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Tod im Museum

John Mackenzies dritter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
235 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 3

Zusammenfassung

Im Naturhistorischen Museum in London wird ein Mann tot aufgefunden – erschlagen mit einem Saurierknochen. Als sein Vater unter Verdacht gerät, sieht Beefeater John Mackenzie sich gezwungen, Nachforschungen anzustellen. Doch auch für Superintendent Simon Whittington steht viel auf dem Spiel. Wieder einmal müssen die beiden zusammenarbeiten, um die Geheimnisse dieser faszinierenden, von Bambiraptoren, Rüsselkäfern, genialen Wissenschaftlern und einem rockenden Papageienforscher bevölkerten Welt zu entschlüsseln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Die kleinen gelben Augen schienen ihn boshaft anzustarren, während der massige Kopf des Tyrannosaurus Rex sich angriffslustig hin und her bewegte. Markiges Gebrüll erfüllte den halbdunklen Raum. John jedoch nahm von alledem nichts wahr. Regungslos starrte er auf die Szene, die sich zu Füßen des Sauriers abspielte. Dort kniete sein Vater. Vor ihm lag ein Mann, der ebenso tot war wie das gigantische Tier, von dem der Knochen stammte, den James Mackenzie in der Hand hielt.


Kapitel 1

 

„Happy birthday, liebe Bella, happy birthday to you!”, scholl es durch das Wohnzimmer der Hughes’. Mit glühenden Wangen blies Johns jüngste Nichte die zehn Kerzen auf ihrer Torte aus. Der gesamte Mackenzie-Clan applaudierte.

„Darf ich jetzt meine Geschenke auspacken?“ Erwartungsvoll sah Bella ihre Mutter, Johns Schwester Maggie, an.

„Natürlich, Schatz.“

„Zuerst meins! Oder vielmehr das von Andy und mir.“ Maureen Hughes, genannt Renie, drängte sich nach vorn zu ihrer kleinen Schwester. Sie hatte ein großes rechteckiges Paket in der Hand.

Begierig riss Bella das Papier auf. Zum Vorschein kam ein Physik-Experimentierkasten. Während Bella schon das nächste Geschenk in Empfang nahm, murmelte Maggie John zu, „Die Idee stammt sicher von Andy. Wahrscheinlich hofft er, dass das Kind damit unser spießiges Haus in die Luft sprengt.“

John grinste. Seine Schwester und Renies Freund, Physikstudent und Punkmusiker aus Edinburgh, standen seit ihrer ersten Begegnung auf Kriegsfuß.

Während Bella eine Reitgerte auspackte, die offensichtlich weit mehr Anklang fand als der Physikkasten, zogen sich die beiden Geschwister in stummem Einverständnis in die Küche zurück.

„Ich sage dir, ich bin so froh, wenn die Ferien im September zu Ende sind.“ Maggie ließ sich auf einen Stuhl fallen. John, der ahnte, dass seine Schwester einmal wieder Dampf ablassen musste, setzte sich ebenfalls.

„Es ist wirklich anstrengend, alle drei Kinder zu Hause zu haben. Zu allem Überfluss war Alan die ganze letzte Woche auf Dienstreise und nächstes Wochenende muss er schon wieder weg. Ehrlich gesagt kommt mir mein Job momentan wie die reinste Erholung vor, im Vergleich zu dem, was zu Hause alles los ist – und das, obwohl wir mitten in einem wirklich verzwickten Ermittlungsverfahren wegen Produktpiraterie stecken.“

Maggie arbeitete als Staatsanwältin, ihr Mann Alan war ein erfolgreicher Produzent von Datensicherheits-Software und häufig unterwegs.

„Bella ist ja noch die Pflegeleichteste. Sie hat ständig Verabredungen zum Spielen mit Freundinnen und nächste Woche ist sie ohnehin in einem Reitcamp. Tommy dagegen ist kaum aus seinem Zimmer zu kriegen. Entweder bedröhnt er das ganze Haus mit Alans alten Punkrock-Platten oder er hängt am Computer. Ich kann ihn gerade noch dazu bewegen, einmal die Woche ins Basketballtraining zu gehen. Und dann noch Renie …“

Sie schnaubte.

„Du kennst sie ja. Nicht nur, dass sie störrisch wie ein Maulesel ist, sie muss auch immer das letzte Wort behalten. Je länger sie hier ist, desto besser finde ich es, dass sie ihr Studium hier in London aufgibt und ein paar hundert Meilen nördlich von hier weitermachen will. Ich finde es zwar schade, dass sie die Anthropologie sausen lassen will, aber vielleicht passt Eventmanagement ja tatsächlich besser zu ihr. Soll sie doch in Edinburgh mit ihrem Andy glücklich werden. Obwohl ich keine Ahnung habe, was sie an diesem unerträglichen Kerl findet. Im Vergleich zu ihm hat sogar unser lieber Cousin ein gewinnendes Wesen.“

Simon Whittington, Superintendent bei Scotland Yard und dank seiner Heirat mit der Ehrenwerten Patricia Armsworth Mitglied der besseren Gesellschaft, hatte John und seinen Geschwistern schon manchen Nerv geraubt.

John riss die Augen auf. „So schlimm, was?“

Maggie nickte grimmig. „Er ist arrogant, besserwisserisch, pathologisch unordentlich und gibt mir bei alledem ständig das Gefühl, eine engstirnige alte Kuh zu sein.“

„Donnerwetter, Mum, das muss ja ein Arsch mit Ohren sein, von dem du da sprichst.“

Maggie fuhr herum. Renie stand in der Tür.

„Äh, ja, ein neuer Kollege. In der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Wirklich unausstehlich, der Kerl.“ Maggie zwinkerte ihrem Bruder zu.

„Du wirst ihm schon zeigen, wo der Hammer hängt, Mum. John, Bella hat nach dir gefragt. Oder wahrscheinlich eher nach dem Geschenk, das du mitgebracht hast.“

„Ich komme gleich, Renie.“

„Alles klar. Nachher muss ich dir unbedingt von der Arbeit im Museum erzählen, John. Es ist fantastisch dort.“ Sie ging ins Wohnzimmer zurück.

Maggie schnitt eine Grimasse hinter ihrer Tochter her.

„Ich werde Dad auf ewig dankbar sein, dass er den beiden diesen Ferienjob im Museum besorgt hat. Die ersten Tage hier sind sie abends durch die Clubs gezogen, um nach Auftrittsmöglichkeiten für Andys Band Ausschau zu halten und ansonsten haben sie sich hier breitgemacht. Nun sind sie wenigstens tagsüber sinnvoll beschäftigt“, sagte Maggie.

James Mackenzie war Kurator im Naturhistorischen Museum in London gewesen und verbrachte auch nach seiner Pensionierung noch zwei Tage die Woche dort. Insbesondere wenn es neue Funde an Dinosaurierknochen zu studieren gab, war er nicht zu halten.

„Arbeitet Renie in Dads Abteilung?“, erkundigte sich John.

Maggie schüttelte den Kopf.

„Sie durfte schon in verschiedene Bereiche hineinschnuppern. Mir war gar nicht klar, wie vielseitig die Arbeit im Museum tatsächlich ist. Es gibt dort sogar Wissenschaftler, die der Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen helfen. Du kannst dir vorstellen, dass es Renie dort am allerbesten gefällt.“

John nickte grinsend.

„Darüber habe ich kürzlich einen Beitrag in der BBC gesehen. Es war ein Interview mit einem Experten aus der Insektenkunde, der erklärt hat, wie er den Todeszeitpunkt anhand des Madenbefalls der Leiche feststellen kann.“

Maggie schauderte.

„Genau solche Geschichten muss ich mir momentan öfter beim Abendessen anhören. Zugegebenermaßen hochinteressant, aber meistens ekelerregend. Wir müssen Renie davon abhalten, dass sie ihre Stories von Schmeißfliegen und Leichenteilen gleich beim Tee auftischt.“

Sie stand auf. „Jetzt, wo ich mich mal wieder richtig ausgeschimpft habe, geht’s mir gleich besser. Komm, Bruderherz, lass uns wieder zu den anderen gehen.“

 

Bella freute sich sichtlich über das dicke Pferdebuch, das John ihr mitgebracht hatte und auch über den bunten Papageientaucher aus Plüsch, den er vor wenigen Wochen in Schottland gekauft hatte.

„Der ist ja süß, John, danke. Ich nenne ihn Puffy.“

Johns Vater trat heran. „So, mein Mädchen. Hier habe ich noch ein letztes Geschenk für dich. Das ist etwas ganz Einmaliges. Ich hoffe, du magst es.“ Er überreichte ihr feierlich ein eingerolltes Stück Papier, das mit einer Schleife zusammengebunden war.

Kaum hatte Bella gelesen, was auf dem Papier stand, sprang sie auf und fiel ihrem Großvater um den Hals.

„Grandpa, das ist ja super! Wie viele Kinder darf ich einladen?“

„Nun ja, ich hatte so an acht bis zehn gedacht.“

„Toll! Mum, darf ich gleich Gillian anrufen? Das muss ich ihr sofort erzählen.“

„Gut, Schatz, aber mach nicht zu lange. Wir wollen dann den Geburtstagskuchen anschneiden.“

Schon war Bella in den Flur verschwunden.

„Was hast du ihr da geschenkt, Dad?“, fragte Maggie. „Davon wusste ich ja gar nichts.“

„Es sollte eine Überraschung sein. Ich habe nur Renie eingeweiht, weil wir sie dabei als Unterstützung brauchen.“

Renie sprang wie ein Gummiball auf und ab.

„Das wird spitzenmäßig. Eine Nacht im Museum, stellt euch vor, nur für Bella und ihre Freundinnen. Mit Taschenlampen und Schlafsack und einer Extraführung durch die Dino-Abteilung mit dem besten Saurierkenner weit und breit: James Mackenzie.“ Strahlend hängte sie sich bei ihrem Großvater ein.

„Donnerwetter, Dad, das ist ja wirklich ein einmaliges Erlebnis für die Kinder. Da würde ich ja gern selbst dabei sein. Wieso gab es so etwas nicht, als wir noch klein waren?“, meinte David, der jüngste der drei Mackenzie-Geschwister.

„Damals waren die Zeiten noch anders“, antwortete sein Vater. „Mittlerweile öffnet das Museum sich immer mehr und ermöglicht auch Blicke hinter die Kulissen. Übernachtungen im Museum gibt es schon seit einiger Zeit, aber das sind große Veranstaltungen, bei denen auch Vorträge stattfinden und Filmvorführungen. Dies hier wird aber etwas ganz Exklusives. Ich musste den Direktor ganz schön beknien, bis er mir die Genehmigung dafür gegeben hat. Es dürfen maximal zehn Kinder sein und es müssen außer mir mindestens noch zwei Erwachsene dabei sein.“

Er zwinkerte vergnügt. „Die Kinder werden nämlich direkt in der Saurierabteilung übernachten. Da ein Schlafsack für meine alten Knochen nicht so zuträglich ist, werde ich auf der Pritsche in meinem alten Büro nächtigen. Renie und Andy werden bei den Kindern bleiben und dafür sorgen, dass keiner auf nächtliche Streifzüge geht und etwas anstellt.“

„Das ist wirklich eine großartige Idee von dir, Dad. Vielen Dank, dass du für Bella etwas so Außergewöhnliches auf die Beine gestellt hast.“ Maggie umarmte ihren Vater. „Hast du schon einen Termin ins Auge gefasst?“

„Ich würde nächsten Freitag vorschlagen. Da bin ich nämlich ohnehin den ganzen Tag im Museum und am Samstag auch, da wir die Eröffnung von zwei neuen Sonderausstellungen vorbereiten. Dann übernachte ich gleich in meinem alten Büro im Museum.“

„Das passt wunderbar, da Bella danach ins Reitcamp fährt. Und nun lasst uns Tee trinken. Ich habe einen wunderbaren neuen Teeladen entdeckt und dort einige Sorten verkostet. Der Chamong Second Flush hat mir am besten geschmeckt. Er ist in der grünen Kanne. Für die, die keinen Darjeeling mögen, habe ich auch noch Assamtee und Lapsang Souchong da.“

Johns Mutter, eine ausgewiesene Teekennerin, nickte anerkennend, nachdem sie probiert hatte. „Wo ist dieses neue Geschäft, Maggie? Dort möchte ich mich auch einmal umsehen.“

„In der Warwick Street, Mum. Direkt neben einem uralten Schallplattenladen.“

„Ah, den kenne ich. Weißt du noch, James, dort hast du mir vor langer Zeit eine Platte von Buddy Holly gekauft.“

„Stimmt, Liebes. Es war Raining in my heart, das weiß ich noch genau. Das war, warte mal …“ Er überlegte kurz. „Im Mai 1960.“

„Du hast wirklich ein phänomenales Gedächtnis, James.“ Emmeline Mackenzie lächelte ihren Mann liebevoll an.

„In dem Schuppen war ich kürzlich mit Andy. Da haben wir eine uralte Scheibe von den Ramones gefunden. Das ist echt Kult, Leute“, ließ sich Tommy auf einmal vernehmen, der bisher schweigend seinen Kuchen in sich hineingeschaufelt hatte. „Soll ich sie euch vorspielen?“

„Vielleicht später. Wo ist Andy eigentlich?“, wandte Maggie sich an ihre älteste Tochter.

Renie zuckte mit den Schultern. „Ein Freund aus Edinburgh ist heute in der Stadt und Andy ist zum Bahnhof gefahren, um sich mit ihm zu treffen. Allerdings wollte er nachmittags hier sein.“ Sie sah auf die Uhr und runzelte leicht die Stirn. „Ich rufe ihn schnell an und mache ihm ein bisschen Beine.“

„Das ist doch nicht nötig, Liebes“, warf Maggie hastig ein. „Bestimmt zeigt er seinem Freund die Stadt und hat die Zeit vergessen. Nun erzähl doch mal den anderen von deiner Arbeit im Museum.“

Renie lachte. „Okay. Also, es ist wirklich superinteressant. Ich durfte schon in verschiedenen Abteilungen mithelfen. Am besten hat es mir bei den forensischen Entomologen gefallen –“

Sie fing einen finsteren Blick ihrer Mutter auf. „Aber davon erzähle ich beim Kuchenessen lieber nichts. Ganz toll war auch die Arbeit an der Ausstellung mit den neu entdeckten Spezies aus dem mittelamerikanischen Regenwald.“

„Renie hat an einigen der erklärenden Texte mitgearbeitet. Sie hat wirklich ein Talent, wissenschaftliche Inhalte leicht verständlich zu formulieren“, meinte James Mackenzie anerkennend.

„Und sie hat auch gleich ihre Erfahrungen aus der Arbeit für Tante Isabel in Schottland einsetzen können. Die Ausstellungseröffnung, die bald ansteht, wird nämlich eine sehr bedeutende Sache. Wir werden Funde herzeigen, die aus unseren eigenen Expeditionen stammen. Zum einen fantastische neue Tier- und Pflanzenarten aus dem Regenwald in Panama, zum anderen Saurierfunde aus Colorado und New Mexico. Wir bekommen dazu sogar erstmals seit Längerem wieder königlichen Besuch.“ Er strahlte.

„Rund um die Ausstellungseröffnung gibt es auch noch eine Reihe von Veranstaltungen für Gönner und Förderer des Museums. Da muss natürlich sehr viel organisiert werden. Unsere zuständigen Leute in der Verwaltung waren sehr angetan von Renies Fähigkeiten in diesem Bereich.“

Renie strahlte ob des Lobs. „Danke, Grandpa. Aber deine Idee für eine der nächsten Ausstellungen hätte ich ebenfalls toll gefunden, auch wenn sie der Verwaltungsrat abgelehnt hat.“

„Was hattest du vorgeschlagen, Dad?“, fragte David.

„Ich hätte es an der Zeit gefunden, einmal eine Dokumentation zum Thema Wissenschaftsbetrug zu machen.“

„Wissenschaftsbetrug? An was hast du dabei gedacht? An Fälle, wo Akademiker ihre Doktorarbeiten abgeschrieben haben? Oder an Studien, wo Mediziner im Auftrag der Pharmaindustrie ihre Ergebnisse gefälscht haben?“, erkundigte Alan sich interessiert.

„Auch so etwas ließe sich da thematisieren. In erster Linie wollte ich jedoch Geschichten zusammentragen, die eng mit den Themen des Museums zusammenhängen, also aus der Biologie, der Geologie, der Paläontologie, der Anthropologie … Auch unser großartiges Museum war schließlich schon von Fälschungen betroffen. Und genau das ist es, was dem Verwaltungsrat nicht gefällt. Die wollen am liebsten nur die grandiosen Leistungen der Wissenschaft und insbesondere natürlich des Museums nach außen hin darstellen. Dass es auch bei renommierten Forschern so etwas wie Blauäugigkeit oder geradezu kriminellen Ehrgeiz gibt, soll schön unter den Teppich gekehrt werden.“

Energisch schob James seinen Kuchenteller fort.

„Ich muss zugeben, dass ich mich mit ein paar von den Herren in der Führungsetage ganz schön angelegt habe. Da habe ich mich nicht gerade beliebt gemacht. Aber schließlich ist es doch nicht unser Auftrag, uns selbst zu beweihräuchern. Wir wollen keine geistlosen Konsumenten, die leicht zu beeindrucken sind. Wir sollten doch einen Beitrag dazu leisten, dass unsere Besucher mündige und kritische Betrachter werden, die nicht auf jede sensationelle Meldung in der Regenbogenpresse oder wo auch immer hereinfallen!“

John musste schmunzeln, als sein Vater – für Temperamentsausbrüche sonst nicht gerade bekannt – sich immer mehr in Rage redete.

Das Museum, das Forschen und insbesondere seine geliebten Dinosaurier – dafür lebte James Mackenzie. Während andere Kinder mit dem Märchen von den drei kleinen Schweinchen oder der Legende von Dick Whittingtons Katze in den Schlaf begleitet wurden, waren die Hauptrollen in den Gute-Nacht-Geschichten für die drei Mackenzie-Geschwister von Titanosauriern, Iguanodons und anderen kreidezeitlichen Kreaturen besetzt gewesen.

Mehr als ein Familienurlaub hatte damals nach Dorset geführt, wo es an den Stränden und Steilküsten immer noch Fossilien zu finden gab. Ein besonders schöner Ammonit, den John damals gefunden hatte, ruhte als Briefbeschwerer bis heute auf seinem Schreibtisch.

„Hast recht, Grandpa. Ein Haufen von den Filmchen in sämtlichen Videoportalen im Internet sind Fakes und es gibt genügend unterbelichtete Typen, die das alles für bare Münze nehmen“, meldete Tommy sich wieder zu Wort.

Renie nickte. „Genau. Und so eine Ausstellung würde dem Ansehen des Museums mit Sicherheit nicht schaden. Schließlich sind die Betrügereien, denen die Forscher dort aufgesessen sind, schon Jahrzehnte her. Wir durften im zweiten Semester eine Exkursion ins Museum machen und uns die Schädelfragmente des Piltdown-Menschen ansehen. Die Geschichte gehört zum Standardprogramm für Anthropologiestudenten.“

„Was ist ein Piltdown-Mensch?“, fragte Bella.

„Das größte wissenschaftliche Fiasko des Museums, mein Kind“, seufzte James Mackenzie.

„Ein Amateurausgräber namens Charles Dawson brachte 1912 fünf Teile eines zerbrochenen Schädels und einen Unterkiefer zur Begutachtung ins Museum. Er gab an, dass er diese bei einer Grabung im Dörfchen Piltdown in Sussex geborgen hätte. Schon nach kurzer Zeit schaffte es dieser Fund in die Schlagzeilen. Die Spezialisten aus unserer Abteilung für Paläontologie schätzten das Alter der Knochen auf eine halbe Million Jahre und damit sogar älter als die Reste des berühmten Neandertalers aus Deutschland. Da der Schädel an einen modernen Menschen erinnerte, der Kiefer aber an einen Menschenaffen, wurde hier die Entdeckung des lange gesuchten fehlenden Gliedes in der menschlichen Entwicklungsgeschichte ausgerufen. Ganz Großbritannien war stolz auf diesen Urahn. Erst 40 Jahre später wurde der Betrug öffentlich gemacht: Die Schädelteile stammten von einem Skelett aus dem Mittelalter – waren also erst rund 500 Jahre alt – und der Kiefer von einem erst kürzlich verstorbenen Orang-Utan. Alle Knochen waren so manipuliert worden, dass sie viel älter aussahen, als sie tatsächlich waren. Es hatte bereits damals warnende Stimmen gegeben, die von Fälschung sprachen. Aber diese wurden lange Zeit komplett ignoriert, einfach weil alle an dieses Märchen glauben wollten“, schloss Johns Vater.

John fiel etwas ein. „Ich habe vor Jahren in einem Naturkundemuseum gefälschte Fossilien gesehen, die waren direkt zum Lachen, so stümperhaft waren die aus irgendeinem Stein gemeißelt. Wo war das noch?“ Er überlegte angestrengt. „Ach, jetzt weiß ich es wieder. Es war während der Zeit, als ich in Deutschland stationiert war. Wir hatten in der amerikanischen Garnison in Bamberg eine Tagung von Armeepsychologen aller NATO-Partner. Dort bin ich an einem freien Nachmittag ins Museum und habe diese Dinger gesehen. Ich glaube, sie hießen Lügensteine.“

„Genau, mein Sohn. Würzburger Lügensteine, um genau zu sein. Auch diese sind ein bekanntes Beispiel für Täuschung in der Wissenschaft.“ Sein Vater beugte sich angeregt nach vorn. „Damals haben sich zwei honorige Herren zusammen mit ein paar künstlerisch halbwegs begabten Rotzlöffeln einen Spaß mit einem Professor der Würzburger Universität erlaubt. Sie haben allerlei Figuren aus Muschelkalkstein herausgemeißelt und dem armen Professor, der sie für echt hielt, verkauft. Er hat sogar ein aufwändiges Buch darüber herausgebracht. Als ihm der Betrug klar wurde, war es ihm unendlich peinlich und er versuchte sogar, die ganze Auflage seines Buchs selbst aufzukaufen. Wir müssen ihm aber zugutehalten, dass das vor fast 300 Jahren passiert ist und man damals natürlich noch nicht annähernd die wissenschaftlichen Methoden hatte wie heute.“

„Selbst heute, wo die Untersuchungs- und Nachweismethoden viel ausgereifter sind, lassen sich Wissenschaftler und sogar Fachzeitschriften foppen“, ergriff Renie das Wort.

„Erst vor einigen Jahren hat National Geographic einen riesig aufgemachten Artikel über eine neu entdeckte Saurierart, den Archäoraptor, veröffentlicht. Auch der wurde als fehlendes Glied gefeiert, in diesem Fall in der Entwicklungskette von den Dinosauriern zu den Vögeln. Dabei war er eine eher plumpe Fälschung eines chinesischen Bauern, der auf seinen Feldern verschiedene Fossilien fand und diese einfach zusammensetzte und unter der Hand außer Landes verkaufte – was ohnehin schon ungesetzlich war, weil China keine Ausfuhr von Fossilien erlaubt. Dass es diese Fälschung in den USA bis auf die Titelseite eines anerkannten Magazins schaffte, sorgte für einen ganz schönen Skandal.“

Davids Frau Annie, die vollauf damit beschäftigt gewesen war, ihr lebhaftes Söhnchen Christopher von allerlei Unfug abzuhalten – wie zum Beispiel, Familienkater King Olaf am Schwanz zu ziehen – sah auf. „Ich habe mal über einen Archäologen gelesen, ich glaube, es war ein Japaner. Der war berühmt dafür, wie viele steinzeitliche Funde er schon gemacht hatte – zumindest, bis sich herausstellte, dass er eine Menge davon zuvor selbst vergraben hatte, um sie dann publicityträchtig wieder auszubuddeln.“

James Mackenzie nickte. „Der Fall hat für gewaltiges Aufsehen gesorgt. Es ging sogar soweit, dass viele japanische Geschichtsbücher neu geschrieben werden mussten, nachdem das ganze Ausmaß seines Betrugs enthüllt worden war.“

Maggie schüttelte den Kopf. „Es ist doch überall das Gleiche. Es gibt in jedem Bereich der Gesellschaft Leute, die der Verlockung erliegen, wenn es irgendwo einen schnellen und für sie bequemen Weg zu Geld oder Ruhm gibt. Dass ihr Verhalten oft weitreichende Folgen hat, überdenken solche Typen gar nicht.“

„Genau. Einzelne schwarze Schafe können den Ruf einer ganzen Branche ruinieren, wie zum Beispiel Produzenten von Billigfraß, die diesen dann als hochwertiges Bionahrungsmittel teuer verkaufen“, merkte Renie an.

„Ein gutes Beispiel für so einen dreisten Betrüger ist auch Colonel Richard Meinertzhagen“, hob James Mackenzie noch einmal an. „Er war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der bekannteste Vogelkundler weit und breit. 1954 hat er mit großer Geste seine Vogelsammlung unserem Museum zum Geschenk gemacht. Erst viel später stellte sich heraus, dass er einen großen Anteil der Tiere erst aus dem Museum gestohlen und dann umetikettiert hatte, um sie dann wieder als vermeintlich großzügiger Gönner zurückzugeben.“

„Na, das ist ja an Frechheit wirklich kaum noch zu überbieten“, meinte Annie.

„Was aber noch wesentlich schwerer wiegt, ist, dass der wissenschaftliche Wert der Vogelbälger drastisch sinkt, wenn man nicht mehr nachvollziehen kann, wann und wo sie gesammelt wurden. So wurde zum Beispiel der seltene Blewittkauz aus Indien für ausgestorben erklärt, nachdem man fast 100 Jahre lang kein Exemplar gesichtet hatte. Tatsächlich hatte Meinertzhagen auf seinem Etikett eine ganz falsche Gegend angegeben, in der der Kauz geschossen worden wäre. Erst, als man das wahre Herkunftsgebiet der Eule feststellte und daraufhin gezielt suchte, stellte sich heraus, dass die Tiere dort sehr wohl noch leben.“

Bella, die das Gespräch der Erwachsenen allmählich langweilte, fragte, „Kann ich mit Christopher etwas spielen?“

„Ja, spielen!“, krähte ihr kleiner Cousin begeistert und schlug mit seinen kleinen Fäusten auf den Tisch.

„Ich hole meine alten Modellautos aus dem Keller“, erbot Tommy sich großzügig. Wenig später ließen die Kinder die kleinen Autos durch den Flur zischen, während Johns Vater mit Alan und David den Physikkasten öffnete. John wanderte hinüber zum überbordenden Geschenktisch.

Maggie zeigte ihm ein riesiges flauschiges Badetuch, auf dem ein Pferdekopf zu sehen war. „Das hat Tante Isabel aus Schottland geschickt.“

John lächelte. „Ein Wunder, dass es nicht im Mackenzie-Tartan gemustert ist. Ich hoffe, es geht Isabel gut und sie erholt sich von dem aufregenden Clantreffen.“

„Ich habe letzte Woche mit ihr telefoniert. Sie hat sich wieder auf ihr Anwesen zurückgezogen. Ich hatte den Eindruck, dass sie ganz froh ist, dass die Geschichte jetzt vorbei ist. Auch wenn sie für ihr Alter ja außerordentlich fit ist, haben die langen Vorarbeiten und das Festival doch an ihren Kräften gezehrt. Jetzt möchte sie erstmal in ihrer Schafzucht nach dem Rechten sehen und mit Walter kleinere Spaziergänge machen.“ Sir Walter Scott war Isabels preisgekrönter, mittlerweile in Ehren ergrauter Scotchterrier, der sie überallhin begleitete.

„Den Anhänger hier hat Patricia geschickt. Hübsch, nicht?“

John nahm das Schächtelchen mit dem silbernen Hufeisen, das Maggie ihm reichte. „Mhm. Geschmackvoll, wie man es auch von ihr erwartet.“

„Sie hat auch eine sehr nette Karte dazugeschrieben.“

„Na, wenigstens schafft sie es, den richtigen Ton zu treffen, im Gegensatz zu ihrem Mann“, erwiderte John säuerlich.

Maggie gluckste. „Was war es noch, was Simon dich bei eurem letzten Aufeinandertreffen genannt hat?“

„Einen labernden Psycho-Onkel, dazu noch Stümper und Ignorant, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Dabei wart ihr doch ein richtiges Dream-Team bei der Aufklärung des Mordfalls in Edinburgh.“

John brummte. „Pah, Dream-Team. Ich hoffe, dass ich Simon so schnell nicht wieder sehen muss. Am besten erst zu Weihnachten, wenn wir alle bei Mum und Dad feiern.“

 

Tatsächlich sollte es bis zum nächsten Aufeinandertreffen nur wenige Tage dauern.


Kapitel 2

 

Nach dem Abendessen machten Johns Eltern sich auf, um zurück nach Kew zu fahren. David und Annie hatten einen längeren Weg vor sich, da sie in Cambridge lebten. John entschied, ein Stück zu Fuß zu laufen, statt in die nächste U-Bahn zu steigen. Die Abendluft war ungewöhnlich lau und er hatte es nicht eilig, zurück in den Tower zu kommen. Sein Dienst begann erst wieder im Morgengrauen des nächsten Tages.

Nach 20 Jahren als Truppenpsychologe bei der britischen Armee hatte er vor gut einem Jahr den Dienst quittiert, als sich die Chance bot, eine der rund drei Dutzend Stellen als Beefeater im Tower von London zu bekommen. Seit einigen Monaten betreute er als Assistent des Ravenmasters George Campbell die neun Kolkraben, die im Tower lebten. Der Legende nach hatte König Charles II im 17. Jahrhundert verfügt, dass für immer Raben im Tower leben sollten, aus Angst, sein Königreich würde sonst fallen. Ebenso wie die Beefeater, wie die königliche Wachtruppe der Yeoman Warders gemeinhin genannt wurde, standen die Tiere seit alters her im Dienst der Krone und wurden stets bestens umsorgt.

 

Auf dem Weg zu seiner Wohnung am Tower Green wurde John von seinem Lieblingsraben Gworran begrüßt. Keckernd kam der junge Vogel herangehüpft – fliegen konnten die Tiere wegen eines gestutzten Flügels nicht – und rieb seinen Schnabel an Johns Schuh. John ging in die Hocke. „Na, mein Alter? Ist es noch nicht Zeit für die Abendfütterung?“

Für gewöhnlich blieben die Raben vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung draußen auf dem Gelände des Towers und kehrten dann in ihre geräumige Voliere zurück.

Als hätte Gworran ihn verstanden, gab er ein Trompetensignal von sich, krächzte „Gott schütze die Königin“ und trollte sich dann in Richtung Rabenhaus. Lächelnd sah John ihm nach. Der gelehrige Vogel war ihm sehr ans Herz gewachsen.

Im letzten Jahr hatte John alles verschlungen, was Bücher und das Internet an Informationen über Raben bereithielten. Vor kurzem hatte er sich mit Chief Mullins, dem Kommandanten der königlichen Truppen im Tower unterhalten. Dabei hatte er fallen lassen, dass die Raben ein so spannendes Thema waren, dass man eigentlich eine Sonderführung zu ihnen anbieten könnte. Mullins war sofort Feuer und Flamme gewesen.

„Dass uns diese Idee nicht schon früher gekommen ist! Hervorragend, wirklich hervorragend.“

John hatte geschmeichelt gelächelt, bis er mitbekam, in welche Richtung das Gespräch lief.

„Da kann ich mir ganz verschiedene Zielgruppen vorstellen. Erst einmal sollten wir so etwas gezielt für Schulklassen anbieten. Dann klemmen Sie sich mal dahinter und stellen Sie ein Konzept auf die Beine, am besten differenziert nach verschiedenen Altersstufen.“

Überrumpelt gab John ein schwaches „Äh …“ von sich.

„Und machen Sie sich mal schlau, welche Ansätze die moderne Museums- und Zoopädagogik so verfolgt. Schließlich können wir hier nicht irgendwelchen Larifari anbieten. Ich stelle mir eine gleichsam unterhaltsame wie effiziente Wissensvermittlung vor. Wie lange brauchen Sie dafür?“

„Äh …“

„Sagen wir, bis Oktober? Ich kann Sie dafür leider nicht extra vom Dienst freistellen lassen, weil wir in nächster Zeit sowieso etwas knapp besetzt sind. Aber Sie schaffen das auch so, nicht wahr?“

Mullins stand auf, kam um den Schreibtisch herum und klopfte John herzhaft auf die Schulter.

„Ich weiß Ihr Engagement wirklich zu schätzen, Mackenzie. Ganz hervorragend. Innovativ. Dann erwarte ich Ihr Konzept im Oktober. Und nun Cheerio.“

Damit hatte John sich draußen vor Mullins’ Büro wiedergefunden, wo Bonnie Sedgwick, Mullins’ Sekretärin, ihn amüsiert musterte.

„John, du siehst aus, als wäre eine Dampfwalze über dich drübergefahren.“

„So fühle ich mich auch. Es sieht so aus, als hätte ich mir unvermutet einen Haufen Arbeit aufgehalst.“

Er erzählte Bonnie von seinem Vorschlag, zusätzlich zu den üblichen historischen Führungen, welche die Beefeater täglich für Besucher anboten, ein spezielles Programm zu den gefiederten Bewohnern des Towers anzubieten.

„Ich finde die Idee toll, John. Aber es ist sicher viel Aufwand, so ein Konzept für Schulklassen zu entwickeln. Wahrscheinlich wäre es hilfreich, erst einmal mit jemandem vom Fach darüber zu sprechen.“

Unwillkürlich trat ein Grinsen in Johns Gesicht. Bonnie hatte völlig Recht. Und wer wäre als pädagogische Unterstützung wohl besser geeignet als Pauline Murray, Lehrerin an einer Mädchenschule?

Seit ihrer letzten Begegnung in Schottland ertappte er sich dabei, dass er häufiger an die rothaarige Enddreißigerin dachte. Zu seinem Leidwesen würde Pauline zum neuen Schuljahr von Richmond am Stadtrand Londons nach York wechseln, 200 Meilen nördlich.

Nun hatte er einen guten Vorwand, sie anzurufen.

Obwohl Pauline dabei war, ihren Umzug vorzubereiten, hatte sie sich sofort bereiterklärt, ihm bei der Ausarbeitung seines Projektes zu helfen.

 

Nachdem John die beiden Tortenstücke, die Maggie ihm mit nach Hause gegeben hatte, im Kühlschrank verstaut hatte, griff er spontan zum Telefonhörer.

„Guten Abend, Pauline. John hier. Ich hoffe, ich störe nicht?“

„Aber nein, John, ich freue mich, dass du anrufst. Ich sitze gerade auf dem Balkon und genieße noch ein wenig diesen herrlichen Abend. Nachher kommt einer meiner früheren Kollegen vorbei, der mir beim Einpacken meiner Bücher hilft. Hast du das Raben-Quiz für die Mittelstufe noch einmal überarbeitet?“

Ein Kollege? Der an einem Sonntagabend half, Bücher zu verpacken? Hmmm. Johns Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.

„Viel konnte ich nicht machen, ich hatte wenig Zeit in den letzten Tagen. Was hältst du von der Frage: Der Kolkrabe ist der größte: a – Singvogel, b – Greifvogel, c – Spechtvogel, d – Kranichvogel?“

Pauline lachte leise. „Gut, dass ich mittlerweile dank dir einiges über Raben weiß. Ansonsten wäre ich selbst nicht darauf gekommen, dass es wirklich Singvögel sind. Aber wenn die Schüler dir aufmerksam zuhören, wenn du ihnen deinen Rabenvortrag hältst, sollten sie diese Frage schon beantworten können. Also ja, die kannst du genau so nehmen, denke ich.“

Sie plauderten eine Weile über dieses und jenes und John freute sich, als Pauline ihn für die kommende Woche zu einem Abschiedsessen mit Freunden in Richmond einlud.

„Meine Wohnung sieht dann allerdings schon ein bisschen kahl aus, weil ich zwei Tage später abreise“, fügte sie etwas wehmütig hinzu.

„Das macht doch nichts, Pauline. Kann ich etwas mitbringen?“

„Nein, nein. Ich bestelle für uns alle Pizza und wir machen uns einfach einen gemütlichen Abend.“

Sie schwieg kurz. Dann brach es unvermittelt aus ihr heraus, „Weißt du, ich hatte mich sehr darauf gefreut, nach York zu gehen, um wieder näher bei meiner Familie zu sein. Aber jetzt, wo meine Zeit hier im Süden tatsächlich zu Ende geht, bin ich doch … irgendwie traurig.“

„Das kann ich verstehen. Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft ich in den Jahren bei der Armee von einem Land ins andere versetzt worden bin. Gerade von den Orten, wo ich mehrere Jahre lang war, fiel der Abschied immer schwer. Andererseits –“

An dieser Stelle wurde er durch das Klingeln seines Mobiltelefons gestört. Mit einem Seufzen stand er vom Sofa auf, auf dem er es sich gemütlich gemacht hatte.

„Einen Moment bitte, Pauline, mein Handy klingelt. Ich sehe nur schnell nach, wer es ist.“ Er eilte in den Flur hinaus und sah sich um. Wie so oft musste er erst überlegen, wo er das lästige Ding überhaupt hingesteckt hatte. Das Läuten kam aus seiner Jackentasche. Er fischte das Handy heraus und seufzte abermals, als er den Namen im Display entdeckte. Renie.

„Pauline, kann ich dich noch einmal zurückrufen? Meine Nichte ist dran.“

„Ich sehe sowieso gerade meinen Kollegen über den Hof kommen, John. Aber wir sehen uns dann ja am Montagabend, nicht wahr?“

„Natürlich. Ich freue mich schon darauf.“

John verabschiedete sich mit Bedauern und schnappte dann nach dem Telefon, das beharrlich klingelte.

„Was ist los, Renie?“, meldete er sich ungnädig.

„Na endlich gehst du ran! Fast hätte ich schon aufgegeben.“

„Ich habe auf meiner Festnetzleitung telefoniert.“

„Das habe ich gemerkt, da war ständig besetzt. Deswegen rufe ich ja auf dem Handy an.“

John knirschte mit den Zähnen. Zu einer solchen Logik war nur seine Nichte fähig.

„Also was ist jetzt los?“, fragte er mühsam beherrscht. „Wir haben uns doch erst vor einer Stunde verabschiedet. Was ist denn so dringend?“

„Andy, diese Ratte! Er ist gekommen, gerade als ihr weg wart. Mitsamt Declan, seinem Freund. Das ist der mit der Kneipe, in der Andy neben dem Studium immer arbeitet. Und dann hat Andy uns ganz lässig mitgeteilt, dass er so mir nichts, dir nichts heute mit dem Nachtzug noch nach Edinburgh zurückfährt.“

„So plötzlich? Aber ihr wolltet doch noch zwei Wochen bleiben, oder nicht?“

„Genau. Aber Declan hat ihn bekniet, dass er ihn unbedingt in der Kneipe braucht, weil irgendeiner von seinen Leuten ausgefallen ist und er so schnell angeblich keinen vernünftigen Ersatz kriegt. Und Andy hat nichts Besseres zu tun, als sofort seinen Rucksack zu packen und schon ist er weg. Ohne auch nur einmal mit mir vorher darüber zu reden. Er hat sich nicht mal richtig bei Mum und Dad bedankt.“

Ein Geräusch, das verdächtig nach einem Schluchzen klang, drang aus dem Hörer und John bereute seine harsche Reaktion von vorhin.

„Dabei war Mum sehr nett zu ihm und hat ihm sogar schnell noch ein Essenspaket hergerichtet, obwohl er das wirklich nicht verdient hat.“

John musste grinsen. Wahrscheinlich führte seine Schwester in diesem Moment heimlich einen Freudentanz auf, weil sie Andy so unvermutet losgeworden war.

„Sie müssten sich beeilen, um den Zug zu erreichen, hat er gesagt, und schwupp, sind sie in ein Taxi gesprungen“, fuhr Renie mit bebender Stimme fort.

„Das klingt ja ziemlich überstürzt. Vielleicht liegt bei seinem Freund ja wirklich ein Notfall vor und Andy wollte ihn in der Situation einfach nicht hängen lassen“, meinte er vorsichtig.

„Hm.“ Renie schniefte ein wenig. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Auf jeden Fall muss ich morgen den Leuten im Museum beibringen, dass einer ihrer Aushilfskräfte ab sofort nicht mehr zur Verfügung steht. Das wird Grandpa nicht gefallen. Schließlich sind Andy und ich auf seine Empfehlung hin eingestellt worden.“

„Du hast recht. Aber er wird dir mit Sicherheit keinen Vorwurf machen, Renie.“

„Hm. Auf jeden Fall fehlt uns nun eine Aufsichtsperson für Bellas Geburtstagsübernachtung im Museum. Mum hat am Freitagabend irgendeinen beruflichen Termin, den sie nicht absagen kann und Dad ist auf dem Weg nach Brüssel zu einer Tagung. Könntest du einspringen?“

„Natürlich, Renie. Ich freue mich, wieder einmal ins Naturkundemuseum zu kommen. Es ist schon ewig her, dass ich zuletzt dort war.“

„Danke, John. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Dann treffen wir uns am Freitagabend am Haupteingang des Museums. Und bring deinen Schlafsack und eine Taschenlampe mit.“

 

 

Ein empfindlich kalter Wind fegte durch die Cromwell Road, als John wenige Tage darauf durch die Dämmerung auf den gewaltigen Komplex des Museums zuging. Das langgestreckte Gebäude erinnerte mit seinen vielen sandsteinfarbenen Bögen und schmalen Fenstern an eine romanische Kathedrale. Rechts und links des Eingangsportals erhoben sich zwei Türme. Ein hoher Metallzaun umschloss das gesamte Gelände. Der Zugang war verschlossen, aber hinter dem Zaun wartete bereits Renie mit einer Schar Mädchen. Sie bedeutete dem Wachmann, ihn einzulassen. Bella umarmte ihn ausgelassen und stellte ihn dann den Mädchen vor.

„Das ist mein Onkel John Mackenzie. Er ist ein königlicher Beefeater und hat außerdem schon mitgeholfen, zwei Mörder zu fangen.“ John hörte den Stolz in Bellas Stimme und musste lächeln.

„Und das sind Gillian, Penny, Annabel, Libby, Katie und Alice.“

Artig traten die Mädchen der Reihe nach vor und schüttelten ihm die Hand.

„Guten Abend, meine Damen. Freut mich, euch kennenzulernen. Mein Namensgedächtnis ist ziemlich schlecht, also seid mir nicht böse, wenn ich heute Abend noch öfter nachfragen muss, wer wer ist.“

Die Mädchen kicherten. Renie rollte mit den Augen und zog John beiseite.

„Das sind vielleicht Kicherliesen, sage ich dir. Zumindest sind sie recht brav, hat Mum zumindest behauptet. Aber leider kommen noch Malfoy, Crabbe und Goyle.“

John dachte, er hätte sich verhört. „Wie bitte?“

„Da sind sie“, quiekte eines der Mädchen. Auf der Straße hielt ein eleganter schwarzer BMW. Aus dem Fond stiegen drei Jungen. Der hochgeschossene Blonde, dessen Mutter soeben ausstieg, war unverkennbar ihr Anführer.

„Holt meinen Schlafsack aus dem Kofferraum“, wies er die beiden anderen an, die sofort lossprangen. Er ließ sich von seiner Mutter umarmen. Als sie jedoch Anstalten machte, mit hereinzukommen, baute ihr Sohn sich erbost vor ihr auf.

„Mum, nun mach dich nicht lächerlich. Ich bin doch kein Baby. Bellas Mutter hat dir doch versichert, dass wir hier in besten Händen sind. Also fahr schon. Du kannst mich morgen um neun hier abholen.“

Renie runzelte die Stirn, während sie zusah, wie die Frau nach kurzem Zögern tatsächlich in den Wagen stieg und davonfuhr.

„Wenn der kleine Scheißer meint, er kann hier auch so herumkommandieren, dann wird er mich kennenlernen“, zischte sie halblaut. „Jetzt weiß ich auch, wie die drei zu ihren Spitznamen gekommen sind. Dieser Charles Hetherington erinnert tatsächlich an den schrecklichen Draco Malfoy aus Harry Potter, mit seinen beiden treudoofen Gefährten.“

„Warum hat Bella die drei eingeladen?“, erkundigte sich John, während die Mädchengruppe zum Tor strömte, um die Jungen in Empfang zu nehmen.

„Der kleine Charles hat offensichtlich ein ganz tolles Pferd, mit dem er auch auf Turniere geht. Er hat Bella versprochen, dass er sie mal darauf reiten lässt, wenn er heute dabei sein darf. Und als einziger Junge unter lauter Mädchen war es ihm wohl unheimlich, deswegen hat er auch noch darauf bestanden, seine Freunde mitzubringen.“

„So, wie einige von den Mädchen ihn anhimmeln, braucht er die beiden vielleicht noch als Personenschützer“, bemerkte John trocken.

„Da wird einem ja schlecht.“ Renie machte würgende Geräusche. „Manche fallen echt auf die größten Kotzbrocken herein. Gott sei Dank findet Bella ihn wenigstens ätzend.“

„Ehrlich? Das sieht aber gar nicht danach aus.“

Tatsächlich legte Bella sich gerade mit leuchtenden Augen ein Halstuch um, das ein Hufeisenmotiv zierte. Charles stand mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck daneben.

„Steht dir gut, Bella. Ich habe es von der Sekretärin meines Vaters extra bei Selfridges für dich besorgen lassen.“

Renie schlug sich an die Stirn. „Was für ein Schleimbeutel.“ Kritisch beäugte sie Bellas Freundinnen, die sich bewundernd um sie drängten und knurrte dann, „Männer! Die sind doch alle gleich. Erst seifen sie dich ein und wenn du dir für sie das Herz herausgerissen hast, vergessen sie dich einfach.“

Aha, daher wehte der Wind, dachte John. Maggie hatte ihn gestern angerufen und ihm erzählt, dass Renie am Telefon heftig mit Andy gestritten hatte und dann ihr Handy durch die offene Balkontür in den Garten hinausgefeuert hatte, wo es glücklicherweise weich im Kompost gelandet war.

Bella kam zu ihnen herübergeeilt. „Seht mal, was ich bekommen habe! Ist das nicht wunderschön?“

„Sehr hübsch“, presste Renie heraus, während John sich auf ein mildes Lächeln beschränkte.

„Das ist Charlie. Charlie, das sind meine große Schwester Renie und mein Onkel John Mackenzie.“

„Charles Hetherington III. Sehr angenehm.“ Huldvoll schüttelte der Junge ihnen die Hand.

„Und das sind Alfie und Josh“, stellte Bella die anderen beiden Jungen vor, die von den Mädchen weitgehend unbemerkt herumstanden.

„Alles klar, dann sind wir vollzählig. Auf geht’s, Kinder, wir gehen rein.“ Renie klatschte in die Hände.

Schon rannte die ganze Meute los und zerrte an der wuchtigen Eingangstür des Museums, die jedoch verschlossen war. Renie schüttelte den Kopf und stieß einen durchdringenden Pfiff aus.

„Hallo, Herrschaften.“

Sie wartete, bis die Kinder sich zu ihr umgedreht hatten und fuhr dann in ernstem Ton fort.

„Dass eins mal von vorneherein klar ist. Wir möchten hier gemeinsam eine spannende und schöne Nacht verleben. Dazu müssen wir aber bestimmte Dinge beachten. Ihr könnt keinesfalls wie die Wilden durch das Museum toben. Wir haben eine einmalige Ausnahmegenehmigung des Direktors für diese Übernachtung bekommen, was eine große Ehre ist. Es sind heute Abend auch etliche wichtige Leute im Haus, da ein Empfang für ausgewählte Sponsoren des Museums stattfindet. Wir wollen hier keinesfalls einen schlechten Eindruck hinterlassen. Also, wer irgendwelchen Unfug anstellt, den lasse ich auf der Stelle abholen. Auch wenn es mitten in der Nacht ist. Ist das klar?“

Sie sah jedes einzelne Kind durchdringend an. Die Mädchen machten große Augen und nickten stumm. Josh und Alfie schielten auf Charlie, der die Hände in die Hüften stemmte und sich herausfordernd vor Renie aufbaute.

„Also, Renie – ich darf Sie doch Renie nennen – nun kriegen Sie sich mal wieder ein. Wir sind doch keine kleinen Kinder. Und Sie sind kein Kommandant, also sparen Sie sich diesen Ton. Oder wollen Sie, dass wir Sie Major Renie nennen?“

Mit einem spöttischen Grinsen schlug er die Hacken zusammen und salutierte, was ihm das Gelächter der anderen Kinder einbrachte. Auch John musste grinsen. Major Maggie war der Spitzname von Renies Mutter, den David und er ihr vor langer Zeit gegeben hatten.

Er sah, wie seiner Nichte die Röte ins Gesicht stieg und er war froh, als die Eingangstür aufschwang und sein Vater heraustrat.

„Herzlich willkommen im Naturhistorischen Museum.“ Er strahlte in die Runde. „Ich freue mich, dass ihr gekommen seid und hoffe, ihr werdet eine unvergessliche Nacht bei uns haben. Nun tretet ein.“

Während die Kinder hineinströmten und gleich darauf Ohs und Ahs zu hören waren, zischte Renie John zu, „So ein Rotzlöffel. Kein Respekt vor Erwachsenen. Na, der wird mich noch kennenlernen.“

John musste an sich halten, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. „Na, wer im Glashaus sitzt …“, murmelte er zu sich selbst, während seine Nichte den Kindern hineinfolgte.

In Renies jungen Jahren war er selbst zwar die meiste Zeit im Ausland gewesen, aber er konnte sich lebhaft an die Briefe erinnern, die Maggie ihm zu der Zeit geschrieben hatte. Wie oft hatte sie darin von Vorladungen beim Schuldirektor erzählt, der regelmäßig Klage über ihre älteste Tochter führte.

„Insubordination!“ hatte er Maggie entgegengeschleudert. „Widersetzlichkeit! Inakzeptables Verhalten!“ Mit ihrem beständigen Drang zum Diskutieren und Hinterfragen hatte Renie ihre Lehrer oft zur Weißglut getrieben, genauso mit ihrem leidenschaftlichen Aufbegehren, wenn sie sich oder einen ihrer Mitschüler ungerecht behandelt sah. Als sie in der Oberstufe dem Direktor ein Standardwerk der Pädagogik auf den Tisch knallte und ihm nahelegte, dies einmal zu lesen, war sie kurz vor dem Rauswurf gewesen.

Kopfschüttelnd zog John die schwere Tür auf. Als er hineintrat und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, entfuhr ihm ein „Wow“.

Die mächtige Eingangshalle des Museums lag im Dunklen. Lediglich das gigantische Skelett von Dippy, dem Wahrzeichen des Naturkundemuseums, war von unten angestrahlt.

Die Kinder hatten ihre Schlafsäcke fallen lassen und standen staunend da. Wie fast jedes Londoner Schulkind hatten auch Bella und ihre Freunde Dippy, den Diplodocus schon etliche Male gesehen. Finanzkrise hin oder her, die britische Regierung war stolz darauf, dass jedermann die wichtigsten Museen des Landes bei freiem Eintritt besuchen konnte. Und so herrschte vor allem an Wochenenden und in den Ferien nicht selten ein Besuchergewimmel im Museum, das dem in der Oxford Street beim Schlussverkauf in nichts nachstand. Auch John war seit seiner Kindheit unzählige Male hier gewesen. Aber so wie jetzt hatte er den Dinosaurier noch nie gesehen.

„Dank vieler Spenden konnten wir Dippy endlich in das richtige Licht rücken. Macht sich gut, nicht wahr?“

„Ja, Dad, diese neonblaue Beleuchtung ist wirklich …“, John suchte nach Worten, „effektvoll.“ Er sah zu dem erstaunlich kleinen Kopf hinauf, der sich auf einem langen Hals sitzend aus der Dunkelheit den Besuchern entgegenstreckte. „Man hat direkt das Gefühl, er könnte jeden Moment von seinem Podest heruntersteigen und losmarschieren.“

Renies Augen funkelten. „Wie bei ‚Nachts im Museum‘! Das wäre doch lustig, wenn hier auch wie im Film nach Einbruch der Dunkelheit alles lebendig würde.“

John konnte die Gesichter der Kinder in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er merkte, wie sich die Gruppe ein wenig enger zusammendrückte.

„Das wäre in der Tat eine einzigartige Erfahrung“, meinte sein Vater fröhlich. „Von Dippy hätten wir nichts zu befürchten, falls er plötzlich zum Leben erwachen würde. Er ist ein Pflanzenfresser. So, und nun würde ich vorschlagen, ihr lasst eure Sachen hier und nehmt nur eure Taschenlampen mit. Dann legen wir mit unserer Führung los.“

Als alle bereit waren, fragte James Mackenzie, „Wer weiß, wie lange Dippy schon in unserem Museum ist?“

„Über 100 Jahre!“, antwortete Bella wie aus der Pistole geschossen.

„Genau, Bella. Es war eine große Sensation, als er 1905 zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Einen so riesigen Dinosaurier – 26 Meter lang – hatte zuvor noch niemand in England gesehen. Seither haben ihn Millionen von Besuchern bewundert. Viele wissen allerdings gar nicht, dass Dippy kein echtes Skelett ist, sondern eine Replik, ein Gipsabdruck von echten Knochen. Die Knochen selbst sind in einem berühmten Museum in den USA. Amerika ist auch die Heimat von Dippy. Dort hat er vor rund 150 Millionen Jahren gelebt. Und nun wollen wir mal sehen, warum dieser Saurier den Namen Diplodocus bekam.“

Sie folgten James Mackenzie nach hinten und blieben unter dem schier endlos langen Schwanz stehen.

„Das Wort Diplodocus kommt aus dem Griechischen und bedeutet Doppelbalken. Kann jemand von euch einen doppelten Balken entdecken?“

Die Kinder blickten suchend herum.

„Da! Das muss es sein“, meldete sich eines der Mädchen zu Wort und deutete auf die Unterseite des Schwanzes. „Es sieht aus, als hätte er sich lauter kleine Ski angeschnallt.“

„Sehr gut, junge Dame“, lobte Johns Vater. „Tatsächlich finden wir hier unter den eigentlichen Schwanzwirbeln diese paarweisen Fortsätze, die dem Saurier seinen Namen gegeben haben.“

„Wozu hat er diese Dinger?“, erkundigte sich ein anderes Mädchen.

„Das ist eine sehr gute Frage. Ihr könnt euch vorstellen, dass Dippys Schwanz mit seiner Länge von über zehn Metern sehr schwer war. Wenn er ihn mal auf den Boden ablegte, ruhte das Gewicht auf diesen zusätzlichen Knochen und so waren die Adern, in denen sein Blut floss, geschützt. Insgesamt wog Dippy übrigens bis zu 15 Tonnen, wenn er ausgewachsen war.“

John spürte, wie jemand verstohlen an seinem Ärmel zupfte. Er beugte sich hinunter.

„Was sind 15 Tonnen?“, flüsterte ihm eines der Kinder zu. John überlegte. „Ungefähr so viel wie 200 Erwachsene wiegen“, wisperte er dann zurück.

„Unser BMW wiegt zwei Tonnen. Also, Katie, du Dumpfbacke, stell dir einfach sechs solche Wagen vor, dann weißt du, wie viel der Dinosaurier gewogen hat“, mischte Charlie sich lautstark ein.

„Das wären dann erst zwölf Tonnen, von wegen Dumpfbacke“, rüffelte ihn Renie.

„Dann nehmen wir eben noch unseren Jaguar und den Mini dazu“, gab Charlie in einem hochmütigen Ton zurück, der John lebhaft an seinen Cousin Simon erinnerte. Bevor die Kabbelei weitergehen konnte, erhob James Mackenzie die Stimme.

„Es gibt viel zu sehen, Kinder. Wir haben neun Millionen Fossilien hier im Museum – und wenn wir heute auch nur einen winzigen Bruchteil davon sehen wollen, sollten wir unseren Rundgang nun starten. Hier entlang bitte.“

Sie traten durch eine Seitentür. Dahinter lag eine lange, schmale Halle. Dort umfing sie völlige Finsternis.

„Schaltet jetzt bitte die Taschenlampen ein. Dann gehen wir erst einmal auf die Galerie hinauf.“

Vorbei an einem massigen Triceratops-Skelett stiegen sie eine Treppe hinauf. Diese führte zu einer Metallrampe, die sich in luftiger Höhe durch die gesamte Halle zog.

„So, sind alle oben? Dann leuchtet bitte alle einmal nach links.“

John hörte, wie einige der Kinder erschrocken die Luft einsogen, als nur eine Armeslänge entfernt ein Flugsaurier auftauchte, der sich auf die Gruppe zu stürzen schien.

„Hier haben wir unser Pteranodon, leicht zu erkennen an seinem langen, zahnlosen Schnabel und dem hohen Kamm am Hinterkopf. Er hatte eine Flughaut, so wie heute die Fledermäuse. Mit einer Flügelspannweite von gut sieben Metern war er sicher ein eindrucksvoller Anblick. Ernährt hat er sich von Fischen. Strenggenommen hat er in der Dinosaurierabteilung eigentlich nichts verloren. Als Dinosaurier bezeichnet man nämlich nur die an Land lebenden Wirbeltiere. Weiß denn jemand, was der Begriff Dinosaurier bedeutet?“

„Schreckliche Echse“, kam es im Chor von den Kindern.

„Sehr schön. Das habt ihr wohl in der Schule schon gelernt. Und wisst ihr auch, wer diesen Begriff geprägt hat? Das war Richard Owen. Er war der erste Direktor unseres schönen Museums, als es 1881 gegründet wurde.“

„Da ist der T-Rex!“, rief Charlie, der seine Taschenlampe gelangweilt herumgeschwenkt hatte. Sofort drängten die Kinder nach rechts und richteten den Strahl ihrer Lampen auf ein großes Skelett mit einem massigen Kopf, aus dessen aufgerissenem Maul dolchartige Zähne herausragten.

„Tatsächlich ist das ein Albertosaurus. Er ist zwar verwandt mit dem Tyrannosaurus, war aber etwas kleiner.“

„Albertosaurus!“ Charlie wollte sich ausschütten vor Lachen. „Was ist das denn für ein bescheuerter Name?“

James Mackenzie lächelte. „Dieser Saurier hat im Staat Alberta in Nordamerika gelebt, daher die Namensgebung.“

„Wer denkt sich die Namen eigentlich aus?“, fragte Bella.

„Also, das ist so: Wer eine neu entdeckte Art, sei es Tier oder Pflanze, als erstes wissenschaftlich beschreibt, der darf auch den Namen vergeben. Oft werden die Namen nach einem besonderen Merkmal vergeben. So wurde zum Beispiel vor einigen Jahren eine neue Krabbenart entdeckt, die Yeti-Krabbe getauft wurde, weil sie ganz weiß ist und dichte weiße Borsten auf ihren Scheren hat. Häufig spielt auch die Herkunft eine Rolle, wie bei unserem Albertosaurus. Und dann gibt es nicht wenige Arten, die die Entdecker nach Menschen oder bekannten Figuren benannt haben. Leuchtet doch mal alle dorthin.“ Er wies mit dem Finger eine Richtung.

„Ein Velociraptor! Den kenne ich aus Jurassic Park. Das sind ganz fiese Biester. Die jagen im Rudel und wenn sie dich dann haben, dann hacken sie auf dich ein und zerfetzen dich, bis nichts mehr von dir übrigbleibt“, ließ sich Charlie genüsslich vernehmen.

Johns Vater runzelte die Stirn. „Du solltest nicht alles für bare Münze nehmen, was du im Fernsehen siehst, Junge. Velociraptoren waren tatsächlich Räuber, aber sie sind in Wirklichkeit nicht größer als Truthähne gewesen und waren zudem gefiedert, ganz anders als im Film. Aber abgesehen davon – diese Saurierart hier gehört zwar zur selben Familie wie die Velociraptoren, heißt aber anders. Das ist der Bambiraptor.“

Gelächter brach aus.

„Und wir haben hier noch mehr Fossilien, die kuriose Namen tragen“, fuhr James fort. „Da wäre zum Beispiel Arthurdactylus conandoylei, ein Flugsaurier. Sein Entdecker war wohl ein Fan von Sherlock Holmes und wollte dessen Autor ehren. Dann haben wir auch ein Exemplar von Obamadon gracilis. Das könnt ihr sicher erraten, nach wem diese Echsenart benannt ist?“

„Nach dem amerikanischen Präsidenten?“

„Genau. Und woher der Name von Dracorex hogwartsia stammt, könnt ihr mir bestimmt auch sagen.“

Das wussten alle. „Hogwarts!“

„Natürlich. In diesem Fall war der Namensgeber wohl ein Fan von Harry Potter.“

Renie kicherte. „Im Lager bin ich auf eine Meeresschnecke gestoßen, die heißt Conus tribblei. Gwen, die zuständige Kuratorin, hat mir erklärt, dass der Forscher die Schneckenart nach seiner Katze benannt hat. Die hieß Tribbles, wie diese pelzigen Viecher, die mal bei Raumschiff Enterprise vorkamen.“

„Mittlerweile gibt es wissenschaftliche Organisationen, bei denen jedermann gegen eine Spende das Recht erwerben kann, eine neue Art zu taufen“, ergriff James Mackenzie wieder das Wort. „Auch unser Museum treibt auf diese Art und Weise neue Forschungsgelder auf. So haben wir für einen Teil der über 100 Tierarten, die bei der letzten Expedition in Panama von unseren Zoologen zum ersten Mal beschrieben worden sind, Spender gefunden, die bereit waren, 5000 Pfund zu bezahlen, um zum Beispiel eine neue Käferart benennen zu dürfen.“

„Eine Käferart? Pah“, meinte Charlie abfällig. „Wenn ich schon 5000 Pfund ausgeben würde, müsste es schon irgendein cooles Tier sein, das nach mir benannt wird, ein Tiger oder so.“

„Eine Schmeißfliege oder ein Spulwurm würde aber besser zu ihm passen“, raunte Renie John ins Ohr.

„Obwohl jedes Jahr über 10 000 neue Arten entdeckt werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine noch unbekannte Tigerart gefunden wird, ziemlich gering“, erwiderte James Mackenzie amüsiert. „Übrigens sind einige der Leute, die heute zu dem Empfang bei unserem Direktor hier sind, genau solche Spender. Aber nun lasst uns weitergehen.“

Er gab Renie ein Zeichen und während die Gruppe weiterging, blieb sie zurück und schlich dann von den Kindern unbemerkt die Rampe wieder hinunter. Während sie tiefer in die Halle vordrangen, bombardierten die Kinder James Mackenzie mit Fragen zu den zahlreichen Sauriern, die im Licht der Taschenlampen auftauchten. In einem Schaukasten zeigte er ihnen eine Kralle, so groß wie zwei Handflächen.

„Die wurde in einer Lehmgrube in Surrey gefunden und brachte uns auf die Spur einer bis dahin unbekannten Art, dem fischfressenden Baryonyx.“

Bevor sie den nächsten Schaukasten erreichten, blieb James Mackenzie stehen. „Wer weiß, welche Nachfahren der Dinosaurier heute die ganze Erde bevölkern?“

Die Kinder sahen sich verwirrt an. Dann vernahmen alle eine schüchterne Stimme. „Vögel.“ Erstaunt blickten alle zu Josh, der bisher keinen Ton gesagt hatte und nun prompt errötete, als er sich im Zentrum der Aufmerksamkeit wiederfand.

„Sehr gut, Junge“, lobte James ihn. „Du hast absolut recht. All unsere heutigen Vögel stammen von den Sauriern ab. Und hier haben wir den Beweis dafür. Eines unserer wertvollsten Stücke: der Archäopteryx, der Merkmale der Dinosaurier wie auch der Vögel in sich vereint.“

Als die Kinder sich um den Schaukasten drängten, ertönte plötzlich ein Fauchen und gleich darauf ein tiefes, heiseres Gebrüll aus der Dunkelheit. Die Kinder und auch John fuhren heftig zusammen. James Mackenzie aber lauschte mit schief gelegtem Kopf und lächelte dann. „Es hört sich an, als ob Rex hungrig wäre. Wir sollten nach ihm sehen.“

„Grandpa!“ Bella hatte sich als erste von ihrem Schrecken erholt. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wir hätten uns fast zu Tode erschreckt.“

„So ’n Quatsch. Ich wusste genau, dass das der animierte T-Rex ist“, behauptete Charlie und trabte los.

Die anderen Kinder folgten ihm aufgeregt. Die Rampe senkte sich nun nach unten und bog jäh nach rechts ab. Und da stand er, der Star des Museums, an dem sich Woche für Woche Zehntausende vorbeidrängten. In einer Grube, die mit Sand und einer Vielzahl verblichener Knochen bedeckt war, stand aufrecht die Nachbildung eines gewaltigen Tyrannosaurus Rex. John musste zugeben, dass die Szenerie sehr lebensecht wirkte, vor allem in der schwachen Beleuchtung durch einige versteckt in der Grube angebrachte Scheinwerfer. Als die Gruppe sich näherte, schienen die leuchtenden gelben Augen des Untiers sie zu fixieren und der Saurier schüttelte angriffslustig seinen massigen Kopf.

„Wir haben eine Kamera einbauen lassen, so dass Rex auf Bewegungen reagieren kann“, flüsterte sein Vater John zu. Renie tauchte aus der Dunkelheit auf und gab James einen kleinen Schlüssel zurück.

„Wir haben da hinter der Säule ein Kontrollpaneel versteckt“, erklärte sie John. „Ich habe Rex aktiviert, während ihr noch oben wart. Ich hoffe, er hat für einen kleinen Schrecken bei den Kids gesorgt.“

„Nur kurzfristig, wie man sieht.“ James wies auf die Kinder, die über dem Geländer hingen, das die Besucher von der Sauriergrube trennte. Fasziniert verfolgten sie jede Bewegung und jeden Laut des Hightech-Monsters.

James schüttelte lächelnd den Kopf. „Wie man sich nur so für ein überdimensionales Spielzeug begeistern kann, wo doch die echten Knochen viel spannender sind. Wir sollten weitergehen. Es wird schon spät und ich möchte den Kindern noch den Apatosaurus zeigen und ihnen über den Scelidosaurus erzählen und …“

Renie legte die Hand auf den Arm ihres Großvaters.

„Lass gut sein, Grandpa. Ich glaube, nach diesem Höhepunkt können sich die Kinder jetzt nicht mehr richtig konzentrieren. Ich würde vorschlagen, wir gehen allmählich mit ihnen zurück zu Dippy.“

James sah enttäuscht aus. „Aber es gibt hier in der unteren Ebene noch so viel zu sehen.“

„Du hast wirklich eine wunderbare Führung gemacht, Dad. Aber ich denke auch, dass den Kindern jetzt schon der Kopf schwirrt“, meinte John.

„Ich weiß, wie wir es machen.“ Renie klatschte in die Hände. „Kinder! Alle mal herhören!“ Keiner beachtete sie. Sie seufzte. „Am besten schalten wir Rex jetzt aus, sonst können wir die Kids nicht von ihm loseisen.“

James Mackenzie nickte, zog seinen Schlüssel heraus und verschwand hinter einer Säule. Gleich darauf erloschen die Scheinwerfer und das Brüllen des Dinos wurde abgelöst von unwilligen Rufen der Kinder. „Oh nein!“ „Bitte noch ein bisschen!“ „Machen Sie ihn sofort wieder an!“ Letzteres kam natürlich von Charlie.

Renie gab ein leises Grollen von sich, sprach aber dann bemüht geduldig weiter.

„Es ist schon spät. Wir gehen jetzt langsam durch die Halle zurück und schlagen da unser Nachtlager auf. Ich habe Milch und Schokomuffins für euch bereitgestellt und dann lese ich euch noch eine Geschichte vor, wenn ihr mögt.“

„Dürfen wir morgen früh noch mal zu Rex? Oh, bitte, bitte, Renie“, bettelte Bella. Renie warf ihrem Großvater einen Blick zu. Der nickte. „In Ordnung. Ich lasse ihn morgen noch mal extra für euch brüllen, bevor das Museum öffnet.“

Renie wartete ab, bis das Freudengeheul der Kinder verklungen war.

„Okay, dann gehen wir jetzt durch die untere Dinosauriergalerie zurück. Wenn ihr Fragen zu einem der Ausstellungsstücke habt, rührt euch.“

Aber die Aussicht auf Schokomuffins ließ die Kinder zunehmend achtlos an den Fossilien vorübergehen. Erst kurz, bevor sie die Eingangshalle wieder erreichten, blieb eines der Mädchen stehen und deutete auf ein Bild an der Wand. „Wer ist die Frau? Und wieso hängt sie hier bei den ganzen Dinos?“

Bevor James Mackenzie antworten konnte, mischte Charlie sich ein. „Ist doch egal, wer die Schnepfe ist. Ich will jetzt meinen Muffin.“

Renie funkelte ihn erbost an. „Von wegen Schnepfe, du … Ignorant. Das ist Mary Anning, die sich vor 200 Jahren als eine der ersten Frauen einen Namen in der Wissenschaft gemacht hat. Sie hat jedes Recht, genau hier zu hängen, schließlich hat sie zu den größten Fossilienjägern aller Zeiten gehört.“

„So ist es“, nahm James Mackenzie den Faden auf. „Obwohl sie aus einer ganz armen Familie stammte und kaum Bildung besaß, wurde sie im Verlauf ihres Lebens eine der gesuchtesten Expertinnen auf ihrem Gebiet.“ Er wies auf das Porträt.

„Was ihr hier im Hintergrund seht, ist die Küste von Dorset, die von der UNESCO zum Welterbe erkoren wurde. Sie hat den Beinamen ‚Jurassic Coast‘, obwohl das Gestein dort nicht nur aus dem Erdzeitalter des Jura stammt. Es gibt dort auch ältere Gesteinsschichten aus der Trias und jüngere aus der Kreidezeit. In den 185 Millionen Jahren, in denen sich die Felsen dort geformt haben, war Südengland mal eine Wüste, mal ein tropisches Meer, mal Sumpfland. So kam es zu einzigartigen Ablagerungen in den verschiedenen Gesteinsschichten, die wir heute noch als Fossilien dort finden können.“

Er zeigte auf zwei Abbildungen neben dem Porträt. „Mary Anning hat dort den ersten Fischsaurier gefunden und auch großartige Exemplare des Plesiosaurus. Kommt euch der bekannt vor?“

„Das sieht aus wie Nessie!“, rief Bella.

„Nessie gibt’s gar nicht“, meinte Charlie naserümpfend. „Ich war mit meinen Eltern schon da oben in Schottland. Voll die öde Gegend, nur Schafe und jede Menge Regen. Und das ätzendste Essen, das man sich vorstellen kann.“

„Das finde ich überhaupt nicht. Ich war mit meiner ganzen Familie vor ein paar Wochen in Schottland und uns hat es total gut gefallen“, gab Bella zurück.

Ihr Großvater, der aus Inverness stammte und seine schottische Heimat sehr liebte, strahlte sie an. Bella hängte sich bei ihm ein. „Grandpa, erzähl doch, was für Fossilien du selbst schon ausgegraben hast.“

„Echt, Mr. Mackenzie? Sie sind auch ein Fossilienjäger?“ Die anderen Kinder sahen James gespannt an.

„Natürlich bin ich das. Ich war auf vielen Expeditionen, zum Beispiel in Argentinien, in den USA, in der Mongolei …“

„Grandpa“, unterbrach Renie. „Würdest du den Kindern bei Milch und Muffins von deinen Abenteuern erzählen? Dann gehen wir nämlich jetzt zurück in die Halle und machen es uns dort gemütlich.“ Sie lächelte ihren Großvater an. „Das Ambiente ist natürlich nicht ganz vergleichbar mit dem noblen Empfang drei Stockwerke weiter oben.“

„Dafür ist die Unterhaltung hier viel anregender“, entgegnete James fröhlich. „Außerdem sind von den Museumsmitarbeitern ohnehin nur ein paar wenige handverlesene Kollegen eingeladen, neben den Fachbereichsleitern sind das nur die, die an den Expeditionen beteiligt waren, um die es in der Ausstellung geht. Unsere Finanzabteilung achtet mit Argusaugen darauf, dass unsere Gelder nicht für so frivole Unterhaltungen des Personals verbraten werden.“

Renie kicherte.

„Das habe ich gemerkt. Es gab eine Vorschlagsliste der verschiedenen Abteilungen, welche Mitarbeiter zu dem Empfang eingeladen werden. Die ist vom Controlling ordentlich zusammengestrichen worden. Shrimpscocktails und Häppchen werden lieber in potente Gönner investiert als in die eigenen Leute.“

James zuckte gleichmütig mit den Schultern.

„Wer braucht schon Shrimpscocktails und Smalltalk mit der besseren Gesellschaft. Ich bin viel lieber hier bei euch.“

Er verschloss die Tür zur Fossilienabteilung, nachdem alle in die Halle getreten waren und Renie wandte sich an die Kinder.

„Okay, Leute, dann schalte ich mal kurz das Licht an, während wir unser Lager herrichten, direkt hier neben Dippy. Und dann zieht ihr euch am besten schon mal alle um. Ihr habt doch alle Jogginganzüge dabei? Die Besuchertoiletten sind dahinten, rechts von der großen Treppe. Dann hole ich schon mal unseren Snack, während ihr die Schlafsäcke ausbreitet.“

Während Renie in Richtung der Cafeteria verschwand, half John den Kindern, Isomatten und Schlafsäcke auszurollen. Sein Vater murmelte etwas Unverständliches und verschwand die große Treppe hinauf. Dann trollten die Jungen und Mädchen sich in die Waschräume, um sich umzuziehen. John setzte sich auf seinen Schlafsack und genoss den Moment der Ruhe.

Als Renie mit einem großen Tablett zurückkam, reichte sie ihm einen Muffin und legte auch für sich einen beiseite.

„Sonst mampft uns die Meute gleich alles weg“, kommentierte sie. „Das sind Mums Triple Chocolate Muffins, die sind legendär. Möchtest du auch Milch?“

„Tee wäre mir zwar lieber, aber Milch ist auch in Ordnung“, antwortete John und nahm einen der kleinen Tetra Paks mit Strohhalm in Empfang. Er grinste. „Ich fühle mich wie damals in der Schule. Da bekamen wir auch immer so eine Pausenmilch.“

Renie ließ sich neben John plumpsen.

„Die gab’s bei uns auch. Wahlweise konnten wir auch Kakao haben. Durftest du auch mal in der Schule übernachten?“

John schüttelte den Kopf.

„Ich schon. Ich muss so in Bellas Alter gewesen sein, da gab es eine Lesenacht nur für unsere Klasse. Wir durften genauso wie heute mit Schlafsäcken in unserem Klassenzimmer schlafen. Wir haben gespielt und gelesen und zum Einschlafen hat Mrs. Simmons uns dann noch eine Geschichte vorgelesen.“ Sie kicherte unversehens.

„Darauf sind auch wirklich alle eingeschlafen, nur meine Freundin Betty und ich nicht. Wir haben uns dann rausgeschlichen und sind durch das ganze Gebäude gegeistert, ohne dass jemand etwas gemerkt hat. Das war cool, sage ich dir.“ Sie kicherte wieder. „Aber pass auf, was wir dann im Lehrerklo angestellt haben –“

John hüstelte laut und deutete mit einer Kopfbewegung auf Charlie, der mit seinen Freunden herangeschlurft war und nun hinter Renie stand.

„Erzählen Sie doch weiter“, drängte der Junge mit leuchtenden Augen, als Renie jäh verstummte. Sie ignorierte ihn.

„Sobald ihr alle da seid, löschen wir das Licht wieder und machen nur ein, zwei Taschenlampen an. Das ist dann wie am Lagerfeuer.“

„Gehen die Leute, die bei dem Empfang sind, später hier durch zum Ausgang?“, erkundigte sich John.

Renie schüttelte den Kopf. „Die Party ist in einem ganz anderen Trakt des Gebäudes. Die Gäste – und da gehören etliche zur Crème de la Crème der Gesellschaft, kann ich dir sagen – werden dann durch einen Seiteneingang hinausgelotst. Das wäre ja sicherheitstechnisch gar nicht möglich, wenn nachts Dutzende von Leuten mitten durch das Museum streichen würden, und das wahrscheinlich noch sturzbetrunken.“ Sie schlug die Beine unter.

„Das ganze Museum ist wirklich unvorstellbar groß, finde ich. Wer nur als Besucher herkommt, merkt gar nicht, was ihm alles verborgen bleibt.“

John nickte. „Wir haben als Kinder Dad oft hier besucht. Mich hat es auch immer fasziniert, dass hinter den Kulissen eine ganz eigene Welt liegt. Maggie, David und ich sind endlos dort herumgestromert. Das war für uns immer ein Abenteuer.“ Er lächelte, als er so zurückdachte.

„Ich finde es auch fantastisch hier“, stimmte Renie ihm zu. „Täglich entdecke ich etwas Neues. Und es werden mit den Jahren immer mehr Schätze, die das Museum ansammelt. Einer der Kuratoren hat mir erzählt, dass nie etwas weggeworfen wird. Mittlerweile gibt es schon über 15 Meilen Regale, in denen all die Sachen lagern, die momentan nicht ausgestellt werden können.“ Sie zwinkerte John zu.

„Du kannst dir vorstellen, dass ich mich in den ersten Tagen hier beständig verlaufen habe. Aber das scheint normal zu sein, sogar von den langjährigen Mitarbeitern hier haben mir einige erzählt, dass sie sich immer noch manchmal in den ewig langen Gängen verlaufen, die es hier gibt.“

Sie klopfte Alfie auf die Finger, der sich über die Muffins hermachen wollte. „Wir warten, bis alle da sind.“

„Aber die Mädchen brauchen immer so lange“, maulte Alfie.

„Da kommen sie schon. Dann setzt euch mal und greift zu. Ich lösche jetzt die Lichter.“ Gleich darauf versank die riesige Halle in Dunkelheit. Lediglich Dippys Skelett leuchtete in seinem eigentümlichen blauen Licht.

„Macht zwei, drei Taschenlampen an und legt sie in die Mitte“, wies Renie die Kinder an und setzte sich in den Kreis. „Wo ist Grandpa eigentlich hin?“, fragte sie John.

Er zuckte mit den Schultern. „Er ist die Treppe hinauf verschwunden. Vielleicht holt er etwas aus seinem Büro.“

Bella biss herzhaft in ihren Muffin und wandte sich an Charlie.

„Du durftest Jurassic Park schauen? Cool. Das hat mir meine Mutter verboten.“

„Tja, Bella, ich lasse mir so was nicht verbieten. Außerdem habe ich meinen eigenen Fernseher. Das merkt sie gar nicht, was ich da kucke.“

„Einen eigenen Fernseher finde ich in eurem Alter kompletten Unsinn –“, äußerte Renie entschieden, aber Charlie beachtete sie gar nicht.

„Am coolsten war die Szene, wo der T-Rex ein Klohäuschen demoliert und da drin sitzt dieser Typ grad auf der Schüssel. Der T-Rex checkt natürlich sofort, dass da ein Leckerschmeckerfutter hockt und happs hat er den Typen schon bis zur Hüfte im Maul. Nur die Beine sind noch draußen gebaumelt. Da hat man voll gesehen, wie das Blut spritzt und die Knochen knirschen …“

Katie verzog das Gesicht und legte ihren Muffin weg.

„Dabei hat der Tyrannosaurus in einem Film mit dem Namen Jurassic Park eigentlich gar nichts verloren. Er stammt nämlich aus der späten Kreidezeit, also 80 Millionen Jahre nach dem Erdzeitalter des Jura. Da hätte der Film schon Cretaceous Park heißen müssen.“ James Mackenzie war wieder da und hatte eine große Schachtel mitgebracht.

„Hier habe ich ein paar von meinen Schätzen. Wenn ihr mögt, erzähle ich euch, was damals in der Höhle in Argentinien passiert ist, wo wir das Riesenfaultier Megatherium ausgegraben haben …“


Kapitel 3

 

John erwachte und spähte auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Halb zwei. Die Halle war stockfinster, bis auf das schwache Licht einer Schreibtischlampe, die Renie ein paar Schritte entfernt auf dem Boden deponiert hatte. Alles war ruhig.

John räkelte sich ein wenig – er fand seinen alten Army-Schlafsack erstaunlich bequem – und fragte sich, warum er wach geworden war. Wie viele seiner früheren Kameraden bei der Armee hatte er gelernt, zu jeder Tages- und Nachtzeit Schlaf zu finden, sofern sich gerade die Möglichkeit dazu bot. Zugleich war er auf der Stelle hellwach, sobald sein inneres Radar Alarm schlug. Was also hatte ihn aus dem Schlummer gerissen?

Er hob den Kopf und lugte über die Reihe der schlafenden Kinder hinweg. Die Mädchen hatten sich um Renie gruppiert, während die drei Buben neben John lagen. Aus Alfies Schlafsack drang ein sanftes Schnarchen. Neben ihm hatte Charlie in einem sündhaft teuren Outdoorschlafsack sein Lager aufgeschlagen – „Den gleichen hatte mein Onkel dabei, als er letztes Jahr im Himalaya war, das ist absolutes Profi-Equipment“, hatte der Junge geprahlt – und dahinter der stille Josh. Plötzlich kniff John die Augen zusammen und richtete sich auf. Vorsichtig beugte er sich über Alfie und sah genauer hin. Charlies Schlafsack war leer! Naja, vielleicht war der Junge zur Toilette gegangen. John legte sich wieder hin. Alles blieb still.

Nach einigen Minuten fluchte er innerlich und schälte sich aus seiner molligen Schlafstatt. Angetan mit Socken, einer alten Jogginghose und einem T-Shirt, in der Hand seine Taschenlampe, tappte er in Richtung der Waschräume. Unter der Eingangstür drang kein Lichtstreif heraus. Dennoch ging er hinein, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und drückte auf den Lichtschalter.

„Charlie?“, rief er leise. Es war kein Laut zu hören. Zur Sicherheit öffnete er die Türen sämtlicher WC-Abteile. Nein, hier war niemand. Verflixt. Wo mochte der Junge sein?

„Wir sind durch das ganze Haus gegeistert, ohne dass jemand etwas gemerkt hat“ – Renies Worte hallten in seinem Ohr. „Ich wette, dieser Satansbraten hat das Gleiche vor“, knurrte John zu sich selbst. Er lehnte sich an ein Waschbecken und überlegte. Den Gedanken, Renie aufzuwecken, verwarf er. Mit Sicherheit würden dann die anderen Kinder ebenfalls wach werden und dann würden sie für den Rest der Nacht keine Ruhe mehr finden. Nein, er machte sich lieber selbst auf die Suche.

Er löschte das Licht und zog leise die Tür auf. Den Grundriss der Eingangshalle hatte er im Kopf. Alle Seitentüren waren abgesperrt, das hatte James Mackenzie noch einmal nachgeprüft, bevor er sich in sein Büro zurückgezogen hatte. Charlie konnte die große Treppe hinauf sein, vorbei an der ehrwürdigen Statue Charles Darwins, dorthin, wo die wertvollen Mineraliensammlungen des Museums waren.

Oder er konnte ins Untergeschoss hinunter sein. Dort unten waren hauptsächlich Lernbereiche für besuchende Schulklassen untergebracht. Soweit John sich erinnern konnte, gab es dort unter anderem ein Chemielabor und ausgestopfte Tierexponate für den Anschauungsunterricht. Sollten die Räume nicht abgeschlossen sein, konnte Charlie dort einen Haufen Unsinn anstellen. John beschloss, dort als erstes nachzusehen.

Ohne die Taschenlampe einzuschalten, pirschte er sich an der Wand entlang, bis er zu einer Öffnung kam. Er verharrte einen Augenblick und lauschte. Bis auf Alfies leises Schnarchen war kein Laut zu hören. Er tastete sich nach links. Nach einigen Metern versperrte ihm eine Tür den Weg. Dahinter, wusste er, lag der Weg zu den Creepy Crawlies, der Welt der kleinen Krabbeltiere.

Rechts ging es zu der Treppe, die nach unten führte. Daneben lag auch ein Aufzug. John überlegte einen Moment und entschied dann, dass Charlie das Risiko, dass das Geräusch des Aufzugs die anderen aufwecken würde, wohl nicht eingegangen wäre. Also machte er sich daran, die Treppe ins Untergeschoss hinabzusteigen. Da er nun von der Halle aus nicht mehr gesehen werden konnte, schaltete er die Taschenlampe ein.

Unten gab es eine Empfangstheke, Snackautomaten und davor einige Tische und Stühle. John schlich weiter und wollte gerade nach rechts um eine Ecke biegen, als ein Geräusch ihn innehalten ließ. Gleich darauf vernahm er einen unterdrückten Schreckensschrei. Er lief los, um die Ecke – und prallte frontal mit einem halbhohen Knirps zusammen, der angsterfüllt quiekte.

„Ganz ruhig, Charlie, ich bin’s, John Mackenzie. Was um Himmels willen tust du hier unten?“

„Ich … ich …“ Charlie schnappte nach Luft. „Da war jemand. Da hinten.“

„Was du nicht sagst“, sagte John skeptisch. „Wer sollte denn um diese Zeit hier unten sein?“

„Das weiß ich doch nicht. Aber ich hab hundertprozentig jemanden gesehen. Sie werden doch nicht glauben, dass ich lüge?“ Charlie hatte offensichtlich seine Fassung wiedergewonnen.

John seufzte.

„Dann lass uns nachsehen. Wo warst du denn, als du die Person gesehen hast?“

Charlie zögerte. „Ich … kam gerade aus einem der Unterrichtsräume.“

„Wir werden noch klären, was du dort gemacht hast. Jetzt führ mich erstmal dort hin. Wo hast du eigentlich deine Taschenlampe?“

„Die hab ich fallenlassen, als der Typ mich erschreckt hat. Schauen Sie, da vorn liegt sie.“

Charlie hob die Lampe auf und drückte auf einen Knopf. Sie gab ein flackerndes Licht von sich. Unwillig schüttelte Charlie sie. „Die Batterie muss schwach sein, das fing vorhin schon an. Na, da werde ich meiner Mutter aber Bescheid stoßen. Wie kann sie mich mit so einem altersschwachen Teil losschicken.“

„Sicher hat sie nicht damit gerechnet, dass du dich verbotswidrig nächstens in der Dunkelheit herumtreiben willst“, gab John zurück. „Also, wo war jetzt dieser Unbekannte?“

„Irgendwo in der Ecke da hinten.“ Das schwächliche Licht von Charlies Taschenlampe tanzte über eine Reihe von Schließfächern. Als John den Strahl seiner Lampe in die angewiesene Richtung lenkte, glühten plötzlich zwei Augen auf und ein furchterregendes Gebiss blitzte aus der Dunkelheit. Charlie schrie auf. John konnte sich eines leicht spöttischen Lachens nicht erwehren.

„Das ist ein ausgestopfter Bär, Junge. Da hast du dich ja ganz schön ins Bockshorn jagen lassen.“

Erbost stemmte Charlie die Hände in die Hüften. „Hab ich nicht. Da war jemand, garantiert.“

„Nun ja, jetzt ist auf jeden Fall niemand außer uns hier. Und nun zeigst du mir, was du in dem Unterrichtszimmer angestellt hast.“

Schmollend öffnete Charlie eine Tür. John folgte ihm und tastete nach einem Lichtschalter. Zu Johns Erleichterung beherbergte der Raum nicht das Chemielabor, sondern die Tiersammlung.

Infantile Kritzeleien bedeckten die Tafel. Sämtliche ausgestopften Tiere waren aus dem Regal genommen und in „lustigen“ Posen drapiert.

„Du bringst diesen Mist auf der Stelle wieder in Ordnung.“ John setzte sich auf einen der Tische und sah Charlie auffordernd an.

„Oh Mann“, maulte der Junge und hob lustlos einen ausgestopften Dachs hoch. „Wenn Sie nicht bloß rumsitzen, sondern mir helfen würden, ginge es schneller.“

Da passierte etwas, was selten vorkam: John platzte der Kragen. Er hielt Charles Hetherington III eine Gardinenpredigt, die diesem vor Erstaunen den Mund offenstehen ließ. Und so schlich eine Viertelstunde später ein sehr kleinlauter Zehnjähriger die Treppe hinauf und verschwand eilig in seinem Schlafsack. John lauschte kurz in die Dunkelheit. Außer gleichmäßigen Atemzügen war nichts zu hören. Er schloss die Augen und schlief augenblicklich ein.

 

Als er die Augen einige Stunden später wieder aufschlug, war es in der großen Halle immer noch ruhig. Durch die Fenster im Obergeschoss fielen die ersten Strahlen der Morgensonne herein. John verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Hallendecke hinauf. Sie war vollkommen ausgeschmückt mit botanischen Zeichnungen. Coffea arabica, Nicotiana tabacum, Rhododendrum formosum, Theobroma cacao – viele der Pflanzennamen waren leicht zu übersetzen. Amygdalus persica ließ John kurz stutzen. Dann schloss er, dass es sich wohl um einen Mandelbaum handeln musste. Als er den Namen Banksia speciosa entdeckte, musste er lächeln. Auf einmal fiel ihm ein, wie er vor vielen Jahren – mit leichtem Schrecken wurde ihm klar, dass es wohl gut 30 sein mochten – gemeinsam mit seiner Mutter hier gewesen war.

Emmeline Mackenzie konnte sich für Pflanzen aller Art genauso begeistern wie ihr Mann für Saurier. Seit Jahrzehnten war sie eine treibende Kraft in der Gruppe der Ehrenamtlichen, die in den königlichen Gärten in Kew mitarbeiteten.

„Sieh mal, John, die Prächtige Banksie“, hatte sie damals gesagt und nach oben gedeutet. „Ein Silberbaumgewächs. Und weißt du, nach wem sie benannt ist? Nach Sir Joseph Banks, einem der Gründerväter unserer Kew Gardens. Er war ein leidenschaftlicher Botaniker und hat viele Arten auf der ganzen Welt gesammelt und zu uns gebracht. Er war auch mit Captain Cook auf der HMS Endeavour unterwegs. Drei Jahre lang, mein Junge, stell dir das vor. Mimosen, Akazien, Eukalyptus aus Australien – all diese großartigen Gewächse hat er vor über 200 Jahren als erster in Großbritannien eingeführt.“

Verträumt starrte John nach oben, bis er merkte, dass Renie neben ihm aufgetaucht war, bereits fertig angekleidet. „Morgen, John. Ich richte in der Cafeteria unser Frühstück her. Kümmerst du dich um die Kids?“

„Mhm.“

„Von den Mädels sind schon ein paar wach. Am besten weckst du alle auf und schickst sie erst mal in die Waschräume. Wenn alle fertig sind, sollen sie hier klar Schiff machen und alles zusammenpacken. Dann kommst du mit dem ganzen Trupp in die Cafeteria.“

„Alles klar, Renie.“

„Und achte drauf, dass sich die Racker die Zähne putzen.“

„Mach ich.“

„Und dass mir nachher hier keine vergessenen Haargummis, Socken oder sonstige Sachen herumliegen.“

Belustigt setzte John sich auf. „Du klingst schon wie deine Mutter.“

Renies Augen weiteten sich entsetzt.

John grinste ungerührt. „Nicht umsonst haben David und ich sie schon als Kinder ‚Major Maggie‘ genannt.“

Ohne ein weiteres Wort machte seine Nichte auf dem Absatz kehrt und verschwand.

Eine halbe Stunde später stürzten sich zehn Kinder auf das kleine Buffet, das Renie aufgebaut hatte. Sie hatte einen großen Tisch gedeckt, direkt neben einem Schaukasten mit einem ausgestopften Panda.

John schnappte sich eine Tasse Tee und nahm seine Nichte beiseite, um ihr von Charlies nächtlichem Ausflug zu erzählen.

„Diese kleine Ratte!“, empörte sich Renie. „Na, der kann sich aber auf was gefasst machen. Wenn du ihn nicht ertappt hättest, hätte diese bescheuerte Aktion Grandpa und mich in echte Schwierigkeiten gebracht. Was hätte der Direktor wohl gesagt, wenn bekannt geworden wäre, dass sich so ein Lümmel mutterseelenallein hier herumtreiben konnte?“ Sie zerknüllte wütend eine Serviette und feuerte sie in Richtung Abfalleimer. „Ich könnte ihn erwürgen, diesen …“

„Lass gut sein, Renie“, meinte John milde. „Er hat schon von mir eine Strafpredigt kassiert. Heute Morgen benimmt er sich auffällig gut.“ Er wies mit einem Kopfnicken auf Charlie, der schweigend eine Schale Cornflakes löffelte.

In diesem Moment erschien James Mackenzie. Gut gelaunt winkte er John und Renie zu und setzte sich zu den Kindern.

„Guten Morgen, guten Morgen. Ah, da habt ihr euch ja zu unserer Chi Chi gesetzt, wie ich sehe. Ihr wisst, dass sie die Inspiration für das berühmte Logo des WWF war?“ Die Kinder schüttelten die Köpfe und sahen James gespannt an.

„Also, dann erzähle ich euch mal, welch lange Odyssee Chi Chi hinter sich hatte, bis sie in unserem Zoo in London ihre endgültige Heimat fand …“

John und Renie grinsten sich an. James Mackenzie liebte es, für ein aufmerksames Publikum zu erzählen. Gestern hatte er die Kinder bis nach Mitternacht bestens unterhalten.

Schließlich stand James auf und kam zu ihnen herüber.

„Guten Morgen, ihr beiden. Wir hatten einen schönen Abend gestern, nicht wahr?“

„Ja, wirklich, Dad. Du machst das großartig mit den Kindern. Sie sind förmlich an deinen Lippen gehangen.“

James Mackenzie lächelte geschmeichelt. „Mir hat es auch sehr viel Freude gemacht. Ich bin froh, dass ich gestern nicht mehr zu dem Empfang gegangen bin. Es muss dort ziemlich viel Alkohol geflossen sein. Einige meiner Kollegen sind in den frühen Morgenstunden in ihre Büros getorkelt, um dort zu schlafen. Von dem Radau bin ich einige Male wach geworden.“ Er schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. „Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Nacht?“

John und Renie wechselten einen Blick.

„Naja, wir hatten ein kleines Vorkommnis“, gab John zögernd zu.

„Haben die Kinder sich etwa gefürchtet? Oder war eines krank?“, erkundigte James sich teilnahmsvoll. „Aber eigentlich sehen alle ganz munter aus.“ Er sah zu Bella und ihren Freunden hinüber, die sich lebhaft unterhielten.

„Nein, Dad, das ist es nicht. Aber einer der Jungs, Charlie, ist ein wenig herumgestrolcht. Ich habe ihn Gott sei Dank erwischt“, beeilte John sich hinzuzufügen, als er sah, wie das Gesicht seines Vaters sich verdüsterte.

„Das ist der naseweise Blonde, nicht wahr? Wo war der Bengel?“

„Er hat sich ins Untergeschoss hinuntergeschlichen und in einem der Unterrichtsräume ein bisschen Unsinn gemacht, dort wo die ausgestopften Tiere sind. Aber keine Sorge, es ist alles wieder in Ordnung.“

„Ich kontrolliere das lieber selbst noch einmal.“ Mit zusammengezogenen Brauen starrte James Mackenzie zu Charlie hinüber, der den Blick bemerkte und sich unbehaglich duckte.

„Ich werde nachher mit dem jungen Mann noch ein paar Worte wechseln“, kündigte James an. „Und ansonsten gilt: Über diese Sache wird Stillschweigen bewahrt, ist das klar? Ich möchte unter keinen Umständen, dass dies zum Direktor durchdringt.“

„Natürlich, Grandpa. Wir wollen ihn doch nicht unnötig beunruhigen, wo doch gar nichts passiert ist“, versicherte Renie ihm. „Schaltest du dann Rex noch einmal ein? Wir hatten es den Kindern versprochen.“

„Mhm“, brummte James. „Das dauert ein paar Minuten, weil das System beim ersten Hochfahren am Morgen routinemäßig einen Check macht. Am besten bleibt ihr so lange hier und ich komme euch dann holen, wenn alles bereit ist.“

Mit einem letzten scharfen Blick in Charlies Richtung verließ er die Cafeteria.

„Huiuiui, Grandpa ist ganz schön sauer“, bemerkte Renie bedrückt. „Wir hätten besser aufpassen sollen.“

John nickte. „Aber dann hätten wir abwechselnd Wache halten müssen. Wer denkt denn schon, dass dem Jungen so eine dämliche Aktion einfällt? Und dass er tatsächlich den Mut besitzt, mitten in der Nacht allein in den Keller hinunterzusteigen?“

Plötzlich kicherte Renie. „Da fällt mir ein, wie ich einmal im Ferienlager –“

„Renie! Gibt es noch etwas Milch?“, rief Bella herüber und hielt eine Glaskanne hoch.

„Natürlich. Ich bringe euch gleich welche.“

„Vielleicht gibst du deine Abenteuer besser nicht vor den Kindern zum Besten“, meinte John halblaut, als er Renie zum Tisch hinüber folgte.

Renie zwinkerte ihm zu und sie setzten sich.

„Mein Großvater kannte Chi Chi“, sagte Josh gerade schüchtern. „Er war Tierpfleger im Zoo.“

„Echt? Das ist ja cool.“ Die Mädchen fanden das spannend und löcherten Josh, der zunehmend auftaute und bereitwillig erzählte.

Charlie, dem es nicht gefiel, dass sein Freund plötzlich im Mittelpunkt stand, zerbröselte unwillig einen Muffin und platzte plötzlich heraus, „Tierpfleger? Das ist doch ein Job für Loser. Mein Großvater war Bankdirektor.“

In Bellas Augen blitzte es. „Charlie, du bist so ein Schnösel. Wie kannst du so reden? Ich finde es toll, wenn jemand sein Leben damit verbringt, sich um Tiere zu kümmern.“

„Pah, was soll daran toll sein? Mir wird mein Pferd immer blitzblank geputzt und fertig gesattelt hingestellt. Dafür gibt es schließlich einen Stallknecht, oder nicht? Der wird dafür bezahlt, dass er so eklige Sachen macht wie Pferdeäpfel wegräumen und so.“ Charlie schüttelte sich affektiert.

Bella sprang auf. „Oh Mann, wieso habe ich dich eigentlich eingeladen? Du bist echt unmöglich.“

Die anderen Kinder beobachteten gebannt den Schlagabtausch.

Renie stieß John an. „Wo bleibt nur Grandpa? Wir könnten hier dringend eine Ablenkung gebrauchen“, murmelte sie und fuhr laut fort, „Möchte noch jemand einen Joghurt oder eine Banane, bevor wir nochmal zu Rex gehen?“

„Ich sehe mal nach, wo er bleibt.“ John stand auf und ging mit langen Schritten hinaus. Zurück in der Eingangshalle sah er, dass die Tür zur Saurierabteilung offen stand. Dieser Gebäudeteil lag im Dunklen, da die wenigen Fenster dort verhängt waren. Ein Lichtschalter war nicht zu sehen. Wahrscheinlich wurde die Beleuchtung von einer Zentrale aus gesteuert.

John kehrte um und holte sich seine Taschenlampe aus dem Rucksack. Dann eilte er durch die untere Ebene ans Ende des langgezogenen Traktes. Schwacher Lichtschein drang aus der Öffnung, die zu der Sauriergrube führte. Er trat hindurch.

„Dad? Bist du –“ Seine Worte blieben ihm im Halse stecken. Haltsuchend griff er nach dem Geländer.

Die kleinen gelben Augen schienen ihn boshaft anzustarren, während der massige Kopf des Tyrannosaurus Rex sich angriffslustig hin und her bewegte. Markiges Gebrüll erfüllte den halbdunklen Raum. John jedoch nahm von alledem nichts wahr. Regungslos starrte er auf die Szene, die sich zu Füßen des Sauriers abspielte. Dort kniete sein Vater. Vor ihm lag ein Mann, der ebenso tot war wie das gigantische Tier, von dem der Knochen stammte, den James Mackenzie in der Hand hielt.


Kapitel 4

 

Simon Whittington massierte mit gequältem Gesichtsausdruck seine Schläfen. „Kannst du mir erklären, John, warum du und deine Familie mit absonderlicher Beständigkeit in Mordfälle verwickelt seid?“

Absonderliche Beständigkeit?

Während John noch überlegte, was er auf diesen unverschämten Angriff seines Cousins entgegnen sollte, sprach der Superintendent schon weiter.

„Und natürlich sucht ihr euch stets aufsehenerregende Tatorte aus. Immer mit viel Publicity verbunden. Was werden die Schlagzeilen diesmal wohl sein? Unter den Augen des T-Rex: Mann mit Knochen erschlagen oder Tod im Museum: Neuzeitlicher Killer mit Steinzeit-Waffe?“ Simon beugte sich über den Tisch zu John. „Was ist nur los mit euch?“ zischte er.

Nun reichte es John. „Was soll das überhaupt heißen: ich und meine Familie? Vielleicht hast du es vergessen, Simon: Unsere Mütter waren Schwestern. Also, ob es dir passt oder nicht, auch du bist ein Teil dieser Familie.“

Simon zog verärgert die Mundwinkel nach unten, als wollte er nicht daran erinnert werden.

„Und du kannst mir glauben, keiner von uns ist scharf darauf, ‚in einen Mordfall verwickelt‘ zu sein, wie du es nennst. Als ich die Armee verließ, hatte ich eigentlich gehofft, nie wieder mit gewaltsamen Todesfällen konfrontiert zu werden.“ Er atmete tief durch. „Und schließlich von wegen Publicity: Wer von uns beiden ist denn wie der Teufel hinter der armen Seele dahinter her, in sämtlichen bunten Blättern des Königreichs erwähnt zu werden?“

Während John sich nach dieser Breitseite mit verschränkten Armen zurücklehnte und seinen Cousin kühl ansah, plusterte Simon sich entrüstet auf.

Ich lege überhaupt keinen Wert auf diese mediale Aufmerksamkeit. Aber da ich nun mal mit einer Frau mit glänzenden Verbindungen zum Hof verheiratet bin und Patricia sich in herausragender Weise aufopfert, um sich für eine Vielzahl karitativer Zwecke einzusetzen, lässt es sich nicht vermeiden, dass die Medien Interesse an uns haben.“

John knirschte mit den Zähnen. Simon hatte noch nie eine Möglichkeit ausgelassen, mit der – allerdings sehr entfernten – Verwandtschaft seiner Frau zur königlichen Familie zu prahlen.

„Ganz abgesehen davon stehe ich selbst – und ich muss sagen, auch zu Recht – im Fokus der Presse: Schließlich habe ich mich in hervorragender Weise um die Sicherheit unserer Stadt verdient gemacht und einige Fälle von höchster Bedeutung erfolgreich zum Abschluss gebracht. Ohne Grund wurde ich ja nicht zum jüngsten Superintendenten aller Zeiten bei der Metropolitan Police ernannt –“

Aargh, nun stimmte Simon wieder diese alte Leier an. Resigniert ließ John den Kopf auf die Tischplatte sinken.

Simons Redefluss verstummte. Er räusperte sich.

„Zur Sache. Schildere mir noch einmal die genaue Auffindesituation.“

John stöhnte. „Das habe ich dir doch schon gesagt: Dad kniete in der T-Rex-Grube. Er hatte so ein großes Ding in der Hand, das wie ein Knochen aussah, aber in Wirklichkeit ein Abguss ist, wie er mir sagte.“

„Das weiß ich bereits“, unterbrach Simon ihn ungeduldig. Er blätterte in seinem Notizbuch. „Der Os femoris eines Triceratops.“

„Ein Oberschenkelknochen“, warf John hilfreich ein.

„Das weiß ich selbst“, fauchte Simon. „Und jetzt weiter im Text.“

„Direkt vor Dad lag ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Aber Dad kennt ihn. Er hat hier im Museum gearbeitet, in der Verwaltung, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Dr. Gordon Farris, ich weiß. Wie genau lag er da?“

John überlegte kurz. „Auf dem Bauch. Das Gesicht war in den Sand gedrückt, der in der Grube liegt.“

„Kannst du mir das vormachen?“

„Du meinst, ich soll mich auf den Boden legen?“

Simon nickte.

John ließ sich auf den Linoleumboden des Besprechungszimmers, das das Museum der Polizei übergangsweise zur Verfügung gestellt hatte, gleiten und versuchte, die Position einzunehmen, in der das Opfer gelegen hatte. Dabei atmete er um ein Haar eine feiste Staubfluse ein.

„Mhm. Wir werden das noch genauer klären. Setz dich wieder“, kommandierte Simon. „Warum habt ihr den Mann bewegt?“

„Wir konnten ja nicht sicher erkennen, dass er tot war. Er hatte diese scheußliche Wunde am Hinterkopf, aber es hätte ja immerhin sein können, dass man ihm noch hätte helfen können.“

„So, wie du es dargestellt hast, wäre aber die Halsschlagader in der ursprünglichen Position frei tastbar gewesen. Du hättest also nach einem möglichen Pulsschlag tasten können. Außerdem war der Leichnam bereits kalt und auch die einsetzende Totenstarre wäre feststellbar gewesen, ohne das Opfer zu bewegen.“

Unter Simons bohrendem Blick begann John, ein wenig zu schwitzen.

„Du weißt, wie das aussieht, John, nicht wahr? Es macht ganz den Anschein, als hättet du und dein Vater euer Möglichstes getan, die Spurenlage am Tatort zu verwischen.“

„Du spinnst wohl!“, fuhr John auf. „Ich habe den Mann umgedreht, weil … keine Ahnung, ich hatte Angst, er kann nicht atmen, erstickt in dem ganzen Sand – es war einfach ein Reflex.“

„Und welchem Reflex ist dein Vater gefolgt, als er die mutmaßliche Mordwaffe aufhob und von oben bis unten mit seinen Fingerabdrücken übersäte?“, fragte Simon mit öliger Stimme.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739345536
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
England London Spannung Familie Humor Krimi Thriller

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer Cosy Mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod im Museum