu behandeln? Ihr offen ins Gesicht sagen, dass es eine andere gab! Katja war stinksauer. Dabei hatte sie sich die letzten Tage und Nächte bemüht, mit sich selbst und ihren Wünschen ins Reine zu kommen. Und nun hatte er sich so positiv verändert … und dachte dabei an ein anderes Weib. Am bittersten war dabei die Erkenntnis, dass nicht sie es war, die ihn zu seiner positiven Verwandlung veranlasst hatte. »Würdest du mir wenigstens noch so viel Zeit opfern und die Sachen hinauftragen?«

»Natürlich, gern. Ich muss erst gegen zehn los.«

Es zerfraß sie förmlich, ihn zu fragen, was er vorhatte. Doch diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Der Rest der Fahrt verlief mehr als schweigsam.

* * * * *

Als Helena und Christoph das heimatliche Anwesen erreichten, stand Phillips Auto vor der Villa.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739407418
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
starke Frau Liebesroman unmoralische undercover Erotik Wette Erotischer Liebesroman

Autor

  • Katharina Mohini (Autor:in)

Katharina Mohini wohnt mit ihrer Familie in Norderstedt, nördlich von Hamburg. Mittlerweile hat sie drei Bücher veröffentlicht, deren Geschichten das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Lebensweisen und Anschauungen ihrer Protagonisten thematisieren. Ihre Erzählungen tauchen ein in die Tiefen ihrer Protagonisten - der weiblichen, wie auch der männlichen. Ein Stil, der fesselt und zugleich einen Blick in die unterschiedlichen Gefühlsebenen bietet.
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Titel: Pflichtjahr bei Helena