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Tod in Tintagel

John Mackenzies siebter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
261 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 7

Zusammenfassung

Sommerferien an der Küste Cornwalls – Beefeater John Mackenzie kann es kaum erwarten, seine geliebte Pauline endlich wieder in die Arme zu schließen. Doch viel Zeit für Zweisamkeit bleibt nicht. Ein ehrgeiziger Hundezüchter und selbsternannter Gralsritter kommt unter mysteriösen Umständen zu Tode. Da hilft kein Widerstreben: Schon sieht John sich gemeinsam mit dem gesamten Mackenzie-Clan in die Nachforschungen unter schrulligen Vier- und Zweibeinern hineingezogen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: emma@emma-goodwyn.com

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Februar 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

(V2.1)


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für diejenigen unter meinen Leserinnen und Lesern, denen der keltische Name Tintagel (gesprochen: Tintädschl, mit Betonung auf dem ä) noch nichts sagt: Es gibt kaum einen Ort, der enger mit dem Mythos von König Artus in Verbindung steht als das Dörfchen an der englischen Küste.

Und nun auf nach Cornwall!

Prolog

 

„Bibe et vives!“

Die Schrift auf dem durchweichten Pergament war zerlaufen, doch die Botschaft war unmissverständlich. Wie hypnotisiert starrte er auf den schwarzen Schriftzug. Dann hob er den Blick hinauf auf den gezackten Felsen. Im Licht seiner Taschenlampe erglomm mattes Gold. Ein Kelch.

Eine erste kleine Welle schwappte ihm von hinten über die Füße, durchnässte seine Schuhe und den Saum seiner Hose. Er spürte es nicht.

All die Jahre, die Jahrzehnte seiner Suche. All die Hunderte und Aberhunderte von Männern, die seit Anbeginn der Zeit ausgezogen waren, um dies in Händen zu halten. Nicht wenige hatten ihr Leben dabei verloren. Hier und heute, in Merlins Höhle – sollte er wahrhaftig das Ende seines langen Weges erreicht haben?

Das Stück Papier fiel aus seinen klammen Fingern. Er legte die Taschenlampe auf einen Felsvorsprung und hob beide Arme. Ehrfürchtig, beinahe scheu umfingen seine Hände das Gefäß. Vorsichtig hob er es von dem Felsen herunter. In seinem Inneren schwappte eine dunkle Flüssigkeit umher. Er dachte an seine geliebte Guinevere.

„Bibe et vives. Bibe et vives. Trink und du wirst leben.“ Wie von Sinnen murmelte er die Worte immer wieder vor sich hin. Er hob den Kelch an die Lippen.


Kapitel 2

 

Am nächsten Morgen fiel ein feiner Nieselregen. Die liebliche Landschaft von Wiltshire lag unter einem Grauschleier, als sie die wenigen Meilen von Salisbury nach Stonehenge fuhren. Missmutig blickte David durch die Scheiben des Busses hinaus, an denen die Tropfen hinabrannen.

„Meinen ersten Urlaubstag hatte ich mir anders vorgestellt. Erst werde ich im Morgengrauen aus den Federn geholt und kann nur husch, husch einen Toast hinunterwürgen, bevor mir der Koffer vor die Tür gestellt wird. Und dann soll ich mir stundenlang alte Steine anschauen und das bei einem Wetter, bei dem man nicht mal einen Hund vor die Tür jagen würde.“

Alan lachte seinen Schwager herzhaft aus. „Von wegen Morgengrauen! Maggie, John und ich waren heute schon um halb sechs auf, um vor dem Frühstück eine Runde zu laufen.“

Maggie stimmte ein, „Wenn du Faulpelz erst um halb acht aus dem Bett kriechst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn die Zeit nur noch für eine Scheibe Toast reicht. Außerdem hast du gestern ungefähr ein Pfund Fudge verschlungen, also fällst du so schnell nicht vom Fleisch.“

David schloss gequält die Augen. „Was für ein Grauen. Ich bin von hyperaktiven Asketen umgeben.“

Als sie um zehn vor neun am Parkplatz von Stonehenge anlangten, war dieser schon gut gefüllt und sie konnten erkennen, dass am Ticketschalter eine lange Reihe Menschen anstand.

„Was für ein Trubel“, kommentierte James Mackenzie. „Da werden wir wohl eine Weile warten müssen, bis wir überhaupt hineinkönnen.“

Maggie lächelte siegesgewiss. „Keine Sorge, Dad. Der erste Shuttlebus zum Steinkreis fährt um neun und ich garantiere dir, dass wir an Bord sein werden.“

Kaum hatte Alan den Bus in eine Parklücke manövriert, sprang sie schon hinaus und eilte zu einem Schalter, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Abholung vorbestellter Gruppentickets“ prangte. Eine Minute später war sie wieder da und trieb die Familie wie eine Schafherde an der langen Warteschlange von Touristen vorbei in das Besucherzentrum hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus und in einen bereits wartenden Elektrobus. Während sie Übersichtspläne des Geländes verteilte, stiegen noch einige weitere Ausflügler zu. Gleich darauf schloss der Fahrer die Türen und der Bus setzte sich in Bewegung. Maggie ließ sich unter dem Applaus der gesamten Familie auf den letzten Sitz fallen.

„Was ist denn das für ein Typ?“, raunte Bella John verstohlen zu.

Er folgte ihrem Blick. Ganz vorn, gleich hinter dem Fahrer, hatte ein Mann Platz genommen, der haargenau aussah wie –

„Miraculix! Schau mal, Mummy, da vorn ist Miraculix“, krähte Christopher da schon begeistert. Mit seinen schlohweißen Haaren und dem langen Bart, dem Gewand aus rauem, nicht mehr ganz weißem Stoff und dem mannshohen Stock wirkte die Gestalt tatsächlich wie der gallische Druide.

„Vielleicht drehen die hier einen neuen Asterix-Film?“, mutmaßte Tommy. Da hörte John jemanden hinter sich leise lachen. Er drehte sich um. Ein jüngerer Mann mit einer National Heritage-Regenjacke und einem Namensschild, das ihn als ‚Lance Wilson, Aufseher‘ auswies, saß in der letzten Reihe. Als er merkte, wie sich die Aufmerksamkeit ihm zuwandte, errötete er leicht.

„Oh, äh, es tut mir leid, ich wollte mich nicht in Ihr Gespräch einmischen“, stotterte er. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. „Aber lassen Sie diesen Herrn nicht hören, dass er aussieht wie eine Comicfigur. Er hält sich nämlich für Merlin persönlich.“

Bella riss die Augen auf. „Merlin?“, hauchte sie. „Der Zauberer?“

Der junge Mann nickte. „Er kommt oft hierher. Denn der Legende nach war er es, also Merlin, der Stonehenge erschaffen hat. Man sagt, der Steinkreis hätte ursprünglich in Irland gestanden, aufgeschichtet aus Felsbrocken, die ein Volk von Riesen aus Afrika herangetragen hätte. Als Uther Pendragon, der Vater von König Artus, hier in der Ebene von Salisbury ein würdiges Denkmal für seinen Bruder, König Ambrosius errichten wollte, hat Merlin –“

„Wir sind da. Alles aussteigen“, rief der Busfahrer. „Wenn Sie zurückmöchten, warten Sie bitte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Shuttles verkehren laufend. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag hier im Weltkulturerbe Stonehenge.“

Alle kletterten aus dem Bus. Es hatte aufgehört zu regnen. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Wolkenfetzen und ließen das Grün der weiten Hügellandschaft vor ihnen in verschiedensten Tönen aufleuchten. Und inmitten des Grüns lag der mythische Steinkreis, noch einige hundert Schritte entfernt.

Emmeline blieb stehen. „Seht euch das an, Kinder! Großartig, nicht wahr? Herrje, ist das schon eine Ewigkeit her, dass wir zuletzt hier waren.“

James legte den Arm um ihre Schultern. „Ja, ich glaube auch, dass es an die vierzig Jahre sind. Ein halbes Leben für uns, aber nur ein Moment für dieses Bauwerk.“ Eine Weile verharrten alle schweigend.

„Es hat sich gelohnt, dass die Straße und das Besucherzentrum wegverlegt wurden. Ich kann mich noch erinnern, wie laut es hier damals war. So, wie die Anlage jetzt ist, gewinnt man einen ganz anderen Eindruck, auch wenn man jetzt nicht mehr so nah an die Steine herandarf“, sprach James dann weiter.

Emmeline pflichtete ihm bei. „Ich bin glücklich, dass ich das alles nach so langer Zeit noch einmal sehen darf“, seufzte sie. „Und es ist wunderbar, dass wir so früh hier sind und das Ganze ohne Menschenmassen genießen können. Gut gemacht, Maggie.“

Maggie lächelte geschmeichelt. „Danke, Mum. Kommt, lasst uns ein Familienfoto machen.“

„Eine gute Idee“, befand John und schaute sich nach dem jungen Aufseher um, der sich ein paar Meter weiter postiert hatte. „Mr. Wilson, würden Sie vielleicht …?“

Der junge Mann nickte eifrig und ließ sich von Tommy die Handhabung seiner Profikamera erklären.

„Okay. Dann sagen Sie mal alle schön ‚Cheese‘“, forderte er sie auf und schoss in schneller Folge eine Reihe von Bildern. Tommy prüfte die Aufnahmen mit kritischem Blick und gab dann das Daumen-hoch Signal.

„Also gut, dann lasst uns losziehen und den Rundweg machen“, sagte Maggie. Schon hatte sie den Reiseführer wieder gezückt.

Bella schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. „Wie ging die Geschichte mit Merlin weiter, Mr. Wilson?“, fragte sie erwartungsvoll.

„Äh, das würde ich dir gern erzählen, aber ich fürchte, eure Reiseleiterin –“

Bella kicherte. „Das ist doch bloß meine Mum. Und sie liest nur total langweiliges Zeug aus ihrem Buch vor, das ist voll zum Einschlafen. Ich will lieber die Geschichte von Merlin hören.“

Maggie hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt und einen halben Absatz vorgelesen, bis sie merkte, dass niemand ihr folgte. Resigniert kehrte sie um und gesellte sich zu den anderen. Alle lauschten, wie der junge Mann von der aufregenden Reise der ‚Steine der Riesen‘ von der Nachbarinsel hierher erzählte.

„Die Menschen in der Jungsteinzeit hätten sich mit Sicherheit ein wenig Magie – oder einen Obelix – zur Unterstützung bei der Errichtung des Steinkreises herbeigesehnt“, schloss er. „In Wirklichkeit waren es unvorstellbare Mühen, das Material überhaupt herzuschaffen geschweige denn so ausgeklügelt aufzurichten.“

„Wie lange hat es gedauert, den Kreis fertigzustellen? Weiß man das?“, erkundigte sich Annie.

Mr. Wilson nickte. „Wir haben zumindest grobe Anhaltspunkte. Begonnen hat alles ungefähr in der Zeit, als die Pyramiden in Ägypten erbaut wurden, im dritten Jahrtausend vor Christus. Damals war das hier die größte Baustelle auf dem ganzen Kontinent. Gebaut wurde in drei Phasen, über mehrere Jahrhunderte hinweg. Eine der letzten Ausgrabungen hier im Gelände hat ein paar Getreidekörner zutage gefördert, die unmittelbar unter einem Blaustein lagen. Im Labor sind sie auf 2300 vor Christus datiert worden, also gehen wir heute davon aus, dass der innere Ring aus den halbhohen Steinen, die Sie hinter dem äußeren Wall aus Sarsensteinen erkennen können, um diese Zeit gesetzt worden ist.“

„Wo kommen die Steine überhaupt her?“, fragte Alan.

„Die riesigen Sarsenblöcke, das sind besonders harte Sandsteine, kommen aus den Marlborough Downs. Das heißt, die Menschen mussten jeden einzelnen von diesen gewaltigen Steinen – und die Dinger wiegen bis zu fünfzig Tonnen – über zwanzig Meilen hierher transportieren. Die Blausteine hatten einen noch viel weiteren Weg, sie kommen aus Wales.“

„Fünfzig Tonnen!“, rief Annie aus. „Wie haben die Menschen das gemacht?“

„Bis heute wissen wir nicht genau, wie der Transport damals bewerkstelligt worden ist. Feststeht, dass in der Jungsteinzeit noch keine Tragtiere, also Pferde oder Rinder eingesetzt wurden. Es müssen ganze Volksstämme ausgezogen sein, mit hunderten von Menschen, die wahrscheinlich mit Hilfe von untergelegten Rollen aus Baumstämmen und primitiven Seilen diese Blöcke über Berg und Tal bis hierher schleppten. Und damit war es ja noch gar nicht getan. Die unförmigen Felsen mussten ja auch behauen werden, damit sie diese rechteckige Form bekamen und auch gleich groß waren. Nur so konnten sie den Ring aus Decksteinen tragen. Für all das gab es nur die allereinfachsten Werkzeuge. Wo wir heute zum Beispiel einen Bagger verwenden würden, mussten damals die Gruben, in denen die Steine stehen, mit bloßen Händen und mit zurechtgeschlagenen Stücken von Hirschgeweih gegraben werden. Alles ein Wahnsinnsaufwand. Wir schätzen heute, dass insgesamt um die dreißig Millionen Arbeitsstunden in der ganzen Anlage stecken.“

„Dreißig Millionen!“ David horchte auf. „Das sind ja, warten Sie mal … bei sagen wir tausend Arbeitern und zehn Stunden Schuften pro Tag und ohne einen einzigen Ruhetag … über acht Jahre! Oder unter unseren heutigen Arbeitsbedingungen über fünfzehn Jahre.“

Annie grinste. „Rechnen kann er, mein Mann.“

David besah sich den Steinkreis mit neuer Achtung. „Wenn man die durchschnittlichen aktuellen Löhne für Baufachleute wie Steinmetze und Zimmerer zu Grunde legt, die in den vergangenen Jahren bei rund 24500 Pfund per anno lagen und dazu die Kosten für die Konstrukteure nimmt, die noch deutlich darüber liegen, dann lägen heute allein die direkten Lohnkosten für so ein Projekt bei gut dreißig Millionen Pfund jährlich. Dazu wären noch die fälligen Steuern und Sozialabgaben zu addieren sowie natürlich nicht unerhebliche Materialkosten –“

„Und vergiss nicht die zu erwartenden Krankheitskosten. Bei einem Projekt wie diesem ist mit einer nicht geringen Anzahl von Arbeitsunfällen zu rechnen“, unterbrach Maggie.

David überhörte ihren sarkastischen Tonfall und nickte ernst. „Du hast vollkommen recht. Die Belastung des Gesundheitssystems dürfte nicht zu vernachlässigen sein. Zu beachten wären auch noch die Landbesitzverhältnisse, es könnten auch noch Grunderwerbskosten hinzukommen. Es wäre interessant, hier einmal eine Gesamtkalkulation anzustellen …“

„Mein Bruder ist Steuerberater“, erklärte John dem etwas verwirrt dreinblickenden Aufseher. „Mit Leib und Seele“, setzte er überflüssigerweise hinzu.

„Auf jeden Fall sind die Mühen und der Aufwand, die hinter diesem Werk stecken, unglaublich“, stellte Alan fest. „Für mich ist die spannende Frage – wozu eigentlich? Warum war es Generationen unserer Vorfahren wert, ihr Leben dem Erbauen dieses Steinkreises zu widmen?“

Wilson lachte leise. „Da haben Sie die Gretchenfrage gestellt. Ich würde Ihnen gern eine fundierte Antwort geben, aber ich muss ehrlich sagen, dass wir es bis heute nicht wirklich wissen. Es vergeht kaum ein Jahr, wo nicht irgendein Professor einen Artikel veröffentlicht, nach dem Motto ‚Rätsel um Stonehenge endgültig gelöst‘.“

„Ich habe kürzlich gelesen, dass es eine Art Heilzentrum gewesen wäre, wo Leute sogar vom Kontinent hergereist sind, um sich behandeln zu lassen“, bemerkte Maggie.

Wilson nickte. „Dafür gibt es Hinweise. Den Blausteinen wird schon seit Urzeiten eine heilende Wirkung zugeschrieben. Und man hat in einer Grabstätte ein paar Meilen von hier die Leiche eines Mannes gefunden, der als Bogenschütze von Amesbury bekannt geworden ist. Er hat in der Zeit gelebt, als Stonehenge seine Hochphase hatte. Bemerkenswert ist, dass er von sehr weit her kam, aus dem Alpenraum. Noch dazu hatte er eine alte Knieverletzung, die ihn stark eingeschränkt haben muss. Es ist ein Wunder, dass er trotzdem die lange Reise bis hierher angetreten hat. Eine Vermutung ist deswegen, dass er sich hier Heilung erhofft hat.“

Er hob die Hände. „Aber die These mit dem Heilzentrum ist nur eine von vielen. Der eine Gelehrte vertritt die Meinung, das hier wäre eine Krönungsstätte, der nächste ist sich sicher, dass hier hochrangige Mitglieder der Gesellschaft beerdigt wurden. Wieder andere verfechten die Idee, es wäre eine Kultstätte zur Verehrung der Ahnen. Auch von einem Druidentempel ist immer wieder die Rede. Und dann gibt es noch die, die in dem Steinkreis einen astronomischen Kalender zur Vorherberechnung der Jahreszeiten sehen –“

„So wurde es uns damals dargestellt, als wir hier waren“, warf Emmeline ein.

„Einen Bezug zum Sternenhimmel gibt es auf jeden Fall. Die Achse der Anlage ist exakt nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet“, bestätigte der Aufseher. „Zur Sommersonnenwende fällt der erste Strahl der aufgehenden Sonne direkt durch den Eingang, während zur Wintersonnenwende das Licht der untergehenden Sonne genau durch den mittleren der Trilithen scheint.“

„Trilith? Was ist das?“, fragte Tommy.

Wilson deutete auf die Mitte des Steinkreises. „Das sind diese torartigen Gebilde aus zwei Pfeilern und einem querliegenden Deckstein darüber. ‚Tri‘ kommt aus dem Griechischen und bedeutet drei und ‚lith‘ ist ein Stein.“

„Klar, wie bei Triceratops. Der heißt so, weil er drei Hörner im Gesicht hat“, fiel Bella ihm eifrig ins Wort. „Hab ich von Grandpa gelernt.“ Sie deutete auf James. „Der ist nämlich Dinosaurierspezialist, Mr. Wilson.“

„Das ist ja interessant“, gab Wilson freundlich zurück. „Bei uns an der Universität in Southampton – ich schreibe da gerade an meiner Doktorarbeit in Geowissenschaften – gibt es einen ziemlich witzigen Paläontologen, Professor Montgomery Fielding. Vielleicht kennen Sie ihn ja?“

„Der gute Monty!“, rief James erfreut aus. „Natürlich kenne ich ihn. Wir haben uns auf etlichen Tagungen getroffen. Wie geht es dem alten Haudegen?“

Während Wilson und Johns Vater angeregt plauderten, warf John einen Blick auf die Uhr. Pauline und Tante Isabel mussten jetzt am Flughafen in Edinburgh sein, von wo aus in den Sommermonaten eine Maschine nach Newquay startete. Die beiden sollten um 11.30 Uhr landen und es war vereinbart, dass jemand vom Hundezuchtverband, der ohnehin ein Begrüßungskomitee für Isabel an dem kleinen Regionalflughafen auf die Beine stellen wollte, sie zu dem Ferienhaus brachte, das ihre Unterkunft für diese Woche sein würde. John stellte sich voller Vorfreude vor, wie nachher der Kleinbus der Mackenzies vor dem Haus vorfahren würde, Pauline aus der Tür kam und ihm entgegenlaufen würde, die Sonne leuchtend auf ihrem kupferroten Haar –

Er wurde aus seinem Tagtraum gerissen, als jemand ihn an der Jacke zupfte. „Schau mal, John, da ist ein Verwandter von Gworran. Das ist doch ein Kolkrabe, oder?“

Bella hatte ein ungewöhnliches Interesse an Vögeln entwickelt, seit sie in den Osterferien Paulines Neffen Barry kennengelernt hatte, einen ehrgeizigen – und äußerst naseweisen, wie John fand – Nachwuchsornithologen.

Tatsächlich saß ein Stück weiter vorn am Wegesrand einer der großen Vögel, nur ein, zwei Schritte von dem Mann entfernt, der sich für Merlin den Zauberer hielt. Der Rabe hatte einen winzigen weißen Fleck an der Brust. Den Kopf schief gelegt, sah er aus, als hielte er stumme Zwiesprache mit dem Weißbärtigen.

Unvermittelt fiel John etwas ein, das er in einem von George Campbells Büchern über Rabenvögel gelesen hatte: Einer Sage nach hatte sich die Seele von König Artus nach seinem Tod auf dem Schlachtfeld in einen Raben verwandelt. Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer. Die Vorstellung, dass sich vor seiner Nase der legendäre König in Vogelgestalt gerade mit seinem weisen Ratgeber, dem mächtigen Zauberer, unterhielt, wirkte auf einmal gar nicht mehr lächerlich. Gleich darauf musste er über sich selbst lachen. Er schrieb seinen abstrusen Gedankengang der Ausstrahlung des mythischen Steinkreises zu.

„Sagen Sie, Mr. Wilson, dieser Mann da – er sieht sich wirklich als Merlin?“, sprach er den Aufseher an.

„Absolut. Manchmal brabbelt er irgendwelches Zeug in einer Sprache, die sich vage keltisch anhört oder er singt auch mal.“ Er lächelte ein wenig verschämt. „Ich muss zugeben, ich hätte gern mehr über ihn herausgefunden – wer er ist und was er macht, wenn er nicht hier herumsteht. Ich bin ihm sogar einmal gefolgt, als er abends das Gelände verlassen hat. Irgendwie hätte ich es lustig gefunden, wenn er draußen einen Autoschlüssel aus seiner Kutte gezogen hätte und dann ganz prosaisch mit einem alten Vauxhall oder was auch immer davongefahren wäre. Aber er ist einfach über die Felder davongegangen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Er ist irgendwie … ein wenig unheimlich, aber ich glaube, er ist ein harmloser Spinner. Zumindest belästigt er keinen. Ein ganz anderes Kaliber als dieser Verrückte, der sich für die Reinkarnation von König Artus hält. Von dem haben Sie bestimmt schon gehört?“

John nickte. „Ich habe schon einige Male über ihn gelesen. Ex-Soldat, Ex-Anführer einer Motorradgang und jetzt selbsternannter Vorkämpfer der Druiden. Eine ziemlich schillernde Gestalt.“

„Sicherlich. Aber juristisch gesehen durchaus interessant“, warf Maggie ein. „Man sollte ihn nicht unterschätzen. Er hat zum Beispiel solange Klage um Klage eingereicht, bis er erreicht hatte, dass heutzutage jeder Inhaftierte, der sich den Druiden zugehörig fühlt, das Recht hat, statt der üblichen Anstaltskleidung seine eigene Robe zu tragen.“

„Und welche Sträuße er erst mit unserer Kulturbehörde ausgefochten hat! Bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging das.“ Wilson schüttelte den Kopf. „Er wollte partout durchsetzen, dass die Druiden wieder das Recht bekommen, an Mittsommer Zugang zum Steinkreis zu erhalten, um ihre Zeremonien zu feiern. Von wegen Recht auf freie Religionsausübung. Naja, vor fünf Jahren hat er es ja dann geschafft, dass National Heritage klein beigegeben hat. Mittlerweile darf jedermann die kürzeste Nacht des Jahres hier verbringen. Das ist jedes Mal ein Spektakel, sage ich Ihnen.“ Er machte eine weit ausholende Armbewegung.

„Zehntausende von Menschen hier auf unserem Gelände. Das sind gewaltige Massen. Ein einziges Mal im Jahr haben sie die Chance, sich mitten zwischen den Steinen bewegen zu können, wo sonst niemand hindarf. Dass das für die Besucher eine großartige Sache ist, sehe ich ein, aber manche schrecken wirklich vor nichts zurück. Ich habe schon ein-, zweimal Leute erwischt, die einen Hammer hereingeschmuggelt hatten und sich ein Stück Blaustein herausschlagen wollten als Souvenir.“ Er schnaubte. „In der Nacht ist wirklich jeder Einzelne vom Personal gefordert, sogar Teilzeitkräfte wie ich, und dazu holen wir uns noch einen Sicherheitsdienst, um einigermaßen alles in geregelten Bahnen zu halten. Klar kommen da auch Touristen her, die einfach die einmalige Atmosphäre aufsaugen wollen, aber es sind auch massenweise richtig abgedrehte Typen dabei, das können Sie mir glauben. Gerade bei diesen neuzeitlichen Druiden, da sind schon merkwürdige Vögel dabei.“

„Immerhin ist die Glaubensgemeinschaft der Druiden steuerlich seit einigen Jahren den anderen Kirchen gleichgestellt. Es können also nicht alles nur Spinner sein“, gab David zu bedenken.

„In meinem Gartenbauverein gibt es eine Frau, die sich auch als Druidin sieht“, mischte Emmeline sich ein. „Ich finde sie eigentlich ganz vernünftig. Sie beteiligt sich viel an Naturschutzaktionen, pflanzt Bäume und kennt sich hervorragend mit natürlichen Heilmitteln aus. Und sie läuft auch nicht in so einem Gewand da herum, sondern ist ganz normal angezogen. Eine wirklich angenehme Person. Ganz anders als so manch andere bei uns –“

Bevor seine Mutter eine ihrer bekannten Tiraden gegen ihre Lieblingsfeindin Jane Argyll (die Emmeline in mehr als einem Wettbewerb um den größten Kürbis geschlagen hatte) vom Stapel lassen konnte, ließ sich Christopher klagend vernehmen, „Mummy, mir tun die Füße weh. Sind wir bald fertig?“

Annie beugte sich zu ihm hinunter. „Eine Weile dauert es noch, Spatz. Aber vielleicht kann Daddy dich ja ein bisschen tragen?“

Entsetzt sah David sie an. „Du liebe Güte! Du weißt doch, dass mein Rücken sofort Probleme macht, sobald ich etwas Schwereres als einen Kugelschreiber hebe.“

Christopher zog ein langes Gesicht. Großmütig erbot John sich, seinen Neffen auf den Schultern zu tragen.

Sie verabschiedeten sich bei Mr. Wilson, nicht ohne sich für seine interessanten Erzählungen zu bedanken und gingen weiter. John musste schon wenig später feststellen, dass ein gut im Saft stehender Fünfjähriger doch mehr Gewicht auf die Waage brachte als die großen Säcke mit Trockenfutter für die Raben, die er sonst herumwuchtete. Ächzend setzte er Christopher wieder ab und rieb sich die schmerzenden Schultern.

„Was ist das da vorn für ein Stein? Sieht aus, als hätte er ein Gesicht.“ Tommy deutete nach links.

Maggie studierte den Übersichtsplan, den sie griffbereit bei sich trug. „Warte mal … Nummer zwölf, das muss der sogenannte Fersenstein sein.“

„Hihi, der schaut aus wie eine ganz grummelige Schildkröte.“ Christopher tappte begeistert voran und zog Annie hinter sich her.

Maggie hob die Hand. „Mal langsam. Vorher kommt noch Nummer elf, der Opferstein, der müsste gleich rechts direkt am Weg sein.“

„Das wird er sein.“ James hatte eine flache Felsplatte erspäht, ein paar Schritte nach der Stelle, wo der vermeintliche Zauberer immer noch reglos stand. In einer Vertiefung des verwitterten Steins stand eine rostrote Pfütze.

„Iih, das schaut aus wie Blut.“ Bella schlug sich die Hand vor den Mund. „Uäh, bestimmt sind da drauf irgendwelche armen Tiere geopfert worden und der ganze Stein ist mit Blut getränkt –“

„Unsinn, Kind“, meinte James energisch. „Sieh genau hin. An der Oberfläche der Platte verlaufen überall ganz feine Linien, das ist bestimmt eisenhaltiges Gestein. Durch den Regen ist etwas davon herausgewaschen worden und das verfärbte Wasser sammelt sich jetzt in der Mulde.“

Alan legte den Arm um die Schultern seiner Tochter.

„Ganz sicher sind hier keine Tiere geopfert worden, Kleines. Mach dir keine Gedanken. Komm, gehen wir zu diesem Fersenstein. Er hat wirklich Ähnlichkeit mit einem miesepetrigen Reptil.“ Sanft schob er Bella voran und die anderen folgten ihm. Nur John blieb noch einen Moment stehen, um sich den Raben anzusehen, der auf den selbsternannten Merlin fixiert zu sein schien. Er fuhr zusammen, als plötzlich eine dunkle, etwas kratzige Stimme erklang.

„Das Mädchen hat die Wahrheit gespürt. Auf diesem Stein haben wir den Göttern frisch geschlachtetes Fleisch zum Opfer dargebracht. Von edlen Tieren. Und auch Menschen. Tomnu, Andrasta, Camulos – sie alle fordern ihren Tribut.“

Mit offenem Mund starrte John den Weißbärtigen an. In dem tief zerfurchten Gesicht glühten eingesunkene, aber quicklebendige Augen. Dann wandte der Alte sich jäh ab und ging ohne ein weiteres Wort davon. Der Rabe stieß ein lautes Krächzen aus, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft.

 

Kapitel 3

 

So sehr er sich selber dafür schalt, hatte die merkwürdige Begegnung dennoch einen Schatten über den Ausflug nach Stonehenge geworfen. Mit einem Mal strahlte der Steinkreis für John etwas Düsteres, Unheilvolles aus. Das mochte vielleicht auch daran liegen, dass der Himmel sich wieder eingetrübt hatte und dunkle Wolkenberge heranstürmten. Auf jeden Fall war er heilfroh, dass niemand von den anderen etwas von der kurzen Szene mit dem mysteriösen Merlin mitbekommen hatte.

Nach einem ‚Ver- und Entsorgungsstopp‘, wie Maggie es nannte, in der Cafeteria des Besucherzentrums, bewegte sich der Tross wieder zum Parkplatz.

„Alles anschnallen! Drei Stunden und siebzehn Minuten bis Newquay“, verkündete Alan frohgemut, nachdem er das Navigationssystem aktiviert hatte.

Auf dem Weg nach Westen prasselte ein Schauer nach dem anderen gegen die Windschutzscheibe. Nach kurzer Zeit war zweistimmiges Schnarchen von David und Johns Vater zu hören. Auch Emmeline und Annie waren eingenickt, offenbar durch jahrelange Übung taub für das Gesäge ihrer Ehemänner. Bella und Tommy hatten sich unförmige Kopfhörer aufgesetzt. Aus dem Fenster war außer der Leitplanke im nassen Grau kaum etwas zu erkennen. John faltete seine langen Beine unter den Vordersitz und beschloss, dass dies in der Tat die richtige Zeit für einen Mittagsschlaf war.

„Mir ist langweilig!“ Christopher begann mit seinen Beinen gegen den Sitz zu trommeln. Leise grummelnd öffnete John die Augen wieder. Er drehte sich zu seinem Neffen um und legte den Finger an die Lippen. „Scht. Wir machen jetzt alle eine Pause und ruhen uns ein bisschen aus.“

„Wieso?“

„Dann sind wir wieder fit, wenn wir in unserem Ferienhaus ankommen und können gleich alles erforschen.“

Sehr zufrieden mit seiner schlüssigen Erklärung und in der Erwartung, seinem Neffen würde die Sinnhaftigkeit einer Regenerationsphase nun unmittelbar einleuchten, machte John es sich wieder bequem und ließ den Kopf in seinem zum Kissen geknautschten Pullover sinken.

„Weißt du ’n Witz, John?“, kam es von hinten.

„Nein, tut mir leid.“

„Soll ich dir ’n Witz erzählen?“

„Nein, danke.“

„Dann ein Rätsel. Was ist grün und macht Miau?“

John hielt die Augen resolut geschlossen, als könnte er das kindliche Geplapper damit ausschließen. Es klappte nicht.

„Was ist grün und macht Miau, John? Sag doch was!“

„Keine Ahnung, wirklich.“

„Eine Katze, die in den Farbeimer gefallen ist.“ Christopher kicherte vergnügt. „Was ist grün und macht Miau?“

„Du sagtest es gerade. Eine Katze, die in den Farbeimer gefallen ist“, knirschte John zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Neee. Ein Frosch, der eine Katze gefressen hat.“ Der Junge kringelte sich schier vor Lachen. John dagegen erschloss sich die Pointe beim besten Willen nicht. Während Christopher unbarmherzig weiter fragte, „Was ist viereckig und macht Muh?“, kämpfte John gegen den Impuls, Bella die Kopfhörer herunterzureißen und sich selbst überzustülpen. In diesem Moment hätte er selbst eine Berieselung mit einer der unsäglichen Boybands, auf die seine Nichte so stand, als Wohltat empfunden.

„Jo-hon!“ Christopher verlangte zunehmend lautstark nach einer Antwort. David erwachte mit einem Grunzen und schaute sich einen Moment desorientiert um. Christopher wiederholte zum vierten Mal seine Frage. Davids Augen leuchteten auf.

„Ah, ihr erzählt euch gerade Witze. Passt auf, ich habe einen auf Lager, da werdet ihr euch wegschmeißen. Treffen sich der Schatzkanzler, ein Banker und ein Priester …“

Der Humor in der Geschichte war wohl nur für Steuerfachleute zu erkennen, aber zumindest versetzte Davids langatmiger Vortrag seinen Sprössling augenblicklich in Tiefschlaf. Zutiefst dankbar lächelte John seinen Bruder an.

„Eine großartige Anekdote, David, wirklich.“ Dann nutzte er die Gunst der Stunde und nickte ebenfalls ein.

Er erwachte erst, als das Auto zum Stehen kam. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz vor drei Uhr nachmittags war. Wenn Alans Kalkulation stimmte, mussten sie da sein. Er rappelte sich hoch und sah hoffnungsvoll aus dem Fenster. Zu seiner Enttäuschung sah er nur weite Landschaft, auf die immer noch Regen herniederging.

„Wo sind wir?“, fragte er.

„Am Rand des Dartmoors. Seit Taunton sind wir nur noch im Kriechtempo vorwärtsgekommen, weil überall lauter Sonntagsfahrer unterwegs sind. Und jetzt geht gar nichts mehr“, schimpfte Maggie.

„Ich muss aufs Klo“, kam es von Christopher.

„Ich auch“, stimmte Bella ein.

„Haltet durch, Kinder, in sechs Meilen kommt eine Raststätte.“

Was folgte, waren die wohl längsten sechs Meilen in der Geschichte Britanniens. Als sie endlich auf den Parkplatz einfuhren, wo das ersehnte WC-Zeichen stand, wusste John nicht mehr, wie viele Runden Autofarben-Bingo, ‚Ich packe meinen Koffer‘ und ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ sie gespielt hatten. Er nutzte die Gelegenheit und rief Pauline an, die bereits angefangen hatte, sich Sorgen zu machen.

„Ich fürchte, es dauert noch eine Stunde, bis wir endlich da sind“, seufzte er. „Der Urlaubsverkehr ist einfach unglaublich.“

„Wir haben schon gemerkt, dass hier im Ort auch wahnsinnig viel los ist“, berichtete Pauline. „Der Mini-Flughafen hier quillt geradezu über. Aber es hat alles wunderbar geklappt. Ein sehr netter Herr hat uns abgeholt, mit einem riesigen Strauß Rosen für Isabel. Und das Haus ist wunderschön, wirklich.“ Sie kicherte leise. „Ich hoffe, du bist mit dem Zimmer einverstanden, das ich schon für uns ausgesucht habe. Es hat zwar keinen Meerblick, sondern geht hinten hinaus und es ist auch nicht gerade groß. Aber …“

John spitzte die Ohren. „Aber?“

„Aber dafür ist es das einzige Schlafzimmer im früheren Dienstbotentrakt im Dachgeschoss, so dass wir ein bisschen Abstand von der Familie haben. Nicht, dass ich nicht alle gernhabe und mich freue, mit ihnen Zeit zu verbringen“, setzte sie eilig hinzu.

„Aber ein bisschen Privatsphäre ist Gold wert“, meinte John inbrünstig. „Ich schwöre dir, ich kann den Moment kaum noch erwarten, wo ich unsere Zimmertür hinter uns zuschließen kann und wir beide ganz für uns sind …“

Er wurde immer kribbeliger vor Ungeduld, bis die ganze Familie – mächtig erleichtert – wieder zum Bus zurückkam. Maggie übernahm das Steuer. Glücklicherweise hatte der Stau sich auf rätselhafte Weise aufgelöst und auch die Sonne war wieder durchgebrochen.

„Drück auf die Tube“, rief John nach vorn.

Maggie lachte ihn im Rückspiegel an. „Was ist aus meinem Bruder geworden, dem bekennenden Schnarchzapfen auf der Straße? Der gar nicht weiß, wofür das Gaspedal erfunden wurde? Für den die Mindestgeschwindigkeit gleichzeitig die Höchstgeschwindigkeit ist?“

„Tja, wenn am Ziel ne heiße Braut wartet …“ Tommy wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

„Diese rustikale Ausdrucksweise hätte ich zwar nicht gewählt, aber du liegst sicher richtig“, meinte Johns Vater augenzwinkernd. Unvermittelt stimmte er einen alten Schlager an, „Ja, auf den Schwingen der Lie-hiee-be, da fliegen wir schie-hiee-hieer dahin …“ Emmeline stimmte fröhlich mit ein. Bella und Tommy verfielen für einen Moment in Schockstarre und griffen dann eilig nach ihren Kopfhörern. John schwor sich, nie wieder in einen Familienurlaub einzuwilligen, bevor er nicht auch solche Dinger besaß.

 

 

„Da vorn ist es!“, rief Maggie eine knappe Stunde später endlich. „Das Steinhaus links!“

„Ach, sind das herrliche Rosen“, schwärmte Emmeline. „Ich sehe schon eine Winchester Cathedral, eine William Shakespeare, eine New Dawn –“

„Wow, da müssen wir ja nur über die Straße und dann können wir schon zum Strand runter. Seht euch diese Wellen an!“, kam es enthusiastisch von Tommy.

„Hmmm, aus den oberen Zimmern muss man einen gigantischen Meerblick haben.“ Annie warf einen begehrlichen Blick auf die Reihe der Fenster im ersten Stock.

John nahm nichts von dem wahr. Alles, was er sah, war ein Schopf langen kupferroten Haares, auf dem die Sonne glänzte und zwei meeresgrüne Augen, die strahlend in die seinen blickten.

 

„Ahem“, drang irgendwann ein Räuspern in sein Bewusstsein. „Nur zur Information, John: David, Alan und Tommy haben bereits alle Sachen ins Haus geschleppt. Und ich hätte jetzt doch gern meine Schwiegertochter in spe begrüßt.“

„Was? Wie?“ Verblüfft sah John seine Mutter an. „Der ganze Bus ist schon ausgeräumt?“ Er sah sich um und merkte, dass sie immer noch engumschlungen im Vorgarten standen. Vom Rest der Familie war niemand zu sehen. Aus dem Haus drang Hundegebell.

Lachend begrüßte Pauline Johns Mutter. „Schön, dich zu sehen, Emmeline.“

„Gleichfalls, mein Kind, gleichfalls. Jetzt geht hinein. Die anderen balgen sich schon um die schönsten Zimmer. Ihre Hoheit mitsamt ihrer räudigen Töle hat sich natürlich das beste gesichert. Aber was wäre auch anderes zu erwarten gewesen“, sagte Emmeline schnippisch.

„Naja, Mum, immerhin bezahlt sie ja für das Haus. Und die Wochenmiete für so ein Anwesen in der Ferienzeit muss astronomisch sein. Also steht es ihr zu, sich ein Zimmer nach ihren Wünschen auszusuchen“, wandte John ein.

„Phh. Sie hat es günstig bekommen, weil der Besitzer im Vorstand von diesem Hundezuchtverband ist und unbedingt wollte, dass sie herkommt. Außerdem habe ich dafür gestimmt, dass wir selbst unseren Anteil bezahlen, aber dein Vater wollte davon ja nichts wissen.“

John kannte den verkniffenen Gesichtsausdruck seiner Mutter nur zu gut. Jede weitere Diskussion war sinnlos. Die Gräben zwischen den beiden Frauen waren auch nach einem halben Jahrhundert so tief wie eh und je. Er wechselte einen stummen Blick mit Pauline und sie wandten sich zum Haus.

„Kommst du nicht mit, Mum?“, fragte John.

„Nein, ich bleibe lieber im Garten und sehe mir diese wunderbaren Rosen an. Sonst erwürge ich die alte Schabracke schon am ersten Tag“, setzte sie hinzu.

Über dem Eingang des aus Granitblöcken erbauten Hauses waren ein Fisch und darunter die Jahreszahl 1766 eingemeißelt.

„Der Erbauer war ein Sardinen-Magnat“, erklärte Pauline. „Zu der Zeit gab es hier riesige Schwärme, die gefangen und auf den Kontinent verkauft wurden. Die erfolgreichsten Fischer wurden damals schwerreiche Männer.“ Sie traten ein. „Mr. Deveril, der nette Mann, der uns hergebracht hat, hat uns schon einiges über die Geschichte des Hauses und auch des Ortes erzählt. Er trinkt mit Tante Isabel in der Küche Tee.“

Als sie den großen, gemütlichen Raum mit dem langen Holztisch in der Mitte betraten, erhob sich ein hochgewachsener Mann mit dichtem weißem Haarschopf und kam ihnen entgegen.

„Und Sie müssen der Beefeater sein! Willkommen in Newquay. Gestatten, Kenwyn Deveril. Ich habe die Ehre, der Vorsitzende der Sektion Süd-West des Nationalen Hundezuchtverbandes zu sein.“ Er schüttelte Johns Hand und wandte sich dann an Isabel. „Ich überlasse dich jetzt deiner Familie, meine Liebe. Wir sehen uns morgen. Ich hole dich um halb zehn ab. Ich freue mich schon.“ Er deutete eine galante Verbeugung an und hielt ihre Hand einen Moment länger als üblich in der seinen.

Nachdem er sich sichtlich widerstrebend losgerissen hatte, konnte John Tante Isabel begrüßen. Behutsam drückte er ihr einen Kuss auf die faltige Wange und streichelte Sir Walter Scott über den Kopf, der auf Isabels Schoss saß. Der Scotch Terrier, letzter in einer langen Reihe von Championatshunden, die Isabel gezüchtet hatte, war ihr unzertrennlicher Gefährte und wie seine Besitzerin in Ehren ergraut.

„Mein Junge, da bist du ja endlich. Ich dachte schon, sie hätten dich an einer Autobahnraststätte vergessen.“ Ihre Augen blitzten schalkhaft.

John lachte und zog sich einen Stuhl heran, während Pauline sich daran machte, einen Karton mit Lebensmitteln, die Maggie mitgebracht hatte, auszupacken.

„Dann wäre ich zur Not getrampt. Keine zehn Pferde hätten mich von euch beiden fernhalten können.“ Er betrachtete seine Großtante aufmerksam. Nachdem sie sich vor einigen Monaten den Oberschenkel gebrochen hatte, hatten die Ärzte vorhergesagt, Isabel würde bestenfalls zum Pflegefall werden. Nun erinnerte bis auf die Krücke, die am Schrank lehnte, nichts mehr an die Folgen des Sturzes.

„Du siehst hervorragend aus, Tante Isabel“, sagte er ehrlich.

„Danke, mein Junge. Ich fühle mich auch ganz gut. Natürlich geht alles nicht mehr so flott wie bei einem jungen Ding von Achtzig, aber ein bisschen herumkrauchen, das kann ich schon noch.“

„Und junge Männer bezaubern“, warf Pauline schmunzelnd ein. „Dieser Mr. Deveril hat ja förmlich an deinen Lippen gehangen. Ich wette, dass wir ihn die nächsten Tage noch sehr oft sehen werden.“

„Ach, Unsinn“, wehrte Isabel ab, blickte jedoch geschmeichelt drein. „Und sooo jung ist er nun auch wieder nicht. Soweit ich mich erinnern kann, hat er die Fünfundsiebzig schon hinter sich gelassen.“

„Tatsächlich?“, meinte John erstaunt. „Ich hätte ihn für Mitte, höchstens Ende Sechzig gehalten.“

„Auf jeden Fall hast du da einen taufrischen Verehrer, Isabel“, stellte Pauline fest. Sie hob eine kleinere Schachtel hoch, auf der fein säuberlich die enthaltenen Gewürze notiert waren. „Cayennepfeffer, Curry, Estragon, Koriander, Kurkuma, Muskat, Oregano, Zimt – meine Güte, das ist ja ein ganzes Arsenal und auch noch nach dem Alphabet geordnet. Das ist sicher Maggies Werk, nicht wahr? Ich finde es großartig, wenn jemand so strukturiert ist.“

John schnaubte. „Warten wirs ab, ob du das am Ende der Woche auch noch sagst.“

Draußen im Flur fegten zwei in Neoprenanzüge gekleidete Figuren vorbei.

„Ihr seid aber um 18.30 Uhr wieder hier, damit ihr euch noch zum Abendessen fertigmachen könnt. Um 19.00 Uhr ist Abmarsch. Ich habe einen Tisch beim Italiener reserviert!“, drang Maggies Stimme vom ersten Stock herunter. Gleich darauf hörten sie sie die Treppe herunterkommen. Einen großen Zettel in der Hand, trat sie in die Küche.

„Ich gehe jetzt zum Einkaufen. Falls ihr noch irgendwelche Extrawünsche fürs Frühstück habt, könnt ihr die jetzt anmelden. Ihr beide seid, wartet mal, am Dienstag fürs Essen zuständig.“ Sie deutete auf einen Wochenplan, den sie mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt hatte.

„Jawohl, Major.“ John sprang auf, schlug die Hacken zusammen und salutierte.

Maggie zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ihr Gepäck, Gefreiter, steht noch unangetastet im Flur. Entfernen Sie es zügig. Und jetzt: Wegtreten.“

Dieser Aufforderung kam John nur zu gern nach. Er zog Pauline mit sich und sie liefen mit dem Gepäck die Treppe hinauf. Dort begegnete ihnen David, in Shorts und mit einem Handtuch über der Schulter.

„Ich sehe mir den Strand an. Kommt ihr mit?“

„Nein“, rief John über die Schulter zurück. „Ich muss auspacken.“

„Na, dann viel Spaß beim … Auspacken“, feixte David und polterte die Treppe hinunter. Pauline hastete voran in den zweiten Stock, wo sie eine Tür aufriss, hinter der ein kleines Zimmer lag. Außer einem Doppelbett und einem Schrank passte dort kaum etwas hinein. Aus dem Fenster gab es außer dem Hinterhof und einem altersschwachen Hotelbau in der Nachbarschaft wenig zu sehen. Aber dennoch wähnte John sich im Paradies.

 

Als Maggies Ruf „Abmarsch zum Essen fassen“ in das Dachgeschoss hinaufdrang, standen die Koffer immer noch unangetastet auf dem Boden.

Pauline fuhr in die Höhe. „Oh mein Gott! John, es ist schon sieben! Was machen wir jetzt?“

John hüllte sich in ein Laken, stolperte zur Tür, öffnete sie einen Spalt und rief hinaus, „Geht schon vor, wir kommen nach.“

Von unten war ein Heiterkeitsausbruch zu hören.

„Es ist das ‚Castello‘, ein paar Häuser weiter auf der rechten Seite“, kam Maggies Anweisung.

„Danke! Bis gleich.“ John schloss die Tür wieder. Pauline hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. „Herrje, ist das peinlich“, drang es dumpf hervor.

„Ach was“, meinte John fröhlich. „Und selbst wenn, dann war es das wert.“ Pfeifend verschwand er in dem kleinen Badezimmer nebenan.

Zwanzig Minuten später eilten die beiden aus dem Haus und wandten sich nach rechts.

„Da vorn, an der nächsten Querstraße, das muss es sein.“ Pauline zog John hinter sich her. Er war eben im Begriff, die Tür des Restaurants für sie zu öffnen, da gellte ein Pfiff von der anderen Straßenseite herüber. Sie blickten über die Küstenstraße – und erblickten erstaunt die gesamte Familie, die es sich auf einigen Bänken am Rand der Steilküste bequem gemacht hatte und ihnen lachend zuwinkte.

Als sie näher kamen, setzte Maggie ein strenges Gesicht auf.

„Also, Pauline, das hätte ich wirklich nicht von dir gedacht. Du hast dich also schon von der Liederlichkeit meines Bruders anstecken lassen.“

Pauline errötete wie ein Backfisch, was sie in Johns Augen noch hinreißender machte. Verlegen stotterte sie, „Ich, äh, also …“ Da trat Maggie auf sie zu und umarmte sie grinsend. „Mach dir keine Gedanken. Erstens weiß ich ja, dass John unverbesserlich ist – deswegen habe ich den Tisch von Haus aus erst für halb acht bestellt. Und noch dazu habt ihr mir zehn Pfund beschert, die mein lieber Gatte mir jetzt schuldet.“

„Äh, wie …?“

„Ich habe mit Alan gewettet, dass ihr mindestens eine Viertelstunde zu spät kommt.“ Mit einem triumphierenden Lächeln steckte Maggie den Zehner ein, den Alan mit einem Seufzen aus seinem Geldbeutel zog.

„Ich hatte wirklich gedacht, ein paar Jahre im Dienst ihrer Majestät hätten deine Disziplin auf Vordermann gebracht, John“, brummte er.

John nutzte die Gelegenheit, seine ‚Harry Potter und der verpasste Kontrollgang‘-Geschichte zum Besten zu geben und sorgte für allgemeine Erheiterung. Tante Isabel lachte Tränen, als er die Übergabe des Mickymaus-Weckers schilderte. Bella interessierte sich mehr für Gworrans neues Kunststück als Zauberrabe.

„Wenn wir wieder zuhause sind, muss ich dich unbedingt besuchen, John“, kündigte sie an. „Ich will das filmen und an Barry schicken. Das gefällt ihm sicher.“

„Ach, da fällt mir ein, Barry hat mir ein Päckchen für dich mitgegeben“, sagte Pauline. „Erinnere mich daran, dass ich es dir nachher gebe, wenn wir zum Haus zurückkommen. Und natürlich soll ich dich schön grüßen.“

„Oh, danke.“ Bellas Augen begannen zu glänzen.

„Uuuh, Barry“, flötete Tommy. „Bella ist verlie-hiebt, Bella ist verlie-hiebt – he, aua!“ Er rieb sich klagend die Seite, wo ihn ein scharfer Rippenstoß seiner Schwester getroffen hatte.

„Gar nicht wahr“, grollte sie.

„Ach so, und warum sind dann deine Schulhefte seit Neuestem mit Herzchen verziert, in denen überall B+B steht?“, neckte Tommy sie weiter.

Bella lief rot an. „Du bist echt so ein Idiot –“

„Nun lasst uns rüber ins Lokal gehen, sonst ist unser Tisch doch noch weg“, unterbrach Alan energisch den Geschwisterstreit.

„Komm, Herzchen, leih mir deinen Arm.“ Isabel hakte sich bei Bella ein und raunte ihr zu, „Große Brüder sind manchmal die Pest.“

Das Mädchen nickte dankbar. „Echt wahr.“

„Große Schwestern sind aber auch nicht besser“, ließ John mit leidgeprüfter Miene fallen, was ihm einen Knuff von Maggie einbrachte.

Nachdem sie das Restaurant geentert und etwas bestellt hatten, blickte Isabel feierlich in die Runde und hob an, „Ich danke euch allen, dass ihr euch diese Woche die Zeit nehmt, um sie mit eurer alten Tante zu verbringen. Ganz besonders möchte ich James danken, der mir nach meinem Sturz so großartig zur Seite gestanden hat.“ Sie erhob ihr Glas und alle taten es ihr nach.

„Ein Hoch auf die Familie – sláinte mhath!“

Im allgemeinen Gläsergeklirr raunte Pauline John ins Ohr, „Gott sei Dank hat Isabel nicht auch noch euren lieben Cousin, das Rabenaas, eingeladen.“

„Auf den können wir echt verzichten“, stimmte er ihr grinsend zu. „Ich habe seit der Geschichte im Zoo nichts mehr von Simon gehört und das kann von mir aus gern so bleiben.“

Nachdem sie getrunken hatten, sprach Isabel weiter.

„In der Zeit im Krankenbett ist mir zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, dass ich doch nicht mehr die Jüngste bin –“

„Aber, Tante Isabel“, unterbrach David. „Was redest du da. Du bist doch noch nicht einmal hundert.“

„So ist es. Du bist mindestens so fit wie Prince Philip und der ist immer noch wacker zu allen möglichen royalen Terminen unterwegs“, stimmte James ein.

„Und du verdrehst jüngeren Männer den Kopf, wie wir heute schon gesehen haben“, gluckste Pauline.

Emmeline machte ein Gesicht, als hätte sie in ihrem Vorspeisensalat ein besonders scheußliches Kakerlakenexemplar entdeckt. John, der neben ihr saß, hörte, wie sie murmelte, „Schamlos, dieses Frauenzimmer. Einfach schamlos.“

Daraufhin konnte er sich nicht beherrschen, ihr zuzuflüstern, „Na, heeeersd, Emmilein.“ Nun war es an Emmeline, rot anzulaufen. An die denkwürdige Episode mit einem österreichischen Fledermausforscher ließ sie sich nur äußerst ungern erinnern. Sie senkte den Blick und studierte eingehend das Karomuster der Tischdecke.

„Jaja, ist ja gut, Kinder“, wehrte Isabel lächelnd ab. „Ich wollte damit auch nicht andeuten, dass ich allmählich bereit bin, mich still und leise ins Sterbekämmerlein zurückzuziehen. Im Gegenteil –“

Emmeline hob ruckartig den Kopf. „Im Gegenteil? Was soll das heißen? Willst du dir jetzt eine Faltenstraffung verpassen lassen und dann beim Wettbewerb ‚Großbritannien sucht das geriatrische Supermodel‘ antreten?“

Rund um den Tisch war kollektives Luftschnappen zu hören, aber Tante Isabel blieb gelassen. „Tatsächlich habe ich schon daran gedacht, meine Bewerbung für den neuen Kalender abzugeben, den unser Schafzuchtverband jedes Jahr herausbringt. Er heißt ‚Verlockende Farmerinnen‘.“

Nun war es Johns Vater, der seine Tante entgeistert anblickte. „Das … das meinst du doch nicht ernst, oder doch?“

Isabel lachte herzhaft. „Mach dir nicht ins Hemd, James. Es war ein Scherz. Außerdem habe ich für solchen Kokolores gar keine Zeit. Es gibt Wichtigeres zu tun. Die Scottish National Party bittet mich ja schon seit Langem, aus meinem politischen Ruhestand zurückzukehren. Und ich denke, dafür ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Noch fühle ich mich fit genug dafür und ich kann einfach nicht weiter zuschauen, wie die Fremdherrschaft aus Westminster mein Land kaputtmacht.“

„Fremdherrschaft!“, zischte Emmeline erbost und schlug sich an die Stirn. „Sag mal, ist dir entgangen, dass deine Landsleute erst letztes Jahr dafür gestimmt haben, im Vereinigten Königreich zu bleiben?“

„Nur, weil ihnen mit Falschinformationen und Demagogie Angst vor der Unabhängigkeit gemacht wurde. Außerdem war damals noch nicht absehbar, dass dieser Wurm, der sich leider nach den Wahlen wieder Premier nennen darf, ernsthaft etwas so komplett Hirnrissiges vorhat wie eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU.“

„Aber dafür wird sich doch niemals eine Mehrheit finden“, warf Alan ein. „Das wäre ja ein historischer Rückschritt und abgesehen davon ein ökonomisches Desaster.“

„Mein lieber Alan, ich hoffe sehr, dass du recht hast, aber ich befürchte, dass die geistigen Falschfahrer wie diese unsäglichen UKIP-Menschen viele Leute hier unten im Süden auf ihre Seite ziehen werden. Gerade die mit dem etwas beschränkten Horizont. Die, für die es das höchste der Gefühle ist, für den dicksten Kürbis ausgezeichnet zu werden.“ Isabel blickte betont in Emmelines Richtung.

Glücklicherweise nahten genau in diesem Moment zwei Kellner mit den Armen voller dampfender Teller.

Eccola, Signore e Signori, hier kommen unsere vorzüglichen Pizze und Paste. Ich wünsche Ihnen Buon appetito!“

John sah vor seinem geistigen Auge schon die Spaghetti Vongole seiner Mutter über den Tisch fliegen und überlegte fieberhaft, wie er das Gespräch in friedlichere Bahnen lenken konnte. Da kam ihm Pauline zuvor. Sie zwinkerte ihm zu und fragte, „Was steht für morgen auf dem Programm, Maggie?“

„Morgen werden wir uns aufteilen. Mum und Dad machen eine Bustour zum Eden Project und wir fahren nach Tintagel und hinterher ins Bodmin Moor.“

„Tintagel, das ist ja wunderbar“, meinte Pauline erfreut. „Ich wollte ohnehin schon vorschlagen, dass wir irgendwann diese Woche einen Ausflug dorthin machen. Im nächsten Trimester möchte ich nämlich mit meiner Mittelstufe ein fächerübergreifendes Artus-Projekt machen. Ich habe schon angefangen, mich einzulesen. Es ist ein ungeheuer spannendes Thema, aus dem man richtig viel machen kann.“

„Sehr gut, dann werde ich dir mit Freuden die Reiseleitung übergeben“, grinste Maggie. Dann wandte sie sich an Isabel.

„Und du bist morgen mit dem Hundezuchtverband unterwegs, wenn ich das richtig verstanden habe?“

Isabel nickte. „Ken – also Kenwyn Deveril, den ihr vorhin schon getroffen habt – möchte mit mir eine kleine Tour zu verschiedenen ortsansässigen Züchtern machen, die ich von früheren Ausstellungen her kenne. So können wir vor Beginn der Hundeausstellung am Montag noch in Ruhe einen Schwatz halten.“

„Wann kommt Renie eigentlich?“, erkundigte sich John.

„Sie will morgen gleich im Morgengrauen von London los, also müsste sie im Lauf des Vormittags hier sein“, antwortete Maggie.

„Ich freue mich schon, sie endlich wiederzusehen“, sagte John. „Seit sie aus Südamerika wieder da ist, hat sie sich bei mir nicht ein einziges Mal blicken lassen.“

Seine Schwester blickte bekümmert drein. „Ich weiß auch nicht, was mit dem Kind los ist. Ich sehe sie selbst kaum. Morgens verschwindet sie meist schon aus dem Haus, bevor wir aufstehen und dann höre ich sie oft erst spät nachts nach Hause kommen.“

Alan schluckte einen Bissen seiner Quattro Staggioni-Pizza hinunter und brummte, „Ich hätte nicht übel Lust, mal zu diesem Ressortleiter zu marschieren und ihm ordentlich die Meinung zu geigen. Das ist doch pure Ausbeutung, was da abläuft.“

„Ich weiß nicht, ob es wirklich ihr Chef ist, der von Renie so viel verlangt – auch wenn dieser Mathers wirklich ein Riesenaas ist“, meinte Maggie emphatisch. „Sie setzt sich auch selbst stark unter Druck, glaube ich. Dank Mark Taylor hat sie als blutige Anfängerin diesen Trainee-Posten beim Guardian bekommen, auf den selbst studierte Journalisten kaum je eine Chance haben. Und jetzt will sie dem neuen Ressortchef auf Teufel komm raus beweisen, dass sie den Platz in der Redaktion wirklich verdient hat.“

„Das war ja schon so, bevor sie nach Südamerika geflogen ist, um in diesem Palmölskandal weiter zu recherchieren. Trotzdem hat sie damals wenigstens ab und an ein Lebenszeichen gegeben. Dass sie sich jetzt so abkapselt, ist ganz untypisch für sie.“ John runzelte die Stirn.

„Na, in den nächsten Tagen kannst du ihr ja mal auf den Zahn fühlen. Dir erzählt sie noch am ehesten, was ihr auf dem Herzen liegt.“ Maggie lächelte John an, dann wurde ihr Blick streng.

„Morgen früh fahren wir um zehn Uhr ab. Bis dahin müsste Renie auch hier sein. Also, vor allem für unsere Turteltäubchen hier möchte ich noch einmal sagen: Wer nicht pünktlich im Bus sitzt, muss hier bleiben. Capisce?

Si, Signora“, erwiderten John und Pauline wie aus einem Munde.


Kapitel 4

 

„Alan, deine Waffeln sind ein Gedicht.“ Randvoll lehnte John sich in seinem Stuhl zurück und klopfte sich auf den Bauch. „Ich fürchte, wenn mein Dienst nächste Woche wieder anfängt, passe ich nicht mehr in meine Uniform.“

„Dann verschaff dir doch gleich mal ein bisschen Bewegung und räum den Tisch ab“, wies Maggie ihn an und notierte noch etwas auf ihrem neuen Einkaufszettel. „Tommy, du kannst den Picknickkorb und die Kühlbox schon mal raus in den Bus bringen.“

„Gleich, Mum.“ Tommy tippte und wischte in atemberaubendem Tempo auf seinem Tablet herum. „Ey, ich sag euch was, die haben hier besseres WLAN als wir zuhause, das ist ja krass.“

Jetzt, Sohn.“

„Ach Mum, jetzt nerv nicht schon wieder rum“, gab Tommy gleichmütig zurück, ohne aufzusehen. Pauline, die nach oben gegangen war, um mit ihren Eltern zu telefonieren, kam zurück in die Küche und half John, den Geschirrspüler einzuräumen.

„Alles ok bei euch zuhause?“, erkundigte sich John etwas bänglich. Nie würde er den Moment vergessen, als Pauline ihren Osterurlaub in London jäh hatte abbrechen müssen, weil niemand sonst da war, der sich um ihre Eltern hätte kümmern können.

„Ja, mach dir keine Sorgen, John.“ Sie gab ihm einen schnellen Kuss. „Ich hatte nacheinander Mum, Dad und Mary am Telefon und es geht allen gut.“

„Hat sich deine Mutter von dem Schlaganfall ein wenig erholt?“, fragte Maggie.

„Körperlich ja, würde ich sagen. Die endlosen Physiotherapien haben wirklich viel gebracht. Sie kann die linke Hand wieder richtig benutzen und auch die Kraft kommt allmählich zurück. Anders sieht es hier oben aus.“ Sie tippte sich an die Stirn. „Sie hat immer wieder kleine Aussetzer im Gedächtnis. Aber im Großen und Ganzen können mein Dad und sie ihren Alltag zumindest wieder halbwegs selbstständig gestalten.“

„Das freut mich, Pauline. Ich bin wirklich froh, dass unsere Eltern noch so fit sind. Und natürlich auch Tante Isabel in ihrem biblischen Alter.“ Maggie schüttelte lächelnd den Kopf. „Die Frau ist wirklich ein Phänomen –“ Eines der Handys, die auf der Anrichte lagen, läutete.

„Das ist meins.“ Maggie blickte kurz aufs Display. „Renie.“ Sie nahm ab. „Guten Morgen, Schatz. Wo bist du?“ Nach einem kurzen Wortwechsel legte sie wieder auf. „Renie steht im Stau. Sie kommt dann direkt nach Tintagel und trifft uns dort. Hinterher will sie unbedingt noch mit uns ins Bodmin Moor. Das ist in der gleichen Gegend, also schaffen wir beides heute, ohne uns hetzen zu müssen.“

„Das Bodmin Moor muss wunderschön sein“, meinte Pauline. „Aber was zieht Renie ausgerechnet dahin?“

„Dort wurden Szenen aus Poldark gedreht. Das ist ihre neue Lieblingsserie“, erklärte Maggie.

Pauline lächelte. „Mir hat die erste Staffel auch gut gefallen. Man kann da eine Menge über die Geschichte dieses Landstrichs lernen. Wer heute hierherkommt, kann sich ja gar nicht vorstellen, wie der Erzabbau früher hier das Leben bestimmt hat.“

Maggie lachte. „Ich glaube, für meine Tochter liegt der Reiz eher im Hauptdarsteller. Aidan Turner hat es ihr angetan.“

„Ah. Das ist verständlich. Er ist schon ein heißer Typ“, stellte Pauline fest.

„Ach, findest du?“, fragte John betont beiläufig.

„Natürlich nur, wenn man auf diesen dunklen Latin Lover-Typ steht“, beeilte sie sich, hinzuzusetzen. „Du weißt ja, dass für mich Colin Firth das Höchste der Gefühle ist. Und dem bist du ja glücklicherweise wie aus dem Gesicht geschnitten.“

John fuhr sich geschmeichelt durchs Haar. Gleich darauf jedoch verzog er entsetzt das Gesicht, als Pauline ankündigte, „Zu Weihnachten besorge ich dir endlich einen Rentierpullover. In dem würdest du bestimmt allerliebst aussehen.“

Maggie lachte schallend über die bekümmerte Miene ihres Bruders. „Auf den Anblick freue ich mich schon.“ Sie blickte auf die Uhr. „Fünf vor zehn. Alles fertigmachen zur Abfahrt.“

 

„Was ist denn hier los? Haben die irgendein Festival oder sowas?“ Annie kletterte aus dem Bus und betrachtete erstaunt die vielen bunten Flaggen, welche die Hauptstraße des Dörfchens Tintagel zierten.

Alan entdeckte ein Banner. „Willkommen zum Gralsritter-Symposium!“, las er amüsiert vor. „Das beginnt morgen. Gralsritter im 21. Jahrhundert? Was sind das für Freaks?“

„Oh, es gibt durchaus noch immer Leute, die denken, der Heilige Gral existiert und die auch danach suchen. Ernstzunehmende Historiker genauso wie eher abgedrehte Typen“, meinte Pauline. „Und Tintagel mit seiner engen Verbindung zur Artuslegende ist natürlich ein passender Ort für eine solche Zusammenkunft.“ Sie wies auf ein Schild, das über einer kleinen Pension angebracht war, ‚Gralsritter Willkommen! Doppelzimmer frei, Kontinentales Frühstück inklusive‘.

„Der Ort hier macht sicher ein schönes Geschäft mit der Tagung.“

„Und nicht nur damit. Die schlachten den Mythos wirklich komplett aus.“ David hatte eine Reihe kleiner Geschäfte auf der anderen Straßenseite entdeckt, die alles Mögliche feilboten, vom pseudomittelalterlichen Gewand über blecherne Ritterhelme und Zinnbecher bis hin zu runden Tischen, die Kopien des angeblich originalen ‚Ritter der Tafelrunde‘-Tisches waren, der in Winchester Castle stand.

„Was für ein Haufen Plunder“, urteilte Maggie kritisch. „Lasst uns gehen. Auf zur Burgbesichtigung!“

 

Das soll die Burg sein? Davon ist ja nicht gerade mehr viel zu sehen.“ David blickte vom Rand der Steilküste hinüber zu der Halbinsel, auf der die sagenumwobene Festung von Tintagel stand – oder vielmehr das, was davon übrig war. „Und darum machen die hier so ein Brimborium?“

„Da sind ja bloß ein paar blöde Steinmauern.“ Auch Christopher war sichtlich enttäuscht.

„Müssen wir den Kram echt besichtigen? Ich würde viel lieber zum Surfen gehen“, meckerte Tommy. Alans Gesichtsausdruck nach war er der gleichen Meinung wie sein Sohn, aber er enthielt sich wohlweislich jeden Kommentars.

Bella, die mit einem Fernglas zu den schroffen Felswänden der Halbinsel hinüberspähte, quiekte plötzlich, „Uih, ich glaube, das ist eine Alpenkrähe da drüben. Die sind total selten. Los, ich muss da rüber.“

John unterdrückte ein Schmunzeln. Barrys Geschenk für Bella war ein Buch gewesen, „Britische Küstenvögel“. Dieses hatte sie auf der Fahrt nach Tintagel schon eifrig studiert.

Die Aussicht, eine Krähe zu sehen, riss Tommy und Christopher offensichtlich auch nicht vom Hocker.

„Passt auf, wir stellen uns jetzt vor, es wäre nicht 2015, sondern das 13. Jahrhundert, die Blütezeit dieser Burg“, hob Pauline mit geheimnisvoller Stimme an. Sie ging neben Johns jüngstem Neffen in die Knie. „Du, Christopher, bist Baron Christopher von Cambridge.“

Die Idee schien ihm zu gefallen. „Cool.“

„Und wir sind dein Gefolge. Wir gehen Earl Richard besuchen, der diese Burg bauen hat lassen. Er war der Sohn von König John –“

„Der von der Magna Carta?“, unterbrach Bella.

„Ganz genau, Bella. Er hat seinen Sohn nach Richard Löwenherz benannt. Unser Richard hier war der größte Grundbesitzer von ganz England, ein wahnsinnig reicher Kerl. Und dem wollen wir jetzt unsere Aufwartung machen und uns seine neu gebaute Burg anschauen.“

Nun trapste Christopher bereitwillig voran. Maggie zwinkerte Pauline zu und beeilte sich, die Eintrittskarten zu besorgen. Während sie am Eingangstor standen und warteten, fragte Pauline, „Wie wären wir heute hierher gelangt, wenn wir im Mittelalter wären?“

„Mit Pferden! Und ich hätte das Größte“, krähte Christopher.

Pauline nickte. „Der Adel ist geritten, der Rest musste zu Fuß gehen. Aber auch mit dem Pferd hat man nicht mehr als vielleicht fünfzehn Meilen am Tag zurückgelegt, wenn man seinen Hofstaat dabeihatte.“

„Dann hätten wir ja statt fünfzig Minuten zwei ganze Tage von Newquay hierher gebraucht“, bemerkte Alan.

„Wahrscheinlich sogar noch mehr. Die Römer haben ja in großen Teilen des Landes Straßen gebaut, aber sie sind im Südwesten nicht über Exeter hinausgekommen. Hier in dieser Gegend gab es damals also kaum befestigte Wege und schon gar nicht verliefen die schnurgerade von einem größeren Ort zum anderen.“

Maggie kam mit den Karten zurück. Gerade steckte sie ihr Handy wieder weg. „Renie hat sich gemeldet. Sie braucht mindestens noch eine Stunde“, seufzte sie. „Wir sollen vorausgehen und sie findet uns dann schon, meint sie.“

Während sie den Eingang durchschritten, murmelte Tommy John neidvoll zu, „Ich wette, Renie chillt in Wirklichkeit bei dem super Wetter an irgendeinem Strand, die Glückliche – hey, was ist das da drüben?“, unterbrach er sich gleich darauf selbst. Er zeigte auf ein duster wirkendes Gebäude ein paar hundert Meter weiter rechts auf der Steilküste. „Das schaut eher aus wie eine Burg.“

Pauline folgte seinem Blick und schüttelte den Kopf. „Das ist das größte Hotel hier. Es stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts und wurde ursprünglich als Bahnhofshotel gebaut, aber die Bahnlinie kam nie. Wenn ich das richtig erkennen kann, flattert ein Banner über dem Eingang. Sieht aus wie die im Dorf, also findet dort vielleicht diese Gralsritterkonferenz statt.“ Sie wandte sich ab und deutete auf ein paar vereinzelte Mauerreste.

„Die Vorburg, also die äußere Befestigung, liegt hier auf dem Festland. Die eigentliche Burg sitzt da vorn auf dem Burgfelsen, der nach allen Seiten hin senkrecht ins Meer abfällt. Er ist einzig und allein über eine ganz schmale Landbrücke zu erreichen. Damit war Richards Burg selbst mit einer Handvoll Männern zur Not gegen eine ganze Armee zu verteidigen.“ Sie deutete in die Tiefe. „Durch Wind und Wasser ist diese Landbrücke so stark abgeschmirgelt, dass sie jetzt viel tiefer liegt als das Festland und der eigentliche Burgfelsen. Also müssen wir jetzt erst hinunter und danach drüben wieder hinauf.“

„Puh, sind das viele Treppen“, stöhnte David. „Gut, dass wir Mum und Dad nicht dabeihaben, das wäre wohl zu viel für sie. Eigentlich ist das sogar für mich zu viel.“

„Weichei“, neckte John seinen Bruder, kam aber dann selbst angesichts der hohen und recht schmalen Stufen gewaltig ins Schnaufen. Oben angekommen ließ Christopher sich geschafft ins Gras fallen und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. David tat es ihm gleich. Pauline zog ihr Handy heraus und filmte die Szenerie aus verschiedenen Blickwinkeln. Dann kam sie wieder zurück und verbeugte sich spielerisch vor Christopher.

„Baron Christopher von Cambridge, willkommen in Tintagel.“

Der Kleine nickte huldvoll mit dem Kopf.

„Wir befinden uns jetzt in der großen Halle der Burg, wo Earl Richard ein Festbankett zu Ehren seiner Gäste veranstaltet.“ Sie deutete nach vorn, wo eine halbhohe Steinmauer aufragte. „Dort, an der Stirnseite der Halle, steht erhöht wie auf einer kleinen Bühne die Tafel des Hausherrn. Die niederen Ränge sitzen dagegen in einfachen Bänken, die durch die ganze Halle nach hinten reichen.“

„Wie in Hogwarts. Da sitzen die Lehrer auch vorn an einem Tisch und die Schüler an den langen Bänken“, bemerkte Bella.

„Genau. Und die hochwohlgeborenen Gäste dürfen natürlich an der Tafel des Earls speisen. Was meint ihr, was er Leckeres auftischen wird?“

„Pommes mit Ketchup?“, fragte Christopher hoffnungsvoll.

Pauline schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, die stehen nicht auf der Speisekarte. Kartoffeln gab es damals hier nicht, genau so wenig wie Tomaten. Die stammen von einem Kontinent, über den die Engländer im dreizehnten Jahrhundert noch gar nichts wussten.“

„Amerika“, fiel es Bella ein.

Christopher zog eine Schnute. „Keine Pommes? Dann will ich Spaghetti mit Fleischbällchen.“

„Nudeln sind ebenfalls noch nicht bekannt, aber Fleischbällchen kann ich dir bieten. Zumindest, weil heute Sonntag ist. Mittwochs, freitags und samstags verbietet die Kirche den Genuss von Fleisch, genauso wie in der Fastenzeit und den ganzen Advent. Und daran muss sich selbst der Hochadel halten.“

„Dann gab es ja über die Hälfte des Jahres nur Fisch? Das wäre nichts für mich gewesen.“ Alan verzog das Gesicht.

„Für die Normalbevölkerung hat das Verbot keine große Rolle gespielt, weil Fleisch oder Fisch sowieso nur für die Reichen im Lande erschwinglich war“, erläuterte Pauline. „Die meisten Menschen haben sich von Brot, Gemüse und den paar Früchten ernährt, die hier wuchsen, wie Äpfel oder auch mal Birnen. Außerdem war man schon damals erfindungsreich. Ein Tier, das hauptsächlich im Wasser lebte, wurde einfach zu den Fischen gezählt: Biber, Seehunde, Wale, Nonnengänse … So konnte man ein wenig mehr Abwechslung in das Menü bringen.“

„Uäh“, Bella schüttelte sich. „Einen putzigen Biber oder einen Seehund essen, das ist ja eklig.“

Auch Christopher verzog das Gesicht. „Gibts dann zum Nachtisch wenigstens ein Schokoeis?“, fragte er.

Pauline schüttelte wieder den Kopf. „Kakao kommt auch erst in ein paar hundert Jahren aus der Neuen Welt. Zur Wahl stehen vielleicht ein Früchtekompott oder ein Bratapfel. Aber immerhin gibt es nach dem Essen ein Unterhaltungsprogramm. Der Minnesänger des Hofs trägt die Legende vor, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass Richard die Burg im frühen 13. Jahrhundert genau hier an diesem einsamen Fleckchen errichten ließ, wo seit Hunderten von Jahren so gut wie niemand gewesen war: die Geschichte der Geburt von König Artus.“ Sie machte eine Kunstpause.

„König Uther Pendragon traf auf einem Bankett die wunderschöne Lady Igraine und war sofort Feuer und Flamme. Diese Frau musste er haben! Nur leider war sie schon verheiratet, mit Herzog Gorlois von Cornwall. Der Herzog roch den Braten und schaffte Igraine schnellstens weg, hierher auf seine Burg. Da die Festung uneinnehmbar war, wähnte er seine Frau in Sicherheit und zog mit seinen Mannen wieder aus. Uther erreichte bei Nacht und Nebel Tintagel und merkte gleich: Hier kam er mit Gewalt nicht herein. Also befragte er seinen Berater, Merlin den Zauberer, der mit seinen magischen Kräften schon Stonehenge für den König erbaut hatte. Und was meinst du, Christopher, wie der Zauberer es angestellt hat, Uther unbemerkt hier herein zu Igraine zu bringen?“

„Er hat ihn in einen Vogel verwandelt und über die Mauer fliegen lassen?“, riet Christopher. Pauline schüttelte den Kopf.

„Er hat ihn unsichtbar gemacht?“

„Nein, auch nicht.“

„Er hat ihn in ein leeres Fass gesteckt und so getan, als würde er Wein liefern“, schlug Maggie vor. „Ihr wisst schon, wie bei Danny Kaye in ‚Der Hofnarr‘“.

„Der Wein mit der Pille ist im Becher mit dem Fächer, der Pokal mit dem Portal hat den Wein gut und rein …“, kam es wie aus der Pistole geschossen von John.

„Die Pille mit dem Becher ist in dem Wein mit dem Portal“, kam es von David.

Nahtlos übernahm Maggie, „Der Elch ist in der Pille und der Becher mit dem Fächer hat den Zecher.“

Alle drei lachten lauthals los. Während Tommy seiner kleinen Schwester einen Blick zuwarf und sich vielsagend an die Stirn tippte, kicherte Pauline los. „Den Film liebe ich auch. Aber Merlin hatte einen anderen Trick auf Lager. Er gab Uther das Antlitz von Herzog Gorlois und so kam der König in die Burg und verbrachte auch die Nacht mit Igraine, die ihn für ihren Mann hielt. Das Resultat neun Monate später war Artus, der hier das Licht der Welt erblickt haben soll. Merlin brachte den Jungen nach seiner Geburt zu einem vertrauenswürdigen Ritter, Sir Hector, wo er aufwuchs. Und den Rest der Geschichte kennt ihr: Nachdem er das Schwert Excalibur aus dem Stein gezogen hatte, enthüllte Merlin die wahre Herkunft des Knaben und Artus wurde König von Britannien.“

„Hah! Excalibur!“ Christopher sprang auf und fuchtelte herum, als würde er fechten. „Ich will auch ein Schwert. Daddy, kaufst du mir eins?“

„Vielleicht später. Jetzt sehen wir uns erstmal weiter hier um“, gab David zurück und stemmte sich ächzend hoch. Nachdem sie die Reste der Festungsanlage eingehend erkundet und zu Bellas Ärger vergeblich nach der seltenen Alpenkrähe Ausschau gehalten hatten, steuerten sie schließlich den Kiesstrand an, der zu Füßen des Burgfelsens verlassen dalag.

„Das ist der richtige Ort für unser Picknick“, beschloss Maggie. „Hier machen wir Mittagspause, bevor wir dann noch ins Bodmin Moor fahren. Dahin ist es nicht mehr weit.“

Pauline stimmte ihr zu. „Hier ist es sehr hübsch und bevor wir aufbrechen, können wir noch Merlins Höhle erkunden.“

„Merlins Höhle?“ Christophers Augen wurden kugelrund. „Wohnt der da drin?“

Pauline lächelte. „In der Artussage heißt es, Merlin wohnt in einer Höhle am Fuß von Artus’ Festung. Im Volksmund wird die Höhle da vorn“, sie wies ans Ende des Strandes, wo die Felswände sich steil erhoben, „schon lange mit Merlin in Verbindung gebracht. Es gibt auch eine Geschichte, dass Artus als Baby hier hilflos in der Brandung trieb und Merlin ihn in dieser Höhle in Sicherheit brachte.“

„Gehen wir jetzt gleich hin?“, bat Christopher begierig.

„Nein, das geht nicht, da würden wir nasse Füße kriegen. Die Flut muss erst noch ein Stück weiter zurückgehen, dann liegt der Eingang frei“, erklärte Pauline.

„Außerdem können wir jetzt eine kleine Stärkung brauchen“, ließ David sich vernehmen. „Mir knurrt schon der Magen.“ Grinsend wandte er sich an Maggie. „Haben wir einen leckeren Biber dabei?“

„Biber war bei Tesco leider aus, aber du kannst gleich mal zusammen mit Alan die Vorräte aus dem Auto holen, Brüderchen“, gab sie zurück. „Und vergesst die Picknickdecken nicht.“

 

Als David und Alan zurückkamen, schwenkte David eine große Tüte mit der Aufschrift ‚English Heritage‘.

„Da oben gibt es einen richtig schönen Shop“, berichtete er etwas atemlos und stellte den Picknickkorb auf einem flachen Felsen ab. „Dahin habe ich gleich mal einen Abstecher gemacht. Schau mal, Christopher, was ich hier habe.“

Er zog ein Holzschwert aus der Tüte, dazu einen Schild, auf dem ein feuerspeiender Drache aufgemalt war. Christopher stieß ein Freudengeheul aus. „Daddy, du bist der Beste!“ Gleich darauf sprang er mit seinem neuen Spielzeug wie ein Derwisch über den Strand. Tommy bewaffnete sich mit einem Stück Treibholz und focht einen Kampf mit seinem kleinen Cousin aus, während das Essen ausgepackt wurde. Nachdem sich alle über die Leckereien hergemacht hatten, breitete sich allgemeine Schläfrigkeit aus. Die Sonne schien, ein angenehmes Lüftchen wehte vom Meer her und die Wellen des Bristol Channel schwappten leise an den Strand. So, wie die ganze Familie ermattet am Strand lag, erinnerte sie John an eine Kolonie sattgefressener Robben.

„Was hältst du davon, wenn wir die Höhle schon mal erkunden?“, hauchte Pauline ihm ins Ohr. Schlagartig erwachten Johns Lebensgeister wieder. „Phantastische Idee“, flüsterte er zurück. Beide erhoben sich möglichst geräuschlos. Maggie öffnete als einzige ein Auge und lugte zu ihnen herüber.

„Wir sehen uns die Höhle schon mal an, bevor wir mit den Kindern reingehen“, raunte John. Maggie gab lediglich ein Grunzen als Antwort. Pauline ergriff Johns Hand und sie schlichen davon. Als sie außer Hörweite waren, entfuhr Pauline ein Kichern. „Ich fühle mich wie ein Teenager, der sich von einer Party davonstiehlt, um ein ruhiges Plätzchen für ein, äh, Stelldichein zu finden.“

John blieb stehen und setzte eine entgeisterte Miene auf. „Aber Ms. Murray, Sie wollten mich doch wohl nicht mit unlauteren Absichten fortlocken. Ich dachte, wir wollen dem Regionalmythos nachgehen und über die Geeignetheit der Höhle für eine Exkursion mit Kindern entscheiden –“

„Halt die Klappe“, beschied sie ihm liebevoll und zog ihn die letzten Schritte zu dem übermannshohen Höhleneingang. Hier war der Boden sandig und von der eben erst zurückgegangenen Flut schwer und nass. Nach der strahlenden Helligkeit draußen kam es John bei den ersten Schritten so vor, als tappe er in schwärzeste Dunkelheit. Gleich darauf jedoch blinzelte er überrascht in ein paar Lichtstrahlen, die von vorn zu kommen schienen.

„Die Höhle ist eigentlich ein gekrümmter Durchlass, der durch den ganzen Burgfelsen reicht, ungefähr hundert Meter lang“, erklärte Pauline und sah sich staunend um. Zu Johns Leidwesen schien ihr Forscherdrang die Oberhand gewonnen zu haben und hatte sie vergessen lassen, warum sie hierhergekommen waren. Schon hatte sie ihr Smartphone in der Hand und schoss ein paar Bilder. Dann aktivierte sie die Videofunktion.

„Würdest du bitte kurz zur Seite gehen?“, bat sie John. „Ich will das hier für meinen Unterrichtsfilm aufnehmen.“ Sie drehte sich einmal langsam im Kreis, dann strebte sie weiter und verschwand, das Handy immer noch im Anschlag, um eine Biegung, wo die dunklen Felswände sich von beiden Seiten heranschoben und der Spalt sich verengte. Gleich darauf hallte ein gellender Schrei durch die Höhle.

„Pauline!“ John stürzte um den Felsvorsprung, der sie seinen Blicken entzog. Grenzenlos erleichtert sah er sie vor sich stehen, stocksteif, das Smartphone immer noch in der Hand. Offensichtlich war sie unversehrt.

„Was ist los, mein Liebling?“ Da erblickte er über ihre Schulter hinweg eine Gestalt, die verkrümmt auf dem Boden zwischen zwei Felsen lag. Ein Mann in dunkler Kleidung, die sich mit Wasser vollgesogen hatte. Ein Auge starrte blind ins Nichts. Die zweite Augenhöhle war – leer. John schlug sich die Hand vor den Mund, als eine Welle der Übelkeit ihn erfasste.

„Huhu! John! Pauline! Ich hoffe, ich störe nicht?“, drang plötzlich eine fröhliche Stimme vom Höhleneingang zu ihnen.

 


Kapitel 5

 

John löste sich aus seiner Erstarrung. „Renie! Wir sind hier hinten!“

„Hey, ihr zwei!“ Seine Nichte eilte beschwingt auf sie zu und fiel ihm um den Hals.

„Die anderen pennen alle, bis auf Mum“, berichtete sie aufgekratzt. „Sie sagte, ich sollte euer Tete-a-tete lieber nicht stören, aber ich dachte mir – he, was ist los?“, unterbrach sie sich selbst, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Und schon hatte sie wie ein Bluthund Witterung aufgenommen und wollte sich an ihm vorbeidrängen. John stellte sich ihr in den Weg.

„Das willst du dir nicht ansehen, Renie. Komm mit uns nach draußen.“ Sanft nahm er Pauline bei den Schultern, die immer noch regungslos dastand, und drehte sie zu sich herum.

„Wir gehen jetzt hinaus und rufen die Polizei. Die kümmern sich darum“, sagte er leise.

„Oh? Oh ja, das ist wohl das Beste“, murmelte sie. „Der arme Mann.“ Sie realisierte, dass sie immer noch filmte, schaltete die Kamera aus und ließ sich von John in Richtung Höhleneingang schieben. Renie jedoch hatte sich beim Wort ‚Polizei‘ blitzartig an ihnen vorbeigedrückt und war in dem schmalen Felsdurchlass verschwunden. John geleitete Pauline zum Eingang der Höhle. Im hellen Sonnenlicht schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen und sie wählte sogleich die Notrufnummer. Er drückte stumm ihre Hand und trat zurück ins Dunkel.

„Renie! Komm jetzt da heraus! Pauline alarmiert gerade die Polizei.“ Wie zu erwarten, reagierte seine Nichte nicht. Grummelnd ging John zu ihr. Als er sie erreichte, bemerkte er mit Entsetzen, dass Renie direkt neben dem Toten kniete und mit ihrem Handy ein Foto nach dem anderen schoss.

„Verdammt, Renie, was soll das?“, empörte er sich. „Bist du jetzt endgültig zu so einem widerlichen Pressegeier mutiert, der für eine Schlagzeile buchstäblich über Leichen geht? Lass jetzt diesen armen ertrunkenen Mann zufrieden.“

„Hah, von wegen ertrunken. Schau doch mal her!“

Widerwillig kam John einen Schritt näher und beugte sich nach vorn. Nun konnte er etwas rundes, metallisch Glänzendes sehen, das neben dem Körper des Toten lag, halb von seiner vollgesogenen Jacke verdeckt.

„Was ist das?“

Renie hielt ihm triumphierend ein Foto des Gegenstandes auf ihrem Smartphone entgegen. „Wenn das kein Kelch ist, fress ich nen Besen“, sagte sie. „Mensch, stell dir vor, was das für eine Story gibt. Ein Mordfall mitten im Burgberg von Tintagel. Das Opfer umklammert mit seinen sterbenden Händen ein Gefäß, das verdammt dem sagenhaften Gral ähnelt – und das, kurz bevor Horden von selbsternannten Gralsrittern hier im Ort einfallen. Das wird ein Kracher! Und zwar einer von epischen Ausmaßen.“ Sie gab einen beglückten Seufzer von sich.

Jetzt reichte es John. Er packte Renie am Arm und zog sie in Richtung Ausgang.

„Du spinnst doch“, knurrte er. „Weiß der Himmel, wie der Mann zu Tode gekommen ist. Auf jeden Fall hat er mehr Respekt verdient, als von dir locker-flockig für eine reißerische Reportage verwurstet zu werden.“

Renie schluckte und sah plötzlich ganz kleinlaut drein. „Aber so habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich … ich dachte nur …“

Sie hatten den Höhlenausgang erreicht, wo Pauline mit Maggie und Alan stand.

„Das mit der Polizei ist hier gar nicht so einfach“, berichtete sie. „Die nächste Dienststelle ist in Bodmin. In Tintagel selbst gibt es nur einen Mini-Außenposten mit einem einzigen Beamten. Die Zentrale hat mich zu ihm durchgestellt. Aber ob er uns eine große Hilfe sein wird, wage ich zu bezweifeln.“

„Wie meinst du das?“, fragte John.

„Naja, sagen wir mal, seine Begeisterung über meine Meldung hat sich in Grenzen gehalten. Nach dem Lärm zu schließen, den ich im Hintergrund gehört habe, glaube ich, er verbringt seinen Sonntag im Pub.“

Maggie runzelte die Stirn. „Oje. Wird er sich denn hierher bequemen? Oder kommt eine Streife aus Bodmin?“

„Das ist mindestens eine halbe Stunde weg“, warf Alan ein.

Pauline schüttelte den Kopf. „Der Polizist – er heißt PC Elliott, glaube ich – knurrte, er müsste sich die Leiche erstmal selbst anschauen. Nicht, dass die Kripo umsonst ausrückt.“

„Okay, das kann ja nicht so lange dauern, bis er hier ist. Der einzige Pub, den ich im Ort gesehen habe, ist höchstens zehn Minuten zu Fuß entfernt.“ Alan sah über den Strand. Annie hatte sich aufgesetzt und sah zu ihnen herüber. Der Rest der Familie schien immer noch in Morpheus’ Armen zu liegen.

„Ich gehe zu den anderen“, entschied er. „Maggie, du bleibst am besten hier. Wenn dieser Polizist sich als bockig erweist, kannst du ja –“

„Mein ganzes Gewicht als Staatsanwältin in die Waagschale werfen. Wieder mal“, ergänzte sie etwas verdrießlich. „Hoffen wir, dass das nicht nötig wird. Ich habe absolut keine Lust, mich in unserem Familienurlaub mit so etwas Unerfreulichem zu beschäftigen.“

Alan gab ihr einen Kuss und entfernte sich.

„Renie, willst du nicht auch gehen und den anderen Hallo sagen?“, fragte Maggie.

„Lassen wir sie doch lieber weiterrüsseln“, gab Renie zurück, die mit einem Stirnrunzeln die Aufnahmen auf ihrem Handy begutachtete. „Ich wette, Christopher macht sonst einen mordsmäßigen Terz, dass er in die Höhle will.“

Maggie musste ihr recht geben.

„Außerdem sind meine Bilder nicht so gut geworden. Ich muss da nochmal rein“, fuhr Renie fort und machte schon Anstalten, wieder in die Höhle zu verschwinden.

„Halt, halt, Fräulein“, stoppte Maggie sie energisch. „Bevor nicht klar ist, ob es sich hier um einen Tatort handelt, bleibst du da gefälligst weg.“

„Aber, Mum“, protestierte Renie und stemmte die Hände in die Hüften. „Da drin hat die Flut sowieso alle Spuren weggespült, falls es welche gab. Ich fasse auch nichts an. Ich will nur noch ein paar Fotos schießen – hey, da fällt mir ein, Tommy hat doch sicher seine Superkamera dabei? Die könnte er mir leihen –“

„Nichts da“, schnitt Maggie ihr das Wort ab. „Du weißt genau, wie ich zu sensationslüsternen Schreiberlingen stehe –“

„Ich bin kein sensationslüsterner Schreiberling!“, fauchte Renie.

Pauline trat angesichts des Mutter-Tochter-Gezänks unwillkürlich einen Schritt zurück und zuckte erschrocken zusammen, als sie gegen jemanden prallte.

„Oh, Verzeihung.“ Sie wandte sich um. Gleich darauf entfuhr ihr ein undefinierbarer Laut, woraufhin auch John sich umsah. Als er den Neuankömmling erkannte, weiteten sich seine Augen: Merlin!

Tha mi duilich“, äußerte der selbsternannte Zauberer. Sein Ton war höflich, aber die Augen, die aus dem zerfurchten Gesicht herausblickten, waren kalt. „Lass mich vorbei, Boireannach.“

Nun wurden auch Maggie und Renie aufmerksam. Fasziniert starrte Johns Nichte den zotteligen Alten an.

„Verzeihung, Sir, sind Sie …“

„Merlin.“ Er neigte leicht das Haupt.

„Das ist ja spannend. Dürfte ich Sie interviewen? Ich arbeite für den Guardian.“ Schon hatte Renie ihren Presseausweis hervorgeholt und präsentierte ihn stolz.

Dafür hatte der Mann jedoch nur einen verächtlichen Blick übrig. Er setzte sich in Bewegung, auf die Höhle zu. Maggie stellte sich ihm hurtig in den Weg.

„Tut mir leid, die Höhle darf jetzt nicht betreten werden.“

Dè? Dies ist Merlins Höhle.“ Als sei damit alles gesagt, klopfte der Alte mit seinem langen Stock einmal auf den Boden und machte einen weiteren Schritt vorwärts. John kam seiner Schwester zu Hilfe.

„Wir können Ihnen leider keinen Zugang gewähren, Sir. Die Polizei ist auf dem Weg hierher und bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, darf niemand hinein.“

„Polizei?“ Merlin verharrte einen Moment, drehte sich dann um und schritt wortlos von dannen.

„Was war das denn für ein Vogel?“, fragte Renie.

„Das war doch derselbe Mann, den wir gestern in Stonehenge gesehen haben, oder?“, fragte Maggie John.

Bevor er etwas sagen konnte, bemerkten sie einen beleibten Uniformierten mit imposantem Walrossschnauzbart, der auf sie zugeschnauft kam. Er winkte schon von Ferne und rief, „Ist hier die Dame, die eine Leiche gemeldet hat?“

Pauline hob die Hand. „Das war ich.“

„Aha.“ Als er sie erreicht hatte, legte er grüßend zwei Finger an seine Mütze. „Police Constable Duncan Elliott. Und Sie sind?“

Er notierte ihre Namen und Heimatadressen auf einem kleinen Block, den er aus der Jacke zog. Da er sich dabei alle Angaben umständlich buchstabieren ließ, dauerte diese Prozedur eine ganze Weile. Schließlich platzte Renie heraus, „Wollen Sie sich nicht endlich die Leiche anschauen?“

Der Polizist fixierte sie verdrossen mit seinen wässrigen kleinen Äuglein. „Miss, ich weiß, dass ihr Leute aus der Hauptstadt meint, dass wir im Rest des Landes alle Hinterwäldler sind. Aber glauben Sie mir, ich weiß nach sechsunddreißig Jahren im Polizeidienst, wie man eine Untersuchung zu führen hat.“

Er wandte sich an Pauline. „So, Ms. äh, wie war doch noch mal der Name, ah ja, Murray. Jetzt schildern Sie mir doch mal genau, warum Sie meinen, dass der Mann, den Sie in der Höhle gesehen haben, tot sein soll und nicht einfach ein Schläfchen hält.“

Pauline warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Officer, wenn Sie sich die Leiche ansehen, werden Sie auf den ersten Blick sehen, dass sie, naja, eben tot ist.“

„Soso. Und was macht Sie da zur Expertin, wenn ich fragen darf? Haben Sie schon des Öfteren eine Leiche gesehen?“

„Nein“, musste Pauline eingestehen.

„Aha. Sagen Sie mal, was sind Sie eigentlich von Beruf?“

Kaum hatte Pauline geantwortet, „Lehrerin“, stieß Elliott ein abfälliges Grunzen aus. „Du liebe Güte. Lehrer. Die meinen ja immer, sie haben die Weisheit mit dem Löffel gefressen. Nichts für ungut“, setzte er hinzu.

John, der ein unheilverkündendes Blitzen in Paulines Augen sah, trat schnell vor sie und sagte, „Der Mann da drin ist definitiv tot, Officer. Nach dem ersten Eindruck würde ich sagen, er hat die ganze Nacht im Wasser gelegen. Irgendein Tier hat eines seiner Augen … gefressen.“

„Soso. Na, dann wird es wahrscheinlich irgend so ein armer Teufel sein, der von der Flut überrascht worden und ersoffen ist. Bestimmt wieder mal so ein leichtsinniger Tourist.“ Elliott strich sich über seinen mächtigen Schnauzbart und brummte, „Humpf. Das wäre schlecht für unseren Fremdenverkehr. Wir müssen schauen, dass wir das unter der Decke halten. Wenn das Gesocks von der Presse Wind davon kriegt, dann Gute Nacht.“

Renie zog scharf die Luft ein und öffnete den Mund. Nach einem warnenden Blick ihrer Mutter klappte sie ihn jedoch wieder zu.

Unvermittelt zeigte der Constable auf John und wies ihn an, „Sie zeigen mir jetzt die Leiche. Die Damen bleiben hier draußen.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an. „Wir wollen die zarten Gemüter nicht unnötig belasten.“

Während John voraus ins Dunkel schritt, konnte er sich lebhaft vorstellen, was die drei „zarten Gemüter“ über die hiesige Ordnungsmacht zu sagen haben würden.

Er spürte, dass Elliott ihm dicht auf den Fersen blieb, auch als sie den von einzelnen Lichtstrahlen erhellten Teil der Höhle erreichten. Die Ausdünstungen des Constables – eine Mischung aus Bierfahne, Schweiß und einer zu lange ungewaschenen Uniform – umwaberten John. Er beeilte sich, zu der Stelle zu kommen, wo sie den Toten gefunden hatten. An dem Felsdurchlass blieb er stehen und trat zur Seite.

„Dahinter liegt er“, sagte er.

„Aha.“ Mit sichtbarem Widerwillen näherte sich Elliott dem Spalt. „Das ist ja eine verflucht ungünstige Stelle.“ Er nahm die Mütze ab und wischte sich über die verschwitzte Stirn. „Gott, ich hasse es, wenn alles so eng ist.“ Ein unwillkürlicher Schauer überlief ihn. „Das Schlimmste ist, wenn sie einen in die Röhre stecken, finden Sie nicht? Ich hatte es mal am Rücken und da musste ich in so ein Ding rein. Ich sage Ihnen, das ist die Hölle.“

Es bedurfte einigen guten Zuredens von John, bis der Polizist sich überwinden konnte, zu der Leiche vorzudringen. Da sich der Durchlass im Berg dahinter wieder weitete und die Öffnung zur anderen Seite nicht mehr weit entfernt war, atmete Elliott wieder ruhiger.

„Na gut, dann sehen wir uns das mal an“, murmelte er und beugte sich über den Toten.

„Herrjemine, das ist ja Harvey!“, rief er aus. „Ach du grüne Neune.“ Er richtete sich hastig wieder auf und geriet leicht ins Schwanken. John sprang herbei, um ihn zu stützen.

Elliott klammerte sich an seinen Arm. „Danke. Das … war ein Schock. Und die alte Pumpe macht auch nicht mehr so richtig mit.“ Er klopfte sich an die Brust.

John überlegte einen Moment, ob er den Constable auf den unzweifelhaften Zusammenhang von hohem Alkoholkonsum und Herz-Kreislaufschäden hinweisen sollte, unterließ es jedoch. Stattdessen fragte er, „Sie kennen den Toten?“

Elliott nickte. „Das will ich meinen. In einem Dörfchen wie Tintagel kennt jeder jeden. Das ist Harvey Reynolds. Der größte Artus-Spinner von ganz Cornwall. Hat immer behauptet, König Artus persönlich wäre ihm erschienen. Total durchgeknallt, wenn Sie mich fragen.“

Er tippte sich vielsagend an die Stirn. „Aber immerhin hat er auch etwas für den Ort getan. Alle zwei Jahre hat er diese Gralsrittertreffen auf die Beine gestellt und damit Übernachtungsgäste hergelockt. Die können wir dringend brauchen.“ Plötzlich stöhnte er auf. „Du liebes bisschen, er wird sich doch nicht wegen Guinevere ertränkt haben.“

„Guinevere??“ König Artus’ Frau, die ihn der Sage nach mit Lancelot betrogen und dem König damit das Herz gebrochen hatte? Wenn Reynolds sich aus Verzweiflung darüber umgebracht hatte, musste sein Wahn wirklich sagenhafte Ausmaße angenommen haben, dachte John bei sich.

„Ja, Guinevere. Seine Hündin. Sie war sein Ein und Alles. Er war gestern bei mir auf dem Revier und hat sie als vermisst gemeldet. Völlig fertig war er deswegen, der arme Kerl.“

Er raufte sich den grauen Schopf. „Er wollte unbedingt, dass ich ein Spurensicherungsteam zu ihm schicken soll, weil das Vieh entführt worden wäre. Hah! Ich hab ihm gesagt, dass ich auf meinem Rundgang Ausschau nach der Töle halten würde, mehr wär nicht drin. Ich bitte Sie, ein Spurensicherungsteam! Da wäre mir der Commissioner sauber aufs Dach gestiegen, wenn ich wegen sowas mitten in der Urlaubszeit Leute anfordere.“

John, der das unaufhörliche Lamento seines Cousins, Superintendent Whittington von Scotland Yard, über die Sparzwänge bei der britischen Polizei nur allzu gut im Ohr hatte, nickte verständnisvoll.

„Hatte Reynolds denn irgendwelche handfesten Hinweise auf eine Entführung?“

Elliott schüttelte den Kopf. „Von einer Lösegeldforderung oder so hat er nichts gesagt. Er hat nur gemeint, dass es doch verdächtig wäre, dass Guinevere so kurz vor der Hundeausstellung in Newquay verschwindet. Da wollte er unbedingt noch einen Pokal holen.“

John spitzte die Ohren. Ob Tante Isabel mit ihrer Unzahl an Bekannten in der Hundewelt den Toten wohl kannte? Sie hatte jahrzehntelang nicht nur Hunde ausgestellt, sondern war auch Richterin bei Zuchtwettbewerben gewesen.

„Was für eine Art Hund ist Guinevere?“, fragte er.

„Ach, so eine veredelte Ratte mit langen Haaren. Für mich ist sowas gar kein richtiger Hund“, meinte der Constable abfällig. „Mit Schleifchen auf dem Kopf und so Zeug. Zu nichts nutze. Bah.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber es gibt jede Menge Leute, die für so kleines Kroppzeug einen Haufen Geld zahlen. Und Guinevere war nicht bloß Harveys Liebling, sondern auch sein wertvollstes Tier.“

„Also hatte er noch mehr Hunde?“

„Ja, ja. Er ist – oder war – ein richtiger Züchter. Dreimal dürfen Sie raten, wie sein Zwinger heißt.“ Elliott gluckste. „Camelot! Können Sie sich das vorstellen? Camelot. Harvey war schon eine Type. Der kannte nur zwei Leidenschaften: Artus mitsamt dem Heiligen Gral und seine kleinen Kläffer.“ Er schüttelte den Kopf. „Ach je, es muss jemand nach den Biestern sehen, jetzt wo Harvey nicht mehr da ist“, fiel es ihm ein. „Und dann müssen wir schauen, was aus diesem Gralsritterdings wird. Das soll ja am Dienstag Abend losgehen.“ Anklagend deutete er auf den Toten.

„Harvey, du alter Schwachkopf. Musstest du mir das antun? So ein Haufen Arbeit, und noch dazu am Sonntag.“ Er stülpte sich die Mütze wieder auf den Kopf und wandte sich ab. „Kommen Sie, Mr. Mac.. äh, dings, wir gehen. Ich brauche jetzt erstmal eine Stärkung und dann muss ich überlegen, wie ich das alles auf die Reihe kriege. Und dann muss ich auch noch einen Bericht schreiben.“ Es folgte ein abgrundtiefer Seufzer.

Entgeistert blickte John den Beamten an. „Sie wollen jetzt einfach gehen? Aber …“ Er verstummte. Unwillkürlich sah er nach oben. War er bei einer Episode der Versteckten Kamera gelandet? Was für eine Art von Ermittlungsarbeit sollte das sein? War Duncan Elliott überhaupt ein echter Polizist? Er musterte sein Gegenüber einen Moment und kam resigniert zum Schluss, dass er offenbar dem Paradebeispiel eines vertrottelten Dorfbobbys gegenüberstand, der ansonsten wohl nur noch in Romanen á la Agatha Christie zu finden war. Es war kein Wunder, dass Elliott selbst nach Jahrzehnten im Polizeidienst nicht über den Rang eines Constables hinausgekommen war.

„Werden Sie die Kriminalpolizei anfordern?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Humpf. Das muss der Inspektor aus Bodmin entscheiden, ob er an einem Sonntag ausrücken will. Ich werde ihm melden, was ich gesehen habe und er wird dann schon wissen, was zu tun ist. Ah, da fällt mir doch was ein.“ Triumphierend zog Elliott ein Smartphone aus der Uniformjacke. „Ich mache ein paar Fotos und die schicke ich ihm. Ja, auch wir sind auf dem neuesten Stand der Technik. Da staunen Sie, was?“ Beifall heischend sah er John an.

„Äh … ja. Sehr beeindruckend.“

Halb amüsiert, halb mitleidig beobachtete John, wie der Constable mit seinen dicken, verschwitzten Fingern unbeholfen über den Bildschirm wischte und ärgerlich etwas vor sich hinmurmelte, das sich verdächtig nach „Neumodisches Dreckszeug“ anhörte. Schließlich hatte er es geschafft, die Kamerafunktion zu aktivieren. Er drückte ein paarmal auf den Auslöser. John konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die durch die zittrigen Hände des Constables verwackelten Aufnahmen im Halbdunkel der Höhle etwas Verwertbares zeigten. Er überlegte, ob er taktvoll anbieten sollte, das Fotografieren zu übernehmen, als Elliott das Telefon wegsteckte. „Das muss reichen.“ Er schickte sich an, zu gehen.

„Ähm, Constable … haben Sie dieses Gefäß gesehen, das unter dem Toten liegt?“, fragte John schnell.

Elliott knurrte, „Gefäß? Was für ein Gefäß?“ Nur mit äußerstem Widerwillen ließ er sich herbei, sich dem Toten noch einmal zu nähern.

„Na, da brat mir doch einer nen Storch“, rief er dann unvermittelt aus. „Das wird doch nicht … das kann doch nicht … nein, das gibts nicht.“ Er schüttelte den Kopf.

„Was kann nicht sein?“, erkundigte sich John.

„Na, Harvey hat ja dauernd vom Gral geredet. Er ist schon auf der ganzen Welt rumgereist, sogar auf dem Kontinent, und hat ihn gesucht. Er hatte irgendwie eine fixe Idee, dass es das Ding wirklich gibt. Und jetzt liegt er da ausgerechnet mit einem Kelch in Merlins Höhle. Das ist ja …“ Dem Constable schienen die Worte zu fehlen.

„Sollten Sie vielleicht noch ein Foto von dem Kelch machen?“, regte John an.

„Hm. Ja. Wahrscheinlich“, brummte Elliott und zog das Smartphone wieder hervor. Beim Versuch, es in Gang zu setzen, rutschte es ihm aus den Fingern und landete mit der Kante mitten auf der Nase des Toten.

„Oha“, kommentierte der Constable und bückte sich ächzend. Und schon nahm das Unglück seinen Lauf. Nach vorn gezogen von seiner beträchtlichen Wampe verlor Elliott das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Hilflos ruderten seine Arme in der Luft, ohne Halt zu finden.

John, der ein paar Schritte entfernt stand, konnte nicht rechtzeitig reagieren. So musste er zusehen, wie der Polizist, einem Sack Mehl gleich, auf die Leiche von Harvey Reynolds plumpste.

Während Elliott mit einem gutturalen „Uuuuf“ niederging, vernahm John plötzlich ein Wispern, „Oh … mein … Gott.“ Er fuhr herum. Hinter ihm stand Renie, die sich unbemerkt herangeschlichen hatte. Sie hielt ihr Handy hoch und filmte die skurrile Szene mit einem Ausdruck ungläubigen Entzückens.

Ausnahmsweise war John froh, dass seine Nichte ihren Reporterinstinkten gefolgt war und das Geschehen festgehalten hatte. Ansonsten hätte ihm sicher niemand geglaubt, wie die Ermittlungsmethoden der britischen Polizei im 21. Jahrhundert aussehen konnten.


Kapitel 6

 

„Was die Todesursache betrifft, kann ich beim Zustand der Leiche erst nach der Autopsie eine Aussage machen. Was ich auf jeden Fall feststellen konnte, sind Rippenfrakturen. Die wurden dem Toten allerdings erst postmortal beigebracht“, vermeldete der Gerichtsmediziner lakonisch.

Detective Inspektor Brown warf einen ungehaltenen Blick auf den unglückseligen Constable und seufzte vernehmlich. Dass er den Beamten nicht an Ort und Stelle teeren und federn ließ, war wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass John, Renie und Pauline anwesend waren.

Das winzige Revier in Tintagel platzte aus allen Nähten. Die gesamte Dienststelle, bestehend aus einem Büro, einer Nass- und einer Arrestzelle, war kleiner als die Küche des Ferienhauses in Newquay. Der Inspektor hatte einen Mann in den Pub nebenan schicken müssen, um ein paar Stühle auszuborgen.

Nun drängten sie sich zu siebt im Büroraum und selbst das offene Fenster konnte nicht verhindern, dass die Luft zum Schneiden dick war. Letzteres mochte auch daran liegen, dass die Kriminalbeamten aus Bodmin ihren Zorn auf Constable Elliott nur mühsam im Zaum halten konnten. Elliott wiederum fixierte Renie mit mordlüsternen Blicken, nachdem sie dem Inspektor das Video seines demütigenden Niederfalls gezeigt hatte. Dabei konnte der Polizist noch froh sein, dass er bei seinem Sturz dank seines umfangreichen Polsters unbeschadet davongekommen war – anders als die Leiche Harvey Reynolds’.

John griff nach Paulines Hand. In ihren Augen las er den sehnsüchtigen Wunsch, wegzukommen von diesem übervölkerten und wenig ansprechend riechenden Ort, an dem sie nun schon fast zwei Stunden festsaßen.

„Fahrt weiter ins Moor“, hatte John Maggie und den Rest der Familie gedrängt. „Wir kommen hier sicher so schnell nicht weg, aber es macht keinen Sinn, dass ihr den schönen Tag auch vergeudet. Wir können mit Renie zurück nach Newquay fahren.“

Seine Schwester hatte sich zuerst gesträubt. Aber Bella war ganz versessen darauf, sich die Ponys anzusehen, die angeblich frei im Moor herumliefen und auch Christopher war immer quengeliger geworden. Dass er die versprochene Höhle nun doch nicht erkunden durfte, gefiel ihm gar nicht. Noch dazu hatte David ihm verraten, dass es im Bodmin Moor einen Ort namens Minions gab. Dort hatten die Universal Studios als Werbung für den nächsten Kinofilm ein neues Ortsschild aufgestellt, das die kleinen gelben Gesellen zeigte. Nun konnte Christopher es logischerweise gar nicht mehr abwarten, dorthin zu fahren. Schließlich hatte Maggie eingesehen, dass es für alle Seiten stressfreier war, wenn sie sich auf den Weg machten.

 

Während Renie mit Argusaugen verfolgte, was vor sich ging und im Kopf wahrscheinlich schon einen Artikel formulierte, wünschte John sich verdrossen, sie hätten die vermaledeite Höhle niemals betreten.

D.I. Browns Telefon klingelte. Er sah auf das Display und verzog das Gesicht. „Vivian-Schatz“, meldete er sich dann. „Ich weiß, dass ich versprochen habe, zum Spiel zu kommen. … Nein, ich werde es auch nicht zur zweiten Halbzeit schaffen. Ich habe hier einen sehr merkwürdigen Todesfall am Hals. Sag Danny toi, toi, toi von mir und dass es mir leid tut.“

Er legte auf und sah mit leidender Miene in die Runde. „Wir spielen heute gegen Wadebridge. Mein Sohn steht im Tor. Und ich bin nicht dabei.“

Der Pathologe schnaubte. „Bei mir zuhause tobt mein Enkel, weil ich ihm versprochen hatte, dass wir heute Nachmittag zusammen an seinem Baumhaus arbeiten.“

„Bei mir schaut es auch nicht besser aus“, meldete sich Browns Sergeant zu Wort. „Meine Freundin jammert mir sowieso ständig die Ohren voll, weil wir keine Zeit zusammen haben. Und jetzt ist auch noch der Sonntag im Arsch. Aber ab morgen trete ich meinen versprochenen Urlaub an, das sage ich euch. Komme, was wolle.“

„Ist ja gut, Sergeant“, brummte der Inspektor.

„Und nach mir kräht natürlich wieder kein Hahn“, kam es plötzlich erbittert von Constable Elliott, der bisher die meiste Zeit schweigend vor sich hin geschmollt hatte. „Ja, klar, die Freizeit der gnädigen Herren von der Kripo ist natürlich wertvoller als die von einem armen Dorfpolizisten, der sich tagein, tagaus um die Belange der Bevölkerung kümmert –“ Er verstummte, als Inspektor Brown jäh aufsprang und sich bedrohlich vor ihm aufbaute.

„Sie!“, zischte er. „Sie halten jetzt aber ganz schnell den Rand. Sie sind doch schuld daran, dass die Kacke hier erst so richtig am Dampfen ist, Sie …“

Nun hatte John genug. Er stand auf. „Meine Herren, Sie brauchen uns nicht mehr, nehme ich an. Wenn wir Ihnen noch irgendwie weiterhelfen können – Sie haben ja unsere Kontaktdaten.“

„Halt, halt, halt“, bremste der Inspektor ihn. „Setzen Sie sich wieder.“

Zähneknirschend leistete John der Anweisung Folge. „Was wollen Sie noch von uns? Wir haben Ihnen das Wenige gesagt, was wir wissen.“

„Nun, da wäre noch eine Sache …“ Inspektor Brown rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum, der prompt unheilvoll zu knarzen begann. Er nahm Renie ins Visier.

„Ms. Hughes, wir brauchen die Videodatei, die Sie aufgenommen haben. Zur Beweissicherung.“

„Kein Problem. Geben Sie mir Ihre Mailadresse, dann schicke ich sie Ihnen als Anhang.“

„Ähm, nein. Sehen Sie, es wäre besser, wenn niemand außer den Ermittlungsbehörden über diese Datei verfügen würde. Sie können sich vorstellen, dass mögliches Täterwissen nicht nach draußen dringen darf, um den Ermittlungserfolg nicht zu gefährden. Als verantwortungsvolle Bürgerin möchten Sie doch sicher auch, dass wir diesen Todesfall so schnell wie möglich aufklären.“ Er schenkte ihr ein bemühtes Lächeln.

Sie lachte ihm kess ins Gesicht. „Sparen Sie sich Ihre hanebüchenen Ausreden. Sie möchten nur die himmelschreiende Inkompetenz eines Ihrer Beamten vertuschen, geben Sie es doch zu.“

Brown und Constable Elliott schnappten unisono nach Luft, während John gequält die Augen schloss. Seine Nichte war wirklich unverbesserlich. Musste sie sich jetzt unbedingt mit den Beamten anlegen?

„Das ist eine infame Unterstellung, Miss“, polterte der Inspektor los. „Ich fordere Sie auf, Ihr Handy auf der Stelle meinem Sergeant auszuhändigen. Zwingen Sie mich nicht, es zu konfiszieren. Dann müsste es nämlich auf absehbare Zeit in unserer Asservatenkammer verbleiben.“ Die Drohung war unmissverständlich.

Renie jedoch, abgehärtet durch zahlreiche Sträuße, die sie mit Superintendent Whittington ausgefochten hatte, blieb unbeeindruckt. Sie zog ihr Ass aus dem Ärmel.

„Hier, bitte, mein Presseausweis. Ich arbeite für den Guardian. Und wenn Sie mir jetzt mein Arbeitsgerät aus fadenscheinigen Gründen mit Gewalt wegnehmen, können Sie Gift darauf nehmen, dass das skandalöse Vorgehen der hiesigen Polizei morgen genau da gebührende Erwähnung finden wird. Und zwar in der Print- und in der Onlineausgabe.“

Die Gesichtsfarbe des Beamten wechselte von dunkelrot zu aschfahl. „Elliott!“, stieß er aus. „Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass die … Dame von der Presse ist?“

„Aber … aber … das wusste ich doch gar nicht“, stotterte der Constable. „Ich habe nur Namen und Adressen der Zeugen aufgenommen. Schließlich war es vordringlich, die Leiche in Augenschein zu nehmen“, suchte er sich zu rechtfertigen.

Inspektor Brown ließ den Kopf in die Hände sinken. Er murmelte, „Womit habe ich das verdient?“

Darauf wusste niemand etwas zu sagen.

Schließlich ergriff Renie das Wort. „Inspektor, glauben Sie mir, ich habe kein Interesse, das Image der britischen Polizei zu ruinieren. Wenn Sie mir also entgegenkommen, können wir sicher eine Lösung finden.“

Brown sah auf, Hoffnung im Blick.

„Was stellen Sie sich da genau vor, äh, Ms. Hughes?“

 

 

Eine halbe Stunde später trommelte Renie begeistert auf das Lenkrad ihres roten Flitzers.

„Yeah! Yeah! Yeah! Investigativreporterin Renie Hughes ist nicht zu stoppen. Chaka!“

„Fahr lieber los“, brummte John vom Rücksitz.

„Ach, komm schon, du musst zugeben, ich war herausragend. Los, sag es“, forderte sie fidel.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739409153
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Cornwall Gral Artus London Familie Humor Hunde Krimi Thriller Spannung Historisch

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer cosy mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod in Tintagel