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Das Geheimnis der Stadtchronistin

von Katharina Mohini (Autor:in)
416 Seiten

Zusammenfassung

Für Christin Thorstraten klingt es nach einem lukrativen und vor allem sicheren Geschäft: als Gespielin eines einflussreichen Politikers, mit einer ansehnlichen Apanage und freier Wohnung im beschaulichen Städtchen Gernhausen. Was anfangs für die erfolgsverwöhnte aber kaltherzige Frau wie ein Hauptgewinn im Lotto ist, ändert sich, als sie die sechsjährige Hannah aus der Nachbarschaft kennenlernt. Das quirlige, viel zu selbstbewusste Mädchen erobert Christins Herz im Sturm und rüttelt an ihren fest gefügten Prinzipien. In Hannah und deren Großmutter findet sie Menschen, die die burschikose und eigensinnige Frau nehmen wie sie ist und dennoch in ihr Herz schließen. Wenn da nur nicht Hannahs Vater Tobias wäre! Schon ihr erstes Zusammentreffen endet für die beiden so ungleichen Menschen stürmisch, ohne dass es ihnen gelingt, über den eigenen Schatten zu springen oder sich gar ihre wahren Gefühle füreinander einzugestehen. Eine Entwicklung, über die Christins heimlicher Sponsor wenig erbaut ist. Sehr schnell fühlt sich der erfolgsverwöhnte und eifersüchtige Mann bedroht und handelt entsprechend. Plötzlich findet sich Christin zwischen allen Stühlen wieder. Während Kopf und Verstand ihr suggerieren, sich ins gemachte Nest zu setzen, sprechen Herz und Gefühl eine ganz andere Sprache. Unweigerlich steuern die so unterschiedlichen Menschen auf eine Katastrophe zu, bis Christin eines Tages verschwunden ist …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Prolog

Was konnte enervierender sein als eine Tagung von Kommunalpolitikern und höchsten Gemeindevertretern des südhessischen Raumes, verwünschte der gepflegt erscheinende Mittfünfziger seine momentane Situation. Er schnaubte unwillig ins Halbdunkel des imposanten Saales hinein, in dem er und annähernd dreihundert Leidensgenossen dem von verordnetem Enthusiasmus getragenen Bericht eines Frankfurter Sozialreferenten lauschten. Gequirlte Hühnerkacke war das!

Manchmal kam es ihm aus den Ohren heraus, dieses Gejammer über die knappe, wenn nicht gar desolate Haushaltslage und die immer weiteren Forderungen von Bund und Land. Natürlich war es anstrengend, eine Gemeinde am Florieren zu halten. Aber es war machbar! Man musste nur eine Portion Mut, Abenteuergeist und die gewissen Beziehungen haben, um selbst eine Stadt wie sein Gernhausen mit einem leichten Gewinn in der Stadtkasse über die Runden zu bringen. Die Art und Weise, wie er dieses bewerkstelligte, würde zwar nie die Grundlage für einen versierten Vortrag sein. Was jedoch zählte, war das Ergebnis. Und das konnte sich allemal sehen lassen …

Nils-Ole Händler spürte das Vibrieren seines iPhones an der Brust, während die leise Melodie von Marilyns „Diamonds are a girl’s best friend“ eine eingehende SMS ankündigte. Ein zufriedenes Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er den knappen Text ihrer Antwort las.

„Montpellier 18 Uhr. Weiße Rose und die Elle in der Hand.“

Was zum Henker war die Elle? Egal, er war sich sicher, die richtige Frau auf Anhieb zu erkennen. Zufrieden ließ sich Nils-Ole Händler in seinem „Kinosessel“ zurücksinken und gönnte sich den Luxus, gedanklich abzuschalten. Den kommenden Abend im Geiste zu planen und durchzugehen, war wichtiger als jeder Vortrag.

***

Mit weitaus gemischteren Gefühlen legte die Absenderin der SMS ihr Handy beiseite und betrachtete diese wunderschöne, selbstbewusst wirkende Frau, die sie aus dem großen Spiegel heraus ansah. Einzig der skeptische Blick aus dunkelbraunen Augen spiegelte noch eine Spur von Verunsicherung wider.

Es war immer so, wenn es zu einem neuen „Klienten“ ging. Selbst nach Jahren in diesem Geschäft. Die immer wiederkehrende Frage, ob sie mit ihm Glück hatte oder ob sie nicht doch irgendwann an einen Psychopathen geriet. Die Erinnerung an seine Stimme gestern am Telefon ließ ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Dunkel, markant und geheimnisvoll, mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Christin Thorstraten rief sich nochmals seine Worte in Erinnerung, während sie ihr langes, in Wellen fallendes Haar ausgiebig mit einer Bürste bearbeitete. Er hatte sich ihr unter den Namen Nils-Ole vorgestellt. Er sei Geschäftsmann aus der Nähe Frankfurts und hätte ein verlängertes Wochenende in der Stadt – mit einsamen Abenden. Wenn sie nicht abgeneigt sei und Zeit habe, würde er sich freuen, ihre Dienste für die kommenden zwei Tage in den späten Nachmittags- und Abendstunden in Anspruch zu nehmen.

Auf ihre Frage hin, wer sie empfohlen habe und für seinen Leumund garantieren könne, hatte er mit einer Spur Bedauern in der Stimme geantwortet, dass er ihre Adresse und Profession von einem guten alten Freund faktisch geerbt habe. Hartmut Schneider und er seien viele Jahre enge Freunde gewesen. Auf dem Sterbebett habe ihm sein Freund von seinen amourösen Abenteuern mit einer sehr netten und vor allem sehr verschwiegenen jungen Dame erzählt.

Christin konnte sich sehr wohl an Hartmut erinnern. Und auch jetzt, als sie an das gestrige Gespräch dachte, erfüllte es sie mit einer Spur von Traurigkeit, dass dieser nette und vor allem sehr spendable Mann nicht mehr unter ihnen weilte.

»Scheiß drauf«, knurrte sie ihr Spiegelbild an. Irgendwann traf es jeden. Und wenn Hartmut ihr einen „Erben“ vermittelte, dann wollte sie ihn sich zumindest anschauen. Zumal es in ihrem Geschäft – wie jetzt im Februar – immer recht flau war. Außerdem war da, wie gesagt … seine Stimme. Sie hatte etwas an sich, das sie nicht ruhen ließ. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fast perfekt, wenn auch das halbe Pfund Concealer unter ihren Augen dem aufmerksamen Beobachter offenbarte, dass die letzte Nacht recht kurz gewesen war. Wer konnte auch ahnen, dass zwei kleine Japaner so viel Ausdauer besaßen. Christin Thorstraten gönnte dieser selbstbewussten Frau ein letztes siegessicheres Lächeln und verließ ihr Bad.

***

Kurz vor sechs Uhr erschien Nils-Ole Händler in der Bar des Montpellier, eines Hotels in Frankfurts Toplage und eines erfolgreichen Politikers würdig. Ein prüfender Blick in einen der reichlich vorhandenen Spiegel. Perfekt! Fehlte nur noch die junge Frau, die annähernd der erwarteten Beschreibung entsprach. Mit einem Anflug von Grauen registrierte er die genüsslichen Blicke dieser Matrone in Eingangsnähe. Herr im Himmel, flehte alles in ihm, hoffentlich geriet er nicht an so etwas! Da konnte er gleich daheim seine Alte beglücken. Händler schenkte der Frau ein geringschätziges Lächeln und strebte an ihr vorbei in die Mitte der Lounge.

Ein Kellner trat geflissentlich an die Sitzgruppe heran, machte aber sofort kehrt, als der Gast ihm mit einem Wink zu verstehen gab, dass er zu warten gedachte.

Nils-Oles Geduld wurde nicht lange strapaziert. Langstielige cremefarbene Rose und eine aufgerollte Zeitschrift in der Hand. Schon mit dem ersten Blick registrierte er, dass diese grazile Blondine atemberaubend schön war. Ein knapper Blick zur Uhr. Er schätzte Pünktlichkeit. Sie sah sich suchend um, bis ihr Blick auf seiner Wenigkeit ruhen blieb. Mit einem selbstbewussten Lächeln ließ sie den einen oder anderen allein stehenden Herrn an der Bar links liegen stehen und nahm mit langsamen, andächtig wirkenden Schritten Kurs auf ihn. Diese Frau hatte eindeutig Geschmack. Ein edles baumwollfarbenes Kleid, kniefrei, goldbraune Beine, in beigefarbenen Wildlederstiefeln endend. Nichts an ihr war von der Stange, erkannte er selbst als Laie.

»Guten Tag.« Das dunkle Timbre ihrer Stimme drang bis in seine Lenden hinein. »Nils-Ole?«

Wann hatte er jemals solch ein Herzklopfen verspürt, fragte er sich, als er sich erhob und sie mit einem angedeuteten Handkuss begrüßte. »Frau Thorstraten?«

Sie nickte mit vornehmer Zurückhaltung und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln.

Andächtig nahm er die Feinheiten ihrer Erscheinung in sich auf. Ein perfektes Make-up, wenn er das beurteilen durfte. Die unterschiedlichen Töne ihres Lidschattens, der ihre dunklen, verruchten Blicke untermalte und sie doch so sinnlich wirken ließ. Er fühlte sich in einen Zustand versetzt, den Dichter verspüren mussten, wenn sie Meisterwerke schufen.

Sie ließ seine stille, im Grunde genommen unhöfliche Musterung über sich ergehen. Wie jemand, der es gewohnt ist, immer wieder aufs Neue oberflächliche Bekanntschaften zu schließen.

»Offenbar sagen Ihnen meine äußeren Reize zu«, stellte seine Besucherin mit einem leisen, ja rauchigen Lachen fest und setzte sich mit einer fließenden Bewegung.

Für einen Moment brachte ihn ihre Offenheit zur Besinnung. Er setzte sich ebenfalls und enthüllte ein selbstbewusstes Lächeln, das sich mit ihrem messen konnte. »In der Tat. Ich würde sogar sagen, dass Sie mir mehr als sympathisch sind. Wenn es nach mir geht, soll es uns an netten Gesprächen und interessanten Unternehmungen nicht mangeln.«

Ehe Christin darauf antworten konnte, trat der Barmann auf sie zu. Sie bestellte sich einen Chardonnay, während ihr Gastgeber einen sauer Gespritzten orderte. Gelegenheit, um den Klienten für sich zu prüfen. Das Ergebnis fiel mehr als vielversprechend aus. Gepflegte Erscheinung, bis hin zu den manikürten Händen. Volles dunkelblondes Haar, in das sich vereinzelt silberne Fäden schlichen. Gepflegter Vollbart in einem gebräunten Gesicht; bei dem zu dieser Jahreszeit – es sei ihm verziehen – ein Turbobräuner mitgewirkt hatte. Das Imponierende an ihm waren jedoch seine geheimnisvollen grauen Augen. Augen, die ihr das Gefühl gaben, als könnten sie bis in die unergründlichsten Tiefen ihrer Seele hineinschauen. Ja, jetzt passierte es ihr sogar, dass sie ertappt und errötend die Augen niederschlug. Herr im Himmel, wann war ihr das das letzte Mal einem Mann gegenüber passiert?

»Das mit der Sympathie scheint zumindest beiderseitig zu sein«, stellte er mit einem leicht spöttischen Ton fest, der ihr dennoch nicht ihre Würde raubte.

»Ja, das lässt sich nicht leugnen.« Christin Thorstraten gab sich die Blöße, etwas tiefer durchzuatmen, und zauberte ein zufriedenes Lächeln hervor. Schnell hatte sie sich wieder im Griff. »Nachdem das erste Eis also gebrochen ist …« Sie schlug die Beine übereinander. »Hartmut hat mit Ihnen über meine Gebühren und Prämissen gesprochen?«

Nils-Ole Händler nickte und sagte mit leiser und dennoch fester Stimme. »Zwei Stunden Essen gehen, Smalltalk vierhundert aufwärts. Die Nacht elfhundert und definitiv kein ungeschützter Verkehr.«

Sie nickte ernst und ergänzte zum besseren Verständnis. »Nebenkosten gehen zulasten des Kunden. Und Verkehr, nur wenn ich selbst dazu bereit bin.«

Der hinzutretende Kellner ließ das Gespräch stocken. Als sich der Störenfried endlich abwandte, erhob Händler sein Glas. »Ich finde, das ist eine vernünftige Grundlage, auf der wir gemeinsam arbeiten können. Ich bin der Nils.«

»Christin«, übertönte sie das leise Klingen der Gläser und zwinkerte ihm zufrieden zu. »Auf gute Zusammenarbeit.«


Kapitel 1

Die rapshonigfarbene Frühjahrssonne setzte sein Büro in ein ganz besonderes Licht. Wie ein göttlicher Beistand, der ihn und seine Gedanken begleitete und segnete. Es waren die Szenen ihres ersten Treffens, derer er sich erinnerte. Wie auch die der weiteren Stunden und folgenden Treffen, resümierte Nils-Ole Händler zufrieden und gönnte sich den Luxus, sich zufrieden in seinem imposanten Chefsessel zu aalen.

Alles, aber auch einfach alles lief für ihn seitdem wie am Schnürchen. Der Vertrag mit der Plast-Modrow AG war in dieser Woche unter Dach und Fach gebracht worden. Ein Jahrhundertgeschäft, das er fast im Alleingang für die Stadt an Land gezogen hatte. Das bedeutete Gewerbesteuer – nicht zu viel, denn das war ja unter anderem der Deal – und viele neue Arbeitsplätze. Natürlich fiel auch für ihn etwas ab, erinnerte er sich an die erkleckliche Summe, die heute auf seinem persönlichen Nummernkonto in Zürich eingegangen war. Spielgeld! Er lächelte zufrieden. Christin und er würden eine schöne Zeit miteinander haben. Christin von seiner Idee zu überzeugen, erinnerte er sich ernüchtert, war rückblickend aufreibender gewesen, als ein Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen anzusiedeln. Erst war sie seinen Ideen gegenüber gar nicht aufgeschlossen und wollte ihre Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit auf keinen Fall aufgeben. Doch wer konnte schon einem Nils-Ole Händler widerstehen. Jeder Mensch war käuflich, auch eine Christin Thorstraten. Die sich, wie er sich eingestehen musste, teuer verkauft hatte. Fünfzehntausend im Monat, plus freie Wohnung. Dafür würde sie ihm allein zur Verfügung stehen; Diskretion natürlich inbegriffen.

Ein Schauer der Erregung lief Händler über den Rücken, als er für sich feststellte, dass sie Seelenverwandte waren. Herzlich zueinander, dabei doch nie den Blick aufs Wesentliche verlieren. Geld, Macht, gute Beziehungen und ungeteilte Hingabe. Dass besonders Letzteres zwischen ihnen stimmte, im Bett und an allen möglichen und unmöglichen Orten, darüber gab es nichts zu klagen. Etwas, das längst über alles Geschäftliche hinausging. Er schloss die Augen und genoss die Erinnerungen, bis ihn die Alltagsgeschäfte eines Bürgermeisters wieder einholten.

Nur kurz sollte es Nils-Ole Händler an diesem Tag noch vergönnt sein, an seine Geliebte und eine rosige Zukunft zu denken. Der Moment, an dem ihm Frederik, seine rechte Hand und engster Vertrauter, mitteilte, dass die Wohnung für eine gewisse Dame hergerichtet sei und bezogen werden könne. Das war wohl sein größter persönlicher Coup gewesen, bei dem er sich ob seiner Gerissenheit auf die Schulter klopfen konnte. Und ein Bilderbuchbeispiel dafür, dass alles in der Stadt nach seiner Pfeife tanzte. Er hatte es der Stiftung „Historisches Gernhausen“ ermöglicht, das ehemalige Torschreiberhaus, das am Waldtor in der historischen Altstadt gelegen war, zu übernehmen. Unter der Bedingung, dass Stadt und Stiftung ein Stipendium einrichten, die es einem jungen, vielversprechenden Historiker ermöglichten, für ein Jahr – bei Kost und Logis – an der ausführlichen Chronik ihrer wunderschönen Heimatstadt Gernhausen zu arbeiten. Welch ein „Zufall“, dass eine gewisse Frau Thorstraten eine Vorliebe für Historie besaß und ein begonnenes Studium in Sachen Geschichte vorweisen konnte. Ja, alles lief nach seinen Wünschen. Und die Miete für ein exklusives Appartement konnte er sich dadurch ebenfalls sparen.


Kapitel 2

Mit gemischten Gefühlen sah Christin den roten Lichtern des Regionalexpresses hinterher, wie er den Bahnhof in Richtung Würzburg verließ. Mit erstaunlicher Schnelle leerte sich der Bahnsteig von den Feierabendpendlern und ließ die junge Frau mit ihren beiden übergroßen Koffern zurück.

Nils hatte ihr auf der Fahrt hierher eine SMS geschickt. „Kann leider nicht persönlich kommen. Schicke Frederik = absolut vertrauenswürdig. In Vorfreude N.-O.“ Ob er das auch noch sagen würde, wenn ihr dieser Frederik gefiele? Es war kindisch, so zu reagieren, warf sie sich im Stillen vor und verdrängte den Vergleich, der sich ihr auftat. Nils würde schon seine Gründe haben.

»Frau Thorstraten?«

Erschrocken fuhr sie herum und wäre dabei beinahe über eines ihrer Gepäckstücke gestolpert. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr. Grauer Anzug, imposante, aber distanziert wirkende Erscheinung, selbst eine Schirmmütze fehlte nicht.

»Bürgermeister Händler schickt mich, damit ich Sie in Ihr neues Heim geleite. Er ist untröstlich, nicht selbst zu kommen. Berufliche Verpflichtungen halten ihn davon ab. Übrigens, ich bin Frederik, Frederik Zander, der Chauffeur … und bei Bedarf auch das Mädchen für alles.« Er lachte über seinen vermeintlichen Scherz und ergriff ihre Koffer, als wären sie Leichtgewichte. »Wenn Sie mir dann bitte zum Wagen folgen möchten.«

Er ging ihr voran und machte an einer exklusiven Luxuskarosse mit Stern Halt. Sanft öffnete sich die Kofferraumklappe.

Frederik, sie erlaubte sich, ihn so zu nennen, wandte sich ihr zu. »Ist das Ihr gesamtes Gepäck, Frau Thorstraten?«

»Ja, vorerst. Eine Spedition liefert den Rest.«

Er nickte verstehend und hielt ihr die hintere Tür auf.

Imposant, bemerkte Christin mit einem sachkundigen Rundblick. Selbst manch Frankfurter Politiker oder Wirtschaftsboss fuhr nicht so etwas Schickes.

»Wenn es Ihnen genehm ist, würde ich Ihnen gern einen kleinen Teil Ihrer neuen Heimat zeigen. Bürgermeister Händler bat mich darum«, erbot sich Frederik und deutete ihr stummes Nicken als Zustimmung.

Schon bald war es Christin ziemlich egal, wohin er fuhr und mit welchem Enthusiasmus er diese planlose Anhäufung von sauberen Industriearealen und monotonen Kleinhaussiedlungen als Heimat anpries. Monoton war exakt der richtige Ausdruck. Und hier sollte sie Monate, wenn nicht gar Jahre – ginge es nach Nils-Ole – ihr Leben fristen? Sie vermisste bereits jetzt ihr schönes Loft in Nähe der Frankfurter City, das sie die letzten zwei Jahre bewohnt hatte.

***

»Papa kommt!!!«

Erschrocken zuckte Jutta Kellermann zusammen, als ihr kleiner Sonnenschein jubelnd aufsprang und beinahe den Topf mit den gerade geschälten Kartoffeln mit sich riss.

Hannah spurtete aus der Küche, über den Flur und aus der Haustür hinaus, wo sie vom kurzen Treppenabsatz hinabsprang. Direkt in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters hinein, dem es gerade eben noch gelang, das kleine Etwas abzusetzen, das er zuvor im Arm gehalten hatte.

»Hallo, mein Schatz.« Tobias Herder herzte seine Tochter, deren Aufmerksamkeit jedoch schlagartig dem winselnden Mitbringsel zu seinen Füßen galt. »Hattest du einen schönen Tag?«

»Wer ist das denn?« Hannah drückte ihrem Vater einen fahrigen Kuss auf die Wange und strampelte sich hektisch frei.

Das kleine winselnde Etwas versteckte sich hinter dem Bein des großen Menschen.

»Oh Papa, ein Hündchen. Oh, ist das süüüüüß! Ist das jetzt meins?«

Hannahs Jubelschrei ließ die Frau des Hauses in der Tür erscheinen. »Ein Hund?«, klang es weitaus weniger begeistert. »Bin ich mit euch beiden Pflegefällen nicht schon mehr als genug gesegnet?« Sie ergab sich mit einem Lächeln, begrüßte Tobias mit einem Kuss auf die Wange und beugte sich zum offenbar jüngsten Familienmitglied hinab.

»Wie heißt sie denn, Papa?« Hannahs Augen leuchteten überirdisch, während sie das Fellknäuel heftig umarmte, was dieses nicht im Mindesten zu stören schien. Die kleine Zunge huschte über das Kinn seines neuen Frauchens und ließ Hannah kichern.

»Sie ist ein Er. Und wie mir der Tierarzt, bei dem ich schon war, sagte, ist er ein Die-Straße-rauf-und-runter-Hund. Einen Namen müssen wir für ihn noch finden.«

»Und?« Juttas Blicke sprachen Bände. Im Grunde wussten alle, wer das Tier die meiste Zeit umsorgen müsste. Sie ergriff Tobias’ Hand und ließ sich von ihrem Schwiegersohn aufhelfen. Manchmal, an Tagen wie diesen, spürte sie doch den einen oder anderen Knochen.

Tobias schenkte ihr ein verlegenes Lächeln. »Ich habe ihn auf einem Rastplatz gefunden«, suchte er nach den Argumenten, die ihm vorhin noch so vernünftig klangen. »Ausgesetzt, mit einem Paketband an eine Sitzbank angeleint. Wenn du das Häuflein Elend jaulen gehört hättest … Der Tierarzt meinte auch, dass das Tierheim völlig überfüllt sei.«

»Balu! Er soll Balu heißen«, krähte Hannah in sein Plädoyer hinein. »Wir behalten ihn doch, Papa? Oma?«

Wer konnte da etwas dagegen sagen? Außer Jutta vielleicht, die schließlich ergeben seufzte. »Dann haben wir unser Quartett wohl beisammen.«

***

Frederik liebte sein Heimatstädtchen, das stand außer Frage, fand Christin, die kaum mehr ein Gähnen unterdrücken konnte. Der Tag war anstrengend genug gewesen. »Frederik, ich verspreche Ihnen, in den nächsten Tagen werde ich Ihre Stadtführung gern ein weiteres Mal genießen. Aber nun wäre ich doch froh, möglichst schnell in meine neue Wohnung zu kommen.« Mit Grausen dachte sie daran, was sie erwarten würde. Nils-Ole hatte ihr zwar berichtet, dass das Haus von Grund auf saniert sei und dass er sich um eine geschmackvolle Einrichtung gekümmert habe. Nur, aus leidlicher Erfahrung wusste sie, was Männer mit „drum kümmern“ meinten. Ein belastbares Doppelbett wäre vermutlich der einzig brauchbare Gegenstand, den sie erwarten durfte.

»Gern«, brachte sich Frederik in Erinnerung. »Aber einen kleinen Umweg durch unsere schöne Altstadt muss ich Ihnen doch noch antun.«

Die bislang ruhige Fahrt veränderte sich kurz darauf. Trotz weicher Federung und Fahrweise übertrug sich das Echo des Kopfsteinpflasters in den Innenraum.

»Unsere Altstadt ist schließlich eine der schönsten und intaktesten im gesamten Bundesgebiet. Fast völlig frei von den sogenannten „Bausünden“«, predigte Frederik andächtig.

Christin verfolgte, dass sein Kopf wie bei einem Wackeldackel hin und her pendelte. Seine leuchtenden Augen steckten sie sogar mit ihrer Begeisterung an. Aber nur ein wenig, korrigierte sie sich, als sie daran dachte, wie man sich hier auf High Heels bewegen sollte. War es doch neben dem durchgehenden Straßenpflaster ein einziges Bergauf und Bergab. DAS Trainingszentrum für angehende Bergziegen – definitiv! Die Straßen, durch die sie kamen, wurden immer verwinkelter und enger. Mit einer Mischung aus Faszination und Beklemmung sah sie an den Häuserfronten hinauf. Irgendwo da oben mussten die Giebel unweigerlich gegeneinander stoßen. Mit einem süffisanten Schmunzeln stellte sie sich bildlich vor, wie sie mit Nils im Bett lag, er sich auf ihr abmühte und der Nachbar ihm dabei auf die blanke Kehrseite klatschte. Nein, hier würde sie nicht lange bleiben, nahm sie sich fest vor. Romantisch aussehende mittelalterliche Stadthäuser waren nur romantisch, solange man nicht in ihnen wohnte. Selbst das Wasser würde sie aus einem Brunnen schöpfen müssen. Oh Gott, Gernhausen war kein Ort, in dem sie „gern hausen“ und vor allem nicht alt werden wollte.

Kurz darauf verkündete ihr Frederik, dass sie da wären. Er hielt so dicht an der Hausmauer, dass sie auf die Fahrerseite rutschen musste, um überhaupt aussteigen zu können.

Nachdem ihre Schuhe einen halbwegs festen Stand gefunden hatten, sah sich Christin skeptisch um. Es war bereits Mitte April, doch die Dunkelheit hatte hier in den engen Straßen längst ihren Einzug gehalten. Sogar die auf alt getrimmte funzlige Beleuchtung war bereits in Betrieb. Hell genug, um zu erkennen, dass das Haus, vor dem sie stand, ihre schlimmsten Befürchtungen bei Weitem übertraf. Und hell genug, um die nachgemalte Jahreszahl im Balken über der verzogenen Haustür zu lesen. 1517. Das Jahr der letzten Renovierung? Fuck!

»Haben Sie keine Angst.« Frederik Zander las das Entsetzen im Gesicht der schönen Frau. »Wir müssen ums Eck herum. Die Waldtorgasse ist so schmal, dass wir nicht einmal kurzfristig dort halten dürfen.« Er packte wie zuvor auf dem Bahnhof ihre schweren Koffer, als wären es gerade einmal Einkaufstüten. »Wenn ich vorangehen darf, gnädige Frau.«

Christin hatte Mühe, ihm auf ihren hohen Absätzen zu folgen, so schnell war er ums Eck verschwunden. Das Erste, was ihr auffiel, war ein wunderschön restauriertes altes Stadttor, das mit den Resten einer Stadtmauer perfekt illuminiert in den heraufkriechenden Abend hineinleuchtete. Hinter diesem glänzte das frische Grün mächtiger Baumkronen. Ein erstes Mal revidierte sie ihren Entschluss, gleich morgen abzureisen.

»Das Waldtor«, pries ihr Fremdenführer stolz an. »Das Letzte von ehemals vier Stadttoren und eine unserer schönsten Sehenswürdigkeiten. Nebenbei beherbergt es unser kleines Mittelalter-Museum.« Er blieb vor einem Haus rechterhand des Tores stehen. Ein Stockwerk kleiner als die Häuser in seiner Nachbarschaft – aber bedeutend schmucker.

»Das Torschreiberhaus.« Frederik Zander zog einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Willkommen in Gernhausen und viel Erfolg bei dem, was Sie für uns und unsere Gemeinde erforschen werden.«

Christin nahm den Schlüssel mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Was ihr dabei durch den Kopf ging, verschwieg sie diesem netten Mann lieber. Sie schloss auf und betrat das Haus.

Hell gestrichene Wände und ein nagelneuer Laminatfußboden begrüßten sie. Linkerhand eine schmale, aber doch sehr komfortabel wirkende Garderobe. Mit jedem Schritt, den sie tat und mit dem sie ihr neues Reich in Besitz nahm, stiegen ihre Begeisterung und Vorfreude. Alles wirkte so jungfräulich, kam ihr der Vergleich. Nichts von dem Muff, den sie befürchtet … und vielleicht ein wenig erhofft hatte.

»Werden Sie mich heute noch benötigen?«

»Wie bitte?« Christin erwachte aus ihrer Andächtigkeit. »Nein, Herr Zander. Bitte richten Sie dem Bürgermeister meinen Dank aus. Und auch Ihnen natürlich vielen Dank für alles.«

Er lächelte zurückhaltend und bugsierte die Koffer noch ein Stück weiter in den Flur hinein. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme erste Nacht, Frau Thorstraten.«

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, überfiel Christin eine Stille, die sie sehnsüchtig erwartet hatte. Endlich konnte sie für sich ihr neues Heim in Besitz nehmen. Und was sie dabei am meisten erfreute, Nils-Ole hatte Wort gehalten. Alle Zimmer waren mit funktionellen, teils sogar hübschen Möbeln ausgestattet. Wie die kleine Küche, deren Front aus gelaugtem Holz bestand. Andächtig stieg sie die Treppe in den ersten Stock empor. Es war faszinierend, plötzlich in einem über die gesamte Grundfläche gehenden Raum zu stehen. Ein gemütliches Wohnzimmer, in dem die nötigen Stützstreben aus Fachwerk harmonisch eingepasst waren. Im Hintergrund ein Arbeitszimmer, das durch einen unauffälligen hüfthohen Raumteiler abgegrenzt war. Selbst die Illusion eines Kamins entdeckte sie. Ja, hier ließe es sich schon leben. Sie durchschritt andächtig den Raum und begab sich auf dessen andere Seite, an der eine elegant geschwungene Treppe in ein weiteres Stockwerk hinaufführte. Ein schmaler Flur, der an einer mit kunstvollen Schnitzarbeiten versehenen Tür endete.

Flackernder Kerzenschein durchbrach die Dunkelheit des Raumes und tauchte dessen edle Ausstattung in unruhiges Licht. Obwohl es romantisch wirkte, wollte sie unbedingt sehen, ob ihre Vermutung zutraf. Ihre Hand tastete zum Lichtschalter.

***

Blöder Fatzke, dachte der abendliche Spaziergänger grimmig bei sich. Der Mann mit dem kleinen Hundewelpen sah der protzigen Limousine hinterher. Solch einen Aufstand zu machen, nur weil Balu sein Beinchen am Hinterrad gehoben hatte. Tobias Herders Blick ging zurück zum Torschreiberhaus. Hinter den Fenstern brannte Licht. Es schien neue Bewohner zu haben. Irgendwie schade, dass er damals den Sanierungsauftrag nicht bekommen hatte. Nicht dass er sich über mangelnde Aufträge beklagen müsste. Doch ein Kleinod der Architektur vergangener Jahrhunderte so zu versauen … Das tat einem in der Seele weh. Er verwarf den nutzlosen Gedanken und sah auf den kleinen Vierbeiner, der vor ihm saß und ihn mit seinen Knopfaugen zu hypnotisieren versuchte. »Komm Balu, ich werde dir zeigen, wo hier die schönsten Bäume für große Hunde stehen.«

***

»Nils-Ole, du bist verrückt!« Christin schüttelte lachend den Kopf über solch jungenhafte Fantasie. Champagner, Kerzen und erlesene Köstlichkeiten waren um das Bett, das mehr eine Spielwiese war, verteilt. Das alles war ja schon lustig, aber sein bestes Stück und die Hüften mit einer roten Schleife zu versehen … »Was hättest du getan, wenn Frederik mir meine Koffer hier heraufgetragen hätte? Überhaupt, was machst du eigentlich hier? Ich denke, du bist auf einem wichtigen Empfang.«

»Bin ich nicht? Nenne es totale Geheimhaltung. Ich wollte dich überraschen und willkommen heißen.« Nils-Ole Händler ließ sich wie ein Gekreuzigter fallen und streckte ihr beide Arme entgegen.

Eigentlich, dachte Christin bei sich, sollte sie sich nun in seine Arme werfen und sich ihm hingeben. Doch sie beließ es vorerst bei einem interessierten Lachen und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Diese Matratze! Ein Gedicht, spürte sie bereits jetzt. Überhaupt alles, was er hier hatte einrichten lassen, war edel und … Sie holte tief Luft. »Nils, wenn du so weitermachst, kann es passieren, dass ich mich eines Tages doch noch in dich verliebe.«

»Was, meinst du, ist der Sinn der ganzen Übung, mein Schatz?« Er ergriff sachte ihre Hand und zog sie langsam zu sich herab. »Ich denke schon, dass ich dich liebe.«

Nils-Ole Händler spürte ihre Reaktion, wie sie sich versteifte und plötzlich zu einer fremden Frau wurde. Er gab sie sofort wieder frei, doch irgendwie schien die Stimmung verflogen.

»Hatten wir nicht schon einmal darüber gesprochen«, sagte sie mit leicht tadelndem Unterton und gab ihm einen Kuss, der ihm zeigen sollte, dass sie es ihm nicht nachtrug.

Er wusste selbst nicht, welchem Gefühl er nachgeben sollte. Dem, dass er sie wahrhaft liebte und um sie kämpfen wollte, oder dem des Gekränkten, das ihm suggerierte, wie undankbar sie im Grunde war. Christin sah ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an und schenkte ihm dabei einen Blick, der so gegensätzlich war, dass es ihn schmerzte.

Ihre Hand strich zärtlich über den Saum des roten Schleifenbandes, das seine Hüften zierte. »Wahre Liebe gibt es nicht, Nils. Lass uns weiterhin eine schöne Zeit haben und nicht irgendwelchen kindischen Hirngespinsten hinterherjagen, ja?«

»Du bist ein echter Misanthrop, Mädchen. Weißt du das? Wenn ich das sagen würde, wäre es bei meinem Alter und meiner Lebenserfahrung annehmbar«, kam es spöttisch, aber nicht weniger ehrlich von ihm. Langsam begann er die Knöpfe ihrer viel zu züchtig wirkenden Bluse zu öffnen. »Magst du es mir nicht verraten?«

Christin betrachtete ihn mit glühenden Blicken, während sie ihre Hand weiter hinauf schickte und auf seiner dicht behaarten Brust ruhen ließ. Eine Antwort blieb jedoch aus.

»Wie sieht der Mann aus, der das Herz einer solch desillusionierten Frau erobert? Was muss er mitbringen?« Er stöhnte vor Lust und Schmerz, als sich ihre langen rot lackierten Fingernägel in seine Brust gruben. Eine Harpyie, die ihm bei dem geringsten Fehler sein Herz herausreißen würde.

»Du gibst wohl nie auf, was?«

»Nein!« Ein weiteres Stöhnen. »Würden wir sonst so gut harmonieren?« Mit schmerzhafter Erkenntnis spürte er, dass seine Idee, sich wie ein Geschenk zu verpacken, unüberlegt war. Der Blutstau im Unterleib wurde allmählich unangenehm. »Komm, erzähle es dem alten Mann.«

»Okay, du sollst es erfahren.« Sie ließ sich aus ihrer Bluse helfen und schenkte ihm dabei ein falsches Lachen. »Der Mann, den ich einmal lieben könnte, muss treu und liebevoll sein. Ja, stark und zärtlich zugleich.« Ihre Hand glitt an ihm herab und erlöste den armen Kerl dort unten aus seiner peinlichen Lage. »Er muss vergeben können, Verständnis, aber auch Prinzipien haben.« Ein weiteres spöttisches, mit Unglauben gepaartes Lachen. Sie schälte sich aus dem Rest ihrer Kleidung und sah sinnlich auf den nackten Mann unter sich herab. »Vermögend und weltgewandt. Er sollte mich verwöhnen und umwerben … Und wenn es sein muss, auch um mich kämpfen.« Mit anmutigen Bewegungen glitt sie über ihn und begann damit, seinen Körper mit kleinen Küssen zu bedecken. »Ach!« Ihr Oberkörper schwang nach oben, dass die wilde Frisur nur so um ihr zartes Gesicht brandete. »Natürlich muss er ein richtiger Kerl sein, der mich im Sturm erobert, mich nimmt und liebt, bis ich jeden klaren Gedanken fahren lasse und in seinen Armen schmelze.«

Nils-Ole richtete sich halb auf, während sein fester Griff ihren Unterleib erfasste und ihn dorthin dirigierte, wo es ihm am genehmsten war. Sein Lachen klang arrogant und zugleich verlangend. »Wenn du solch einen Typen gefunden hast, lass ihn dir patentieren. Bis dahin wirst du mit mir nicht unzufrieden sein.«

Ihr gurrendes Lachen stellte das alte Vertrauensverhältnis wieder her. »Nils-Ole Händler, strenge dich an. Zeige mir, dass meine Träume vielleicht doch keine Makulatur sind.«

Sie erlaubte es sich, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, um sich und diesen Mann zu verwöhnen, wie er es noch nie erlebt haben dürfte.


Kapitel 3

Als Tobias Herder an diesem Morgen völlig zerschlagen in der Küche erschien, stand das Frühstück auf dem Tisch. Selbst Brötchen hatte Jutta besorgt. Fast wie sonntags, dachte er. Dabei war er mit Grausen längst bei der Planung eines langen Arbeitstags.

»Guten Morgen!« Jutta Kellermann schenkte ihrem Schwiegersohn ein Lächeln, aus dem eine gehörige Spur Schadenfreude hervorblitzte. »Du siehst nach wenig Schlaf aus.«

»Nach sehr wenig«, stöhnte Tobias. »Der Hund … Balu«, erinnerte er sich an den Namen, den seine Tochter gestern für das jüngste Familienmitglied gefunden hatte. »Er hat die halbe Nacht über gefiept und das Fräulein da oben hat wie ein Stein geschlafen. Ich musste dreimal mit diesem Quälgeist hinaus.«

»Die Geister, die ich rief.«

»Altes Lästermaul«, erwiderte er und musste selber schmunzeln. »Hättest du das arme Tier dort angebunden gelassen? Außerdem … Hannah kann wirklich einen Spielkameraden gebrauchen.«

Damit hatte Tobias etwas angesprochen, was ihn und der Mutter seiner verstorbenen Frau immer wieder Sorgen bereitete. Hannah war an und für sich ein lebenslustiges Kind, bei dem selbst die Psychologen festgestellt hatten, dass es den Verlust der Mutter kompensiert und stattdessen in der Großmutter einen vollwertigen Ersatz gefunden hatte. Nur wenn es darum ging, dass seine Tochter von sich aus Kontakt zu anderen Kindern suchte oder auf andere Erwachsene zuging, schien sich die Sechsjährige in sich selbst zu verkriechen.

»Du hast recht«, erlöste Jutta sie aus ihren gemeinsamen betrübten Gedanken. »Ich werde nachher mit Hannah zusammen unser neues Familienmitglied „einkleiden“ gehen.«

»Danke, Mama. Ich lasse dir Geld da.«

»Du sollst nicht immer Mama zu mir sagen!«, fauchte Jutta und drohte ihm schmunzelnd mit der Faust. »Das macht mich immer so alt.«

»Gerade einmal dreiundfünfzig, meine Liebe. Soll ich dir erzählen, wie viele Männer allein im letzten Jahr bei mir um deine Hand angehalten haben?«

»Null, du lieber Spinner. Und nun sieh zu, dass du dein Frühstück einnimmst und zur Arbeit kommst.«

Sie flüchtete sich aus der Küche und ließ ihn mit sich und seinen Gedanken allein. Dankbarkeit, unendliche Dankbarkeit durchströmte ihn, als er wieder einmal daran dachte, dass Jutta damals alles stehen und liegen gelassen hatte, als Sina – ihre Tochter und seine Frau – bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Damals hatte er plötzlich allein dagestanden. Allein mit einer vierjährigen Tochter und diesem ständigen Spießrutenlauf ausgesetzt, der Sinas Verlust nur noch schlimmer machte und ihr einziges dunkles Vermächtnis war. Dann kam Jutta und sorgte mit ihrer burschikosen Direktheit innerhalb kürzester Zeit dafür, dass den Lästerern und sogenannten „guten Freunden“ das Mundwerk gestopft wurde. Jutta war geblieben und hatte sich ans Werk gemacht, das aus dem Zweifler und Versager, der er einmal war, der Mensch wurde, der ihn heute aus dem Spiegel heraus anblickte. Ernsthafter, selbstbewusster und ein kräftiges Stück gereifter.

Vom oberen Stockwerk her wurde es lebendig. Hannah kam die Treppe herunter und in die Küche gestürmt. In ihrem Gefolge der grässliche Quietscher, wie er Balu heute Nacht getauft hatte. Wie sehr sich der Kleine über das Wiedersehen mit ihm freute, spürte Tobias, als es um seinen Knöchel herum sehr feucht wurde.

***

Rasende Kopfschmerzen!, war Christins erste und leider auch einzige Empfindung. Sie weigerte sich standhaft, dem Wunsch zu folgen, die Augen zu öffnen. Stattdessen schickte sie ihre Hand über das leere, kühle Laken neben sich. Nils hatte sich irgendwann in der Nacht fortgeschlichen. Den traurigen Gedanken, die sich kurz in ihr breitzumachen versuchten, erteilte sie eine Abfuhr. Das war eben das Los einer Teilzeitgeliebten. Aber das war nicht der Grund für ihren miesen Allgemeinzustand. Es war mehr der impertinente Geruch nach Farbe und der reichlich genossene Schampus, die ihren Preis forderten.

Nur langsam fügten sich die Bilder in ihrem Kopf zu einer Erinnerung zusammen. Ihre Ankunft in Gernhausen, die neue Wohnung, die wilde Nacht mit Nils-Ole und wie er sie begrüßt hatte. Herrlich, spürte sie dem Kribbeln und Aufbäumen ihres malträtierten Körpers nach. Jeder Muskel protestierte. Aber es war schön gewesen … Schön wie lange nicht! Christin dachte an ihrem „Traummann“, den sie sich – Nils zuliebe – zusammengebastelt hatte. In Dingen wie ein einfallsreicher Liebhaber zu sein, kam sie zum Schluss, hatte er sich dieses Prädikat ehrlich verdient. Sie konnte schließlich ein Lied davon singen, wie viele Artisten und Möchtegernliebhaber sich an ihr versucht hatten und gescheitert waren. Hinzu kamen letztlich die fünfzehn Mille plus Apanage im Monat … Zwei zu Null für Nils. Aber war das wirklich Liebe? Sie wagte nicht daran zu denken, obwohl sein ganzes Auftreten, seine Aufmerksamkeiten und ganz besonders die Blicke aus seinen eindrucksvollen grauen Augen viel davon sprachen und sie im Grunde ihres Herzens berührten.

Geblendet von der gnadenlos hereinscheinenden Sonne schloss sie gleich wieder die Augen. Hatte Nils ihr nicht voller Stolz berichtet, er habe extra eine Innendekorateurin engagiert? Was musste das für eine Null sein! Oder war ihr das Geld bei den Jalousien ausgegangen? Sie zog sich das zweite Kopfkissen über das Gesicht und schenkte sich weitere zehn Minuten. Es roch noch nach ihm. »Fünfzehntausend«, murmelte sie in die Federn hinein, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass es das alles wert war.

Gerade war Christin erneut hinweggedämmert, als ihr Smartphone zum Leben erwachte. Mit einem wenig druckreifen Fluch nahm sie das Gespräch an. Es war die Spedition, die ihr mitteilte, dass sich die Ankunft ihrer Möbel auf den Abend, wenn nicht gar bis zum folgenden Morgen verzögerte. Shit, wenn man einmal auf andere angewiesen war! An Schlaf war nicht mehr zu denken. Außerdem war es bald zwölf Uhr und ein nagender Hunger klopfte bei ihr an. Stöhnend rappelte sie sich auf. Paracetamol, ein Knäckebrot mit Hüttenkäse und zwei dicke Scheiben Tomaten. In genau der Reihenfolge!

Nur, was nützte der schönste Kühlschrank mit Biofach und hast du nicht gesehen, wenn in ihm nur eine Betriebsanleitung vor sich hin kühlte? Nils hatte an fast alles gedacht. Nur nicht daran, dass sein Liebchen nicht allein von Luft und Sex leben konnte. Es fing alles wirklich sehr gut an.

***

Heute gönnte sich Tobias den Luxus, die Mittagspause im gut besuchten Café am Markt zu verbringen. Die Zwiebelsuppe und auch die reichlich belegten Baguettes waren hier unübertroffen. Wenn man einen lukrativen Job fast abgeschlossen hatte, durfte man sich auch mal verwöhnen. Zumal wenn man, wie an diesem schönen und sonnigen Tag, einen der begehrten Plätze an der Straße vor dem Café ergatterte.

Sein zufriedener Blick glitt die Wallhofstraße hinauf, Gernhausens kleine, aber feine Fußgängerzone. Wenige Läden der Art, wie man sie in diesen monotonen, ewig gleichen Shoppingcentern fand, in denen man nicht wusste, ob man sich gerade in Oslo oder in Palermo aufhielt. Nein, kleine, aber exklusive Geschäfte mit speziellen Waren aus der Region oder mit den sogenannten Nischenangeboten, wie man sie in den großen Städten kaum mehr fand. Dank seiner Mithilfe gab es nun bald ein weiteres schönes Geschäft, in dem sich besonders die Damenwelt wohlfühlen konnte. Er behielt seine anhaltende Skepsis für sich, ob die Niedermeyers mit ihrer Dessous- und Wäscheboutique den rasenden Umsatz machen würden. Bei einer eher prüde eingestellten Einwohnerschaft war das fraglich. Am Ergebnis seiner Arbeit sollte es jedenfalls nicht liegen. Er hatte das Innenleben des aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden Bürgerhauses speziell nach den ausgefallenen Wünschen seines Auftraggebers umbauen können. Herr Niedermeyer war ihm heute bei der Abnahme des Ergebnisses beinahe um den Hals gefallen. Er hatte ihn zur Eröffnungsfeier in zwei Wochen herzlich eingeladen und ihm für seine Gattin, wie er sagte, einen Gutschein über hundert Euro in die Hand gedrückt. Es bereitete Tobias bereits jetzt eine diebische Freude, sich Juttas Gesicht vorzustellen, wenn er ihr diesen Gutschein überreichte.

»Hallo Tobi.« Die junge, attraktive Kellnerin blieb vor seinem Tisch stehen. »Du hattest die Zwiebel und das überbackene Käsebaguette bestellt?«

»Ja. Hallo Zoe, wie geht es dir?«, grüßte er seine Nachbarin, die hier halbtags jobbte, und schenkte ihr ein offenes Lächeln.

»Gut! Gut, wenn ich so wie jetzt ein paar Stunden Ruhe vor meinen wilden Rangen habe«, sagte die Mutter von Zwillingen.

Tobias nickte verstehend und nahm den heißen Steinguttopf entgegen. Heiß … Er biss sich auf die Lippen und begann andächtig umzurühren. Dabei sah er dem Treiben auf der Straße zu, bis er es wagen konnte, die Suppe ohne Brandblasen auf der Zunge zu genießen. Das Schuhgeschäft Hagen auf der anderen Seite hatte ein großes Plakat im Schaufenster. Ballerinas, dreißig Prozent auf den Neupreis, konnte er bis hierher lesen. Er würde Jutta eine SMS schicken. Erst vorgestern hatte sie ihm gesagt, dass Hannah erneut aus ihren Schuhen wuchs und dass der Sommer kam.

Das Geräusch, das mit einem Male an seine Ohren drang, riss ihn magisch aus seinen Gedanken. Das metallische Klacken von Absätzen auf Stein, das wohl in jedem normal denkenden Mann unterschwellig den Jagdinstinkt weckt, alarmierte auch Tobias. Die Trägerin dieser hochhackigen Botschaft blieb vor ebendem Schuhgeschäft stehen. Mein Gott, solch rassiger Anblick hatte sich ihm lange nicht geboten. Dabei konnte er von seinem Platz aus gerade einmal ihre Rückfront sehen. Kurven an den richtigen Stellen, die ihre Trägerin mit einem engen Rock und hellen Strümpfen mit Naht besonders betonte. Ihr langes, goldblondes Haar fiel ihr in anmutigen Wellen bis über die Schultern hinab. Er war ehrlich traurig, als sich die unbekannte Schönheit dazu entschloss, das Schuhgeschäft zu betreten und seinen Röntgenblicken zu entschwinden. Wenigstens hatte seine Mahlzeit die richtige Temperatur erreicht, versuchte er sich zu trösten. Doch die Traumfrau, wie er sie insgeheim für sich getauft hatte, ließ ihm keine Ruhe. Während seine Augen in ihrem Beobachterjob langsam anfingen zu tränen, versuchte sein Geist, ihre Erscheinung mit einer ihm bekannten Frau zu verknüpfen. In einer Stadt mit kaum zwanzigtausend Einwohnern kannte man sich mehr oder weniger; und wenn es nur vom Sehen war. Er war nicht wirklich ein wahrer Womanizer. Weder vor der Zeit mit Sina und erst recht nicht danach. Doch diese Frau wäre ihm bestimmt nicht entgangen. Negativ, kamen seine Rezeptoren zu einem für ihn unbefriedigenden Ergebnis. Zumindest besaß sie Ausdauer, was das Shoppen anging, dachte er, dankbar, dass Jutta und Hannah sich damit sehr gut allein beschäftigten und ihm diese Tortur ersparten. Tobias hatte sein Mahl fast beendet, als seine Ausdauer belohnt wurde. Die Traumfrau verließ den Schuhladen. Hinter einem Berg aus Taschen und Tüten war sie kaum zu erkennen. Hatte sie das wirklich alles in der kurzen Zeit und in diesem einen Geschäft eingekauft? Oh Gott, ihre Kreditkarte musste ja glühen.

Sie trug nun flache Schuhe, als sie die Straße zielstrebig überquerte und das Café und somit seine Nähe ansteuerte. Das Fluchen und Pöbeln eines Fahrradkuriers, der das plötzliche Hindernis im letzten Moment umkurven musste, verlor sich unbeachtet im Wind. Die Frau sah einfach nur atemberaubend aus, entschied Tobias ohne Wenn und Aber. Andere Vergleiche wären Makulatur. Ihr schmales Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen wurde von einer wahren Flut goldblonder welliger Haare umrahmt. Ihre sinnlichen, leicht verkniffenen Lippen … Am liebsten wäre er jetzt auf der Stelle zum Bildhauer geworden.

Sein Herzschlag setzte ungefähr zu dem Zeitpunkt wieder ein, als er ihren Blick aus dunklen Augen auf sich gewahrte. Erwischt! Hm, ein verlegenes Lächeln kam immer an. Es war vielleicht nicht gerade höflich, sie so zu mustern. Aber das herablassende »Bauernlümmel«, mit dem sie seine Aufmerksamkeit honorierte, war auch nicht wirklich nett. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte sie an seinem Tisch vorbei, dass ihm ihre Einkäufe nur so um die Ohren flogen.

»Trampeltier«, murmelte Tobias leicht gekränkt und widmete sich dem Rest seiner Mahlzeit. So eine eingebildete Zicke.

Die „Zicke“ drapierte ihre Einkäufe in zwei der Korbstühle am Nebentisch und ließ sich seufzend in den dritten fallen.

Wie hingezaubert stand die freundlich lächelnde Zoe neben ihrem neuen Gast und wurde von ihr angefaucht, bevor sie auch nur zwei Worte herausbrachte. »Sie sehen doch wohl, dass ich gerade erst Platz genommen habe, oder? Nun gut, dann bringen Sie mir eben einen Espresso und die Speisekarte. Aber ohne Zucker!«

Zoe und Tobias hatten sich noch nie so stumm verstanden wie in diesem Augenblick. Still in sich hinein lächelnd folgte Tobias scheinbar interessiert dem Treiben auf der Straße. Insgeheim dankte er – der eigentliche Atheist – dem lieben Herrgott dafür, dass er ihn vor solch einer keifenden Furie bewahrt hatte … und weiterhin bewahren möge.

»Wie können Sie mir jetzt sagen, dass Sie vor dem Haus stehen!« Erschrocken zuckten die Gäste im weiten Umkreis zusammen. Aber das schien die Frau am Nebentisch nicht zu bemerken oder zu interessieren. »Ihr Chef selbst hat mich vor nicht einmal zwei Stunden angerufen und auf heute Abend vertröstet!«

Ihre Blicke trafen sich ein weiteres Mal und stürzten den jungen Mann diesmal in ein Wechselbad der Gefühle.

»Nein, Sie warten jetzt dort. Ich bin in ein paar Minuten da.« Erst jetzt gaben ihre Blicke ihn frei. Mit einer wütenden Verwünschung erhob sie sich, verstaute ihr Telefon und griff ihre Einkäufe.

Überflüssig zu erwähnen, dass Tobias’ Schulter genau der Tasche am nächsten war, die ihre abgelegten High Heels beinhalten mussten.

»Wo ist die denn hin?« Die konsternierte Zoe stand mit ihrem Tablett im Durchgang.

»Hat sich auf ihren Besen geschwungen und ist abgerauscht«, kam es lakonisch von Tobias.

Zoes Gesichtsausdruck wechselte ins Weinerliche. »Und der Espresso? Ich habe heute schon vier Storno. Der Chef reißt mir den Kopf ab.«

»Was für ein Glück. Zoe, wie konntest du wissen, dass ich gerade jetzt einen Espresso dringend nötig habe? Nur mit doppeltem Zucker, sonst werde ich auch noch giftig wie diese Spaßbremse.«

***

Als Tobias am Abend heimkehrte und die Parade von Balus Grundausstattung für über zweihundert Euro bewundert hatte, berichtete er seinen Mädels von den günstigen Ballerinas im Schuhhaus Hagen. Von seinen Erlebnissen mit einer unheimlich attraktiven, aber leider auch völlig durchgeknallten Frau erzählte er dann lieber doch nichts.

Wie hätte er auch zu diesem Zeitpunkt wissen können, dass ihm sein Schicksal nur noch zwei erholsame Tage zugestand.


Kapitel 4

Es war Freitagabend. Anstrengende Tage voller Auspacken und Einräumen lagen hinter Christin. Doch so langsam konnte sie für sich mit Fug und Recht behaupten, dass sie sich wohlzufühlen begann.

Seufzend und mit einer gehörigen Portion Selbstkritik betrachtete sie ihr Outfit und das eigentlich gut gelungene Make-up für den Abend. Besonders der Smokey-Eyes-Effekt war ihr geglückt. Dieser neue Lidschatten mit dem nicht zu aufdringlich wirkenden Glitzern brachte die Goldsprenkel in ihren dunkelbraunen Augen richtig zur Wirkung. Nicht nur Nils-Ole würde sich nach ihr umdrehen. Sie malte sich aus, wie seine Selbstsicherheit, mit der er sie in Besitz genommen hatte, auf ein vernünftiges Maß gestutzt wurde. Ein bisschen Eifersucht konnte nicht schaden. Der Lippenstift. Er wirkte ein wenig zu dunkel. Aber das ließ sich nun nicht ändern. Morgen würde sie zu dieser gut sortierten Drogerie gehen, die sie längst ausfindig gemacht hatte. Wenn sie denn bis zum Mittag aus dem Bett kam. Christin … bleib bei der Sache, rief sie sich zur Ordnung und begutachtete ihren Gesamteindruck im Spiegel, der eigentlich viel zu klein war. Das Kleid saß wie angegossen. Elegant und etwas zu bieder. Genau der richtige Stil für dieses Kaff! Da war es wieder, dieses Gefühl von Unlust. Dabei hatten Nils-Ole und dieser Kulturverein den Abend extra für sie auserkoren, um die neue Stadtchronistin der Öffentlichkeit und Presse vorzustellen. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Aber es war nun einmal ihre Tarnung. Offiziell würde sie nun ein Jahr lang als Chronistin die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner erforschen. Und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, so freute sie sich sogar auf diesen Job. Nicht nur, weil sie faktisch zwei Semester Geschichte studiert hatte! Okay, nicht wirklich, aber ihr damaliger Freund und Gönner war Professor für Geschichte gewesen. Zumindest hatte sie so etwas um die Ohren, wenn Nils-Ole ihre Dienste nicht benötigte.

Ein Blick zur Uhr. Noch immer reichlich Zeit. Sie als „Star“ des Abends wollte schließlich nicht die Erste sein. Womöglich noch beim Aufbau der Kulissen helfen. Langsam begann sie zu bedauern, dass sie Nils’ Vorschlag abgelehnt hatte, Frederik solle sie standesgemäß vorfahren. Aber das wäre ein Zuviel des Guten. Außerdem war es ein so schöner Abend, dass es sich von allein anbot, gemütlich zu Fuß zum Empfang im historischen Rathaus zu gehen. Die Ballerinas, die sie vor Kurzem gekauft hatte, mussten eh eingelaufen werden.

Erneuter Blick zur Uhr. Zwei Minuten später. Ein anderer Gedanke. Etwas, das sie bereits gestern Abend geplant hatte.

Christin lächelte ihrem Spiegelbild ein letztes Mal zu und stieg die Treppe ins darunterliegende Wohnzimmer hinab. Hier fühlte sie sich bislang noch am wohlsten. Irgendwie hatte sie es vollbracht, diesem verhältnismäßig großen Raum ihre persönliche Note zu geben. Lachend drehte sie sich mit ausgebreiteten Armen einmal im Kreis und huschte dann zur Balkontür. Der Balkon, das wäre in der kommenden Woche ihr nächster Job. Christin schwebten schon so viele Ideen durch den Kopf. Wilder Wein wäre schön. Ja, und schnell wachsende Pflanzen. Besonders schnell wachsende! Alles was half, um diesem neugierigen Volk, das sich Nachbarn nannte, die Einblicke in ihr Leben zu verwehren. Erst gestern stand so eine impertinente Frau vor ihrer Tür und wollte sie willkommen heißen. Dabei hatte sie einen Hals gemacht, dass eine Giraffe vor Neid erblasst wäre. Christin schloss die Tür und zog die langen Stores vor. Jalousien! Die hätte sie heute wirklich bestellen können, ärgerte sie sich über sich selbst und über diese sogenannte Innendekorateurin, die ihr die Wohnung eingerichtet hatte. Sie selbst hätte sich in Grund und Boden geschämt, solch halb fertige Sachen abzuliefern. Schluss jetzt, warf sie sich energisch vor. Wenn sie nun anfing, sich über alles aufzuregen, würde sie in diesem Kaff nie zur Ruhe kommen!

Christin trat an das kaum bestückte Bücherregal. Das Buch mit dem wundervoll gestalteten Einband lag gut in der Hand. Irgendwie schade, dass es nicht für die Ewigkeit war, dachte sie mit einer Spur schlechten Gewissens. Ganz bestimmt würde es später besser brennen als ihr letztes Tagebuch, sagte sie sich und setzte sich mit dem jungfräulichen Band an den Tisch.

Mit was sollte sie die erste Seite füllen? Wenn es auch das Schicksal all seiner Vorgänger erleiden würde, sobald sie hier ihre Zelte abbrach, so wollte sie es doch mit Respekt führen und behandeln. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Antlitz und ließ eine selten gespürte Sanftheit zutage treten.

Christin legte den Stift nieder und schloss für einen Moment die Augen. Herunterkommen, das waren die richtigen Worte. Wie oft hatte sie sich das in den letzten Jahren in schwachen Augenblicken gewünscht. Und doch war es nie eingetroffen. Sie musste an ihre erste Nacht mit Nils-Ole denken; hier oben – sie sah zur Decke – im Lotterbett. Es drehte sich natürlich nur um ihn und seine Männlichkeit. Als Quintessenz dessen blieb die Frage, was sie selbst noch vom Leben erwartete?

Nun ist es wieder so weit. Ich habe einen neuen Lebensabschnitt begonnen, der mich von Frankfurt fortgeführt hat. Hierher nach Gernhausen. Eine wunderschöne Altstadt gibt es hier, in der ich nun lebe. Es ist alles viel kleiner und hübscher als in meinem alten Leben. Und … ja, auch entschleunigter! Aber ist das so verkehrt? Ein wenig Hoffnung trage ich schon in mir, dass ich etwas ruhiger werde und vor allem auf den Boden komme. Ich bin nun dreißig Jahre alt und spüre immer öfter, dass das Leben auf der Überholspur zwar schön, aber auf Dauer nicht ertragbar ist.

Ich glaube, dass ich eine reelle Chance habe. Ich muss sie nur nutzen. Nils-Ole Händler – so heißt mein derzeitiger Gönner – ist ein erster guter Anfang auf dem Weg dorthin. Ich hätte es schlimmer erwischen können. Dieser Mann hat etwas für sich. Er ist hübsch anzusehen, ein wunderbarer und vor allem potenter Liebhaber, immer gut aufgelegt und in so vielen Dingen bewandert. Anders herum ist er gerissen, selbstbewusst und weiß, was er will. Besser gesagt, er ist mehr als das. Was hinter seiner gutmütigen Fassade schlummert, möchte ich gar nicht wissen. Es soll mir auch egal sein. Er ist kein Mann auf Dauer. Nicht nur, weil er verheiratet ist und seine eigentlich hübsch anzusehende Frau verächtlich „dicke Matrone“ nennt. Was also ist verlässlich an ihm? Nein, Nils ist für mich nur Mittel zum Zweck. Obwohl mich unsere tiefschürfende Plauderei in der ersten Nacht seitdem häufig beschäftigt. Was erwarte ich wirklich von einem Mann, den ich liebe und mit dem ich alt werden möchte? Wenn ich meinen Traumprinzen jemals finden würde. Christin, du bist dreißig und es ist absehbar, wie lange du noch „Gute Zeiten“ haben wirst …

***

Freitagabend. »Endlich Wochenende«, stöhnte Tobias Herder erlöst. Solch anstrengende und zeitraubende Termine wie heute mit dem Ehepaar Leisner gab es zum Glück nicht so oft. Aber die ganze Vorarbeit hatte sich rundherum gelohnt. Die Leisners hatten endlich den Vertrag für die Restaurierung und Modernisierung ihres Hauses aus der Zeit um 1650 unterzeichnet. Ein Auftrag, der sicher mehr als vier Monate Beschäftigung versprach. Es würde ein richtiges Schmuckstück werden, dachte Tobias zufrieden und schloss umständlich das Garagentor. Dabei versuchten sich die Baupläne und Zeichnungen, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, erneut selbstständig zu machen. Warum nur hatte er nicht erst das ganze Backbeermus zu Hause abgeliefert und war dann zur weit entfernten Garage gefahren? Egal, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Es hetzte ihn niemand – Wochenende!

Zumindest war er so geistesgegenwärtig gewesen, den Haustürschlüssel in der Hand zu behalten, beglückwünschte sich Tobias, als er sich und seine Last durch die schmale Haustür zwängte. Ehe er sich versah, huschte etwas Kleines, Flinkes an seinen Beinen vorbei. Quietschende Reifen und zorniges Hupen gingen einher mit der Erkenntnis, dass Balu auf die Straße gerannt war. Tobias warf alles von sich, schmiss sich herum und prallte dabei wie eine Flipperkugel gegen beide Türrahmen.

»Balu!« Die Panik, dem Kleinen könne etwas passiert sein und Hannah gar dessen blutige Überreste sehen, trieben ihn mit einer affenartigen Geschwindigkeit auf die Straße. Wo er erneut mit etwas Spitzem, Knochigem zusammenprallte. Ein schmerzhafter Aufschrei ließ ihn erschrocken nach Halt suchen. Er bewahrte sein Hindernis zwar vor dem Stürzen, dafür wirbelten sie walzerartig über das Kopfsteinpflaster, ehe beide ihr Gleichgewicht wiederfanden.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sie ungehobelter Klotz!«

Bevor Tobias überhaupt begriff, mit wem er zusammengeprallt war, spürte er ein heftiges Brennen auf der linken Wange.

»Was fällt Ihnen ein, mich über den Haufen zu rennen!«

Wutentbrannt, mit zorngerötetem Gesicht und wildem Haar stand sie wie eine Rachegöttin vor ihm. Balu auf dem Arm, ihre Rechte zur Faust geballt. So als wolle sie sich umgehend auf ihn stürzen. Erst jetzt erkannte Tobias in diesem Racheengel die Traumfrau von vor zwei Tagen wieder. Und wieder pöbelte sie herum wie ein Bierkutscher. Nur dass er diesmal ihr auserkorenes Opfer war.

»Sie müssen vielmals entschuldigen, aber der Kleine ist einfach hinausgestürmt. Ich wollte Sie …«

»Dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass es dem armen Tier nicht möglich ist, Sie … Sie Tierquäler, Sie!«

Als wenn Balu ihre Vorwürfe noch unterstreichen wollte, bedachte er das Kinn seiner Lebensretterin mit Hundeküsschen. Dieser Verräter! »Hören Sie, ich kann ja verstehen, wie sehr Sie sich erschrocken haben …«

»Sie Hohlpfosten sehen nicht danach aus, als würden Sie überhaupt etwas verstehen.«

Ja, konnte dieses Weib einen nicht ausreden lassen! »Eines verstehe ich sehr wohl.« Nun war das Maß der Geduld auch bei Tobias überschritten. »Dass Sie eine selbstherrliche alte Krawallschachtel sind!«

»Krawallschachtel!?!«

»Meinetwegen auch Gewitterziege, Scharteke oder wie man Sie sonst noch zu nennen pflegt.« Er trat bestimmt auf sie zu und streckte verlangend die Hand aus. »Ich entschuldige mich ein letztes Mal für mein „stürmisches“ Verhalten. Doch nun geben Sie mir endlich den Hund zurück und schwingen sich wieder auf ihren Besen.«

Ihre Empörung schlug in Verwirrung und Schnappatmung um, registrierte er zufrieden. So etwas hatte sich Madame – oh Gott, sah sie toll aus – bisher bestimmt nicht oft anhören müssen. Er nahm ihr das Tier ab, ohne dass sie dagegen erneut aufbegehrte. Ein trauriges Lächeln war sein Dank. Mit den Worten »Es tut mir leid, dass man sich auf diese Art kennenlernen musste« wandte er sich ab und kehrte mit Balu zum Haus zurück.

»Einen Moment, bitte.«

Er blieb stehen, als würde er gegen eine Wand laufen. Was für eine Stimme … Wenn sie denn nur normal sprach oder gar wie jetzt flehend klang. Er sah über seine Schulter. »Ja?«

»Darf ich erfahren, wie er heißt?«

»Ich?«, kam er nicht umhin, sie zu foppen und schickte ein hoffnungsvolles Lächeln hinterher. Ihre sinnlich-verrucht geschminkten Augen leuchteten gefährlich auf.

»Den Hund meine ich.«

»Balu.« Es war ihr anzusehen, wie sie grübelte. »Versuchs mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit«, sang er die erste Strophe von Balu, dem Bären aus Disneys Dschungelbuch und setzte gehässig hinzu: »Das würde Ihnen auch gut stehen.« Gleich schreit sie wieder los, arbeitete es in ihm – Gehör dämmen!

»Vielleicht haben Sie sogar recht«, überraschte sie ihn mit ungewohnt milder Stimme.

»Ich habe immer recht«, bestätigte er ihr mit ernstem Nicken. »Schönen Abend noch.« Er wandte sich endgültig ab, ohne eine weitere Entgegnung ihrerseits abzuwarten. Im Grunde hatte er Angst davor, sie könne bemerken, wie sehr ihn ihre plötzliche Freundlichkeit faszinierte.

Tobias warf die Haustür extra kräftig ins Schloss und übergab Balu an Hannah. »Das nächste Mal passt du auf deinen Hund gefälligst besser auf, sonst wird er doch noch überfahren!«

Hannah zuckte bei dem wütenden Unterton ihres Vaters erschrocken zusammen und verkrümelte sich mit Balu auf ihr Zimmer.

Tobias sammelte die im ganzen Flur verstreuten Pläne auf, deponierte diese im Büro und begab sich im Anschluss in die Küche.

»Meinst du nicht, dass du Hannah gegenüber ein wenig zu harsch warst?« Jutta, die damit beschäftigt war, für ihre kleine Familie das Essen zuzubereiten, hielt sich wohlweislich zurück, Tobias auf das anzusprechen, was eben auf der Straße geschehen war. Die Blicke und Reaktionen ihres Schwiegersohnes hatten etwas an sich, das sie in den letzten Jahren so sehr an ihm vermisst hatte.

***

Das Opfer der Rempelattacke hatte derweil noch immer Mühe, ihre Fassung zurückzugewinnen. Nicht allein, dass ihre Schulter, gegen die dieser Berserker geprallt war, immer noch schmerzte. Es waren diese Blicke, die Christin verwirrten und die so gar nicht zu seinem kindischen Gehabe passten. Diese dunkelgrünen Augen, die doch so unendlich traurig wirkten. Sie hatte sie schon einmal auf sich ruhen gespürt. Nur, wo war das?

Als Christin die große Freitreppe des historischen Rathauses erreichte, hatte sie den Vorfall erfolgreich verdrängt. Was für ein Pomp, beurteilte sie die Kulisse, die sich ihr bot. Fehlte nur noch ein livrierter Page, der sie empfing, oder der Haushofmeister. Ein gut gelaunter Bürgermeister tat es aber auch. Nils-Ole begrüßte sie auf eine herzliche, aber betont offizielle Art. Keineswegs so innig, wie er sie in ihrer ersten Nacht empfangen hatte. Ein wohliger Schauer durchrieselte Christin bei dem Gedanken, wie sehr er sich freuen würde, wenn sie ihm ihre Überraschung präsentierte. Seine fantasievollen Wünsche der letzten Nacht waren nicht ungehört geblieben.

***

In den folgenden Stunden genoss es Christin, der Star des Abends zu sein. Zum ersten Male seit Langem gelang es ihr, zur Höchstleistung aufzulaufen und ihrer Rolle gerecht zu werden. Da waren viele neue Gesichter aus Wirtschaft, Politik und Presse, die ihr durch die Bank weg Hilfe und Unterstützung für ihre Arbeit anboten. Ganz zu schweigen von den Visitenkarten zweier Herren mittleren Alters mit besonders schwerem Bankkonto. Beide hatten sich wie selbstlos angeboten, ihr zur Seite zu stehen, sollte sie sich einsam fühlen.

Es ging bereits auf Mitternacht zu. Die Gesellschaft war zwischenzeitlich auf eine kleine, illustre Runde geschrumpft, als dem Herrn Bürgermeister einfiel, dass er noch etwas in seinem Büro zu erledigen habe. Auch Christin sah auf ihre zierliche Armbanduhr. Cartier, nur wer besaß hier schon ein Auge dafür. Erschrocken stellte sie fest, dass es längst an der Zeit war aufzubrechen. Heinrich – sein Nachname war ihr längst entfallen, aber er hatte irgendetwas Leitendes bei diesen Geschichtsfreunden – erbot sich lauthals, sie heimzugeleiten. Weitere Herren schlossen sich an, die schöne Chronistin selbstlos heimzubringen.

»Meine Herren, Sie werden Frau Thorstraten in den nächsten Wochen und Monaten noch genug mit Rat und Tat zur Seite stehen«, sprach Nils-Ole Händler ein unerwartetes Machtwort. »Doch heute Abend wird es mein Privileg sein, Frau Thorstraten zu begleiten.« Er wandte sich ihr zu. »Wenn Sie mir bitte kurz in mein Büro folgen wollen. Es dauert nicht lang, dann werden ich Sie heimbringen.« Er bot ihr elegant den Arm, den sie dankbar ergriff, während sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln von ihren Galanen verabschiedete.

Sie gingen einen kurzen Flur entlang. Hinter sich hörte Christin den feierlichen Abgesang auf eine wunderschöne Frau. »Ihr seid hier allesamt ganz große Schwerenöter«, stellte sie Nils-Ole gegenüber heiter fest.

»Bei solch einer Frau läuft „Mann“ zu Hochtouren auf«, erwiderte er trocken und öffnete eine der Türen. »Wie man mitkriegt, sammelst du bereits Visitenkarten mit Privatnummern.«

Christin stutzte bei seinem Tonfall und sah ihn verwundert an. »Das hast du mitbekommen?«

»Markus Winter und Hans-Walter Puls. Ja, das habe ich sehr wohl mitbekommen!« Der Griff, mit dem er sie mit sich ins Büro zog, war hart. »Mir entgeht selten etwas. Das solltest du dir ein für alle Male einprägen. Und vor allem ernst nehmen.«

»Es ist ja wohl meine Sache, wenn ich mich auch mit anderen netten Herren unterhalte.« Christin befreite sich energisch aus seinen Griff. »Oder willst du mir etwa drohen?«

»Sieh es als gut gemeinte Warnung an. Solange ich dich bezahle, wirst du das tun, was ich von dir verlange. Das ist unser Deal, sollte es dir entfallen sein?«

»Ich weiß sehr wohl, was unser Geschäft ist.« Sämtliche Weinseligkeit war ihr abhandengekommen. Ließ Nils jetzt seine Maske fallen?

»Das freut mich zu hören.« Er trat hinter sie und ließ seine Hand über ihren Nacken und den Hals in Richtung des Ausschnitts gleiten. »Vielleicht ist es nicht einmal verkehrt, wenn du Puls und Winter ein wenig den Kopf verdrehst. Die beiden hätte ich gern ein wenig mehr unter Kontrolle.«

Es dauerte einen Moment, ehe Christin begriff, wie er es meinte. Ein Eimer kaltes Wasser hätte sie nicht besser aus den Überresten ihres Wohlgefühls reißen können. Sie löste sich von ihm. »Willst du damit sagen, dass ich mit diesen Männern ins Bett gehen soll, wenn es dir in dein Konzept hineinpasst?«

Nils-Ole Händler erwiderte ihren wutsprühenden Blick mit einem abfälligen Lächeln. »Solange ich dich bezahle …« Er ließ keinen Zweifel daran, wie seine Worte aufzufassen waren.

Ein eiskalter Hauch kroch ihr über den Rücken, als sie ein weiteres Mal in kürzester Zeit feststellen musste, wie sehr sie sich in diesem Mann getäuscht hatte. Nein! So nicht!

»Nils, ich bin eine Konkubine, Geliebte, oder nenne es, wie du willst. Aber ich bin nicht deine Hure; dein Pferdchen, das du zum Anschaffen auf den Strich schickst!«

»Nein, das bist du nicht.« Die Maske kehrte an ihren Platz zurück. Mit einem liebevollen Lächeln trat er auf sie zu und umarmte sie, was sie zögerlich geschehen ließ. »Ich mag nur keine Überraschungen. Und ja, ein wenig eifersüchtig bin ich auch. Doch nun lass uns über ein schöneres Thema sprechen. Oder besser, handeln.« Er schob sich hinter sie und drängte sie mit wachsender Erregung in Richtung des überdimensionierten Schreibtisches.

Christin, die noch immer mit den verwirrenden Eindrücken von zuvor zu kämpfen hatte, spürte, wie er bestimmt ihren Oberkörper auf das glänzende Furnier der Tischplatte zwang und den Saum ihres Kleides hinaufschob. Mit einem Male fühlte sie sich überhaupt nicht mehr überlegen und sicher, dass sie alles fest in der Hand hatte.

»Ich finde, es ist eine schöne Idee von dir, dich gleich gebrauchsfertig zu liefern«, stellte er mit zufriedener Lüsternheit fest. »Deinen Slip darfst du gern öfter fortlassen.«

Nils-Ole war nie der zärtliche Typ gewesen. Als er sie nun in Besitz nahm, zerriss nicht nur der Wunsch in ihr, dass er vielleicht doch der Traumprinz war.

***

Apathisch stand die junge Frau am Fenster ihrer dunklen Küche und sah auf die nächtliche Straße hinaus, die mit ihrer Retro-Mittelalter-Beleuchtung so weit ausgeleuchtet war, dass man gerade die Hand vor Augen sah. Der Kaffee in ihrer Hand hatte längst von lauwarm zu eiskalt gewechselt. Selbst das wurde ihr nicht bewusst. Wie alles, was um sie herum und ganz besonders in ihr vor sich ging. Erst als der kleine Hundewelpe mit seinem Herrchen auf der anderen Straßenseite erschien, kehrte so etwas wie Leben in die tränenverschleierten Blicke zurück.

»Balu«, kam ihr der Name leise und zärtlich über die Lippen, während sich ein vergebliches Lächeln auf ihnen festzusetzen versuchte.

Sein Herrchen blieb mit leichtem Schwanken stehen, als der kleine Wicht eine für ihn interessante Stelle näher beschnupperte. Mit einem herzhaften Gähnen ergab er sich in sein Los und starrte verloren in den Nachthimmel.

»Und wie heißt du, Herrchen?« Christin sah verblüfft neben sich. Doch dort stand niemand, der diese Frage gestellt hatte.


Kapitel 5

Nun lebte sie bereits seit geschlagenen zwei Wochen in Gernhausen. Hätte man sie – wie wohl all ihre Nachbarn – gefragt, was das bisherige Fazit war, würde man eine einstimmige Meinung finden. Viel zu lange! Doch darüber hatte sich Christin Thorstraten längst in ihrem Tagebuch ausgelassen. Sogar sehr selbstkritisch, wie sie fand.

Das Einzige, was ihr erstaunlicherweise sehr viel Spaß bereitete, waren die Arbeiten an der Chronik und ihre häufigen Besuche im hiesigen Stadtarchiv. Hier in dem kleinen, aber feinen Lesesaal, in dem die Archivarin Amelie Gruber uneingeschränkt herrschte, fühlte sie sich wie in ihrer zweiten Wohnstube. Fräulein Gruber, auf dieser althergebrachten Formulierung bestand die Dame, hatte auf ihre bärbeißige Art entschieden, diese junge Frau in ihr Herz zu schließen. Etwas, das auf Gegenseitigkeit beruhte, resümierte Christin. Nicht erst seitdem Amelie Gruber der schluchzenden „Fachfrau“ half und sie lehrte, diese alte deutsche Schrift zu lesen, zu verstehen und sie letztendlich auch auszuwerten.

Heute nun hatte sie zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten, einige der alten Akten nach Hause mitzunehmen, um sie übers Wochenende auswerten zu können. Wie schön, fand Christin und klemmte sich ihre Aktenmappe noch fester unter den Arm. So hatte sie wenigstens etwas um die Ohren, während Nils mit der Familie das Wochenende über fort war. Sie war eine richtige Strohwitwe.

Bitterkeit überflutete das vermeintliche Hochgefühl. Wie falsch das plötzlich klang. Nils-Ole hatte sich zwar am folgenden Tag für sein eifersüchtiges Verhalten entschuldigt, doch der Traum, Teil von etwas Besonderem zu sein, war verflogen. Zumindest bis jetzt. Es war also gar nicht schlimm, drei Tage und Nächte lang einmal nicht „zur Verfügung zu stehen“.

Christin kehrte heim und verschloss die Archivalien sorgsam im feuerfesten Schrank, den ihr die Geschichtsfreunde gleich in den ersten Tagen zur Verfügung gestellt hatten. Erst dann machte sie sich erneut auf den Weg, um fürs Wochenende einzukaufen. Sie würde sich so richtig verwöhnen. Ein schöner Wein, dazu Parmaschinken, erlesenen Käse und alles, was sie sonst noch bei Feinkost-Hagen entdeckte und wonach ihr der Sinn stand. Dieses Wochenende würde sie schlemmen und leben. Scheiß auf Kalorientabelle und Fitness. Fehlte nur noch der Wagemut, alles auf Nils-Oles Namen anschreiben zu lassen.

Sie trat aus dem Haus und blinzelte aufatmend in die Sonne, die sich langsam anschickte, hinter den alten Ziegeldächern zu verschwinden. Herrlich! Manchmal, wenn sie ehrlich zu sich war, genoss sie es, nicht mehr im lauten, stinkenden und immer hektischen Großstadtdschungel zu leben. Hier konnte man nur mal eben auf einen Sprung zum Kaufmann am Unteren Markt oder in die Wallhofstraße gehen. Sie liebte diese kleine, aber exklusive Shoppingmeile. Oder, so wie jetzt, zurück zum Obermarkt zu Feinkost-Hagen. Beschwingt verschloss Christin ihre Haustür und machte sich auf den Weg. Sie entschied sich für den Weg durch die Bergwallgasse. Das war bedeutend kürzer als der Weg über König-Albrecht-Wall, Diagonalstraße und Kramergasse, aber doppelt so anstrengend. Doch wenn sie ehrlich war, waren es die liebevoll restaurierten Häuser in dieser Gasse, die es ihr angetan hatten. Dazu die Unmengen an Blumenkästen vor den Fenstern, die diese Straße so bunt und lebenswert machten. Zudem hatte sie sich bei ihren täglichen Wegen durch die mittelalterliche Altstadt längst stramme Waden antrainiert. Was selbst Nils-Ole aufgefallen war, erinnerte sie sich. Wie meinte er das eigentlich? Fand er sie zuvor etwa fett und unförmig?

Ein helles Bellen riss Christin aus ihren selbstkritischen Betrachtungen. Plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Der kleine Hund und dieser freche Kerl mit seinen so grünen Augen. Unbewusst suchte sie nach ihm, entdeckte aber nur ein kleines Mädchen, das auf den Eingangsstufen eines Hauses saß und den kleinen Hund an einer Leine hielt.

»Balu.« Ja, so hieß der Kleine, der nun, als er seinen Namen hörte, wie wild an der Leine zog, um zu ihr zu kommen. Christin näherte sich dem ungleichen Paar, ging vor den beiden in die Hocke und streichelte den Hund über das seidige Fell. »Hallo, Balu.«

Dieser warf sich umgehend auf den Rücken und präsentierte ihr den Babybauch.

»Hallo.« Sie sah lächelnd zu dem Mädchen auf. Hübsch sah die Kleine aus. Sie mochte vielleicht sechs Jahre alt sein, schätzte Christin. Schulterlanges, goldgelocktes Haar. Und lustige Sommersprossen tanzten ihr ums Näschen herum. Nur die dunklen, ernst dreinschauenden Augen, die sie stumm musterten, zerstörten das Bild von etwas Zartem, Reinen. »Du musst Balus Frauchen sein.«

Die Kleine nickte trotzig und zog Balu an seiner Leine zu sich heran, als befürchte sie, die Fremde wolle ihr das Tier fortnehmen.

»Ich heiße Christin«, stellte sie sich vor. »Ich wohne hier ganz in der Nähe und musste Balu letztens retten. Als dein …«, sie verschluckte gerade noch „blöder“, »… großer Bruder ihn auf die Straße laufen ließ.«

»Bist du die Stadttorhexe?«, taute die Kleine auf.

Aber wie!!! »Wie kommst du dazu, mich Stadttorhexe zu nennen?« Christin unterdrückte den Drang aufzustehen und beleidigt fortzugehen. Die dunkelbraunen Augen des Mädchens hielten sie gefangen und musterten sie interessiert.

»So nennen dich die anderen. Die sagen, dass du eine Hexe bist.«

»Ach, sagen sie das? Ja, dann muss es wohl stimmen, oder?«

»Nein, Hexen sind doch immer böse. Außerdem sind die immer alt und hässlich.«

Christin schmunzelte, konnte sich aber nicht vom Wahrheitsgehalt lösen. »Wer weiß, vielleicht habe ich mich nur jung und schön gezaubert.«

»Ne!« Das Mädchen schüttelte überzeugt ihr Lockenköpfchen. »Du bist ganz bestimmt eine gute Fee.«

»Bin ich das?«, Christins Herz tat einen kleinen Sprung, ehe ihr Gewissen sie einfing und mit Ehrlichkeit strafte. »Dann wohl eher eine schwarze Fee … oder zumindest eine ganz dunkelgraue.«

»Wie heißt du?«

»Christin. Und du?«

»Ich habe einen Namen, den kann man vorwärts und rückwärts sprechen und schreiben.«

»Otto«, kam Christin nicht umhin, die kleine, altkluge Dame ein wenig zu foppen.

»Ne Mensch, ich heiße doch Hannah!«

»Oh, das ist aber ein wirklich schöner Name. Und er passt zu dir, finde ich.«

»Dein Name ist aber auch schön. Du, darf ich dich Tini nennen?«

»Nicht wenn du eine Antwort von mir erwartest.«

»Ist gut«, entschied Hannah für sich und blickte mit einem strahlenden Lächeln an Christin vorbei. Hin zu der Frau, die sich bis auf wenige Schritte unbemerkt genähert hatte. »Jutta, guck mal, wen ich kennengelernt habe.«

Hannah stand behände auf, drückte ihrer neuen Freundin Balus Leine in die Hand und sprang der attraktiven, nicht mehr ganz taufrischen Frau entgegen. Diese hatte Mühe, ihre Einkauftaschen in Sicherheit zu bringen und das Mädchen zu halten, das ihre zarten Arme um deren Hüften schlang.

Jutta musterte die junge Frau reserviert. Das musste die Neue sein, diese Stadttorhexe, über die man sich bereits in der Nachbarschaft das Maul zerriss. Allein dieser Umstand ließ die Fremde gleich doppelt so sympathisch erscheinen. »Hallo, ich hoffe, Hannah hat Sie nicht zu sehr mit Beschlag belegt?«

Die junge Frau hatte sich mittlerweile von den Treppenstufen erhoben. Ein verlegener und dennoch trotziger Blick brandete ihr entgegen.

»Entschuldigen Sie, dass ich mich einfach so zu Ihrer Tochter gesetzt habe. Es wird nicht wieder vorkommen.« Christin wandte sich der Kleinen zu und reichte ihr die Hand zum Abschied. »Tschüss Hannah, es war wirklich nett, dich kennengelernt zu haben. Also, dann mach es gut.«

Auch Balu bekam eine liebevolle Streicheleinheit. Ein letzter herausfordernder Blick an die Adresse von Hannahs Mutter. Dann wandte sie sich brüsk ab und ging in Richtung Obermarkt davon, ohne sich nochmals umzuschauen.

Unweigerlich entging der jungen Frau dabei der Blick, den Jutta Kellermann ihr nachsandte. Respektvoll und mit der Frage behaftet, warum sich ihre Enkelin und diese Frau so ähnlichsahen. Jutta Kellermann war verwirrt. Und das nicht nur, weil sie feststellen musste, mit welch einer Herzlichkeit Hannah auf diese völlig fremde Frau reagierte.

***

Als sich Christin schließlich auf den Heimweg machte, waren die Stofftaschen gut gefüllt. Sie hatte wieder einmal viel zu viel eingekauft. Als hieße es, eine ganze Familie zu versorgen. Ihr Blick ging hinüber zu dem Haus, vor dem sie Hannah kennengelernt hatte. Ein wehmütiges Lächeln glitt ihr über die Lippen, als sie sich an das kleine, ein wenig altkluge Mädchen erinnerte »Bist du wirklich eine Hexe?« Ja, die war sie wohl in der Tat, dachte Christin mit seltener Ehrlichkeit. Wie lange man wohl an ihr schrubben musste, um aus ihr zumindest eine dunkelgraue Fee zu machen?

»So ein Blödmann«, kehrte sie mit einer Verwünschung in die Realität zurück. Nun musste sie über das unebene Straßenpflaster stolpern, nur um diesem Yuppie-Geländewagen auszuweichen, der mitten auf dem Gehweg vor Hannahs Haus stand und trotzdem die halbe Straße blockierte. Aus den Augenwinkeln heraus las sie das an sich geschmackvoll gestaltete Firmenlogo auf der Beifahrerseite „Tobias Herder – Architekt für Historisches Wohnen und Leben“.

War dieser Herder mit dem Chaoten identisch, der vor Tagen so schmerzhaft mit ihr zusammengeprallt war? Sie war so sehr mit sich und dieser existenziellen Frage beschäftigt, bis es plötzlich fürchterlich knallte und knackte. Da war ein Schatten, registrierte etwas in ihr im Nachhinein, der sich als offen stehende Heckklappe erwies.

Heftiger Schmerz, Schrecken und aufsteigende Übelkeit. Sie ließ ihre Last fallen und taumelte in Richtung Hauswand. Übelkeit, die rasend schnell den Hals hinaufstieg. Schwärze wollte den tränenverschleierten Blick vollends verdunkeln, als sie plötzlich aufgefangen wurde. Eine besorgte Stimme drang zu ihr durch. Sie fragte etwas, ohne dass sie den Sinn begriff. Erneuter Schwindel, als sie sich emporgehoben fühlte und kurz darauf den Kontakt zu einem weichen Ledersitz fand. Nur langsam wich die Übelkeit und machte dem rasenden Schmerz Platz, der sich schließlich auf einen großen Bereich ihrer rechten Stirnseite konzentrierte.

»Hallo! Können Sie mich verstehen?«

Langsam konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit auf die besorgten, schuldbewussten Blicke eines Mannes, der ihr seltsam bekannt vorkam. Grüne Augen … Schlagartig waren die Erinnerungen an diesen unschönen Streit von vor ein paar Tagen da. Dieser ungehobelte Kerl … Und erneut sah es so aus, als habe dieser Idiot Schuld an ihrem Schmerz und dieser ganzen peinlichen Situation, in der sie sich wiederfand.

»Sie schon wieder!!!« Christin schoss von ihrem Platz hoch und stieß sich erneut den Kopf, diesmal an der Dachschiene des Wagens. Doch das war nebensächlich bei dem heftig überkochenden Zorn auf diesen Tölpel, der es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht hatte, sie über kurz oder lang umzubringen! »Sind Sie des Wahnsinns fette Beute! Was zum Henker habe ich Ihnen getan, dass Sie mir ständig auflauern und versuchen mich umzubringen?«

Spätestens als sie ihn jetzt so verzagt und schuldbewusst vor sich stehen sah, hätte sie lachen und ihn trösten müssen. Doch der anhaltende Schmerz, ihr Schrecken und vor allem der Ärger über ihre eigene Tollpatschigkeit mussten heraus. Sonst würde sie an ihren Worten ersticken. »Sie sind einfach nur gemeingefährlich! Oder ist das Ihre Art, Frauen anzumachen? Ja, das wird es sein! Sie bekommen keine Frau ab, wenn Sie sie nicht fluchtunfähig machen!« Sauerstoffmangel ließ ihr die Stimme versagen. Sie presste stöhnend ihre Handballen gegen die Stirn und versuchte, der erneut aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden.

»Nun halten Sie mal fünf Minuten lang ihre süße, aber tödliche Kodderschnauze.« Ohne eine wirkliche Gegenwehr gelang es Tobias, sie zurück auf den Sitz zu verfrachten. »Ich denke, ich werde Sie ins Krankenhaus bringen müssen. Eine Gehirnerschütterung haben Sie sich ganz bestimmt zugezogen … und einen Tobsuchtsanfall. So wie Sie mich nun wieder niedermachen, kann es nur so sein«, machte sich Tobias seinerseits Luft und sparte dabei nicht an der nötigen Portion Sarkasmus. »Oder sind Sie von Natur aus eine Emanze und Menschenhasserin?«

»Ach, lecken Sie mich doch …«

»Einen dicken blauen Fleck wird es auf jeden Fall geben.« Beinahe zärtlich zog er ihren Kopf zu sich heran, um die Verwüstungen an ihrem Haaransatz zu begutachten. »Aber wer weiß, so mancher Dämon freut sich vielleicht sogar über ein weiteres Horn.«

Sein heiteres Lachen erstickte, als er – wie Tage zuvor – ein erneutes heftiges Brennen auf der Wange verspürte. Sie stand plötzlich wieder auf eigenen Beinen und funkelte ihn wie eh und je vernichtend an.

»Okay, das habe ich verstanden.« Schlagartig ernüchtert holte er seine Börse hervor und entnahm ihr eine Visitenkarte. »Wenn es um die Arztrechnung geht oder Ihren Anwalt. Ich bin haftpflichtversichert.«

Tobias drückte ihr das Stück Papier in die Hand und begann, die auf der Straße liegenden Dinge einzusammeln. Nur Feinkostzeugs. Typisch, passte irgendwie zu dieser … Schnepfe? Er gab es auf, nach einem passenden Namen für sie zu suchen, und musste dreimal zupacken, bis er diese Konserve mit der feurigen Hummercremesuppe erwischte. Drachen, das war es! Er richtete sich wieder auf, zwang ihr ihre Taschen förmlich auf und flüchtete sich an die eigene Haustür. »Ach, noch ein gut gemeinter Rat mit auf den Weg. In diesen engen Straßen hier ist es für Drachen, wie Sie es sind, schier unmöglich, ihre Schwingen ganz auszufahren. Denken Sie das nächste Mal dran.«

Christin erfasste plötzlich ein ganz anders geartetes Schwindelgefühl. Nicht nur, dass er sich als Mann – okay, zugegebenermaßen als attraktiver Mann – herausnahm, sie mit plumpen und gar herablassenden Sprüchen zu traktieren. Nein, jetzt ließ er sie einfach stehen und gab ihr zudem noch das Gefühl, dass sie völlig unter seiner Würde war. Er ließ sie stehen wie eine Straßenhure, die ihm zu teuer und auf den zweiten Blick auch noch zu unattraktiv war. Na warte! Dafür wirst du mir bezahlen, mein Lieber, schwor sie sich und verscheuchte vehement das Bild eines kleinen Mädchens, das sich vor ihrem inneren Auge aufbaute. Nein, dieser ungehobelte Kerl konnte unmöglich der Vater dieses süßen Kindes sein. So wie er sich aufführte, war er der spätpubertierende oder geistig zurückgebliebene ältere Bruder, den sie ihm bereits angedichtet hatte. Ja, das war es, brachte sie ihn mit Hannahs Mutter in Verbindung, die sie ebenso herablassend gemustert hatte. Der ungeratene Bengel aus erster Ehe! Sie erwachte aus ihren wütenden Betrachtungen und musste feststellen, dass dieser Unmensch längst im Haus verschwunden war. Wenn sie ein Drache wäre, würde dieses Haus längst in Schutt und Asche liegen, verwünschte sie es und seine Bewohner. Ihre Hände umkrampften die Henkel der Taschen. Nur die kochende Wut in ihr gab ihr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um heimzukommen. Heim – mit einem unendlichen Gefühl von Versagen in sich, das so heftig war, dass es ein Brennen in ihren Augen hinterließ.

***

»Dieses vermaledeite Weibsstück.« Leise fluchend trat Tobias in die Küche und bediente sich an der Kaffeekanne. Mit dem Becher in der Hand trat er ans Fenster und sah auf die Straße hinaus, wo er soeben seine letzte Chance zu Grabe getragen hatte, diese wunderschöne Frau kennenzulernen.

»Mit eurem Theaterstück solltet ihr auf Tournee gehen.« Jutta, die ungewollt Zeugin des Vorfalls geworden war, würde diesmal nicht mit Schweigen darüber hinweggehen. »Wie ein altes Ehepaar, kann ich nur sagen.«

»Ach, hör doch auf! Wenn dieses Flintenweib einmal tot umfällt, muss man ihr Schandmaul noch extra erschlagen.«

»Ich sehe das anders, das ist nämlich endlich mal eine, die dir richtig Kontra gibt.«

Tobias blickte sie fassungslos von der Seite her an. »Wie …?« Er winkte zweifelnd ab und stellte den halb vollen Becher in die Spüle. »Ach, lasst mich doch in Ruhe! Ich fahre den Wagen in die Garage und gehe dann auf einen Schoppen zu Ulli ins Krameramtsstübchen.«

»Tue das«, riet Jutta ihm und drohte, »aber besauf dich nicht wieder, nur weil dir eine Frau mal richtig die Meinung gesagt hat.«

***

Obwohl es noch früh am Abend war, war die kleine, urig wirkende Weinschänke am Obermarkt gut besucht. Doch für Tobias waren immer ein Platz und ein Schoppen Wein übrig. Heute hatte er den Stammtisch, der etwas abseits vom Trubel stand, für sich allein.

Ulrich Töpfer, Wirt in dritter Generation, setzte sich für einen Augenblick zu dem alten Schulfreund. Wer sich so lange kannte und miteinander befreundet war, spürte, wenn es um den anderen mies bestellt war. »Sieht ganz danach aus, als wäre der „Weinpastor“ gefordert?«

Tobias schenkte ihm ein verunglücktes Lächeln. »Was würden wir ohne den machen.«

»Und? Magst du darüber reden? Du weißt ja, ich habe Schweigepflicht.«

Tobias hob unschlüssig die Schultern und schien durch ihn hindurch zu sehen.

»Eine Frau.« Was für andere eine Spekulation war, war für Ulli ersichtlich. Mit Grauen erinnerte er sich an die schlimme Zeit damals. Als Sina, Tobias Frau ums Leben kam und ein schreckliches Erbe aus Rufmord und Schadenfreude hinterließ. Der Blick seines besten Freundes hatte ihm unmissverständlich verraten, dass eine neue Frau in das Leben des Tobias Herder getreten war. Eine, die längst begonnen hatte, alles an ihm erneut auf den Kopf zu stellen.

»Sieht man mir mein Glück so sehr an?«

Ulli nickte bedächtig. »Ist es noch immer die Verheiratete?«

»Nein, du kennst mich. Ich würde mich nie bewusst in eine andere Beziehung mischen. Selbst wenn diese noch so beschissen sein mag.«

»Nun sage mir nicht, dass es diese Stadttorhexe ist, von der alle reden.« Ulrich Töpfer lehnte sich zurück und musterte seinen Freund mit verschränkten Armen. Herr im Himmel, das war schon in der Schule so. Tobi war immer DER Aspirant gewesen, wenn es galt, sich in die unmöglichsten und unerreichbarsten Frauen zu verlieben. Der verunsicherte Blick bestärkte ihn in seinen Befürchtungen.

»Stadttorhexe? Wen meinst du damit?«

»Du gibst wohl gar nichts auf den neusten Tratsch in Gernhausen, oder?«

»Ne, nicht wirklich. Aber wie kommst du darauf, mir eine … Stadttorhexe anzudichten?«

»Ich habe sie zwar noch nicht persönlich kennengelernt«, gab Ulli ehrlich zu. »Doch sie soll innerhalb kürzester Zeit nicht nur ledigen Herren den Kopf verdreht haben. Darüber hinaus soll sie mit einer herzlichen Direktheit gesegnet sein, die es einem schwer macht, sie zu mögen. Ansonsten ist sie die neue Stadtchronistin, die ein Jahr lang an irgendeinem Buch über Gernhausen schreiben soll.«

Tobias starrte sinnend an ihm vorbei. Zumindest der Mittelteil von Ullis Charakterisierung traf wie die Faust aufs Auge. »Und was empfiehlt der Herr Weinpastor?«

Der Wirt lachte humorlos und stellte seine nachdenkliche Diagnose. »Dir jetzt noch etwas über die Vorzüge des Zölibates zu erzählen, scheint für die Katz zu sein. Aber wer weiß, meist wird ja mehr Schauerliches über die Leute erzählt, als dass es wirklich so ist.«


Kapitel 6

An das Gespräch mit Ulli und dessen unkenhafte Äußerung musste Tobias erneut denken, als er Tage später nichts ahnend den Lesesaal des Stadtarchivs betrat. Dort saß seine Traumfrau, wie er sie noch immer nannte, an einem der Tische und blätterte in uralten Büchern. Hexensprüche, stellte seine blitzartig erwachende Ironie genüsslich fest. Er schüttelte unbewusst den Kopf und hoffte darauf, dass sie ihn in seinem edlen Aufzug nicht erkannte. Denn um nicht nur allein mit Können und neuen Ideen für den Umbau eines zukunftsoptimierten Stadtarchivs zu glänzen, hatte er sich extra in Schale geworfen. Es konnte nicht schaden, die Frau Stadtkämmerer und den Ausschuss für die Sanierung des Zeughauses zu bezirzen.

Rückblickend wusste er nicht, was ihn dazu getrieben hatte, doch noch den Lesesaal zu durchqueren und sich ungefragt neben sie zu setzen.

»Hallo Fuchur.« Ja, der Name passte eindeutig zu ihr, gratulierte Tobias sich. Ob Michael Ende sie vor sich gesehen hatte, als er Die unendliche Geschichte schrieb? Schade, dass nur er allein über diese Metapher schmunzeln konnte. Ihre Blicke dagegen pendelten sichtlich zwischen Überraschung und Abscheu. Als wäre er gerade einmal ein Pickel an ihrem Allerwertesten. Viel verkehrt machen konnte er wirklich nicht mehr. Er griff sich einen der uralten Schinken, die sie wie eine Mauer vor sich aufgebaut hatte, und entzifferte mühelos die verblichenen Goldlettern. »Bürgerbuch Gernhausen 1570 bis 1683.« Ein jungenhaftes Grinsen übertünchte letzte Unsicherheiten. »Der Speiseplan für die nächste Woche, Fuchur?«

Fuchur – Speiseplan – Drachen. Dem war kein Witz zu schräg, oder? Ein Kindskopf! Und doch war sein verpackter Zynismus heute wie Balsam auf Christins geschundener Seele. Ihr helles Auflachen brachte ihr einige erboste Blicke ein. Inklusive Amelie Grubers ungeteilte Aufmerksamkeit vom anderen Ende des Saales.

»Hören Sie«, unterbrach er ihre Gedanken, »ich möchte mich ehrlich dafür entschuldigen, wie wir die ersten Male aneinandergeraten sind. Wie ist es, mögen Sie italienisch essen? Ich kenne natürlich auch andere gute Restaurants.«

Ein hochmütiges Kopfschütteln und doch klang ihre Stimme, als wolle sie der Ablehnung zumindest etwas Bedauern mitgeben. »Danke für den Versuch. Ich ahne, welche Überwindung es Sie kosten muss, aber es tut mir leid. Ich nehme grundsätzlich keine Einladung von Männern an. Schon gar nicht von Leuten, bei denen man unten durch ist, ehe man richtig Guten Tag sagen kann.«

»Ich verstehe nicht?«

Er verstand es wirklich nicht, überzeugte sie sein Blick. »Sollten Sie wirklich so begriffsstutzig sein, fragen Sie einfach ihre Mutter.«

Tobias Herder blieb in seiner Verwirrung gefangen. Ehe er ihrer rätselhaften Äußerung auf den Grund gehen konnte, stand die Archivarin plötzlich neben ihnen.

»Guten Tag, Herr Herder. Für Unterhaltungen jeglicher Art nutzen wir die Cafeteria im Erdgeschoss. Außerdem erwarten Sie die Herrschaften vom Ausschuss.« Amelie Gruber zeigte keine Anzeichen dafür, dass sie gewillt war, auch nur ein weiteres Wort zu dulden.

Tobias erhob sich, stellte den Stuhl akkurat an seinen Platz zurück und wandte sich erneut den beiden Damen zu. Drachen unter sich, murmelte die frustrierte Seele eines Mannes in ihm.

»Dann entschuldigen Sie bitte mein ungebührliches Ansinnen, Ihnen meine Aufwartung zu machen, Gnädigste.« Er vollendete seinen Abgang, indem er einen imaginären Hut zum formvollendeten mittelalterlichen Gruß schwenkte. »Sollte Ihnen dennoch einmal der Sinn danach stehen, oder Sie meinen Rat benötigen …«

Was für eine eingebildete Schnepfe, dachte er bei sich und begab sich in Richtung des Treppenhauses, ohne den Frauen noch einen Blick zu gönnen.

Mit einem herzerweichenden Seufzen nahm Christin ihren Stift wieder auf.

Amelie Gruber ergriff den Stuhl, auf dem der junge Mann zuvor gesessen hatte, und setzte sich neben ihre Elevin, wie sie sie liebevoll für sich nannte. »Ist das nicht ein toller Mann? Ach, hätte es doch nur so einen zu meiner Zeit gegeben …« Sie versank für einen Moment in der Vorstellung des verpassten Möglichen und fuhr schwärmend fort, ohne sich um ihre eigene Anordnung zu kümmern oder zu fragen, ob es die junge Frau interessierte. »Ich bewundere ihn so sehr. Und dass er nach all dem, was ihm damals widerfuhr, so ganz der Alte dabei geblieben ist.«

»So schlimm kann es ja wohl nicht gewesen sein«, fuhr Christin ihr barsch über den Mund. Erneut hatte dieser Herder sie hochnäsig abblitzen lassen! »Sonst würde dieser Herr wohl kaum noch seinen Kopf auf den Schultern tragen und seine Machosprüche schwingen.«

»Na, heute sind wir aber mal wieder auf Krawall gebürstet.« Amelie Gruber erhob sich und strebte pikiert ihrem Platz und ihrer Arbeit zu.

Wie auch Christin, die sich erneut dem Studium der alten Bürgerbücher widmete. Nicht wenige der hiesigen Honoratioren würden sich geschmeichelt fühlen, wenn sie deren Ahnen als kleinen Gimmick über Jahrhunderte hinweg in der Chronik Revue passieren ließ. „Bernardus Händler, civis filius, Majus 1417, Tobias Herder, Majus …“ Shit! Ungläubig brannte sich ihr Blick auf den letzten Eintrag fest. Steff Moller war das! Verdammt, wie kam sie nur auf Tobias Herder? Sie vermied es bewusst, sich darauf einen Reim zu machen.

***

Das Gespräch mit dem Bauausschuss war nicht wirklich so verlaufen, wie Tobias es sich erhofft hatte. Zu hochtrabend, zu teuer, zu visionär. Das waren nur einige der Begründungen, mit denen man ihn nach Hause schickte. Er möge bitte alles noch einmal einer genauesten Überprüfung unterziehen und seine Berechnungen erneut vorlegen. Sie wollten einen Jumbojet zum Preis eines Segelfliegers. Blödes Pack!

Sein Weg hinaus führte ihn erneut durch den Lesesaal. Er hatte vergessen, Fräulein Gruber eine Nachricht seiner Schwiegermutter auszurichten. So beruhigte er sein Gewissen, dass SIE nicht der Grund war. Die Enttäuschung über ihren geräumten und verwaisten Platz reichte bis zum Pult der Archivarin. Von hier aus konnte er erkennen, dass Fuchur hinter der Glastür des Eingangs stand und sich mit einem Mann unterhielt.

»Herr Herder, was kann ich für Sie tun?« Amelie Gruber behielt mit einem milden Lächeln für sich, dass sie dem Mann mit den glänzenden Augen bereits zum dritten Male diese Frage gestellt hatte.

»Fräulein Gruber, ich soll Ihnen von Jutta ausrichten, dass der Mädelsabend diesmal bei Sabine Hagen stattfindet.« Vorhin, als Jutta ihn um die Übermittlung der Nachricht gebeten hatte, waren ihm einige Fragen dazu durch den Kopf gegangen. Doch jetzt spulte er sie wie ein ausgeleiertes Tonbandgerät ab.

»Danke, Herr Herder.« Amelie folgte seinen Blicken, die noch immer Richtung Ausgang gingen. »Fräulein Thorstraten ist schon eine ganz Patente und Nette, was? Vor allem sollte man wirklich nichts auf dieses ganze Gerede geben.«

»Was? Über wen?« Der junge Mann vereinte nur mit Mühe Geist und Körper.

»Christin meine ich. Frau Thorstraten.« Sie deutete auf den Mittelpunkt seines ungebrochenen Interesses. »Glauben Sie nur nicht dem ganzen Gerede, das über sie im Umlauf ist. Die Leute sind nur neidisch auf diese selbstbewusste Frau.«

»Nein, das tue ich nicht. Einen schönen Tag dann noch.« Tobias sog scharf die Luft in sich hinein und begab sich dann zum Ausgang. Dem einzigen Weg aus einem Haus voller Niederlagen; wobei ihn die größte noch ereilen sollte.

Jetzt erkannte Tobias auch den Mann, der bei seiner Traumfrau stand. Bürgermeister Händler, ein elender Aufschneider und sonst noch was, ersparte er sich eine Aufzählung. Bis auf den widerwärtigen Schürzenjäger, ergänzte er. Selbst jetzt hatte dieser bestimmt doppelt so alte Mann seine manikürte Pratze wie selbstverständlich auf ihrer Hüfte geparkt, während sie ihn wie ein Backfisch anschmachtete.

***

Christin hatte es gestern nicht leicht gehabt. Auch in der vergangenen Nacht war ihr nicht viel Schlaf vergönnt gewesen.

»Sage du mir noch einmal, dass ein Mittfünfziger keine Ausdauer hat«, knurrte sie ihr Spiegelbild an und streckte ihre müden und zerschlagenen Knochen, ehe sie sich unter die Dusche begab. Viertel nach zwölf. Fürs Archiv war es eh zu spät. Also würde sie das Beste aus diesem verqueren Tag machen und ihn für sich genießen. Ausgiebig spazieren gehen, etwas Schönes kochen und Tagebuch schreiben. Ihr Erlebnis vom gestrigen Tage ließ sie einfach nicht los. Der ernüchterte Blick dieses Chaoten, als er an Nils-Ole und ihr vorbei das Archiv verließ. Als würde das Wort Hure auf ihrer Stirn gemeißelt stehen! Tobias Herder hieß er, das wusste sie nun. Ein Blödmann, wie er im Buche stand, und dennoch schlug ihr Herz schneller. So, als würde sie bereits vor ihrem Tagebuch sitzen. Christin stellte das Wasser der Dusche kälter, um sich die aufbrandenden Gefühle vom Leib zu spülen.

***

Frisch geduscht, gestylt und apart geschminkt fühlte sie sich zwei Stunden später wie ein neuer Mensch. Jetzt noch das übrig gebliebene Sushi aus dem Kühlschrank holen, dann konnte der Tag in Ruhe starten.

Das Klingeln an der Haustür machte ihr Vorhaben zunichte. Sah man von den Gören aus der Nachbarschaft ab, die sich in der ersten Woche ihre Finger wund geklingelt hatten, hatte sie bislang keinen Besuch bekommen. Nils-Ole besaß einen Schlüssel und würde kaum um diese Zeit hier auftauchen. Wer also stand dort draußen? Es klingelte ein weiteres Mal und diesmal dringlicher. Christin überhörte ihre warnende Stimme, schloss den Kühlschrank und begab sich an die Haustür.

»Hannah?« Vor ihr stand das schluchzende, von einem Bein aufs andere tretende Mädchen. Der Schatten auf vier Pfoten an ihrer Seite. »Kind, was ist mit dir?«

»Christin, bitte … Ich muss so sehr auf die Toilette und ich habe meinen Hausschlüssel verloren.«

»Aber natürlich.« Christin holte sie in den Flur und öffnete die Tür zum Gäste-WC, in dem die Kleine wie der Blitz verschwand.

Balu schaute irritiert von der geschlossenen Tür hin zu der Frau, bei der er bereits so einige Streicheleinheiten ergaunert hatte. Eindeutig Zeit für eine Erneuerung ihrer Freundschaft.

Als das Wasser der Spülung rauschte, beendete Christin ihren Versuch, den wilden Gesellen niederzuschmusen, und mühte sich angestrengt auf die Beine.

Hannah trat in den Flur. »Danke, Tini. Du warst meine Rettung.«

Christin unterdrückte ihre Empörung über diesen grässlichen Spitznamen, als sie die nächsten Tränen in den Augen des Mädchens wahrnahm. »Warum bist du eigentlich allein zu Haus? Du bist doch noch viel zu jung!«

»Sonst ist Jutta doch da.« Hannahs schmächtiger Oberkörper erbebte, als sie schluchzend gestand. »Aber die musste zu einer kranken Freundin. Und Tobi musste ganz schnell weg, da ist irgendwo Wasser geplatzt. Und ich hab meinen Schlüssel verloren … Oder im Haus gelassen. Und ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll.«

Christin ging erneut in die Hocke und nahm das weinende Mädchen in die Arme. Was konnte man von solch einer Familie erwarten, wo sich alle beim Vornamen nannten und sich offenbar niemand für den anderen zuständig fühlte, schimpfte sie in sich hinein. Behutsam streichelte sie Hannah den Rücken und suchte nach tröstenden Worten. »Was hältst du davon, wenn wir zwei uns einen schönen Nachmittag machen? Hast du schon etwas gegessen? Wir können uns Spaghetti machen, die habe ich im Haus. Und dann können wir ein wenig arbeiten. Magst du vielleicht etwas malen, während ich an meinem Buch über die alten Ritter schreibe?« Aus Christin sprudelten nur so die Ideen heraus. Dabei wusste sie doch gar nicht, was sich ein Mädchen von sechs Jahren heutzutage wünschte.

»Ja, das wäre schön«, kam es bereits weniger leidend. »Und können wir vielleicht auch ein Eis essen gehen? Luigi hat wirklich das schönste Eis von allen.«

***

Gesagt, getan, die beiden Frauen verbrachten einen wunderschönen Nachmittag. Selbst zum Eisessen blieb noch Zeit, nachdem sie erfolglos festgestellt hatten, dass Jutta oder ihr „missratener“ Sohn noch immer aushäusig waren.

Luigi war nicht nur der beste Eismann weit und breit, fürchtete Christin bereits jetzt um ihre Figur. Nein, er war auch ein sehr aufmerksamer Mann, der Mama und Figliola umgarnte und verwöhnte. Diese Aufmerksamkeit, die Art, wie sie wie Mutter und Tochter behandelt wurden, tat ihr so unsagbar gut. Christin schwor sich, dieses schöne Gefühl nicht einmal ihrem Tagebuch anzuvertrauen. Erst das Brummen ihres Smartphons zerstörte ihre kleine Flucht vor dem Alltag. »Thorstraten.«

»Hallo, Frau Thorstraten. Entschuldigen Sie, wenn ich ungelegen anrufe. Hier ist Jutta Kellermann. Ich bin ein wenig verwirrt. Sie haben mir ihre Visitenkarte unter die Tür geschoben. Ist Hannah bei Ihnen?« Die Stimme der Frau klang, als stünde sie gerade sämtliche Tode aus.

»Ja, Hannah geht es gut. Wir sind gerade bei Luigi und essen ein Eis. Ich denke, sie hat sich daheim ausgeschlossen.«

»Ja, ich habe ihren Schlüssel hier auf der Kommode gefunden und mir Sorgen gemacht.«

»Das müssen sie nun nicht mehr.« Christin winkte dem aufmerksamen Kellner zu. »Hannah hat gleich ihre zweite Portion auf. Dann kommen wir ohne Umwege zu Ihnen. Ist das in Ordnung?«

»Ja natürlich! Und Frau Thorstraten … Haben Sie vielen Dank, dass Sie für Hannah da waren.«

»Dafür nicht, vielleicht können wir ja nachher noch ein wenig miteinander reden.«

»Ja, das wäre schön. Ich setze uns einen Kaffee auf und Kuchen werde ich …«

»Kaffee ist gut, aber bitte nichts mehr mit Kalorien«, unterbrach Christin sie mit einem stöhnenden Lachen.

»War das Jutta? Ist sie wieder zu Hause?«

»Ja, mein Spatz.« Sie nahm von Luigi die Rechnung entgegen und bedankte sich mit einem Lächeln sowie einem großzügigen Trinkgeld.

»Signora, kommen Sie und Ihre Tochter gern wieder zu mir. Ich werde immer einen Tisch für Sie reserviert haben. Fragen Sie nur nach Luigi.«

»Grazie di cuore mio piccolo passerotto e tornerò con immenso piacere.« Christin strich ihm mit einem schmelzenden Lächeln, das den charmanten Mann bis in seine Träume begleiten würde, über den Handrücken und auch Hannah bedankte sich mit einem strahlenden Hofknicks.

»Du?« Hannah ergriff die Hand ihrer großen Freundin, sobald sie die Eisdiele verlassen hatten. »Der hat wirklich geglaubt, dass du meine Mama bist. Ist das nicht toll!«

Christin klopfte das Herz bis zum Hals hinauf, als sie mit völlig zittriger Stimme entgegnete: »Das lass lieber Jutta nicht hören. Das würde sie sicher traurig machen.«

»Wieso? Jutta ist doch nur meine Oooomama.« Hannah ließ ihre Hand fahren und rannte Balu hinterher, der nach dem langen Liegen seine lustigen fünf Minuten bekam.

Je näher sie der Burgwallgasse kamen, umso nervöser wurde Christin. Ihr war schmerzhaft in Erinnerung geblieben, wie skeptisch diese Jutta sie letztens gemustert hatte. Und nun sollte sie sie näher kennenlernen.

»Was ist mit dir, Tini?«

»Spatz, du sollst mich nicht immer Tini nennen.« Wie sensibel war die Kleine nur. »Außerdem spüre ich, dass ich zu viel Eis gegessen habe.«

»Macht nix, das löscht Jutta schnell mit Kaffee.« Hannah polterte die Treppe hinauf und klingelte Sturm.

Die Tür wurde ihnen umgehend geöffnet. Die Frau, die vor Tagen noch so herablassend auf sie gewirkt hatte, begrüßte sie sichtlich erleichtert. »Hallo, da sehen aber zwei ziemlich zufrieden aus.«

»Sind wir auch.« Hannah hüpfte glücklich an ihrer Großmutter vorbei ins Haus. Während man es von innen her »Kekse« jubeln hörte, standen sich die beiden Frauen anfänglich verlegen gegenüber.

Es war Jutta, die das Eis brach und die Hand ausstreckte. »Frau Thorstraten, haben Sie nochmals vielen Dank, dass sie für Hannah da gewesen sind.«

»Das habe ich gern getan. Es galt, ein Malheur zu vermeiden. Und wo Hannah schon mal bei mir war und ich nichts Wichtiges vorhatte, haben wir uns einen Mädelstag gegönnt.«

Christin wurde von Hannahs Großmutter in eine geschmackvoll eingerichtete Küche geführt. »Oh, ist das schön hier«, entwich ihr ein begeisterter Ausruf, als sie mit einem Blick sah, was hier an exklusiver Technik und Ausstattung auf kleinem Raum eingebaut war. Wie billig kam ihr da ihre eigene Küche vor.

»Ja, diese Küche ist mein Traum«, gestand Jutta Kellermann voller Stolz. »Ich brauchte mir nur wünschen, was ich wollte, und Tobias hat alles geplant und eingerichtet.«

Ein Kribbeln raste Christin über den Rücken, als die Ältere den Namen des wohl einzigen Mannes in diesem Haus nannte. »Ich hoffe, diese Kunst hat er sich zum Beruf gemacht.« Wieder dieses verräterische Zittern in der Stimme, das sie selbst so gar nicht akzeptieren wollte.

»Kennen Sie sich nicht bereits?«, tat Jutta überrascht, vermied es aber wohlweislich, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Hannah kehrte zu ihnen zurück. Geschäftig hielt sie Balus Wassernapf unter den Spülhahn. »Wartet ihr auf mich, bis ich Balu gefüttert habe? Haben wir auch Cola?«

»Balu hat heute schon etwas bekommen. Er soll nicht zu viel essen.«

»Meinst du nicht, dass zwei Portionen Eis und nun auch noch Cola zu viel für dich sind?«

»Och Mann, ihr klingt immer so erwachsen«, stöhnte die Gemaßregelte wie eine Alte und trug die Schale zu Balus Platz in den Flur.

Die Erwachsenen rollten mit den Augen und hielten sich beide die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.

»Wenn wir nicht aufpassen, übernimmt der Krümel spätestens in einem Jahr das Regiment«, stöhnte Jutta und schenkte ihrem Gast eine Tasse herrlich duftenden Kaffees ein.

»Ja, sie redet auch gern nur von Jutta und Tobias«, brachte Christin an und überlegte für einen Moment, ob sie nicht fragen sollte, ob solch eine Parität in Sachen Erziehung ratsam war.

»Ja, so ist Hannah nun mal.« Es klang trauriger, als es eigentlich hätte klingen dürfen. »Menschen, zu denen sie vollstes Vertrauen hat, nennt sie eben nur beim Vornamen. In Hannah steckt viel zu oft eine reife Frau, die mit uns auf Augenhöhe sprechen will. Gerade Sie scheint sie wohl sehr zu mögen. Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen zu viel wird. Aber wo wir schon einmal dabei sind, ich heiße Jutta.«

»Christin.« Über ihr Gesicht huschte ein Schatten, der sich in einem trotzigen »Oder besser gesagt, die Stadttorhexe« manifestierte.

Jutta winkte ab und schickte ein verstehendes Seufzen hinterher. »Ärgere dich nur nicht über das blöde Volk hier.«

»Die tun so, als hätte ich sonst etwas verbrochen. Als würde ich es darauf anlegen, ihnen ihre Männer ausspannen. Und die Herren hier …« Christin verbiss sich den Rest.

»Sie sind so. Hier reicht es schon aus, wenn ein Mann bei einer alleinstehenden Frau an der Tür klingelt. Selbst wenn es der Postbote ist. Wir können ein Lied davon singen, was es heißt, Aussätzige zu sein.« Es klang abgeklärt und doch schwang ein Hauch von Bitterkeit in Juttas Stimme mit. »Trage deinen Titel Stadttorhexe erhobenen Hauptes. Das zeichnet dich als eine besondere und einmalige Person aus.«

»Wenn du das so sagst, klingt es wirklich wie eine Auszeichnung.«

»Das ist es auch.«

»Nur sieht das dein Sohn wohl nicht so.« Christin sprach die bedauernden Worte mehr zu sich, als dass es an Juttas Ohren gelangen sollte.

»Du meinst Tobi?« Nun war es an Jutta, ungläubig dreinzuschauen. »Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, dem Gerüchte verhasster sind als ihm.«

Hannah unterbrach mit ihrem Auftritt die für Jutta wirklich interessante Wendung des Gesprächs. Doch das, was sie aus dem Seufzen der jungen Frau herausgehört zu haben glaubte, gab ihrer heimlichen Hoffnung neuen Auftrieb. Nicht nur Tobias hatte „verliebte Aussetzer“. Mit einem Male bekamen seine vehement vorgetragenen Wutausbrüche über eine gewisse „Dame“ oder den „Drachen“ einen völlig neuen Sinn. Doch sie würde den Teufel tun und noch einmal in ihrem Leben die Kupplerin spielen. Dass Tobias nicht ihr Sohn und Hannah nicht ihre Tochter war, würde diese kluge Frau bald von ganz allein herausfinden.


Kapitel 7

Christin freute sich auf ihren gemeinsamen „Feierabend“. Der Moment, wenn sie auf dem Heimweg vom Archiv bei ihren neuen Freundinnen vorbeischaute. Das ging zwar erst seit drei Tagen so und doch hatten die beiden Frauen, unabhängig voneinander, den Eindruck, als würden sie sich seit Jahren kennen.

Mittlerweile hatten sich auch die Herder’schen Familienverhältnisse geklärt. Jutta war Hannahs Großmutter und Tobias war leider Gottes doch Hannahs Vater. Noch immer konnte Christin nicht fassen, dass die Kleine solch ein patentes Mädchen war. Bei diesem … diesem rüpelhaften Chaoten. Nur der Verbleib von Hannahs Mutter – Sina, so weit wusste sie den Namen – war offensichtlich ein Tabu. Sobald sie zaghaft versuchte, das Gespräch darauf zu bringen, blockten Jutta und selbst Hannah instinktiv ab. Dabei hatte diese Frau im Grunde ihres Herzens ihr vollstes Verständnis. Wer hielt es auf Dauer mit solch einem Mann aus. Vergiss es, versuchte sie sich immer wieder einzureden. So lange Hannahs Vater ihr nicht bei den nachmittäglichen Besuchen über den Weg lief, war alles in bester Ordnung.

Frohen Mutes klingelte sie an der Tür, die sofort aufgerissen wurde. Sie konnte gerade noch ihren Wirbelwind auffangen, als dieser sich ihr in die Arme warf.

***

»Och bitte, kannst du nicht mal das Wochenende mit uns zusammen verbringen?«

Hannahs bettelnder Blick nagte an ihrer Selbstbeherrschung. Etwas, was Christin selbst unter Folter nicht zugegeben hätte. Dabei hätte sie ihr so gern den Wunsch erfüllt. Sie war wirklich interessiert, diesen „anderen“ Tobias kennenzulernen, von dem Jutta und Hannah in den letzten Tagen immer wieder „unauffällig“ schwärmten. Sie hätte dem längst einen Riegel vorschieben müssen. Wenn … ja wenn da nur nicht seine grünen, liebevollen Augen wären, die sie noch immer bis in ihre Träume hinein verfolgten. Nicht zu vergessen sein lausbübisches Lächeln. Wäre sie nur einmal sich selbst gegenüber ehrlich gewesen, hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie die letzten Tage über immer darauf gehofft hatte, ihn ganz zufällig anzutreffen. Diesen anderen Tobias …

»Hallo, Erde ruft Christin!« Hannah rüttelte sachte am Arm ihrer Freundin. »Wir können doch alle gemeinsam einen Ausflug machen.«

Sie und ihre Tagträumereien! Christin spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Jutta sah sie freundlich, aber mit wissendem Blick an. Verdammt, diese Frau war so feinfühlig, dass sie sich in ihrer Nähe immer wie die ertappte Klosterschülerin vorkam.

Der Zufall wollte es, dass Christin zwar von einer Antwort erlöste wurde, zugleich aber in die nächste Situation stolperte. Beziehungsweise stolperte diese knurrend und fluchend in die Küche hinein.

Hannah sprang auf, um ihren Paps zu begrüßen, und stockte plötzlich erschrocken. »Papa, wie siehst du denn aus?«

»Tobi, mein Gott!« Auch Jutta fuhr der Schrecken in die Glieder.

»Alles halb so schlimm.« Die schmerzunterdrückende Stimme strafte seine Worte Lüge. Einzig die überraschende Anwesenheit der Fremden schien ihm die Kraft zu geben, die Zähne zusammenzubeißen. »War nur ein morscher Balken und ’ne Bütt voll Kalk.«

Jutta nötigte ihn, sich zu setzen, befahl ihm, dort zu bleiben, und huschte mit der Enkelin hinaus, um den Verbandkasten zu holen.

Plötzlich saßen sie sich allein gegenüber. Ihre beiderseitige Unsicherheit über die befremdliche Situation stand im Raum.

»Hallo Fuchur. Verflogen?«

Er betastete seine Platzwunde an der Stirn und verteilte das gerade eben geronnene Blut erneut. In Kombination mit den Kalkspuren sah er in der Tat aus wie ein frisch geschlüpfter Zombie. Der Vergleich gab Christin endlich die Kraft, ihren eigenen Schrecken zu kompensieren. »Wie mir scheint, haben Sie diesmal von ganz allein eine glatte Bilderbuchlandung hingelegt?«

Er musste lachen, auch wenn es ihm höllische Schmerzen bereitete. »Wie habe ich mich die letzten Tage nach Ihrer Kodderschnauze gesehnt.« Ihr besorgter Blick war ihm Balsam auf der Seele.

Jutta und Hannah kehrten wie aufgescheuchte Vögel in die Küche zurück. Christin erhob sich und nahm die Befehlsgewalt an sich, ehe die zwei dem armen Kerl noch den Rest gaben. »Jutta, heißes Wasser und du Hannah, sieh zu, dass Papas Schuhe nach draußen kommen. Der saut sonst alles voll. Ach, und Handtücher kannst du auch besorgen.«

»Ich sag ja …«

»Zuckerschnute halten, Trümmervogel.« Christin begann seine Blessuren zu untersuchen, nahm von Jutta die Schüssel mit dem heißen Wasser entgegen und fing an, die Wunden ruhig und sicher zu versorgen. »Sie können sich wirklich freuen, dass ich nur Drache und nicht Vampir bin. Der würde bei Ihrem Anblick augenblicklich in einen Blutrausch verfallen.«

Tobias sog scharf die Luft in die Lungen, als das Jod an seine Wunden gelangte. Dennoch konterte er mit lausbübischem Grinsen. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«

Ihre Hände sanken für einen Moment herab. »Wie soll ich das nun verstehen?«

Er stand gefühlt machtlos neben sich, als dieser Höllenhund dort auf dem Küchenstuhl trocken entgegnete: »Dann könnte ich mit mehrfachen nächtlichen Besuchen rechnen.«

»Spinner!« Herr im Himmel, verfluchte Christin sich. Wie schaffte sie es nur, diesem kurzen Wort solch vibrierenden Unterton mitzugeben?

»Aber der Gedanke wäre reizvoll.«

»Dann bleibe ich lieber Ihr Drachen«, setzte sie burschikos hinterher und tat, als schaue sie auf ihre Uhr. »Der jetzt seine Schwingen entfaltet und davonzischt.« Christin flüchtete sich förmlich zur Tür. »Den Rest schafft Jutta auch allein.«

»Frau Thorstraten!« Tobias missachtete den Protest seines Körpers und quälte sich in die Senkrechte. »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe … Ich meine, der Italiener ist wirklich eine Wucht.«

»Wie ich Ihnen bereits sagte, Herr Herder. Ich nehme grundsätzlich keine Einladung von einem Mann an. Zudem bekomme ich heute Abend Besuch. Sie haben mich mit Ihren kleinen Wehwehchen lange genug aufgehalten.«

Seine Reaktion tat ihr in der Seele weh. Fast schien es so, als würde ihm ihre erneute Zurückweisung mehr Schmerzen bereiten als der Rest seiner Blessuren. Lieber jetzt, als wenn er begann, sich Chancen bei ihr auszurechnen, rief Christin sich zur Ordnung. Sie wandte sich den Frauen zu, die der Auseinandersetzung atemlos gefolgt waren. »Danke für den netten Nachmittag. Es war schön bei euch. Aber nun muss ich wirklich zusehen.«

»Ich bringe Sie noch zur Tür.« Tobias bedeutete ihr voranzugehen, warf seiner Familie einen Blick über die Schulter zu und schloss die Tür hinter sich.

»Nein, Hannah. Du gehst den beiden nun nicht hinterher.« Jutta hielt ihre Enkelin zurück. Hatte sie doch den unendlich enttäuschten Ausdruck im Gesicht ihres Schwiegersohnes wahrgenommen. Auch wenn sie mutmaßte, dass Christin nur mit ihm spielen, ihn herausfordern wollte, waren ihre letzten Sätze eindeutig fehl am Platze.

Christin spürte, wie er sich hinter ihr mehr über den Flur schleppte, als dass er ging. Sie ahnte, was kam, was unweigerlich kommen musste. Wie sagt man einem verliebten Mann, dass er sich keine Hoffnungen machen durfte? Wo ihr Kopfkino doch weiß Gott andere Szenen in Dauerschleife abspielte. Er würde sie an ihrer Schulter berühren, sie zu sich herumdrehen und selbstbewusst an sich reißen. Dieser Kuss würde alles besiegeln. Sie würde in seinen Armen liegen und alles um sich herum vergessen. Das musste nun aber endlich geschehen! Ihre Hand lag doch längst auf der Türklinke.

»Frau Thorstraten.«

Ein frischer Luftzug wirbelte durch die offene Tür zu ihnen in den Flur hinein, spielte mit dem Saum ihres edlen Rockes, sodass dieser herausfordernd an seine Beine klopfte. Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken, was jetzt unweigerlich geschehen würde. Sollten diese grässlichen Nachbarn ruhig sehen, in wessen Armen sie lag. Sie sah ihn voller Erwartung an.

»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel. Aber ich finde, Sie sollten sich mit meiner Familie nicht zu sehr verbrüdern.« Tobias biss die Zähne zusammen. »Ich meine, Ihr ganzes Wesen … Sie passen einfach nicht in unsere Welt hinein.«

In ihren Blicken loderte ein Feuer, das vom Mittelpunkt der Erde kam. Und doch dauerte ihr Schweigen länger als die Erkenntnis über das, was er eben von sich gegeben hatte.

»Sie haben recht, Herr Herder. Danke, dass Sie mich daran erinnern. Es wäre die größte Schande für eine Frau wie mich, in den Verdacht zu geraten, ich könnte mich mit einem Versager wie Ihnen abgeben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen erotischen Abend.«

Würdevoll schwang sie herum und ging hocherhobenen Hauptes die Burgwallgasse hinab. Dabei hätte sie vor Wut und Ärger schreien können. Über seine beschissene Arroganz und ihre hirnverbrannte Blauäugigkeit – zu gleichen Teilen!!!

»Weißt du Idiot eigentlich, was du da eben vom Stapel gelassen hast?« Tobias sah sich um. Doch außer dem alten Wandspiegel, aus dem ihm ein zerschlagener, völlig verstörter Mann ansah, war niemand in der Nähe. »Ja«, fauchte er trotzig.

Der Balken musste mehr in ihm kaputt gemacht haben. Christin war zumindest der festen Überzeugung. Christin, Christin, Christin! Warum nur hatte er sie so abgefertigt? Gerade als sie ihn so zuvorkommend wie nie zuvor behandelt hatte. War es denn nur seine Angst davor, sich noch einmal zu verlieben? Seine Angst, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden und die gleichen schmerzhaften Erfahrungen zu machen. War es Eifersucht? War er etwa eifersüchtig, dass sie sich blendend mit Hannah verstand? Was an sich schon bemerkenswert war. Ärgerte er sich darüber, dass Jutta und sie sich längst duzten, für ihn aber nur Spott und Hohn übrig blieb. Egal was es war. Nach seiner unverblümten Abfuhr hätte er bei Christin Thorstraten bis in die Steinzeit verschissen.

»Ist echt gut gelaufen, Alter.« Sein Spiegelbild nickte anerkennend. Wenigstens einer, der ihn verstand. »Leg dich bloß hin, ehe du bei den anderen auch noch unten durch bist.«

»Magst du mir erzählen, mit wem du dich so andächtig unterhältst?« Jutta trat in den Flur und versperrte einen ehrenvollen Rückzug.

Verschränkte Arme, energisches Klacken eines Absatzes auf dem Dielenboden. Da war jemand mächtig wütend. »Mit meinem Gewissen.«

»Oh, das ist gut. Wenn es gerade zufällig bei dir zu Besuch ist, kannst du bitte gleich mal fragen, wie es mit Christin und dir weitergehen soll? Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber ich würde schon gern von euch selbst und nicht von den Klatschmäulern erfahren, dass ihr trotz eurer Inszenierung längst ein Paar seid.«

»Jutta! Nun komm mal wieder runter! Diese Frau ist wirklich kein Umgang für euch.« Etwas explodierte in ihm. »Ich habe dieser unmöglichen Person gesagt, dass ich sie hier nicht mehr sehen will. «

Jutta fiel der Unterkiefer herunter. »Tobias Herder, wenn ich deine leibliche Mutter wäre und Hannah nicht nebenan lauschen würde, hätte ich dir jetzt nach Strich und Faden den Hintern versohlt. Nein! Jetzt rede ich«, unterbrach sie den leisesten Ansatz von Widerrede. »Ich bin alt genug, mir meine Freundinnen selbst auszusuchen. Statt uns irre Vorschriften zu machen und dein eigenes Glück zu verspielen, sollte dir bewusst werden, wie sehr Hannah in Christins Nähe aufblüht und ein völlig anderes Kind geworden ist. Was ist nur in dich gefahren? Ich sehe dir doch an, wie sehr du dich in sie verliebt hast.«

Tobias ließ ihre heftige Schelte über sich ergehen. Als ihr die Luft zum Schimpfen ausging, nahm er sie in die Arme. »Du hast recht Mama. Ja, ich habe mich in sie verliebt.« Er schloss die Augen und presste diese Eiseskälte aus sich hinaus. »Aber ich habe eine Verantwortung meiner Familie gegenüber. Diese Frau würde nicht nur mich verbrennen.«

»Junge, was redest du nur für einen Blödsinn zusammen! Wie willst du das wissen? Christin ist nicht Sina.«

Er löste sich von ihr und schleppte sich die Treppe hinauf. »Ich weiß es einfach. Und nun möchte ich nicht mehr gestört werden.«

***

Mit gemischten Gefühlen blickte Tobias aus dem Fenster. Noch erlaubten die neu aufgestellten Spaliergitter einen Blick auf den Balkon, den man an das alte Torschreiberhaus angepfropft hatte, um ihm etwas mehr Flair zu verleihen. Nach ihrem Einzug hatte sich diese „Bausünde“ zu einem wirklich schönen Farbtupfer zwischen Hinterhofbebauung und Stadtmauer gemausert.

Es schien, als wolle ihm das Schicksal einen Wink geben, als die Frau im roten Kleid auf eben diesen Balkon hinaustrat. Sie trug ihr Haar hochgesteckt; so weit konnte er es erkennen. »Christin«, kam ihm ihr Name leise über die Lippen. Er spürte, dass sie es war. Gott, was hatte er nur mit seinen Worten zerstört!

Ob sie spürte, dass er hier am Fenster stand? Oder waren ihr die Blumen einfach wichtiger? Es sah aus, als wolle sie jede von ihnen einzeln zu Bett bringen. Tobias musste schmunzeln. Aber es stimmte. Kann ein Mensch, der sich so liebevoll um Blumen kümmert, so hart und gefühlskalt sein? Oder war ihre Unnahbarkeit nur eine Rolle, die sie spielte? Eine Rolle, die auch er sich einmal auferlegt hatte. Bloß keinen Menschen zu nah an sich heranlassen. Nur um nicht ein weiteres Mal bis in die Grundfesten der Seele zerstört zu werden. Was verbarg diese Frau? Tobias’ Gedanken zerfaserten, blieben an ihren zarten Händen hängen. So weit weg und doch spürte er sie noch immer auf seiner Stirn.

Mit einem Seufzen wandte er sich ab. Eines war sicher. Er löste das Rätsel nicht, indem er hier stehen blieb und sie von Weitem anhimmelte. Er musste sich entschuldigen, musste ihr gestehen, dass ihn ihre lammfromme Art von vorhin völlig aus dem Konzept gebracht hatte. So sehr, dass er sich nur noch mit Verachtung wehren konnte. Nein, verwarf er die aufbrandenden Ausflüchte. Er würde jetzt zu ihr rübergehen, klingeln und sagen, dass er eifersüchtig war und sich ausgeschlossen gefühlt hatte. Ehrlichkeit kam an. Sie würde ihn lachend in die Arme schließen und sagen: »Endlich, mein Geliebter. Endlich kommst du zu mir. Wo ich doch so lange auf dich warte.«

»Das mag ja alles gerade so sein«, stimmte ihm sein Unterbewusstsein verständnisvoll zu und schickte die Bilder, die es soeben von den Augen empfing, in Richtung Verstand. »Nur dass du wieder mal nicht der männliche Part bist«, brachte es die Logik auf den Punkt.

Die Frau in Rot war nicht mehr allein. Ihr Besucher schien sich keineswegs fremd zu fühlen; er strotzte gar vor Selbstsicherheit. Mit zwei Sektgläsern in der Hand bewegte er sich lässig in ihre Richtung. Sie nahm eines entgegen und schlang ihm ihren freien Arm um den Hals; suchte seine Nähe, bis sie sich lachend wieder von ihm löste. Sie nahm einen großen Schluck und stellte seines und ihr Glas auf einen kleinen Tisch ab. Der Mann folgte ihr und zog sie besitzergreifend in die Arme. Eine Szene, wie sie inniger nicht sein konnte. Nach langer Trennung endlich vereint, so ausgehungert empfingen die beiden ihre gegenseitigen Zärtlichkeiten …

»Ach, hier bist du.«

Erschrocken fuhr Tobias herum. Der aufbrandende Schmerz in seiner linken Körperhälfte katapultierte ihn in die Realität zurück. Kalt, aber wenigstens ertragbar.

»Störe ich?« Jutta blieb an der Tür stehen.

Warum sagte ihm ihr Blick, ihre ganze Haltung, dass sie ihn von vornherein durchschaute? Sie konnte doch nicht wissen, was für ihn plötzlich traurige Gewissheit war. »Was denn?«

»Ich fragte dich, ob ich dich störe. Und danach, ob du noch etwas benötigst.«

»Nein.« Er biss die Zähne zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. »Oder doch. Haben wir noch ein paar von diesen Schmerztabletten?«

»Ich habe dir vorhin einen ganzen Streifen gegeben. Nur sechs am Tag«, fügte sie streng hinzu.

»Sind alle.«

»Dann solltest du besser ins Krankenhaus fahren.«

»Keine Zeit, wichtige Termine.«

Sie winkte genervt ab. »Wenn du sonst weiter keine Probleme hast, dann gute Nacht.«

»Ja … gute Nacht«, sprach er gegen die längst geschlossene Tür. Er wollte es nicht, wollte lieber diese Tür anschauen, als dass er dem Wunsch nachgab, erneut hinauszuschauen.

Die Akteure hatten ihre Bühne verlassen. Einzig ein sich bewegender roter Fleck kroch vom Wind bewegt über die Terrakottafliesen in Richtung Spalier. Die Stadttorhexe litt nicht an Einsamkeit, verbuchte seine Logik gehässig und lehnte sich zufrieden zurück. »Alter, da haben wir echt Glück gehabt, dass wir zwei das vorher bemerkt haben. Stell dir mal vor, dein romantisches Herz hätte bereits auf Empfang geschaltet.«

***

»Christin, Liebling.« Nils-Ole Händler verbog sich, um an das Glas Champagner zu gelangen, das er vorhin gerade noch auf dem Nachttisch hatte abstellen können. Bevor sie wie eine Bestie über ihn hergefallen war. Überhaupt kam ihm seine Geliebte heute wie ausgehungert vor, und erfüllt von einer aggressiven Erotik. »Du warst so einmalig gut.« Die Erinnerung an das eben Erlebte ließ seinen Körper ein weiteres Mal unkontrolliert erbeben.

»Ja, wirklich?« Das fragwürdige Lob des Mannes dümpelte an Christin vorbei. Der Rausch der Leidenschaft war längst in ihr verklungen. Statt einer natürlichen Ermattung hatten sich erneut die Erinnerungen an das Zusammentreffen mit Tobias Herder in ihrem Kopf breitgemacht. Sie versuchte sie zu verdrängen, sich mühsam auf den Herzschlag des Mannes in ihrem Bett zu konzentrieren. Ihr verschleierter Blick folgte ihren rot lackierten Nägeln, wie sie sich ihren Weg durch seine füllige Brustbehaarung suchten. Nils-Ole hatte alles, was man sich als Frau nur wünschen konnte. Und doch war alles so vorhersehbar. Je länger sie mit ihm liiert war, umso unpersönlicher wurde es. Dabei lag es nicht einmal an ihm. Auf seine Art vergötterte er sie sogar. Sie war es, die nicht mehr funktionierte. Sie fing an, Gefühle zu entwickeln, und Nils war nicht wirklich ihr Empfänger.

»Was ist mit dir, Schatz? Du wirkst ein wenig neben der Spur.«

Protest bäumte sich in ihr auf. »Drei Höhepunkte!« Von denen eineinhalb hervorragend gespielt waren, ergänzte sie für sich. »Das nennst du neben der Spur?«

»Nein, darin warst du wie immer eine Wucht. Aber ich spüre, dass dich etwas beschäftigt. Dass du Sorgen hast.« Händler stürzte den Rest des Glases in sich hinein und ließ es achtlos neben das Bett fallen. »Nicht erst seit heute, meine ich.«

Was wäre, wenn ich ihm mein Herz ausschütte, fragte sie sich und verwarf den Gedanken sogleich. Die Erinnerung an seine Eifersucht beim Empfang war ihr eine Lehre. »Vielleicht habe ich Angst, dass deine Frau etwas bemerkt. Ich befürchte, die Leute machen sich bald ihre Gedanken, weil wir uns zu häufig „zufällig“ treffen.«

»Du bist ein kleines Dummerchen.« Er lachte und machte eine wegwerfende Geste, die ihr in den ohnehin verspannten Nacken jagte. »Meine Alte kann mich kreuzweise. Bestimmt hat sie längst ihren eigenen Liebhaber. Und was das Gerede über dich angeht: Die Leute neiden dir alles. Das liegt in ihrer einfältigen Natur. Du bist hübsch und ledig. Du bist weltgewandt und selbstsicher. Vor allem beachtest du diese Kriecher nicht. In vier Wochen, vertraue mir, gucken die dich nicht einmal mehr mit dem Allerwertesten an.« Sein Lachen vertiefte sich. »Und was die Männer dieser Stadt betrifft. Der größte Teil dieser Versager hat längst begriffen, dass du eine streitbare Emanze oder gar eine Kampf-Lesbe bist.«

Christin spürte, wie er sich halb über sie schob und sein Bein hart zwischen die ihren zwängte. Sie hatte wenig Lust auf eine neuerliche „Runde“. Doch sie wusste auch, wie er drauf war, wenn er in dieser Verfassung nicht zu seinem Recht kam. Er war der Beste, der Herr, der Größte. Das Alphatier, das er wirklich war und auch auslebte. Sie öffnete sich ihm und seinem unnachgiebigen Drängen. Hart verdientes Geld.

»Diese Geschichten, die man sich über dich und diesen Kerl erzählt. Wie heißt der doch noch?«

Seine wie beiläufig gestellte Frage riss sie aus ihrer Fantasiewelt hinaus, in die sie sich zumeist flüchtete, wenn sich ein Mann bei ihr sein vermeintliches „Recht“ nahm. Sämtliche Alarmglocken schlugen an. »Du meinst diesen Herder?«

»Ja, so heißt der wohl. Läuft da etwas zwischen euch?«

Er klang gefährlich belanglos. Die Erinnerung an den Abend im historischen Rathaus war ihr eine Lehre geblieben. Es geschah nichts, von dem Nils-Ole nicht wusste. Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, die Stimme in ihr flüsterte nicht, sie schrie.

»Ich bitte dich, Nils. Was soll ich an solch einem Idioten finden.« Das Adrenalin in ihr explodierte und schleuderte ihren Geliebten neben sich auf das Laken. »Dieser Typ ist einfach nur unter aller Kanone!« Christin musste sich nicht extra darum bemühen, aufgebracht zu klingen. Die herablassende Art, mit der Herder sie aus dem Haus gejagt hatte, reichte vollauf. »Den kannst du mir nackt vor dem Bauch binden; da passiert nichts.« Ein wenig Ehrlichkeit konnte nicht schaden. »Aber seine Tochter, die ist schon ein aufgewecktes, liebes Mädchen und mit Jutta, ihrer Großmutter, kann man ein paar nette Worte wechseln.«

»Jutta? Du meinst Jutta Kellermann?«

Ihr Name schien unangenehme Erinnerungen in ihm zu wecken. Verdammt, irgendetwas lief da, von dem sie nicht wusste. Nur eines war gewiss, sie musste Nils unbedingt auf andere Gedanken bringen. Sie mochte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn er sich auf die drei einschoss. Nur weil er Angst um sein Eigentum hatte. »Wolltest du mir nicht noch eben irgendwelche Gipfel zeigen?«

Er tat ihr nicht den Gefallen. »Dieser Herder und du, das gefällt mir überhaupt nicht.«

»Nils-Ole Händler, ich werde es dir jetzt nur einmal sagen.« Energisch erhob sie sich vom Bett und sah mit funkelnden Blicken auf ihn hinab. »Tobias Herder ist hochnäsig, beleidigend und frauenfeindlich. Und ja, er macht mir mein Leben derzeit zur Hölle. Er ist ein kleiner Junge, der es dringend nötig hat, dass ihm jemand den nötigen Respekt beibringt. Wenn ich dieser jemand bin, dann soll es so sein! Er weiß es noch nicht, aber bei mir wird er lernen, was Demut heißt. Nein, Nils«, kam sie seinem Einwand zuvor, »das ist allein mein Ding. Sollte ich wirklich nicht mit ihm fertig werden, weiß ich, dass du mir hilfst. Aber erst dann! Und damit zu dir, mein Lieber. Wir sind weder ein Ehepaar, noch bin ich dein Eigentum. Wir haben ein Geschäft am Laufen. Ich sage es, damit du dich ab und an daran erinnerst und dich nicht wie ein Pascha aufführst. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Du musst ihn anders beschäftigen, jetzt sofort!, hörte sie erneut die drängende Stimme in sich. Wie von Zauberhand saß sie auf ihm und deponierte seine Hände auf ihrem Körper. Bringe ihn endlich auf andere Gedanken!

»Klar und deutlich, kleine Gewitterziege.« Er lachte, nur nicht wirklich überzeugt.

Ihr heftiges Zusammenzucken führte er hoffentlich darauf zurück, dass es die Lust war, die er mit seinem harten Freudenspender bei ihr auslöste.

Hätte Christin zu diesem Zeitpunkt geahnt, wie Nils-Ole Händler wirklich dachte, fühlte und plante, wären ihre Befürchtungen längst in Angst umgeschlagen.

***

Heute war ein Tag, den ich am liebsten aus dem Kalender streichen möchte. Es gab ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Auch wenn ich im Nachhinein weiß, dass ich es ganz gut gemeistert habe, so hat es mir gezeigt, wie sehr einem die eigenen Gefühle ein Bein stellen können. Selbst wenn man glaubt, man besäße einen meterdicken Panzer aus Stein. Ich habe den Fehler gemacht und Hannah in mein Herz gelassen. Ach, was schreibe ich da. Das ist die Christin, die ich jedem weismachen will. Hannah ist kein Fehler! Aber sie weckt etwas in mir, das ich nie wieder erleben wollte. Und sie kommt nicht allein in mein sonst so strukturiertes Leben. Wenn ich dabei auch an Jutta denke. Sie ist so lieb, so besorgt und sie behandelt mich wie einen richtigen Menschen, der auch seine Fehler haben darf. Sie ist wie eine Mutter. So wie ich sie mir immer vorgestellt, aber nie besessen habe. Und Tobias … Dieser Mann macht mich irre. Ein großes Kind! Ein Junge, der jemanden zum Balgen und Toben braucht. Das hatte ich gedacht – bis heute. Bis zu dem Moment, an dem er mir herzlos den Platz gezeigt hat, an den eine Frau, wie ich es bin, gehört. Raus auf die Straße. In diesem schmerzhaften Moment habe ich begreifen müssen, dass er mir gegenüber nur eine Rolle spielt. Dass er vom Herzen her so unbeschreiblich kalt ist. Ich war so enttäuscht, so wütend auf ihn … und bin es noch immer. Tobias ist ein Idiot und ich werde einen Weg finden, um mich zu revanchieren und ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Und doch habe ich Angst um ihn. Angst, dass Nils-Ole in seiner Eifersucht Dinge tut, die ich so nicht gutheißen kann. Habe ich mich ihm gegenüber zu sehr über Tobias beschwert? Ich hoffe nur, dass Nils-Ole bald auf andere Gedanken kommt. Überhaupt habe ich bei ihm immer mehr ein ungutes Gefühl. Er wird zu besitzergreifend und ist sich meiner zu sicher. Und er ist gefährlicher, als ich jemals zuvor gedacht habe. Ist es das ganze Geld wert, das er mir zukommen lässt? Kann es sein, dass ich längst meine Seele verkauft habe und aus diesem Sumpf nicht mehr herauskomme? Ich habe Angst vor dem, was die nächsten Tage bringen werden.

Christin legte den Stift beiseite und starrte in die Flamme der Kerze. Gab es überhaupt Worte, mit denen sie das Chaos in ihr beschreiben konnte? Worte, die auch nur annähernd das widerspiegelten, was sie fühlte.


Kapitel 8

Liebes Tagebuch. Ja, ich gestehe, ich habe dich in den letzten Tagen wenig beachtet. Warum soll ich all die ungelösten Fragen, die mich quälen, auch noch hier zu Papier bringen, wo ich sie im Traum längst herunterbeten kann?

Was ist geschehen? Natürlich habe ich mich über Tobias’ Verbot hinweggesetzt und Hannah, Jutta und Balu fast jeden Tag besucht. Allein um das Schicksal herauszufordern. Nur um mit ihm richtig aneinanderzugeraten. Dabei scheint es fast so, als würde er mir bewusst aus dem Wege gehen und stillschweigend meine Freundschaft zu seiner Familie akzeptieren. Ja, ich bin immer noch unendlich wütend auf ihn. Und doch muss ich mir eingestehen, dass ich immer öfter an ihn denke. Selbst wenn Nils-Ole bei mir ist und sich auf mir austobt. Tobias nimmt immer mehr Platz in meinen Gedanken ein. Manchmal kotzt es mich richtig an. Leider ist es so, dass ich es so drastisch ausdrücken muss. Letztens wäre mir beinahe sein Name herausgerutscht, als ich einen leibhaftigen Höhepunkt bekam. Nein, ich darf ihn nicht mehr an mich heranlassen. Nicht einmal mehr an ihn denken.

Christin las ihren, im Grunde genommen, völlig diffusen Tagebucheintrag. Selbst ausgeschlafen brachte sie nichts mehr zustande. Sie dachte daran, die Seite herauszureißen und zu verbrennen. Aber war ein Tagebuch nicht auch dazu da, um die verqueren Gedanken niederzuschreiben? Irgendwie hatte es der Therapeut doch so ausgedrückt. Ach, was soll’s, irgendwann würde es eh den Weg all seiner Vorgänger gehen. So wie sie eben geschrieben hatte, war es nur dazu da, um sich mal richtig auszukotzen.

Sie schlug das Buch zu und versteckte es wie immer zwischen den Büchern über hessische Geschichte. Zeit, um sich mal wieder zu verwöhnen und etwas Gutes zu tun. Elf Uhr Kosmetikerin. Danach wollte sie zwei Schaufenster weiter noch einmal einen Blick auf das gute Stück werfen, das ihr seit zwei Nächten im Kopf herumspukte.

***

Der aufgeregte Anruf von Herrn Niedermeyer hatte Tobias auf der Baustelle, keine drei Straßen entfernt erreicht. Er hatte zwar versprochen, so schnell als möglich vorbeizuschauen, aber der alte Herr klang so aufgeregt, als täte sich gerade in diesem Moment ein Krater unter seinem Dessousgeschäft auf, um die halbe Wallhofstraße in den Abgrund zu reißen. Dabei war es bestimmt nur ein Setzriss in einer der neu eingezogenen Mauern. Tobias seufzte herzerweichend, aber er wollte auch nicht schuld am Herzkasper des Alten sein.

»Christian!«

»Schrei doch nicht so! Und setz vor allem deinen blöden Helm auf. Du solltest langsam deine Lehren daraus gezogen haben.« Der Maurermeister, mit dem Tobias häufig zusammenarbeitete, stand plötzlich hinter ihm und drückte ihm seinen Helm in die Hand, den er wieder irgendwo hatte liegenlassen.

»Also, was ist los?«

»Ich muss rüber in die Wallhofstraße und mir eine Reklamation anschauen. Haben wir so weit alles besprochen?«

»Eigentlich ja. Nur denk bitte daran, dass der Typ vom Landesdenkmalamt vorbeikommt und sich das freigelegte Tonnengewölbe ansehen will.«

Tobias nickte ergeben, wobei ihm der Helm erneut auf den Nasenrücken rutschte. Im nächsten Leben, schwor er sich, würde er Friseur werden oder sonst was. Nur nichts, bei dem er etwas auf dem Kopf tragen musste! »Okay, ich geh dann mal zu Opa Niedermeyer.«

Er klopfte sich den Staub aus seiner Kleidung und feuerte den Helm auf ein paar Packen Dämmmaterial. Dorthin, wo Christian ihn irgendwann finden und ihm wie ein treuer Hund hinterhertragen würde.

Um die Mittagszeit war wenig los in der Stadt. Dennoch wurde er dreimal mit irgendwelchen Gesprächen aufgehalten. Es nervte, zumal er die Sache mit Niedermeyer im Kopf hatte. Eine Christin Thorstraten hätte sich mit so was nicht abquälen müssen. Sie wurde verachtet und in Ruhe gelassen. Dachte er gerade jetzt an sie, weil er sich immer noch schuldig fühlte? So wie er sie behandelt hatte, war es wirklich kein Meisterstück gewesen. Alles nur, weil die Eifersucht an ihm nagte.

»Eh, Logik, wo bleibst du?« Diese rekelte sich verschlafen und suchte orientierungslos nach dem, was sein Mensch offenbar brauchte. Mit einem leidenden Seufzer kommentierte sie lahm. „Tobi, denk doch nur an die Frau in Rot. Die braucht keinen Stümper wie dich und ist gut versorgt.“ „Danke Logik, leg dich wieder hin.“

»Idiot!«, verfluchte er sich und seine merkwürdige Art der Selbstreflexion.

»Herr Niedermeyer, wo fallen die Wände um?« Sein theatralischer Auftritt hinterließ jedes Mal die richtige Wirkung. Der Kunde fühlte sich verstanden. In diesem Falle war es so, dass sich der Senior vom Kassentisch löste, wo ihn zwei hübsch anzuschauende Verkäuferinnen umsorgten. Dessousverkäufer werde ich, erfasste Tobias seinen neuen Traumjob. Ohne Helm!

»Herr Herder, wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Bei den Umkleidekabinen tun sich plötzlich Risse auf.«

»Ich vermute mal Setzrisse«, sagte Tobias im Tonfall des verständnisvollen Seelsorgers. »Wollen wir uns das einmal anschauen?«

Er folgte dem nervösen Senior in Richtung der Umkleidekabinen, während sein Handy zugleich Juttas Melodie anstimmte.

»Tobi, bist du heute pünktlich daheim? Es wäre schade, wenn das Essen kalt wird.«

»Hey Mom, ich hatte es so geplant«, versprach er mit halbem Ohr hörend und den Gedanken ganz woanders. Im Eiltempo flitzte er hinter dem erstaunlich agilen Alten her und segelte kurz vor dem Ziel an ihm vorbei.

Ein empörter Schrei ließ ihn zusammenfahren und wie paralysiert auf das starren, was sich seinen überraschten Blicken offenbarte.

»Natürlich! Sie schon wieder!«

Hinter sich hörte er Niedermeyers aufgelöstes Jammern, »Ohgottohgottohgott!«, dann hatten seine völlig überlasteten Synapsen endlich eine Andockstation im Gehirn gefunden. »Mein Gott, Fuchur. Hör auf Feuer zu spucken. Ich hab schon weitaus mehr Frauen mit weniger am Leib überlebt.«

»Das ist ja wohl das Letzte! Jetzt vergleichen Sie mich auch noch mit einem Ihrer Pin-up-Girls!«

Er schien in der Tat die Frechheit zu besitzen, sie daraufhin abschätzend zu mustern und zu begutachten.

»Ne, Sie sehen definitiv hübscher aus. Obwohl … Miss Februar …«

»Herder, es reicht!!!« Christin Thorstraten hatte drohend ihre Rechte erhoben. »Wo tut es Ihnen derzeit am wenigsten weh?«

Er schenkte ihr erneut sein gefürchtetes Lausbubenlächeln und deutet auf seine rechte Schulter. Heldenhaft empfing er ihren mäßig ausgeführten Boxhieb und quittierte es mit einem leisen, lang gezogenen »Auuuua«.

Christin kämpfte mutig gegen ihr Lachen an. Konnte man diesem Tölpel denn gar nicht mehr böse sein? Während sie noch mit sich und ihren im Widerstreit liegenden Gefühlen kämpfte, spürte sie plötzlich, wie sich seine Hände auf ihre Hüften legten. Dort, wo sie nur von dem sündhaft anzuschauenden und genauso teuren Body bedeckt waren. Wie schwerelos fühlte sie sich angehoben und gleich darauf ein Stück weiter neben der Trennwand abgesetzt.

»Jetzt lassen Sie mich mal an die wichtigen Dinge des Lebens«, murmelte er, ohne sie dabei anzuschauen. »Nicht dass uns noch die Hütte über dem Kopf zusammenbricht.«

Sie verfolgte, ihre aufreizende Blöße mit viel zu kleinen Händen bedeckend, wie seine Finger – die, die eben noch auf ihrem Körper geruht hatten – beinahe zärtlich über einen dünnen Haarriss im Mauerwerk glitten.

»Kein Problem, Fuchur.« Mit einem theatralischen Aufatmen sog er die Luft in seine Lungen. »Die nächsten dreihundert Jahre kannst du hier in aller Ruhe die Drachenschuppen wechseln.«

»Ich bin nicht Fuchur, verdammt!«, beschwerte sie sich und boxte ihn erneut gegen die Schulter, was er diesmal mit einem Zähneknirschen empfing.

»Nein, das sind Sie nicht.« Er richtete sich auf und blieb vor ihr stehen. Mit einem Male wirkte er sehr ernst. »Christin … das, was ich letztens zu Ihnen gesagt habe … es tut mir wirklich leid. Aber ich war da plötzlich in einer Situation … Bitte, seien Sie mir nicht bis ans Lebensende böse. Ich würde wirklich alles gern zurücknehmen.«

Ihr Herz tat einen Hüpfer. Einen kleinen zumindest, versuchte sie sich einzureden. »Ich werde darüber nachdenken. In den nächsten hundert Jahren.«

»Na, das ist doch ein guter Anfang.« Tobias schien sich langsam bewusst zu werden, wo er sich befand und mit wem er hier sprach. »Nächstes Mal klopfe ich auch an, versprochen.« Er rieb zur Bekräftigung die Knöchel am schweren Vorhangstoff und ließ diesen dann doch wieder fahren, statt sich durch ihn hindurch zu verflüchtigen.

Wie selbstverständlich berührten seine Fingerspitzen ihren Oberarm und strichen sanft über das gehäkelte Garn des sündigen Kleidungsstücks. Was ihr – verflucht noch einmal – so gar nicht unangenehm war.

»Es steht Ihnen wirklich gut. Ist wie für Sie gemacht.«

»Wenn ich jemals mitbekommen sollte, dass Sie Ihr Abenteuer hier an Ihrem Stammtisch breittreten, dann bringe ich Sie um.«

»Würden Sie mir das wirklich zutrauen?« Er lächelte weiterhin, doch in seiner Stimme schwang mit einem Male eine tiefe Traurigkeit mit. »Nein, ich werde vielleicht nachts davon träumen. Ich werde dann aufwachen und es selbst nicht glauben wollen. Zumindest werde ich versuchen, mir das einzureden.«

Als eine Entgegnung ausblieb, war es für ihn das Signal, den Rückzug anzutreten.

»Tobias.« Sie sah ihn in der Bewegung erstarren. »Wo tut es Ihnen sonst noch nicht weh?«

Er wandte sich ihr erneut zu. Äußerst verunsichert wischte er sich über die rechte Wange. »Hier geht es, glaube ich.«

Christin überwand den Abstand, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte und drückte ihm einen impulsiven Kuss drauf. »Verschwinde bloß, du Chaot.«

Endlich tat er einmal das, was sie von ihm verlangte. Und doch dauerte es eine geraume Zeit, bis sie sich angekleidet und ihr Zittern soweit unter Kontrolle gebracht hatte, um unter die Leute zu gehen.

»Diese Teile hier hätte ich gern.« Christin räusperte sich und legte zwei sündige Tangas sowie den Häkelbody auf den Tresen. »Ich weiß nur nicht, wo ich das Preisschild vom Body gelassen habe. Ich habe wirklich alles abgesucht.«

»Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte die junge Verkäuferin mit einem zurückhaltenden Schmunzeln und scannte den Preis der beiden Höschen ein. »Den hat Herr Herder bereits für Sie bezahlt.«

»Wie? Herr Herder? Wie kommt der dazu?« Christin spürte beinahe schmerzhaft, wie ihr eine kochende Röte ins Gesicht schoss.

»Das hat er nicht begründet. Ich soll nur ausrichten, wenn Sie fragen, dass seine Träume zumindest optisch wahr werden sollen. Mehr kann ich nicht dazu sagen«, tat sie vornehm zurückhaltend kund.

Wie benebelt wankte Christin aus dem Geschäft hinaus. Sie hatte bei der Anprobe, wie so oft, nicht auf den Preis geschaut. Aber eine sehr große „Zwei…“ hatte bestimmt darauf gestanden. Wie kam Tobias dazu, ihr ein solch sündhaft teures Geschenk zu machen? Jede Lösung, die sie darauf fand, stürzte sie nur in weitere Gewissensbisse. Oh Gott, was hatte sie nun schon wieder angerichtet?

***

»Hallo Jutta.« Christin überging den überraschten Blick der Freundin. »Ist er da?«

»Tobias? Nein, der kommt erst am späten Nachmittag.« Herr im Himmel, werden die denn nie erwachsen, ergänzte Jutta für sich und sah zweifelnd auf die Jüngere herab. Wie einen Schild hielt sie eine exklusive Niedermeyer-Tüte vor der Brust. Dabei fiel Jutta ein, dass sie auch noch einen Gutschein für dieses Geschäft besaß. Sie und in ihrem Alter Dessous! Am besten war, sie drückte ihn Christin gleich in die Hand. Die Glückliche war sogar so selbstbewusst, solch eine Tasche in aller Öffentlichkeit mit sich herumzutragen. »Magst du nicht mit hineinkommen? Ich meine, es wäre ein guter Zeitpunkt, um in Ruhe über tiefer gehende Gedanken zu sprechen.«

»Was sollte das an der jetzigen Situation ändern? Du kannst mir ruhig hier sagen, dass dein lieber Herr Tobias schizophren ist.«

»Schiz…«, setzte Jutta an und musste herzhaft auflachen, als ihr Christins Worte bewusst wurden. »Nein, dieser kleine Blödian ist alles, nur nicht schizophren! Und du kommst jetzt mit hinein und dann reden wir Tacheles miteinander. Die Nachbarn müssen ja weiß Gott nicht alles mitbekommen.« Sie packte die völlig überraschte Frau am Arm, zog sie zu sich herein und grüßte über die Straße hinweg. »Tag, Frau Hartmann. Grüßen Sie mir Ihren Vater.« Die Haustür flog ins Schloss.

Christin fühlte sich energisch in die Küche geschoben und auf ihren Platz drapiert. »Jutta, wenn du ihn mir jetzt als wundervollen Ehemann verkaufen willst, dann spare dir bitte deine Luft. Dafür habe ich ihn bereits genug kennengelernt. Nimm es mir nicht übel, aber ich kann deine Tochter wirklich verstehen, dass sie es nicht mehr bei ihm ausgehalten hat und stiften gegangen ist. Ich will nicht das gleiche Schicksal teilen. Überhaupt können mich die Männer aber so was von kreuzweise!«

»Bist du fertig?« Jutta schob ihr einen Becher frischen Kaffee zu. »Ich frage dich jetzt eines, meine Liebe. Bist du dir wirklich sicher, dass Tobias der Psychopath ist, den du in ihm sehen willst?«

»Ehrlich? Ja! Ich verstehe nur nicht, warum du noch hier bei ihm bist und warum deine Tochter Hannah nicht gleich mit sich genommen hat.«

»Du weißt es wirklich nicht?« Juttas Gesicht versteinerte. »Hat Tobias es dir nicht gesagt? Oder zumindest diese grässlichen Klatschweiber dort draußen.«

»Du weißt, dass Tobias und ich kaum ein anständiges Wort miteinander wechseln. Und dass Hannah und du, vielleicht noch Amelie Gruber die Einzigen sind, die sich dazu herablassen, mit mir zu sprechen. Ich weiß nur, dass deine Tochter irgendwann abgehauen sein muss.« Irritiert registrierte Christin, wie Jutta förmlich in sich zusammensank. Aus der sonst so resoluten Löwin schien plötzlich alle Kraft gewichen.

»Meine Sina ist nicht abgehauen. Und sie hätte auch niemals ihre geliebte Hannah zurückgelassen. Meine Tochter ist vor etwas mehr als zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Trotzig wischte sich die um Jahre gealterte Frau eine Träne aus dem Augenwinkel. »Und auf ihre Art hat Sina auch Tobias innig geliebt.«

»Jutta … Das habe ich nicht …« Christin blieben die Worte im Halse stecken, als sie die wahre Tragweite von dem begriff, was Jutta ihr gestand. Dafür rasten ihr alle möglichen und unmöglichen Gedanken durch den Kopf. Jutta ließ die ergriffene Berührung ihrer Hand zu und doch dauerte es, ehe sie sich gefasst hatte. Zeit, die Christin für sich nutzte, um zu einem Entschluss zu kommen.

***

»Hallo, wir sind daaaa!« Tobias fühlte sich wirklich pudelwohl an diesem Nachmittag. Er hatte auf dem Heimweg Hannah und ihren Balu von einer der wenigen Freundinnen abgeholt. Nun freute er sich auf zwei ganz besondere Menschen, die sicher wieder in der Küche beisammensaßen. Wie Christin wohl auf seine erneute „Untat“ reagierte? Er bedauerte nur, dass er nicht ihr Gesicht gesehen hatte, als sie an die Kasse kam. Ja, in einer seiner wildesten Fantasien trug Christin den Body bereits auf der Haut. Sie würde ihn zur Seite ziehen und ihm fürchterlich die Hölle heißmachen. Was ihm einfiele und so. Und dann …

»Hallo Omama, ist Tini gar nicht da?« Hannah ahnte nicht im Mindesten, wie sehr ihre Feststellung den Vater aus seinen verwegensten Träumen riss.

Jutta versuchte ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. Er kannte diesen Blick, wenn das Lächeln nicht ihre Augen leuchten und die kleinen Fältchen drum herum tanzen ließ. Dieser Blick, der ein „Mach dir nichts daraus. Wir werden es gemeinsam durchstehen“ verkündete.

»Sie hat dir einen Brief geschrieben.«

Tobias nickte verstehend und bemühte sich, seine Rolle als fröhlicher Familienmensch aufrechtzuerhalten. »Gut, und hat es sonst etwas Besonderes gegeben?«

»Nichts«, Jutta erhob sich mit einem matten Lächeln, »In einer guten Stunde gibt es Mittag.«

Die Tüte von Niedermeyer stand auf dem kleinen Tisch am Fenster. An sie gelehnt fand er das Kuvert, von dem Jutta gesprochen hatte. Es war Juttas exklusives Briefpapier. Das, das er ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Andächtig öffnete Tobias den unverschlossenen Umschlag und zog zwei Blätter hervor. Sie trugen eine Handschrift, wie er sie schöner nie zuvor hatte lesen dürfen. Die Worte, die sie für ihn gefunden hatte, würden weit weniger angenehm sein.

Lieber Tobias, eigentlich hätte ich dir diese Worte von Angesicht zu Angesicht sagen müssen. Du weißt ja, ich bin sonst nicht auf den Mund gefallen. Und doch hat mich unser Zusammentreffen heute Mittag so sehr aufgewühlt, dass ich es für richtiger halte, dir zu schreiben. Ich möchte nichts vergessen. Gedanken, Gefühle und Worte, die mir wichtig sind, von denen du wissen und die du akzeptieren musst.

Ich habe Angst, dass wir uns auf einen Weg verirren, den keiner von uns beiden so wirklich will. Solange wir uns an die Kehle gegangen sind, war alles in bester Ordnung. Wie habe ich mich immer darauf gefreut, wieder einmal mit dir zusammenzurasseln und mich mit dir zu fetzen. Du warst irgendwie nie … Ach, vergiss es. Es hat sich etwas verändert zwischen uns. Ich denke plötzlich anders über dich, und ich sehe einen Mann, dem es ganz offensichtlich ähnlich ergeht. Er sieht mich zärtlich an und scherzt plötzlich. Er macht mir Komplimente und überrascht mich mit Geschenken. Teuren Geschenken, die ich nie und nimmer annehmen kann. Denn das würde für mich heißen, dass ich ihm Hoffnungen mache. Ich spüre sehr wohl, dass ich dir, menschlich gesehen, nicht ganz unsympathisch bin. Ich komme sehr gut mit Hannah und Jutta zurecht, und ja, ich habe auch dich sehr gern. Doch das alles reicht nicht aus, um sich auch nur annähernd darüber Gedanken zu machen, eine feste Beziehung einzugehen. Zumindest nicht so, wie du sie dir vorstellen magst. Ich bin nun mal keine Frau, die man „an die Leine legt“. Ich stehe fest auf meinen eigenen Beinen und ich mache immer, was ICH will. Andere Menschen sind für mich nur Mittel zum Zweck. Auch mein Gastspiel hier ist nur von begrenzter Dauer. Spätestens wenn mein Stipendium ausläuft, bin ich fort.

Bitte, Tobi, ich will ehrlich zu dir sein. Du bist ein toller Mann, der irgendwann die Richtige finden wird. Die, die für Hannah eine wirkliche Mutter sein kann. Ich kann und will das nicht. Mehr als eine gute Freundin der Familie WILL ICH NICHT SEIN! Ich weiß, im Grunde deines Herzens wirst du mir nur zustimmen können. Bitte, sei einfach so wie bisher. Ein netter Nachbar, oder ein Freund, mit dem man sich mal so richtig zoffen kann. Mehr kann und will ich mir nicht wünschen. Christin.

Er ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Dabei war er sich so sicher gewesen, dass es der Anfang von etwas ganz Besonderem war. Wie unterschiedlich man die unvergesslich schöne Szene im Dessousladen auslegen konnte … Sein Verstand suchte nach einer Erklärung. Sie spielte einfach nur mit offenen Karten. Wie sollte er da enttäuscht sein, sagte er sich. Und doch tat es weh.

»Jutta, ich gehe mit Balu noch eine Runde um den Block.«

»Hannah war gerade mit ihm los«, kam es aus Richtung Küche.

»Macht nichts. Ich denke, er hat gelbe Augen.« Tobias stahl sich förmlich aus dem Haus.

***

Jetzt schon? Christin blickte auf ihre Cartier, die sie gerade angelegt hatte. Eine halbe Stunde vor der Zeit. Und warum klingelte Nils-Ole? Er hatte einen eigenen Schlüssel. Sie ließ sich Zeit und schlüpfte in die neuen, edlen Pumps, die Herr Hagen extra für sie in Mailand bestellt hatte. Ein letzter Blick in den Spiegel. Die Ohrringe!

Erneutes Klingeln.

»Sie?« Sie hätte es wissen müssen. Tobias stand am Fuße der Treppe. In der einen Hand Balus Leine, in der anderen diese vermaledeite Tüte. Er wirkte nicht, als würde er vor Freude überschäumen. Echt mieses Timing. Sie sandte einen kühlen Blick – hoffentlich fasste er es so auf – zu ihrem Handgelenk.

»Sorry, Frau Thorstraten. Es wird nicht lange dauern.«

Balu sah das anscheinend anders. Er sprang die Stufen hinauf und wollte sich seine fälligen Streicheleinheiten vom großen Frauchen abholen. Tobias zog ihn an der Leine zurück, ehe er ihren Seidenstrümpfen den Garaus machen konnte.

»Der Brief«, setzte er verhalten an.

»Was ist damit?« Erneuter Blick zum Zifferblatt. Diesmal gelang es ihr sogar, eine kühle Hochnäsigkeit zu demonstrieren. »Ich denke nicht, dass es darüber etwas zu diskutieren gibt.«

»Diskutieren«, murmelte Tobias nachdenklich. Wenn man erst damit anfing, über Gefühle zu diskutieren, war längst alles im Eimer. »Nein, ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles okay ist. Danke, dass Sie uns vor einer Riesendummheit bewahrt haben.«

Hatte sie wirklich geglaubt, er würde ihr hinterherbetteln? Christin schluckte ihre aufsteigenden Beklemmungen runter. »Tobias, kommen Sie damit zurecht?« Shit, warum musste sie ihn das jetzt fragen? Warum!?! Sie hatte ihn doch da, wo sie ihn haben wollte!

»Ja klar. Alles roger. Wir machen einfach weiter wie zuvor. Ich habe da schon ein paar tolle Ideen, wie ich Sie auf die Palme bekomme.« Er schickte sich an sich abzuwenden, als ihm noch etwas Wichtiges einfiel. »Ach ja, der Body.«

»Ja?« Sie blickte mit verschränkten Armen auf ihn herab. Diese verfluchte Tüte schwebte zwischen ihnen. »Ich denke, ich habe mich auch darin deutlich ausgedrückt.«

»Stimmt. Nur erwarten Sie nicht von mir die Plattheit, dass ich einer anderen Frau etwas schenke, das ich für eine ganz besondere Frau gekauft habe. Das wäre doch wohl wirklich unter aller Sau, oder? Machen Sie mit ihm, wonach Ihnen der Sinn steht. Altkleider, Putzlumpen oder einfach in den Müll.«

»Tobias, ich …«

»Bitte, Christin. Tun Sie es für mich. Er kommt immer noch von Herzen. Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, dass ich nie wieder solch eine Kurzschlusshandlung begehen werde.« Tobias drückte ihr die Tüte in die Hand und kehrte um, ehe sie es sich ein weiteres Mal überlegte.

»Dann man viel Spaß im Theater.« Mann, war er froh, dass er sogar ein cooles Lächeln schaffte. Durchatmend blickte er seinen Kumpel an. »Komm Balu. Zeit, um ein paar Bäume zu schubsen und Bären zu jagen.«

»Oper.«

»Wie bitte?«

»Ich gehe in die Oper. Turandot.«

»Oh, Desdemona. Wie treffend.«

»Herr Herder!«

»Kommen Sie«, er grinste herausfordernd, »bei Ihrer Steilvorlage! Ist nicht fein, aber ein ziemlicher Brüller, oder?«

»Es ist nicht einfach, in gewohnte Bahnen zurückzufinden, oder?« Christins schlechtes Gewissen brach sich mit aller Macht seinen Weg.

Und wieder war es ihr gelungen, ihn zu verunsichern! »Nein.« Tobias senkte den Blick. »Nicht wenn man zuvor im Lichtstrahl des Glückes baden durfte.«

Ihm gelang erneut das, was er ihr gegenüber perfekt beherrschte. Einen Spruch bringen, der sie wie ein Unmensch aussehen ließ, um sie dann einfach stehen zu lassen. Ohne sich noch einmal umzuschauen.

***

Hier im Stadtpark, auf der anderen Seite der Mauer und unter jahrhundertealten Bäumen, hielt sich noch ein großer Teil der Frühjahrskälte. Trotzdem kühlte es nicht das kochende Blut in seinen Adern. Warum das alles? Wieso wurde die Sache immer verwirrender? Ihren Brief hätte er vielleicht noch akzeptieren können. Aber ihre Haltung eben, ihre Blicke sagten doch etwas ganz anderes aus.

»Sie ist mit einem anderen zusammen, du Traumtänzer. Mit so einem alten Knacker.« Er dachte an die Frau in Rot zurück. »Einer, der ihr alles bietet; nicht nur Oper.« Tobias stöhnte gequält auf. Hatte er nicht erst vor Kurzem heldenhaft herumgetönt, dass er sich nie in eine bestehende Beziehung hineindrängte? Er sah auf Balu hinab, der ihn fest im Blick hatte. »Ja Hund, so ist das bei den Menschen. Manch einer ist auch nur ein armer Hund.« Das leise Winseln klang wie ein kollegialer Seufzer. »Ja, du bist ein schlauer Hund. Einseitige Liebe tut wirklich nicht gut.«

***

Der vergangene Abend und die Nacht waren das bislang Schönste, das sie miteinander verbracht hatten, spürte Christin dem Beben nach, das ihr Herz durchflutete und in den Erinnerungen der letzten Stunden baden ließ. Ganz sicher lag es daran, dass sie in Frankfurt geblieben waren. Dort, wo niemand den Bürgermeister Nils-Ole Händler kannte. Hier durfte er ganz er selbst sein. Ohne befürchten zu müssen, dass ihn einer seiner lieben Mitbürger erkannte. Frederik Zander, sein Chauffeur und engster Vertrauter, würde Stein und Bein schwören, dass der Bürgermeister sich den ganzen Freitag und auch den Samstag mit Investoren und ansiedlungswilligen Unternehmern getroffen hatte.

Stattdessen lag sie hier mit Nils-Ole in einem wirklich luxuriösen Bett, in einer First-class-Suite, in einem ebensolchen Hotel und bei einem formidablen Frühstück.

»Ich bin so voll, das ich gleich platze.« Christin ließ sich mit einem wohligen Seufzen in die Kissenflut sinken und betrachtete mit einer gehörigen Portion Stolz den wirklich gut gebauten Körper ihres Geliebten. Trotz seiner Mitte Fünfzig war Nils besser in Schuss als so manch ein Mann, der sein Sohn hätte sein können. Erneut durchrieselten sie wohlige Schauer, als sie daran dachte, wie sehr dieser Mann sie heute Nacht auf Höhen gebracht hatte. Höhen, wie sie sie selten zuvor erklommen hatte. Es war wie das erste Mal nach einer langen Trennung gewesen. Liebevoll, achtungsvoll, als hielte er ein filigranes Kunstwerk in Händen, und doch so kraftvoll und ungestüm, wenn sie es am nötigsten hatte. »Nils, könntest du vielleicht noch ein klein wenig lieb zu mir sein? So wie in der letzten Nacht.«

Er schaute über die Schulter hinweg auf sie hinab. Mit dem Lächeln eines Siegers, der er zweifellos war. Der Mann mit dem kleinen Hund, der kurz hinter ihren geschlossenen Augen aufflimmerte, verschwand in ein bodenloses Nichts.

»Gern, kleiner Nimmersatt.« Nils-Ole Händler schob den Frühstücksaufsatz von sich und schickte seine Hand unter ihr Laken. »Aber nur, wenn du mir versprichst, dich zurückzuhalten. Ich will dich endlich einmal erobern können. Meinst du, du könntest dich mir verschließen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739406473
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
starke Frau Liebesroman Beziehung Erotik

Autor

  • Katharina Mohini (Autor:in)

Katharina Mohini wohnt mit ihrer Familie in Norderstedt, nördlich von Hamburg. In ihrem Debütroman „Das Geheimnis der Stadtchronistin“ geht es um eine starke Frau mit einer außergewöhnlichen Lebensgeschichte. Das Leit-Thema dieser Autorin. Katharina Mohinis Geschichten thematisieren das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Lebensweisen und Anschauungen ihrer Protagonisten und erzählen, wie es ihnen trotz aller Widrigkeiten gelingt, einander zu bejahen und zu lieben.
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Titel: Das Geheimnis der Stadtchronistin