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Tod im House of Lords

John Mackenzies achter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 8

Zusammenfassung

Ein Grabungsfund im Tower von London elektrisiert das ganze Land: Können diese Knochen Licht in einen 500 Jahre alten königlichen Kriminalfall bringen? Währenddessen stürzt Renie sich in die Aufklärung eines Todesfalls im Parlament. Beefeater John Mackenzies Warnungen verhallen ungehört und so merkt seine Nichte zu spät, mit wem sie sich angelegt hat. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, den John ohne Hilfe von unerwarteter Seite nicht gewinnen kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Renie schlug die Augen auf. Einen Moment lang lag sie still auf dem Rücken und starrte in die undurchdringliche Schwärze, die sie umfing.

Merkwürdig. Selbst wenn die Jalousien komplett zugezogen waren, war es in ihrem Zimmer nie vollkommen dunkel. Sie fühlte sich, als hätte sie einen staubtrockenen Waschlappen im Mund. Dazu kam noch ein irgendwie nebliges Gefühl im Kopf. Ah, ging es ihr vage durch den Kopf, gestern war ich wohl am Feiern. Hab’s mal wieder übertrieben … Brauch noch ne Mütze voll Schlaf … Sie sank wieder in Morpheus’ Arme zurück.

Gleich darauf jedoch öffnete sie die Augen wieder. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dieser Geruch … Sie zog die Nase kraus. Modrig. Gammlig. Als ob seit Urzeiten nicht gelüftet worden wäre.

Scheiße, wo bin ich? Ein Anflug von Panik stieg in ihr hoch. Habe ich mich am Ende von einem Typen abschleppen lassen, der jetzt hier neben mir liegt? Sie hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Aber bis auf das Rauschen des Blutes in ihren Ohren war kein Laut zu hören.

Jetzt krieg dich wieder ein, befahl sie sich selbst. Du hast zwar schon viel Unsinn in deinem Leben gemacht, aber mit einem Fremden mitgehen, dazu würdest du dich nie hinreißen lassen. Es sei denn … es hätte dir jemand K.O.-Tropfen verpasst.

Mit zitternden Fingern spürte sie nach ihrer Kleidung. Erleichtert bemerkte sie, dass sie vollständig angezogen war. Zaghaft streckte sie eine Hand aus und tastete die Umgebung ab. Offenbar lag sie auf einer schmalen Pritsche, die an die Wand geschoben war. Als sie sich aufsetzen wollte, hörte sie ein metallisches Klackern. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr linkes Handgelenk von etwas Scharfkantigem, Hartem umschlossen war. Reflexartig riss sie den Arm nach oben – und jaulte gleich darauf schmerzhaft auf, als ihre Bewegung jäh gestoppt wurde. Eine Handschelle hielt sie unbarmherzig fest.


Kapitel 1

 

„Bitte stellen Sie die Lehnen wieder senkrecht und klappen Sie die Tische vor sich nach oben. Wir befinden uns im Anflug auf London-Heathrow.“

Mit gemischten Gefühlen blickte John Mackenzie aus dem kleinen Fenster nach unten. Der Pilot der British Airways-Maschine aus Frankfurt war dem Verlauf der Themse von ihrer Mündung an nach Westen gefolgt und nun bewegten sie sich auf das Zentrum der Hauptstadt zu. In den Reihen vor und hinter ihm hatten Sommertouristen aus aller Herren Länder ihre Handys und Digitalkameras gezückt und knipsten aufgeregt.

„Schau mal, da vorn ist die City! Und das berühmte Gürkchen!“

„Wo wohnt denn die Königin?“

„Uii, die Tower Bridge!“

„Verdammt, jetzt spinnt die Kamera wieder …“

John lauschte dem Geschnatter halb belustigt, halb melancholisch. Während der Großteil der Passagiere offensichtlich begierig ein paar erlebnisreichen Tagen in der Hauptstadt entgegensah, war sein Urlaub zu Ende.

Als der Tower von London in Sicht kam, lichtete sich die düstere Wolke über seinem Haupt etwas. In den drei Jahren, seit er vom Auslandsdienst in der Truppenbetreuung der Britischen Armee zurückgekommen war, war ihm die altehrwürdige Festung zur Heimat geworden. Er liebte seinen neuen Beruf als Beefeater und Pfleger der königlichen Raben. Und er lebte gern im Herzen der Metropole. Er genoss es – meistens zumindest – seine Familie in der Nähe zu haben. Was er jedoch schmerzlich vermisste, war seine Freundin Pauline, die in York lebte. Erst vor ein paar Stunden hatte er sich von ihr am Frankfurter Flughafen verabschieden müssen. Und das im Laufen, weil die Zeit zu ihrem Anschlussflug nach Edinburgh verflucht knapp war. Nun würden sie sich wieder für mehrere Wochen nicht sehen, was John schwer im Magen lag.

Sein Blick streifte die weißen Masten der Yachten, die gleich hinter der Tower Bridge im kleinen Hafenbecken der St. Katherine’s Docks schaukelten. Die vergangene Woche hatte er mit Pauline auf eben so einem Segelschiff im Mittelmeer verbracht. Sogleich hatte er wieder den salzigen Geschmack der Seeluft in der Nase. Sehnsuchtsvoll schloss er die Augen und sah das Meer vor sich, dessen Farbe sich in Paulines Augen widerspiegelte … ihr kupferrotes Haar, das im Wind wehte –

„Verehrte Passagiere, eine Information für Ihre Weiterreise: Wie uns mitgeteilt wurde, wird die Londoner U-Bahn heute bestreikt. Am Terminal stehen Mitarbeiter des zentralen Informationsschalters bereit, die Sie gerne über alternative Transportmöglichkeiten informieren. Ich habe aber auch noch eine positive Nachricht für Sie: Für den Rest dieses Samstags erwarten Sie Sonnenschein pur und Temperaturen zwischen 26 und 29 Grad.“

John seufzte resigniert ob der Aussicht, sich in einem überfüllten und höllenheißen Bus die 20 Meilen nach Hause kämpfen zu müssen. Nach der Ankunft stapfte er zum Gepäckband, wo er feststellen musste, dass seine Reisetasche nicht angekommen war. Nachdem ihm am Lost and Found-Schalter lapidar mitgeteilt worden war, dass diese in Frankfurt aus unerfindlichen Gründen nicht ins Flugzeug eingeladen worden war, sank seine Laune auf den Nullpunkt. An dem Versprechen, sein Gepäck ‚als besonderen Service binnen 48 Stunden frei Haus geliefert‘ zu bekommen, hegte er erhebliche Zweifel. Verdrossen verließ er schließlich die Ankunftshalle.

„John! Da bist du ja endlich!“

„Maggie!“ Verdutzt umarmte er seine Schwester. „Was machst du denn hier?“

„Ich komme dich abholen, du Dussel. Die Odyssee, dich durch das Streik-Chaos bis zum Tower durchschlagen zu müssen, wollte ich dir ersparen. Außerdem bin ich gespannt auf deinen Urlaubsbericht.“

„Du bist ein Schatz, Maggie.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Das ist ja eine schöne Überraschung, dass du extra hier heraus gekommen bist.“

„Wenn du dein Handy mal angemacht hättest, wüsstest du schon seit einer Weile, dass ich hier auf dich warte.“ Sie knuffte ihn spielerisch. Betreten zog er sein betagtes Mobiltelefon aus dem Rucksack und schaltete es ein. Tatsächlich, vier unbeantwortete Anrufe wurden angezeigt, allesamt von Maggie.

Sie schüttelte den Kopf. „Du lernst es nicht mehr, Bruderherz. Herrje, selbst unsere Eltern sind technologisch weiter als du. Ich war schon kurz davor, wieder zurückzufahren, weil ich dachte, ich hätte dich irgendwie verpasst.“

„Ich hatte das Ding die ganze Woche aus“, gestand er. „Nach der Ankunft in Sizilien habe ich Mum noch das versprochene Lebenszeichen geschickt und dann war für die ganze Woche Schluss mit der Erreichbarkeit. Das war ein herrliches Gefühl.“

Sie lachte. „Das erzähl mal meinen Kindern. Ich glaube, es wäre leichter, einer Löwenmutter ihr Kind wegzunehmen als Tommy von seinem Handy zu trennen. Und jetzt komm, lass uns fahren.“ Sie stutzte. „Wo hast du dein Gepäck?“

„Das ist noch irgendwo unterwegs“, erwiderte er, nun wieder deutlich besser gelaunt. „Angeblich wird es mir direkt nach Hause geliefert.“ Er schulterte seinen Rucksack und sie gingen zur Parkgarage.

„Jetzt erzähl“, forderte Maggie, nachdem sie ihren geräumigen Volvo mit einem Geschick aus der Parklücke manövriert hatte, das John nur bewundern konnte. „Ich bin wahnsinnig gespannt darauf, wie dir das Segeln gefallen hat. Stell dir vor, Alan hat zu unserem 25. Hochzeitstag im September eine Segelyacht komplett mit Crew gechartert, nur für uns beide. Wir werden zwischen palmengesäumten karibischen Inseln herumschippern.“

„Donnerwetter!“ John pfiff durch die Zähne. Sein Schwager hatte sich aus kleinsten Anfängen ein florierendes Unternehmen aufgebaut, das die IT-Systeme von Firmen und Behörden gegen Angriffe von außen schützte. Alan war auch international ein gefragter Mann, wenn es um das Thema Datensicherheit ging, und viel unterwegs.

„Das wird sicher großartig, Maggie“, meinte er. „Wie lange wird euer Törn dauern?“

„Zwei Wochen. Es ist schon ein Wunder, dass sich Alan so lang von der Arbeit loseisen kann. Aber er hat es auch wirklich nötig. Die Firma ist in den letzten Jahren so explosionsartig gewachsen, dass sie ihn bald rund um die Uhr in Anspruch nimmt. Und das geht irgendwann dann doch zu sehr auf die Substanz. Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten.“

John nickte mit leidender Miene. Auch er spürte den Zahn der Zeit an sich nagen.

„Alan hat gemerkt, dass er einen Teil der Verantwortung an seine Führungsmannschaft delegieren muss, damit er nicht mehr für jede Entscheidung zuständig ist“, fuhr Maggie fort. „Unser Urlaub soll ein Testlauf dafür werden, ob sein Team es schafft, den Betrieb vernünftig aufrechtzuerhalten, wenn der Chef sich einmal komplett heraushält und nicht rund um die Uhr erreichbar ist.“

„Das klingt nach einer guten Idee“, sagte John. „Und eure Kinder sind mittlerweile alt genug, dass ihr sie getrost eine Weile allein lassen könnt, denke ich.“

Maggie nickte. „Das meine ich auch. Mit Mum und Dad habe ich schon gesprochen, dass sie mal zwischendurch nach dem Rechten sehen werden.“ Ihr Blick wurde träumerisch. „Auf diese Zeit, nur für uns, freue ich mich wirklich. Ich sehe mich schon wie Grace Kelly mit einem Cocktail in der Hand an Deck wandeln, während die Sonne feuerrot am Horizont versinkt …“

„Und Alan dir à la Bing Crosby ‚True Love‘ ins Ohr schwurbelt“, spann John den Faden nahtlos weiter.

Maggie lachte lauthals los. „Bloß nicht! Wenn Alan singt – wenn man das Gejaule überhaupt so bezeichnen kann – wird selbst die Milch sauer. Aber vielleicht habe ich ja auch eine völlig falsche Vorstellung von so einer Reise im Kopf. War denn euer Segeltörn so romantisch, wie ich es mir ausmale?“

John wog den Kopf. „Also, erlebnisreich war er auf jeden Fall. Die Romantik ist aber für meinen Geschmack zu kurz gekommen, muss ich sagen.“

„Oh.“ Maggie warf ihm einen Seitenblick zu. „Erzähl von vorn.“

„Am Anfang lief noch alles glatt. Mein Flug nach Frankfurt war pünktlich und dort habe ich wie geplant Pauline und die vier anderen getroffen, die aus Edinburgh kamen. Zwei frühere Kolleginnen aus der Zeit, als Pauline noch in Edinburgh unterrichtet hat, von denen die eine ihren Mann dabei hatte und die andere eine alte Freundin.“

„Hattest du diese Leute vorher schon kennengelernt?“, fragte Maggie.

„Nur die beiden Lehrerinnen, Jean und Moira. Die hatte Pauline einmal zum Essen eingeladen, damit wir uns beschnuppern konnten. Die anderen zwei hatte ich noch nie gesehen. Grober Fehler“, meinte er bedeutungsschwanger.

„Oh-oh“, kam es von Maggie.

„Das kannst du laut sagen. Als wir in Catania angekommen sind, mussten wir eine ganze Weile auf unser Gepäck warten. Da ging es schon los mit dem Gemeckere von Alfred, Jeans Ehemann. Als dann unser Transferfahrer auch noch eine Stunde zu spät kam, durften wir uns beständig seine Tiraden anhören. ‚Diese Südländer, null Arbeitsmoral. Lassen ihr Land vor die Hunde gehen und wir sollen dann dafür zahlen. Aber klauen wie die Raben, das können sie‘ und ähnlichen Stuss. Ich musste mich schon sehr beherrschen, nicht gleich am ersten Tag einen Mordsstreit vom Zaun zu brechen.“ John schüttelte den Kopf.

„Klingt, als hätte der gute Alfred sein ignorantes Gewäsch direkt von Nigel Farage übernommen“, kommentierte Maggie.

„Oh ja“, nickte John. „Er hat sich auch in epischer Breite darüber beklagt, dass die UKIP nur einen einzigen Sitz im Parlament bekommen hat, obwohl sie doch im Mai über zehn Prozent der Stimmen errungen hat. Nachdem wir uns also auf diesem Parkplatz eine Stunde lang die Beine in den Bauch gestanden hatten – und es so heiß war, dass der Teer schon Blasen geworfen hat – kam endlich unser Fahrer. Wir waren alle erleichtert, dass es losging. Aber die Fahrt war dann eine ganz schöne Tortur: Die Klapperkiste hatte keine Stoßdämpfer mehr und die Klimaanlage ging auch nicht. Und der Chauffeur ist mit einem Tempo über die Insel geheizt, dass wir alle Blut und Wasser geschwitzt haben. Das einzig Gute war, dass es selbst Alfred vor lauter Furcht die Sprache verschlagen hat.“

Maggie warf ihrem Bruder einen mitfühlenden Blick zu. „Der Auftakt zu eurer Reise war wirklich holprig. Hattet ihr denn wenigstens ein schönes Schiff?“

John nickte.

„Eine recht geräumige Yacht. 16 Meter lang, mit vier Kabinen und sehr ansprechend eingerichtet. Da fand selbst Alfred nichts zu nörgeln. Als es dann aber daran ging, die Vorräte für die Woche einzukaufen, schoss er schon wieder quer. Eigentlich ist es üblich, dass alle Crewmitglieder etwas in die Bordkasse einzahlen, aus der dann alle Kosten beglichen werden. Hafengebühren, Lebensmittel, Eintritte und so weiter. Aber nein, so ein bequemes Arrangement war mit Alfred nicht zu machen. Er behauptete, auf diese Weise würde er sicher übervorteilt werden und bestand auf getrennter Kasse.“

„Also, dieser Alfred klingt nach einem von Grund auf unsympathischen Zeitgenossen. Wie hat sich seine Frau denn bei all dem verhalten? Konnte sie ihn nicht einbremsen?“

„Es war zu spüren, dass es ihr zuwider war, wie er sich aufgeführt hat. Aber gesagt hat sie kaum etwas. Von Anfang an war klar, wer in der Beziehung der beiden das Kommando führt.“

Maggie rollte mit den Augen. „Arrogant, kleinlich, misstrauisch: ein Traumtyp. Es mit so jemandem eine Woche lang auf engstem Raum auszuhalten, war sicher nicht leicht – ach je, das habe ich befürchtet“, unterbrach sie sich selbst. Alle Spuren der M4 Richtung London waren verstopft. Wenige Meter nach der Auffahrt kam die Blechlawine zum Stillstand.

„Greif doch mal auf die Rückbank, John, und hol die Kühlbox nach vorn.“

John tat, wie ihm geheißen. Als er den Deckel öffnete, erblickte er verschiedene Sandwiches, Bananen und Maggies legendäre Triple Chocolate Muffins. Er lachte erfreut auf. „Du bist einfach unvergleichlich, Maggie. Wie immer bestens vorbereitet.“

„In dem Flaschenträger hinten im Fußraum sind noch Wasserflaschen und eine Thermosflasche mit Tee“, erklärte sie und griff nach einer Banane. „So, nun sitzen wir hier wahrscheinlich die nächste Stunde fest. Aber immerhin haben wir eine Klimaanlage und genug zu essen und zu trinken. Also erzähl weiter. Mit den anderen an Bord war hoffentlich leichter auszukommen als mit Alfred?“

John wog den Kopf. „Der Skipper war, naja, gewöhnungsbedürftig. Ein ziemlich brummiger alter Seebär. Aber immerhin wusste er beim Segeln offensichtlich, was er tat.“ John verstummte kurz, dann setzte er hinzu, „Und dann war da noch die Sache mit Georgina.“

Maggie musterte ihn neugierig. „Georgina?“

John wand sich ein wenig. „Die Bekannte von Paulines Kollegin Moira. Ähm … Pauline … hatte den Eindruck, dass Georgina … ein Auge auf mich geworfen hatte. Und das hat ihr ganz und gar nicht gefallen.“

Maggie prustete los. „Du liebe Güte. Mein Bruder, der alte Schwerenöter.“

„So ein Unsinn“, wehrte John ab. „Es war ganz einfach so, dass Georgina und Moira sich am ersten Abend in ihrer Kabine unterhalten haben und noch nicht realisiert hatten, dass man durch die dünnen Zwischenwände so gut wie alles hören kann. Und da äußerte Georgina, sie fände mich, ahm, so sinngemäß … sagen wir, süß.“

Was Georgina tatsächlich gesagt hatte, wollte er nicht einmal seiner Schwester gegenüber wiederholen, trieb es ihm doch bis heute die flammende Röte ins Gesicht. Er fuhr fort, „Und ich hätte so eine Ähnlichkeit mit –“

„Lass mich raten: Colin Firth“, fiel Maggie ihm ins Wort und grinste erheitert angesichts seiner Verlegenheit. „Immer das Gleiche mit dir. Oh, das kann ich mir lebhaft vorstellen, wie das Pauline in Wallung versetzt hat. Wenn man bedenkt, wie sie die Krallen schon ausfährt, wenn Kyla Macpherson nur am Horizont auftaucht.“

Während John beim Namen der schottischen Sängerin wie gewohnt zusammenzuckte, lachte Maggie schallend los. „Da hätte es ja fast einen Mord an Bord gegeben“, gluckste sie. „Stell dir vor, Tod im Boot, was wäre das für ein schöner Buchtitel.“

„Witzig“, kommentierte John säuerlich und griff nach dem größten Muffin.

„Bis jetzt klingt dein Urlaub nicht gerade erholsam“, befand Maggie und steckte die Bananenschale säuberlich in eine kleine Mülltüte, die gemeinsam mit Servietten und Feuchttüchern im Handschuhfach bereitlag.

„Das Zusammenleben an Bord war oft wirklich anstrengend“, stimmte John ihr zu. „Aber trotzdem hatten wir wunderbare Erlebnisse. Nachts bei einer lauen Brise an Deck sitzen und die Vulkanausbrüche des Stromboli beobachten zu können, war etwas ganz Besonderes. Wir haben in idyllischen Buchten geankert und sind einfach ins Wasser gesprungen. Und nicht zuletzt das Segeln selbst: Es ist wirklich ein herrliches Gefühl, nur vom Wind getrieben übers Wasser zu gleiten. So nah an den Elementen ist man selten.“

Während sie im Schneckentempo auf Osterley Park zukrochen, schilderte er enthusiastisch die Begegnung mit einem Schwarm verspielter Delfine, die das Boot über mehrere Seemeilen hinweg begleitet hatten.

„Insgesamt hört es sich so an, als hätte dir euer Segeltörn trotz der Begleiterscheinungen doch ganz gut gefallen“, kommentierte Maggie schließlich.

„Du hast recht. Ich bin froh, dass Pauline mich dazu überredet hat, so eine Art des Urlaubs einmal auszuprobieren. Ich würde so etwas jederzeit wieder machen. Aber nur mit Leuten, die ich gut kenne und bei denen ich weiß, dass alles harmonisch abläuft“, schränkte er ein.

Maggie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Na, da wüsste ich doch etwas. Wenn Alan und ich Gefallen am Segeln finden, könnten wir doch nächstes Jahr alle gemeinsam eine Yacht chartern und irgendwo herumschippern. Die ganze Familie, meine ich, so wie bei unserem Urlaub in Cornwall. Was hältst du davon?“

John wurde schreckensbleich. Gegen eine Woche an Bord mit Dame Commander of the British Empire Isabel Mackenzie und seiner Mutter Emmeline käme selbst die ‚Meuterei auf der Bounty‘ als fröhlicher Kindergeburtstag daher. Auf so ein Abenteuer würde er sich nur über seine Leiche einlassen.


Kapitel 2

 

Als John gute zwei Stunden später den Tower betrat, wurden die letzten Besucher des Tages gerade durch die Water Lane hinausgeleitet und der weitläufige Innenhof lag still in der Nachmittagssonne. Aber nicht lange. Schon erscholl ein lautes Krächzen. Teils flatternd, teils hopsend näherte sich ein Kolkrabe.

„Gworran!“ John stellte seinen Rucksack ab und ging in die Hocke. Der Vogel ließ einen Fanfarenstoß ertönen und rieb den Schnabel an Johns Fuß. Sanft strich John ihm über das Gefieder.

„Hey, mein Alter. Gut siehst du aus.“ Fast, als hätte der Vogel ihn verstanden, wölbte er den Hals und stolzierte ein paar Schritte auf und ab.

„Hallo John! Willkommen zurück!“, rief George Campbell, der den Kopf aus dem Rabenhaus neben dem White Tower gesteckt hatte. Begleitet von Gworran ging John zu dem Ravenmaster des Towers hinüber und die beiden Männer begrüßten sich herzlich.

George ließ John kaum Zeit, von seiner Urlaubswoche zu erzählen. Zu begierig war er, seinem Assistenten die Fortschritte an der Baustelle hinter dem Rabenhaus zu zeigen. Dort entstand die neue, großzügige Voliere. Bis auf ein Schnurgerüst, das die Größe des Geheges anzeigte, war bis jetzt eigentlich kaum etwas zu sehen. Dennoch sprühte George vor Begeisterung für das Projekt.

Seit langem hatte er dafür gekämpft, dass die neun Tower-Raben eine größere und artgerechtere Unterkunft bekamen. Seine Hartnäckigkeit hatte sich ausgezahlt. Die königliche Schlösserverwaltung hatte beschlossen, eine ansehnliche Summe zur Verfügung zu stellen und ein renommiertes Architekturbüro mit der Planung beauftragt.

„Die archäologischen Untersuchungen des Untergrunds sollen am Montag beginnen“, berichtete er. „Wenn sie abgeschlossen sind, werden zügig die Arbeiten für das Fundament durchgeführt. Ich hoffe, das klappt bis Ende nächster Woche. Die Architektin will am Freitag um elf Uhr vorbeikommen und uns die neue Fassung der Baupläne zeigen. Mike wird auch dabei sein.“

Dr. Mike Nichols, Ornithologe am Naturhistorischen Museum und ein guter Freund von John, begleitete das Bauprojekt wissenschaftlich.

Sie plauderten noch eine Weile, dann verabschiedete sich John und strebte seiner Wohnung zu. Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der Tower-Einheit, hatte wie immer bestens seine Pflanzen versorgt. Mit Freude bemerkte er, dass sich die erste Blüte seiner Medinilla magnifica geöffnet hatte.

Im Kühlschrank fand er eine Kasserolle mit Hühnerpastete vor, die seine Mutter dort deponiert hatte, nebst einem Zettel: „Melde dich, sobald du zurück bist!“ Wie die verdächtig staubfreien Oberflächen überall in der Wohnung und die blank gewienerten Fenster verrieten, hatte Emmeline Mackenzie offensichtlich wieder einmal ihrem Putzdrang gefrönt.

John kämpfte kurz mit sich, ob er erst eine ausgiebige Dusche nehmen oder das Telefonat gleich hinter sich bringen sollte, dann griff er zum Hörer und wählte die Nummer seines Elternhauses in Kew.

Wie sich zeigte, hatte er Glück. Seine Mutter war in den Königlichen Botanischen Garten gegangen, wo sie als rührige Vorsitzende des Gartenbauvereins ehrenamtlich bei der Pflege der Gewächshauspflanzen half.

Johns Vater war gerade mit der Untersuchung eines Saurierknochens beschäftigt, der ihm von einem chinesischen Forscher zugeschickt worden war. Als ehemaliger Kurator der berühmten Dinosaurierabteilung des Naturhistorischen Museums war seine Expertise immer noch gefragt. Da James Mackenzie gerade vollauf mit der kniffligen Frage beschäftigt war, ob der Schwanzwirbel von einem Protognathosaurus oder einem Omeisaurus stammte, brauchte John nur zwei Fragen zu beantworten: „Seid ihr gekentert? Hattet ihr schönes Wetter?“ Nachdem seine Urlaubsschilderung mit einem „Nein“ und einem „Ja“ erledigt war, wünschte er seinem Vater viel Erfolg bei seinen Bestimmungsversuchen und legte mit einem Lächeln auf.

Nach seiner Dusche, die er ausnehmend genoss – hatte er sich doch eine Woche lang entweder nur unter akut bandscheibengefährdenden Verrenkungen in der mikroskopisch kleinen Nasszelle an Bord oder in hygienisch meist zweifelhaften Hafenduschen waschen können – schaltete er den Computer ein, um seine E-Mails durchzusehen. Der Großteil war wie üblich von der Art ‚Bitte melde dich‘, ‚Habe heute versucht, dich zu erreichen‘ oder ‚Todsichere Anlagestrategien warten auf dich‘. Müßig scrollte er die lange Auflistung nach unten. Sein Blick blieb am Namen ‚Georgina Radcliffe‘ hängen. Er stöhnte auf. Verflixt, er hatte wirklich gehofft, nie wieder etwas von dieser Frau zu hören. Allerdings hatte sie ihn heute früh noch um seine Mailadresse gebeten, da sie ihm angeblich Fotos der Reise schicken wollte. Ihm war auf die Schnelle nichts eingefallen, wie er ihren Wunsch hätte ablehnen sollen. Etwas bänglich öffnete er die Nachricht.

Lieber John! Ich hoffe, du bist gut zu Hause angekommen. Meine Fotos sind noch nicht ganz bereit zum Hochladen, aber ich wollte dir auf der Stelle schreiben. Ich werde im September zu einigen geschäftlichen Terminen nach London kommen und werde die Gelegenheit nutzen, meinen Aufenthalt um ein paar Tage zu verlängern. Oh, ich kann es schon kaum noch erwarten, mit dir zusammen all deine Lieblingsplätze in der Stadt zu erkunden -

Du grüne Neune! John schluckte. In diesem Moment klingelte sein Handy. Pauline. Er war schon im Begriff, ihr brühwarm von Georginas Nachricht zu erzählen, als er am Tonfall ihrer Begrüßung merkte, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte er alarmiert.

„Donna hatte einen Herzinfarkt“, sprudelte sie heraus. „Es sieht Gott sei Dank so aus, dass sie sich wieder erholen wird, aber die nächsten Monate fällt sie aus. Damit hängt jetzt alles an mir.“

Donna Laughton leitete die Florence Nightingale-Mädchenschule in York, Pauline war ihre Stellvertreterin.

„Noch dazu braucht mein Vater eine neue Hüfte“, fuhr sie fort. „Das heißt, er wird eine Weile in der Klinik verbringen müssen und wir müssen sehen, was wir mit Mum machen.“

Paulines Mutter hatte im letzten Jahr einen Schlaganfall gehabt. Auch wenn sie einigermaßen wiederhergestellt war, war fraglich, ob sie ihren Alltag für eine Weile ohne die Hilfe ihres Ehemannes meistern konnte. Von Paulines drei Geschwistern lebte nur Alison nahe ihren Eltern, die aber mit ihren vier Kindern vollauf beschäftigt war.

„Kaum bin ich zuhause, ist schon wieder der Teufel los“, seufzte Pauline.

„Soll ich Chief Mullins um ein paar Freischichten bitten und zu dir hinauf kommen?“, fragte er, obwohl ihm bewusst war, dass dies schwierig werden würde. Seine Urlaubstage für dieses Jahr waren so gut wie aufgebraucht und so manches Mal waren bereits Kollegen für ihn eingesprungen, um ihm ein, zwei Tage in York zu ermöglichen. Im Gegenzug warteten in nächster Zeit mehrere Doppelschichten auf ihn.

„Das ist lieb von dir, John, aber ich weiß, dass Mullins dir in den letzten Monaten schon sehr entgegengekommen ist. Du kannst dich nicht gleich vom Acker machen, kaum, dass du wieder da bist.“ Sie atmete tief durch. „Es ist nur momentan ein bisschen viel, aber irgendwie werden wir das schon geregelt kriegen.“ Im Hintergrund hörte John die Stimme ihrer Mutter.

„Lass uns später nochmal telefonieren, John“, bat Pauline und sie verabschiedeten sich. Nachdem er aufgelegt hatte, merkte er, dass er ihr nun doch nichts von Georginas Nachricht erzählt hatte. Aber so war es sicher auch besser, würde sich sie doch nur unnötig darüber aufregen.

Kopfschüttelnd überflog er den Rest des E-Mails. Diese Frau – noch dazu eine Investmentbankerin und mithin einer Spezies zugehörig, der John ohnehin mit großem Misstrauen gegenüberstand – war wirklich dreist. Offenbar war sie es gewöhnt, zu kriegen, wonach ihr der Sinn stand. Er überlegte, ob er eine Antwort schreiben sollte, entschied sich dann jedoch dafür, die Nachricht vorerst einfach zu ignorieren und kehrte zu seinem Posteingang zurück. Just in diesem Moment trudelte eine Nachricht seines Bruders ein. Die Betreffzeile ‚Familienzuwachs‘ veranlasste John auf der Stelle, das E-Mail anzuklicken. Sollte sein jüngster Neffe Christopher, der die Vorschule nun hinter sich hatte und in wenigen Wochen in die Grundschule kommen würde, etwa ein Geschwisterchen bekommen?

Hallo an alle,

wir präsentieren stolz unser jüngstes Familienmitglied! Heute ist er bei uns eingezogen. Christopher durfte den Namen aussuchen und hat sich für Joey Junior entschieden. Ist er nicht ein Wonneproppen?, schrieb David.

Nanu? Beim gemeinsamen Familienurlaub vor gut zwei Monaten war bei Annie nicht einmal der Ansatz eines Babybauchs zu erkennen gewesen, wie sollte … John lachte auf, als er das angehängte Foto öffnete. Darauf war ein ungeheuer pelziges Etwas zu sehen, das treuherzig in die Kamera blickte. Also hatte Christopher es doch tatsächlich geschafft, seine Eltern zu überzeugen, einen Hund anzuschaffen.

Auf der Hundeschau, die sie mit Tante Isabel in Newquay besucht hatten, waren sie einem Züchter von Neufundländern begegnet. Ein Blick auf dessen mächtiges dunkelbraunes Tier und es war um Christopher geschehen. Nun erinnerte sich John, dass jener Hund auch Joey geheißen hatte. Sein Besitzer hatte damals angeboten, David ein paar renommierte Züchter zur empfehlen, sollte er je über einen Hund als Hausgenossen nachdenken. Damals hatte Johns Bruder noch entsetzt abgewunken – wenn John sich richtig erinnerte, waren seine Worte: „Der würde uns die Haare vom Kopf fressen“ gewesen. Annie hatte mit Schaudern auf die riesigen Haufen verwiesen, die so ein massiges Tier hinterließ. Dass nun doch ein Welpe im gepflegten Heim der beiden Steuerberater in Cambridge Einzug gehalten hatte, zeugte von der bemerkenswerten Durchsetzungskraft des jüngsten Mackenzie-Sprösslings.

John grinste, schrieb eine kurze Antwort und durchforstete seine Nachrichten weiter. Ah, da war eine von Renie.

 

Johns älteste Nichte hatte in diesem Sommer eine Krise erlebt, die sie noch schwerer getroffen hatte als alles zuvor Dagewesene. Und das hieß bei Renie schon einiges, dachte John bei sich. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er von seiner Schwester in den letzten Jahren den zunehmend entnervten Satz „Das Kind macht mich noch wahnsinnig“ gehört hatte.

Vor einem Jahr hatte Renie verkündet, sie habe nun endgültig ihren Berufswunsch gefunden und wolle Journalistik studieren. Alle Vorzeichen dafür ließen sich glänzend an. Ein Redakteur des Guardian hatte sie unter seine Fittiche genommen und ihr einen Trainee-Job bei der berühmten Zeitung beschafft, damit sie die Zeit bis zum Studienbeginn im nun bevorstehenden Herbsttrimester überbrücken konnte. Sie schaffte es, einen Studienplatz an der City University in London zu ergattern, die einen hervorragenden Ruf genoss.

Im Juni jedoch hatte der Guardian eine neue Chefredakteurin bekommen, der Renies – gelinde ausgedrückt – unkonventionelle Arbeitsweise ein Dorn im Auge war. Als die neue Leiterin erfahren hatte, wie Renie es angestellt hatte, Exklusivinformationen der Polizei von Cornwall zu einem Mordfall in der Höhle von Tintagel zu bekommen, war es mit Renies Karriere beim Guardian jäh zu Ende gewesen. Was Johns Nichte als kreative Recherchemethode angesehen hatte, war in der Führungsetage der Zeitung als unethisches Verhalten und eines Guardian-Mitarbeiters nicht würdig eingeschätzt worden.

Kaum war die ganze Familie von der Reise nach Cornwall zurückgekommen, fand Renie sich mit ihren Siebensachen aus der Redaktion geworfen und auf der Straße stehen. Natürlich war sie stante pede zu ihrer Mutter gelaufen und hatte nach einem Anwalt verlangt. Maggie hatte ihr jedoch kurz und bündig mitgeteilt, dass die vorzeitige Auflösung ihres Traineevertrags bei der Zeitung rechtlich vollkommen in Ordnung war. Damit war für Renie eine Welt zusammengebrochen.

John war gerade dabei gewesen, seinen Koffer auszupacken, als ein kaum noch zu erkennendes Häuflein Elend vor seiner Tür gestanden hatte. Er hatte seine liebe Not damit gehabt, seine Nichte in ihrem Tal der Tränen auch nur ein klein wenig zu trösten.

„Ich hab’s verkackt! … Da hatte ich meinen Traumjob und dann mache ich alles kaputt … Mum und Dad hassen mich jetzt bestimmt … Ich stürze mich vom White Tower runter“, hatte sie geschluchzt. John war sich ziemlich sicher, dass seine Nichte nicht so weit gehen würde, sperrte aber dennoch vorsichtshalber die Haustür ab. Dann ging er in die Küche und holte eine Jumbo-Portion Apple Crumble aus dem Gefrierfach, Renies ultimatives Trost-Futter. John zog alle Register der Kriseninterventionsstrategien, die er viel zu oft in seinen Jahren als Psychologe bei der Armee hatte anwenden müssen, dennoch blieb seine Nichte davon überzeugt, dass für sie das Ende der Welt gekommen war.

„Jetzt ist beruflich alles im Arsch“, klagte sie. „Und noch dazu habe ich den einzigen Mann, der es je auf Dauer mit mir ausgehalten hat, in die Wüste geschickt. Und jetzt hat ihn sich eine andere unter den Nagel gerissen.“ Sie zog ihr Handy heraus, tippte in für John atemberaubender Geschwindigkeit darauf herum und hielt es ihm entgegen.

„Da, das ist sein letztes Mail. Erst hat er überhaupt nicht auf die Nachricht reagiert, die ich ihm aus Newquay geschrieben hatte und als ich es dann nochmal probiert habe, kam das.“

Hallo Renie,

es gibt kein Zurück mehr. Lucía und ich werden heiraten. Ich möchte dich bitten, keinen Kontakt mehr zu suchen.

Leb wohl,

Geoff

„Und das hat er auch noch als Anhang geschickt. Um es mir so richtig aufs Butterbrot zu schmieren.“ Renie zeigte John ein Foto, das offenbar aus der Gesellschaftsseite einer Zeitung namens Tico Times stammte.

„Dr. Geoffrey Tomlinson und Lucía Hidalgo-Ferrer von der Universität von San José eröffnen gemeinsam mit dem Bürgermeister das neue Schmetterlingshaus im Zoo“, übersetzte sie die spanische Bildunterschrift für John.

Der trotz seiner Jugend schon recht renommierte Biologe, den Maggie und Alan liebend gern als ihren Schwiegersohn gesehen hätten und die attraktive Südamerikanerin lächelten um die Wette in die Kamera. Wenig erinnerte an den linkischen und schüchternen Schlacks, dem John vor zwei Jahren in seinem winzigen Büro im Keller des Naturhistorischen Museums zum ersten Mal begegnet war.

„Er sieht fantastisch aus“, schniefte Renie. „Und er war immer für mich da. Gottverdammt, der Mann hat einen Falter nach mir benannt – und ich dämliche Ziege hab’s einfach nicht kapiert, dass er der Richtige war. Wie kann man bloß so verblendet sein!“ Wieder wurde sie von einem Heulkrampf geschüttelt.

John legte den Arm um sie und murmelte Mitfühlendes. Ihm blutete das Herz, seine Nichte so niedergeschmettert zu sehen. Er hatte Geoff sehr gern gehabt und vergönnte ihm von Herzen, dass er sein Glück in Costa Rica gefunden hatte. Aber auch er hatte sich gewünscht, dass es noch eine Chance gab, die Beziehung zwischen Renie und Geoff wieder aufleben zu lassen. Die beiden hatten sich wunderbar ergänzt.

Der Rausschmiss beim Guardian dagegen hatte seiner Meinung nach durchaus etwas Gutes. In ihrem blinden Übereifer hatte Renie sich in den letzten Monaten so verändert, dass es zu größeren Reibereien innerhalb der Familie gekommen war. ‚Pressegeier‘ war noch eines der schmeichelhafteren Worte gewesen, die selbst ihre eigene Mutter für Renie gefunden hatte.

Nach Stunden schier dammbruchartiger Tränenströme und verzweifelten Wehklagens geriet John ernsthaft in Versuchung, seiner Nichte eine große Portion Valium, in den Rest seines Apple Crumble-Vorrats gemixt, unterzujubeln. Doc Hunter, der hauseigene Arzt der Tower-Einheit, hatte sicher welches vorrätig.

Kurz vor dem Morgengrauen schlief Renie dann doch völlig ausgelaugt ein. John hatte gerade noch Zeit für eine Dusche, bevor er zum Frühdienst ins Rabenhaus wankte. Für den Rest des Tages musste er Kommentare über sein zombiehaftes Aussehen ertragen.

Als er sich am Nachmittag zurück in seine Wohnung schleppte, fand er seine Nichte immer noch auf seiner Couch eingemummelt. Sie schien sie als ihre persönliche Bärenhöhle zu betrachten, in der sie sich vor der Welt verstecken konnte. Da er nichts anderes wollte als endlich schlafen, ließ er sie dort liegen. Als sie jedoch am darauffolgenden Morgen immer noch da war, regte er höflich an, sie möge ihr Quartier doch woanders aufschlagen.

„Bitte schmeiß mich nicht raus“, flehte Renie. „Mum beißt mir den Kopf ab, sobald ich zuhause bin. Vor allem, wenn ich ihr sage, dass ich jetzt keine Journalistin mehr werden will –“

John war wie vom Donner gerührt. „Wie bitte?! Und was willst du dann?“

Weinerliches Schulterzucken. „Keine Ahnung. Ich bin doch offensichtlich für gar nichts richtig geeignet.“

„Wenn du dich weiter wie ein Ferkel im Selbstmitleid wälzen willst, dann bitte. Aber tu das bei dir zu Hause“, entgegnete John. Nachdem Renie keine Anstalten machte, das besetzte Sofa zu räumen, wurde es ihm zu bunt. Er griff zum Telefon und rief seine Schwester an.

Nach dem zu erwartenden Seufzer, „Das Kind macht mich noch wahnsinnig“ fuhr Maggie fort, „Alan ist heute Vormittag zu Hause. Ich schicke ihn gleich vorbei, um Renie abzuholen. Wenn ich selber komme, erwürge ich sie vielleicht.“

 

John hatte seiner Nichte durch das Küchenfenster nachgesehen, wie sie im Schlepptau ihres Vaters das Tower Green entlang schlurfte. Verglichen mit diesem Abbild abgrundtiefen Jammers hatte wahrscheinlich selbst Anne Boleyn auf dem Weg zum Schafott in eben dieser Ecke des Towers fröhlich gewirkt.

Danach hatte John eine ganze Weile nichts von ihr gehört. Eine Woche später hatte seine Schwester ihn angerufen.

„Argh! Stell dir vor, was sie jetzt wieder gemacht hat“, hatte sie ohne ein Wort der Begrüßung in den Hörer gebellt. Angesichts ihres Tonfalls bereitete es John keine Mühe, zu identifizieren, von wem sie sprach.

„In den Buckingham Palace eingebrochen? Bei der Sun angeheuert? Fürs Astronautentraining bei der NASA beworben?“, riet er munter drauflos.

„Du hast leicht scherzen“, zürnte Maggie. „Sie ist ja nicht deine Erstgeborene. Abgesehen davon wäre das mit der NASA eine gute Idee. Ich könnte sie sowieso auf den Mond schießen. Oder gleich auf den Mars.“

Im Hintergrund hörte John seinen Schwager etwas sagen, was durch das Zuschlagen einer Tür rüde abgeschnitten wurde.

„Alan mit seiner gottverdammten liberalen Attitüde macht mich auch noch mal wahnsinnig“, knurrte Maggie. „Lass doch das Kind, sie wird ihren Weg schon finden“, äffte sie ihren Mann erbost nach. „Das ‚Kind‘ ist mittlerweile 23 Jahre alt, Himmel Herrgott! Und sie hat schon unzählige Wege ‚gefunden‘ und wieder verlassen –“

Wenn seine ansonsten so besonnene Schwester einmal derart in Fahrt geraten war, versuchte man am besten nicht, sie zu stoppen. John ließ sie fauchen, wettern und schelten und beschränkte seine Gesprächsbeiträge auf teilnahmsvolles Brummen. Nach einigen Minuten hatte Maggie soweit Dampf abgelassen, dass sie zum Punkt kommen konnte.

„Sie hat einfach, ohne auch nur einen Ton zu sagen, ihr Auto verkauft – den goldigen roten Flitzer, den Alan und ich ihr geschenkt hatten!“

„Was? Warum das denn?“, fragte John verdattert. Er wusste, dass Renie ihren Mini Cooper heiß und innig geliebt hatte.

„Das kann ich dir sagen, oder vielmehr kann ich es dir vorlesen, aus dem Brief, den ich heute vorgefunden habe, als ich aus dem Gericht zurückkam:

Liebe Mum, lieber Dad, ich will euch nicht länger zur Last fallen. Ich muss es endlich schaffen, selbst mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich habe mir ein Zimmer genommen, wo ich für mich sein und überlegen kann, wie es weitergehen soll. Macht euch keine Sorgen, ich habe erstmal genug Geld, um über die Runden zu kommen. Ich habe mein Auto verkauft. Ich hoffe, ihr seid nicht sauer deswegen – argh!“, stieß Maggie aus. „Sauer! Das umschreibt es nicht mal ansatzweise! Wahrscheinlich hat sie sich den Wagen auch noch weit unter Wert abluchsen lassen. Madame Neunmalklug versteht ja NULL von solchen Dingen –“

Bevor Maggie zu einer erneuten Schimpftirade ansetzen konnte, erhob John die Stimme, „Moment mal – verstehe ich das richtig, dass Renie Knall auf Fall von zuhause ausgezogen ist, ohne vorher mit jemandem darüber zu reden?“

„So ist es. Sie hat die ganze Woche überhaupt kaum mit uns gesprochen. Wir dachten, sie braucht erstmal etwas Ruhe, um alles zu verdauen. Stattdessen hat sie offenbar diesen törichten Plan ausgebrütet –“

„Vielleicht ist Renies Idee ja gar nicht soo verkehrt, Maggie“, warf John nachdenklich ein. „Ich weiß, dass sie ein schlechtes Gewissen euch gegenüber hat, weil sie das Gefühl hat, eure Erwartungen ein ums andere Mal nicht erfüllt zu haben. Deswegen verstehe ich, dass sie das Bedürfnis hat, jetzt aus eigener Kraft etwas auf die Beine zu stellen.“

„Aber das ist doch nichts als falscher Stolz“, schmollte Maggie. „Wir hätten sie unterstützt, wie wir es immer getan haben. Wenn sie etwas gesagt hätte, hätten wir ihr doch eine Wohnung mieten können. Aber nein, wie immer muss sie mit dem Kopf durch die Wand.“ Sie seufzte. „Und dann schreibt sie hier auch noch, sie würde sich bei uns melden, sobald sie dazu bereit wäre. Wir sollen nicht versuchen, Kontakt aufzunehmen. Aber ich mache mir doch Sorgen, John! Wir wissen nicht mal, wo sie jetzt wohnt.“

John ahnte, was gleich kommen würde.

„Könntest du nicht versuchen, mit ihr zu reden?“, bat Maggie.

Bingo, dachte John mit einem Anflug von Resignation.

Er unterdrückte einen Seufzer und versprach seiner Schwester, Renie anzurufen.

„Und du gibst uns sofort Bescheid, sobald du etwas weißt, hörst du?“, drängte Maggie. „Ich möchte nur wissen, ob es ihr gut geht und ob sie etwas braucht und –“

„Ist gut, Maggie“, unterbrach er. „Ich melde mich.“ Als er auflegte, musste er sich eingestehen, dass er Renies Fluchtinstinkte nachvollziehen konnte. Seine Schwester war ein wunderbarer Mensch, aber den Spitznamen ‚Major Maggie‘ trug sie nicht zu Unrecht.


Kapitel 3

 

„Mir geht’s gut, John, wirklich“, hatte Renie ihrem Onkel einige Tage später am Telefon versichert, als sie endlich auf einen seiner hartnäckigen Anrufversuche reagierte. „Das kannst du Mum sagen. Sie hat dich doch darauf angesetzt, mich mit Anrufen zu bombardieren, oder?“

John musste bejahen. Renie seufzte.

„War mir klar. Sie meint’s ja auch gut, das weiß ich. Aber ich musste einfach raus aus dem Laden, sonst wäre ich erstickt.“

„Wo bist du untergekommen?“

„Da hatte ich totales Glück. Zufällig habe ich erfahren, dass in einem Studentenwohnheim der City University ein Zimmer frei wurde. Da musste ich einfach zugreifen. Offiziell bin ich ja erst ab Herbst hier eingeschrieben, aber das ließ sich schon deichseln. Die kleine Wohngruppe, in der ich gelandet bin, ist auch supernett. Allerdings sind die 800 Pfund, die der Spaß hier jeden Monat kostet, schon heftig.“

John verbiss sich den Kommentar, dass Renies Eltern die Miete genauso wie die Studiengebühren – immerhin an die 10.000 Pfund im Jahr – mit Freuden übernehmen würden, wenn Renie sie in ihre Pläne eingeweiht hätte.

Renie erriet seinen Gedankengang. „Jaja, ich weiß schon, dass ich mich selber in diese Situation gebracht habe. Aber auch wenn ich wie ein Schlosshund geheult habe, als mein Autchen, mein geliebtes Töff-Töff, abgeholt worden ist –“, ihre Stimme geriet für einen Moment ins Schwanken, „ – ist es mir das trotzdem wert. Jetzt kann ich ganz ohne Druck überlegen, wie mein Leben weitergehen soll. Die Einführungswoche für die Studienanfänger beginnt am 15. September, also habe ich noch fast drei Monate Zeit, mich zu entscheiden, was ich will. Momentan habe ich überhaupt keinen Plan.“ Sie verstummte.

„Können deine Eltern oder ich irgendwas für dich tun?“, fragte John sanft.

„Wenn ich ehrlich sein soll: Ihr tut mir momentan den größten Gefallen, wenn ihr mich in Ruhe lasst. Ich muss da jetzt erstmal allein durch. Aber du kannst Mum und Dad immerhin ausrichten, dass ich schon zwölf Bewerbungen für Aushilfsjobs geschrieben habe, ich liege also nicht auf der faulen Haut.“

Und damit hatte John sich zufriedengeben müssen. Nachdem er Maggie pflichtschuldig über das Gespräch berichtet hatte, kostete es ihn einige Mühe, seine Schwester davon abzuhalten, sofort alle vier Studentenwohnheime der City University auf der Suche nach ihrer Tochter abzuklappern.

„Ich glaube, das wäre jetzt absolut kontraproduktiv, Maggie“, beschwor er sie. „Verlass dich drauf, Renie wird sich melden, sobald sie bereit dazu ist.“

Zähneknirschend hatte Maggie sich bereiterklärt, Renies Wunsch zu respektieren. Und diese Strategie hatte sich ausgezahlt: Im Juli hatte Renie ihre Eltern und Geschwister mitsamt ihrem Onkel in ihre Studentenwohnung eingeladen.

 

John spürte die Anspannung bei Maggie und Alan, als sie durch die lichte Eingangshalle der Garden Halls gingen. Auch er selbst blickte dem Wiedersehen etwas unruhig entgegen. Renies quecksilbriges Temperament konnte in Verbindung mit Maggies kürzer werdendem Geduldsfaden eine durchaus explosive Mischung ergeben. John, der schon einige Mutter-Tochter-Scharmützel miterleben hatte müssen, hatte absolut keinen Bedarf, diese Erfahrung heute noch einmal zu wiederholen.

Nur Tommy und Bella, ihr Leben lang an die Kapriolen ihrer ältesten Schwester gewöhnt, sahen sich unbeschwert um.

„Coole Bude“, bemerkte Tommy. „Kinosaal, Fitnesscenter, Spieleraum – nicht schlecht.“

„Viel schöner als das Studentenheim, in dem Renie früher mal gewohnt hat“, urteilte auch Bella. „Da war es duster und eng. Hier ist alles so bunt.“

Im zentralen Treppenhaus stiegen sie in den zweiten Stock hinauf. Adrett in eine Bluse und einen knielangen Rock gewandet winkte Renie ihnen vom Ende des Flurs zu – etwas zaghaft, wie John fand. Offenbar war auch sie unsicher, wie ihre Familie ihr entgegentreten würde.

Bella war es, die das Eis brach. Sie lief los und sprang ihrer Schwester übermütig in die Arme. Als Maggie lächelte und die Arme öffnete, um ihre Älteste an sich zu drücken, wich die Nervosität endgültig aus Renies Gesicht.

„Kommt rein, kommt rein“, sagte sie, nachdem sie alle begrüßt hatte. „Meine beiden Mitbewohner sind beim Arbeiten, also können wir uns ganz ungestört unterhalten. Ich zeige euch erstmal mein Zimmer.“

„Donnerwetter“, entfuhr es Maggie gleich darauf. „Wie ordentlich! In deinem Zimmer zuhause sah es immer aus wie Kraut und Rüben.“

Renie grinste. „Ja, nicht schlecht, oder? Meinen Hang zum Chaos habe ich ganz gut im Griff jetzt.“

Das Bett war akkurat gemacht, der Schreibtisch makellos aufgeräumt, kein Stäubchen verunzierte das kleine Bücherregal. Auch der Rest der Wohnung wirkte wie aus dem Ei gepellt.

„Ich muss zugeben, daran haben Fabrizio und Matt einen großen Anteil“, gestand Renie ein. „Die Jungs legen großen Wert auf Sauberkeit. Matt studiert Pflegewissenschaften und Fabrizio Internationales Finanzwesen. Die beiden sind total knuffig.“

„Knuffig?“ Maggie hob eine Augenbraue.

„Ja, sie sind unheimlich nett und vor allem Fabrizio – er kommt aus Brasilien – sieht auch so richtig zum Anbeißen aus. Aber nachdem die zwei ein Paar sind, haben sie leider kein Interesse an einem armen, einsamen Mädchen wie mir.“ Sie stieß einen nur halb gespielten Seufzer aus und ging dann voraus in die Gemeinschaftsküche.

Maggie zwinkerte John zu und murmelte, „Das ist ja fein. Zumindest besteht hier keine Gefahr, dass die unendliche Geschichte mit Renies schiefgelaufenen Beziehungen wieder um ein Kapitel reicher wird.“

Der Küchentisch war hübsch gedeckt und mit frischen Blumen dekoriert.

„Setzt euch.“ Renie trug ein Tablett mit Scones und Muffins heran und verkündete, „Die habe ich selbst gebacken. Und die Erdbeermarmelade habe ich auch persönlich eingekocht.“

„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, kommentierte Alan verblüfft. Auch der Rest der Familie machte große Augen.

„Sag mal, auf was für einem Trip bist du eigentlich, Sis?“, platzte Tommy heraus. „Du läufst rum wie unsere Schulbibliothekarin und dann kochst du auch noch Marmelade. Machst du jetzt einen auf Stepford Wives?“

Bella sah alarmiert auf. „Sag mal, du fängst jetzt aber nicht auch das Spinnen an, so wie Simon?“

John musste sich das Lachen verbeißen. Sein Cousin, Superintendent Simon Whittington, hatte in diesem Sommer die ganze Familie in Verwirrung gestürzt. Urplötzlich hatte er – der sich den Ehrentitel ‚Pestbeule‘ schon in der Kinderzeit redlich verdient hatte – sich als zugänglichen, hilfsbereiten und außerordentlich um seine Familie bemühten Zeitgenossen präsentiert. Die Theorien zu diesem unerklärlichen Sinneswandel waren geradezu ins Kraut geschossen; nur John wusste, was hinter Simons verdächtig menschenfreundlichem Verhalten steckte. Zu seinem Leidwesen hatte er seinem Cousin versprechen müssen, Stillschweigen zu bewahren.

„Kinder“, mahnte Maggie. „Etwas mehr Respekt bitte für eure Schwester. Mir gefällt die Veränderung, Renie. Und jetzt hätte ich gern so einen Muffin, bitte.“

„Gerne, Mum.“ Renie blickte ihre Mutter dankbar an. Nachdem sie für alle Tee eingegossen und Gebäck verteilt hatte, setzte sie sich auf den letzten noch freien Stuhl und holte tief Luft.

„Ich habe viel nachgedacht in den letzten Wochen. Erst einmal finde ich, ist es angebracht, dass ich mich bei euch allen entschuldige. Ich weiß, dass ich mich oft wirklich unmöglich benommen habe, besonders in unserem Urlaub und auch hinterher, als ich bei der Zeitung rausgeflogen bin. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.“

„Oh Schätzchen“ Maggie griff gerührt nach der Hand ihrer Tochter. „Natürlich tun wir das. Wir wünschen uns einfach, dass du nach all den … ähm … Ansätzen der letzten Jahre etwas findest, was dich auf Dauer glücklich macht.“

„Also, von wegen Dauer … da bin ich mir immer noch nicht im Klaren. Eine Idee habe ich, aber da muss ich noch ein paar Sachen klären. Ich verstehe ja, dass ihr meine Zukunftspläne wissen wollt. Aber ihr müsst mir noch ein bisschen Zeit geben. Ist das in Ordnung?“

Maggie und Alan warfen sich einen Blick zu und nickten dann einmütig.

Renie blickte erleichtert drein und erklärte eifrig „Immerhin habe ich einen richtig guten Aushilfsjob gefunden.“ Sie lächelte schelmisch. „Was Tommy da vorhin gesagt hat, geht genau in die richtige Richtung. Tatsächlich arbeite ich jetzt in einer Bibliothek. Aber nicht in irgendeiner, sondern – tadah“, sie zog etwas aus ihrer Rocktasche und legte es auf den Tisch.

Houses of Parliament – Maureen Hughes, wissenschaftliche Mitarbeiterin“, las John staunend.

„Ich arbeite im Parlament. Ist das nicht toll?“ Renie klatschte begeistert in die Hände.

Tommy war wenig beeindruckt. „Pff, Parlament. Lauter Politiker auf einem Haufen, ist ja ätzend.“

„Mann, was bist du für ein Ignorant.“ Renie schlug sich an die Stirn.

„Wo das Herz unserer Nation schlägt und sich das Schicksal des Landes entscheidet“, deklamierte sie mit einer ordentlichen Portion Pathos – ihr alter Schauspiellehrer wäre stolz auf sie gewesen – und knuffte dann ihren Bruder in den Oberarm. „Das ist unser Parlament, du Vollhorst. Einer der spannendsten Orte überhaupt. Und ich mitten im Geschehen.“ Sie seufzte glücklich. „Ein Traum.“

„Ich kann mir vorstellen, dass Westminster ein sehr anregender Arbeitsplatz ist“, stimmte Alan ihr zu. „Ich war ja im letzten Jahr zweimal dort, um in einem Expertenpanel vor dem gemeinsamen Ausschuss von Ober- und Unterhaus zur Datensicherheit zu sprechen. Es ist schon sehr beeindruckend, wenn einem da auf dem Flur mal eben der Schatzkanzler oder der Sprecher der Lords begegnet.“

„Hast du David Cameron schon gesehen?“, fragte Bella.

„Nein, Spätzchen, als ich angefangen habe, hatten die Parlamentsferien schon begonnen. Da sind fast alle Politiker ausgeflogen, bis es Anfang September mit der neuen Sitzungsperiode losgeht. Vereinzelt lassen sich aber auch jetzt welche sehen, meistens Ausschussvorsitzende, die neue Gesetzesvorhaben vorbereiten.“

„Patricias Onkel ist dir aber noch nicht über den Weg gelaufen?“, erkundigte sich Maggie. „Er leitet den Wirtschaftsausschuss im Oberhaus, soweit ich weiß.“

„Lord Carrington?“, fragte Renie überrascht. „Der ist mit Patricia verwandt? Das wusste ich gar nicht.“

„Das könnte daran liegen, dass du auf jeder Familienfeier einen großen Bogen um Simon und Patricia machst“, gab Maggie zurück. „Während es meistens an mir hängen bleibt, mir endlos Geschichten über ihre royale Verwandtschaft anzuhören und mich dann auch noch für irgendeine Wohltätigkeitsaktion einspannen zu lassen.“

Die Ehrenwerte Patricia Whittington-Armsworth war als Vorsitzende des Krankenhausfördervereins von St. Bartholomew’s mindestens so umtriebig wie Emmeline Mackenzie in ihrem Gartenclub.

„Die Familie hat eine lange Tradition in der Politik“, fuhr Maggie fort. „Über die Jahrhunderte saß offenbar immer irgendein Mitglied im Oberhaus –“

„Na, Kunststück, wenn man den Parlamentssitz als Duke oder Earl oder was auch immer einfach vererbt kriegt“, warf Renie ein. „Egal, wie degeneriert, Hauptsache alter Adel, dann durfte man schon mitreden.“

„Das ist natürlich richtig“, räumte Maggie ein. „Aber damit war ja 1999 Schluss. Als der Großteil der Erbadligen aus dem Parlament flog, ging auch der Sitz von Patricias Familie flöten. Man befürchtete schon, dass man auf ewig vom Ruhm des Großvaters zehren müsste, der sich immerhin unter Winston Churchill im Kriegsministerium seine Lorbeeren erworben hatte. Aber dann wurde glücklicherweise der Ehrenwerte Mr. Carrington zum Life Peer ernannt, so dass man sich weiterhin mit einem Parlamentsmitglied schmücken kann.“

„Na, Gott sei Dank“, kommentierte Renie bissig. „Gott bewahre, dass Patricias nobler Clan in der Bedeutungslosigkeit versinkt.“ Sie schnaubte. „Allerdings muss ich zugeben, dass Lord Carrington wirklich ein Aktivposten in Westminster ist. Er ist auch Mitglied im Renovierungsausschuss und hängt sich da voll rein. Selbst jetzt in den Ferien sehe ich ihn fast täglich, wie er mit einem Tross Handwerker alle Winkel des Hauses durchkämmt.“

„Ah ja, vom schlechten Zustand des Palastes habe ich in letzter Zeit öfter in der Zeitung gelesen“, meldete sich John zu Wort. „Es scheint an allen Ecken und Enden Probleme zu geben, nicht wahr?“

Renie nickte emphatisch. „In den öffentlichen Bereichen geht es gerade noch, wenn man nicht genauer hinschaut. Aber hinter den Kulissen ist es wirklich übel. Da gehört der Putz, der von der Decke fällt, noch zu den kleineren Übeln. Letzte Woche ist in einem Büro Wasser aus der Wand gelaufen, weil dahinter ein Rohr geborsten war. Kollegen haben mir erzählt, dass im Schnitt alle sechs Wochen ein Brand ausbricht und rund um die Uhr fünf Feuerwehrleute im Haus in Bereitschaft sind –“ Plötzlich kicherte sie los.

„Stellt euch vor, letzten Montag gehe ich gerade den Flur entlang, mit einem Packen Kopien – es ist wirklich unglaublich, wieviel Papier da drin täglich produziert wird, als wenn der Computer noch nicht mal erfunden worden wäre – also, auf jeden Fall ertönt plötzlich markerschütterndes Gekreisch aus einem Büro. Ich natürlich sofort rein und da saß eine putzige Maus in der Ecke und nagte ganz friedlich an einem Kabel. Die Frau da drin fand das Tierchen offenbar nicht so niedlich und hat sich echt die Seele aus dem Hals geschrien.“

„Was hast du dann gemacht?“, fragte Bella interessiert. „Ihr habt der Maus hoffentlich nichts getan?“

„Natürlich nicht, Spätzchen. Ich wollte sie mit einem Papierkorb fangen, aber sie ist einfach in einem Loch in der Wand verschwunden, wo wahrscheinlich ihre ganze Familie haust. So oft, wie ich jetzt schon Mäuseköttel auf dem Boden gesehen habe, glaube ich ja, dass in dem Gemäuer mehr Nager leben als wir Parlamentarier haben.“

Alan zog eine Augenbraue nach oben. „Das wäre bei 650 Abgeordneten im Unterhaus und an die 800 bei den Lords ja eine ganz schöne Mäusepopulation. Vielleicht sollte die Verwaltung mal eine Katze anschaffen.“

„Oh ja, wie Larry in Downing Street“, rief Bella.

Renie lachte. „Ich werde den Vorschlag mal anbringen. Am besten sollte es gleich zwei Dienstkatzen geben. Die fürs Oberhaus kriegt dann ein rotes Halsband in der Farbe der Lords und die fürs Unterhaus ein grünes.“ Sie griff nach einem Scone. „Ein Tier haben wir übrigens schon, das auf der Gehaltsliste steht: Einen Raubvogel, der regelmäßig mit seinem Herrchen kommt, um die Tauben von der Fassade zu vertreiben. Scheint ganz gut zu funktionieren, hat mir Philippa erzählt. Sie sitzt im Büro der Zentralen Verwaltung und weiß eigentlich immer, was im Haus los ist.“

Das erinnerte John an Bonnie Sedgwick, die über das Vorzimmer von Chief Mullins und damit das Epizentrum des Towers regierte. Es kam selten vor, dass in der Festung etwas geschah, von dem Bonnie nicht in kürzester Zeit Wind bekam.

„Sie hat mir in den ersten Wochen supernett geholfen, mich zurecht zu finden“, erzählte Renie weiter. „Und auch sonst habe ich schon viele coole Leute kennengelernt. Steve, zum Beispiel, einer der Elektriker, ist richtig schnuckelig –“

John registrierte amüsiert, dass Maggie sogleich anhob, um ob dieser interessanten Aussage nachzubohren, aber Renie sprach hastig weiter. „Der Einzige, der ein ziemlicher Stinkstiefel ist, ist der Typ aus der Personalabteilung, der mich eingestellt hat. Mr. Ramsbottom. Offenbar durchleuchtet er selbst für so eine Aushilfsstelle, wie ich sie momentan habe, genauestens das Vorleben von jedem Bewerber. Da sind ihm natürlich sofort meine Beiträge im Guardian ins Auge gesprungen und er hatte den unverschämten Verdacht, dass ich den Job nur will, um undercover irgendwelche Skandale aufzudecken.“

„So abwegig ist die Idee ja nicht“, bemerkte Maggie mit einem milden Lächeln.

Sofort blitzte es in Renies Augen auf.

„Oh, Mum, bitte. Ich schwöre, meine Tage als Investigativreporterin sind vorbei. Endgültig. Von jetzt an bin ich hochseriös.“

„Mhm.“

Maggies Unterton gefiel ihrer Tochter sichtlich nicht.

John, der Unheil dräuen sah, fragte schnell, „Wie hast du es dann geschafft, den Mann doch davon zu überzeugen, dass er dich einstellt?“

„Laut Stellenausschreibung brauchten sie jemanden, der Erfahrung mit Recherchen aller Art hat, selbstständig und zügig arbeitet und halbwegs vernünftig schreiben kann“, erwiderte Renie. „Und zumindest das habe ich in meinem Praktikumszeugnis vom Guardian bestätigt bekommen –“

„Sieh mal einer an“, kommentierte Maggie. „Deine ‚kreativen‘ Nachforschungsmethoden wurden da gar nicht erwähnt?“

„Oh Mum“, jaulte Renie. „Deinen Staatsanwältinnen-Ton kannst du dir echt sparen. Mann, so schlimm war es nun auch wieder nicht, was ich gemacht habe.“

Nun ja. Nötigung, Erpressung und unerlaubtes Betreten … so einige Straftatbestände wären da durchaus zusammengekommen, dachte John bei sich.

„Bei der Sun oder der Daily Mail wäre ich wahrscheinlich zur Mitarbeiterin des Monats gekürt worden. Da hätte kein Hahn danach gekräht, wie ich an meine Infos gekommen bin“, sagte Renie trotzig.

„Auf das Niveau der Regenbogenpresse möchtest du dich aber nicht wirklich begeben, oder etwa doch?“ Alan blickte seine Tochter forschend an.

Renie sah beschämt drein. „Natürlich nicht. Herrje, ihr habt ja recht. Jetzt hätte ich fast wieder einen Rückfall in alte Zeiten gehabt. Es tut mir leid.“ Sie holte tief Luft und schielte zu ihrer Mutter hinüber, die ihr versöhnlich zunickte.

„Na, auf jeden Fall hat der alte Ramsbottom schließlich doch beschlossen, mir sein Vertrauen zu schenken und mir den Aushilfsjob in der Bibliothek zu geben. Also, tatsächlich haben wir zwei davon, eine fürs Oberhaus und eine fürs Unterhaus. Ich sage euch, das sind Räumlichkeiten, da haut’s dir den Vogel raus.“ Sie zeigte ihnen flugs einige Fotos auf ihrem Smartphone.

„Die Lesesäle sind noch genau so, wie sie 1852 eröffnet worden sind. Mit diesem herrlichen dunklen Holz getäfelt, meterhohen Regalen und schweren Ledersesseln. Und ich liebe diese Leitern, mit denen man an den Bücherreihen entlanggleiten kann und bis ganz hinauf kommt.“

„Habt ihr da auch Pferdebücher?“, wollte Bella wissen.

„Nein, Spätzchen, so etwas gibt es bei uns nicht“, lachte Renie. „Unterhaltungsliteratur führen wir nicht. Bei uns geht es um Informationen.“

Bella zog einen Flunsch.

„Für was braucht man heutzutage überhaupt noch eine Bücherei mit so staubigen alten Wälzern?“, fragte Tommy. „Wenn ich etwas wissen will, frage ich Google oder Wikipedia oder sowas und fertig.“

Renie verdrehte die Augen. „Das kannst du doch nicht für bare Münze nehmen, was auf irgendwelchen Seiten im Internet steht, Tommy. Da kann doch jeder Schwachkopf reinschreiben, was er will. Ob er was davon versteht oder nicht. Du hast ja gar keine Ahnung, was da alles manipuliert wird. Nein, nein, wenn es um so wichtige Dinge wie Gesetzesvorhaben geht, braucht man absolut neutrale, korrekte und fundierte Informationen. Und die recherchieren wir und stellen sie knapp und lesbar zusammen, damit unsere Politiker eine verlässliche Datengrundlage haben.“

„Aber was ist dann jetzt in den Parlamentsferien zu tun, wenn kaum Abgeordnete da sind?“, wollte Maggie wissen.

„Ach, erstmal läuft da ein Riesenprojekt, das alte Aufzeichnungen schrittweise digitalisiert. Nachdem ich mich technisch einigermaßen auskenne, bin ich da mit dabei. Dann werden ähnlich wie beim Reader’s Digest regelmäßig aktuelle Veröffentlichungen zu bestimmten Themen zusammengefasst und für die Abgeordneten zur Verfügung gestellt. Es kann schließlich nicht jeder immer auf dem Laufenden sein, was zum Beispiel neue Forschungsergebnisse zur Krebsprävention betrifft oder die Entwicklung der Kriminalität in Devon oder was auch immer. Noch Tee, John?“ Sie schenkte ihm nach und sprach schon weiter.

„Aber ich durfte auch schon eine Recherche für die Vorsitzende der Energiekommission durchführen. Sie bereitet gerade eine Gesetzesvorlage zum Schutz der Stahlindustrie vor, die sie im Herbst ins Unterhaus bringen will. Es ist echt unglaublich, was man da alles lernt. Wusstet ihr zum Beispiel, dass für jeden Job, der in der Stahlproduktion wegfällt, drei weitere, die indirekt davon abhängen, den Bach runtergehen? Allein bei Tata Steel könnten in nächster Zeit über tausend Stellen wegfallen –“

John lauschte seiner vor Enthusiasmus sprühenden Nichte mit einem leisen Lächeln und staunte im Stillen wie schon so oft über ihre wundersame Fähigkeit, wie ein Gummiball selbst aus dem tiefsten Loch wieder herauszuspringen und sich immer wieder neu zu erfinden.


Kapitel 4

 

‚Hallo ihr Lieben! Ich möchte euch an die Führung durch den Westminster Palace (meinen Arbeitsplatz ;-) erinnern: Wir treffen uns am Montag, 20. August PÜNKTLICH (@John!) um 13.45 Uhr am Publikumseingang. Bitte keine Rucksäcke o.ä. mitbringen. Ich freue mich schon. Liebe Grüße, Renie

 

Amüsiert bemerkte John, dass das E-Mail von Renies neuer Adresse maureen.hughes@parliament.co.uk gekommen war, auf die sie sehr stolz war. Noch vor seinem Segelurlaub hatte seine Nichte von einem dankbaren Abgeordneten, dem sie offenbar bei einer kniffligen Recherche unter die Arme gegriffen hatte, eine Einladung für eine spezielle Besichtigung des Parlamentsgebäudes erhalten. Beinahe berstend vor Stolz, der ganzen Familie ihre neue Wirkungsstätte vorführen zu können, hatte sich Renie sofort daran gemacht, einen Termin zu organisieren. Natürlich hatte John ebenso wie die meisten Kinder, die in der Metropole aufgewachsen waren, in grauer Vorzeit den obligatorischen Schulausflug nach Westminster mitgemacht. Dennoch hatte er seine Schicht so organisiert, dass er Zeit hatte, bei diesem Familien-Event dabei zu sein.

Gerade, als er die nächste Nachricht anklicken wollte, fiel ihm noch ein Nachsatz ins Auge.

 

P.S.: Macht euch auf Neuigkeiten gefasst!

 

Das versprach ja, ein spannender Ausflug zu werden. Nun, er musste sich noch eine gute Woche gedulden, bis er Näheres erfahren würde. In der Zwischenzeit würde erst einmal der übliche Alltag wieder Einzug halten. Einerseits bedauerte John es, dass seine gemeinsame Zeit mit Pauline für diesen Sommer zu Ende war, andererseits freute er sich nach den ereignisreichen Monaten – beginnend mit jener nicht gerade erholsamen Familienreise nach Cornwall – direkt auf den gewohnten Ablauf mit Besucherführungen durch den Tower, seinen vielfältigen Aufgaben als Rabenpfleger und dem gelegentlichen Wachdienst.

Ganz besonders freute er sich auf eine Extra-Führung, die in einigen Wochen auf dem Programm stand. Er hatte sie für das Nachbarschaftszentrum von Hounslow organisiert, nachdem er dessen Leiterin im Zuge der Ermittlungen zum Mord im Londoner Zoo im Frühjahr kennengelernt hatte.

Sue Blake hatte eine Gruppe aus dreißig Personen angemeldet, hauptsächlich Kinder und Frauen, die vom Zentrum betreut wurden. Da John bereits eine Menge Führungen für Schulklassen gemacht und seine Erfahrungen mit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne dieser Zielgruppe gemacht habe, hatte er ein abwechslungsreiches Programm erdacht.

Sein Kollege Michael Conners, der mit Feuereifer in der Mittelalter-Schauspieltruppe des Towers agierte, würde die Besucher in das höfische Leben zur Zeit von Edward I. einführen und John wollte einige Highlights aus den Ausstellungen zeigen wie die Waffenkammer und die Privatkapelle von Henry VI. Nach einem Snack in der Cafeteria der Beefeater sollten die Raben im Mittelpunkt stehen. Dieser Teil der Führung würde sicher ein Selbstläufer werden.

Vor allem Gworran schaffte es regelmäßig, Groß und Klein zu fesseln. Der Vogel war der geborene Entertainer und stellte gern sein großes Repertoire an Geräuschen zur Schau. Spätestens, seit George ihm beigebracht hatte, mit einem Stöckchen im Schnabel in der Luft herumzuwedeln und ‚Expecto Patronum‘ zu kreischen, war Gworran zu einer kleinen Internet-Berühmtheit geworden. Dass die Marketing-Abteilung des Towers dem Raben einen eigenen Instagram-Account einrichten wollte, fand John aber doch übertrieben. Glücklicherweise hatte George dieses Ansinnen rigoros abgelehnt.

„Als nächstes soll Gworran vielleicht noch für Frühstückscerealien werben oder so einen Humbug – die haben doch nicht alle Tassen im Schrank, diese Werbeheinis“, hatte er gezürnt. „Wenn wir sie ließen, würden die unsere Vögel kommerziell bis ins Letzte ausbeuten. Einen Instagram-Account! Ja, wo kommen wir denn da hin. So einen Zinnober erlaube ich nicht. Und damit basta.“

So gefiel es dem Ravenmaster auch ganz und gar nicht, als der Zeitplan für die Erstellung des lange ersehnten neuen Rabenhauses jäh durcheinander geriet.

 

Mit dem Ausruf „Grundgütiger! Jetzt haben sie auch noch Knochen gefunden“ stürmte George einige Tage nach Johns Rückkehr aus Sizilien ins Rabenhaus. Erstaunt hielt John, der gerade das Fleisch für die Abendfütterung kleinschnitt, inne. George winkte ihn ungeduldig nach draußen.

„Das musst du dir ansehen.“

John legte hastig das Fleisch zurück in den Kühlschrank und folgte dem Älteren hinaus.

Hinter dem Haus waren die sechzig Quadratmeter, die für das Fundament notwendig waren, mittlerweile Schicht um Schicht abgetragen worden. Knapp einen halben Meter tief waren die Archäologen in den letzten Tagen vorgedrungen.

„Ein Bagger hätte das auf eine Stunde erledigt gehabt“, hatte George mehr als einmal gegrummelt. In seiner Ungeduld war er oft wie ein Tiger am Schnurgerüst entlanggelaufen, aber die Grabungsarbeiter hatten sich nicht beirren lassen und hatten in der ungewöhnlichen Augusthitze geduldig Tag um Tag die Erde buchstäblich löffelweise gesiebt.

Am Rand der rechteckigen Vertiefung in der Wiese stand der Grabungsleiter Professor Williams, der mit einer Truppe seiner Studenten eigens vom King’s College angeheuert worden war, mit dem Chefhistoriker des Towers Dr. Whyte, beide vornübergebeugt und aufgeregt gestikulierend. In der Grube kniete einer der Studenten auf einem Brett und fotografierte etwas auf dem Boden.

„Was gibt es hier Aufregendes?“, erkundigte sich John.

„Ah, Mackenzie. Wir haben hier einen Knochenfund. Sieht sehr vielversprechend aus. Jetzt dokumentieren wir erstmal in situ, dann wird er mit der gebotenen Sorgfalt geborgen und untersucht.“

„Das ist doch alles völlig überzogen“, grantelte George. „Was soll das schon für ein Knochen sein? Wahrscheinlich von einem der Hunde, die hier gelebt haben, oder von mir aus auch von einem Nashorn oder einem Eisbär, ist mir schnurz. Ist ja hochinteressant und alles, aber es wirft unseren ganzen Zeitplan durcheinander –“

„Jetzt mal halblang, Campbell“, fuhr Dr. Whyte ihm in die Parade. „Wir stehen hier schließlich auf dem wohl historisch bedeutsamsten Stück Erde unseres Landes. Über tausend Jahre der Zivilisationsentwicklung unseres Landes haben sich hier zugetragen. Und alles, verstehen Sie, alles, selbst wenn es ein Haar oder ein Fingernagel wäre, ist von eminenter Bedeutung für die Geschichtsschreibung –“

Es war kein Geheimnis, dass Dr. Whyte auch seiner eigenen Person eminente Bedeutung zumaß. Lauschte man ihm – und John musste dies regelmäßig, da alle Beefeater dazu angehalten waren, zur Erweiterung ihres Wissensschatzes Whytes Fachvorträge über sich ergehen zu lassen – beschlich einen das Gefühl, dass dieser sich als Hüter des wichtigsten Ortes der gesamten Menschheitsgeschichte sah. Auch wenn John sich sehr für Geschichte interessierte, hatte er mehr als einmal während Whytes nicht enden wollenden Ausführungen gegen die Versuchung kämpfen müssen, ein Nickerchen zu halten. Entschlossen nutzte er eine Atempause von Dr. Whyte, um eine Frage zu stellen.

„Was denken Sie, wie lange dieser Fund die weiteren Arbeiten verzögern wird?“

„Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen“, gab Whyte in gewichtigem Ton zurück. „Es könnten Monate sein –“

Nun verfärbte sich Georges Gesicht in ein alarmierendes Rot.

„Monate?“, brüllte er. „Haben Sie noch alle Latten am Zaun, Mann? Dann haben wir Winter und können unser Bauprojekt für dieses Jahr total vergessen –“

„Spielen Sie sich nicht so auf, Campbell! Wie reden Sie überhaupt mit mir? Das ist ja bodenlos“, fauchte Dr. Whyte. „Ihre Flattermänner werden es schon noch eine Weile in ihrem alten Haus aushalten –“

George richtete sich empört zu voller Länge auf und ging drohend einen Schritt nach vorn.

„Flattermänner?! Unsere Raben sind seit Urzeiten Mitglieder des Königlichen Haushalts, Sie Ignorant –“

„Ach was, Urzeiten. Das ist doch nur eine Legende, deren historische Substanz höchst zweifelhaft ist!“, rief Whyte.

„Ich bin auf jeden Fall von höchster Stelle beauftragt, bestmöglich für das Wohlergehen dieser Tiere zu sorgen und dabei stehen Sie mir im Weg!“

John fühlte sich lebhaft an zwei Gockel erinnert, die mit gesträubtem Gefieder und lautem Gekrähe um die Vorherrschaft im Hühnerhof rangen.

Professor Williams hob beschwichtigend beide Hände.

„Meine Herren, wir wollen uns doch nicht über Gebühr echauffieren. Die weiteren Untersuchungen des Untergrundes hängen maßgeblich davon ab, ob es sich um einen Einzelfund handelt oder wir noch mehr entdecken. Wir werden jetzt auf jeden Fall mit besonderer Bedacht vorgehen. Das wird das Arbeitstempo reduzieren. Es tut mir leid, dass sich der Bau des Rabenhauses dadurch verzögert, aber wie Dr. Whyte schon sagte, können wir es uns nicht erlauben, auf einem so geschichtsträchtigen Boden etwas zu übersehen.“

Mit einem respektvollen „Sir, bitte sehen Sie sich das an“, reichte der Student dem Professor die Kamera. Williams nickte zufrieden. „Kein Zweifel. Die Nahaufnahmen bestätigen meinen ersten Eindruck. Es handelt sich um einen Unterkiefer. Zweifellos humanen Ursprungs. Ausgezeichnet. Das ist ja schon mal ein schöner Fund.“

Diese Meinung teilte George offensichtlich nicht. Er brummte etwas Unverständliches, stampfte ins Rabenhaus zurück und warf die Tür hinter sich zu.

 

Am Montagmittag hetzte John zur U-Bahn, in der Hand einen Apfel und ein Sandwich, das er sich in weiser Voraussicht schon vor Beginn seines Frühdienstes um fünf Uhr zubereitet hatte. Am Ende der letzten Führung um eins hatten noch sämtliche Mitglieder der Touristengruppe für Fotos mit ihm posieren wollen und er hatte es wie üblich nicht übers Herz gebracht, sie zu enttäuschen. So war es schon Viertel nach eins, als er sich endlich in seine Wohnung zurückziehen konnte, um sich eilends aus der Uniform zu schälen. Er warf sich ein Leinenhemd über, das Pauline für ihn in einem schicken Herrenmodegeschäft auf Sizilien ausgesucht hatte – seine verloren gegangene Reisetasche war in der Zwischenzeit tatsächlich aufgetaucht – und trabte zur Haltestelle Tower Hill. Glücklicherweise gab es keinen erneuten Streik der U-Bahn-Fahrer, so dass er, wenn auch etwas abgekämpft, doch noch pünktlich den Treffpunkt erreichte.

Zu Füßen der Statue von Oliver Cromwell warteten schon seine Eltern und Maggie mit Tommy und Bella. Auch sein jüngerer Bruder David war mit dem kleinen Christopher aus Cambridge gekommen. Alan hatte am Sonntagabend zu seinem Bedauern zu einem wichtigen Termin nach Brüssel fliegen müssen.

„Da bist du ja, Junge“, begrüßte Emmeline Mackenzie John, um sogleich mit dem von ihr über Jahrzehnte geschliffenen und perfektionierten, garantiert schlechtes-Gewissen-erzeugenden Unterton fortzufahren, „Wir haben dich ewig nicht gesehen. Du bist wohl sehr beschäftigt.“

Der Treffer saß. Während er den Rest der Familie begrüßte, begann John augenblicklich zu überlegen, wann er die Zeit finden konnte, einmal wieder zu seinen Eltern hinaus nach Kew zu fahren.

Glücklicherweise wurde seine Mutter vom Eintreffen Renies abgelenkt, die mit einem Stapel Besucherausweise in der Hand aus dem Eingangsportal trat.

„Toll, da seid ihr ja alle. John, du bist auch schon da. Wow.“

„Fesch siehst du aus, Kind. Das Ensemble kleidet dich sehr vorteilhaft.“ Wohlwollend musterte Emmeline ihre älteste Enkelin, die in einen gefältelten Rock, flache Schuhe und ein dunkelblaues Twinset gewandet war.

„Fesch“, spöttelte Tommy leise. „Boah, ist das traurig, wenn deine eigene Großmutter dir sagt, du bist fesch.“

Bella, die den Aufzug ihrer Schwester kritisch beäugte, nickte.

„Renie dreht echt wieder am Rad“, meinte sie nüchtern.

„Ich habe da eine Perlenkette in meiner Schmuckschachtel, die stammt noch von deiner Ur-Urgroßmutter. Die würde wunderbar zu deinem neuen Stil passen“, schwärmte Emmeline, um gleich darauf David aufs Korn zu nehmen.

„Du hast da irgendetwas … Schmieriges an der Hose.“

„Oh. Das stammt wahrscheinlich von unserem kleinen Racker.“

Alle Blicke hefteten sich auf Christopher, der etwas unlustig mit dem Fuß einen kleinen Stein herumkickte.

„Doch nicht Christopher. Der ist aus dem Sabberalter raus.“ David grinste und nahm das Taschentuch entgegen, das Maggie ihm reichte.

„Aber Joey schlabbert uns gern alle voll. Nicht wahr, Christopher?“

Der Junge sah auf. „Das macht er nur, weil er uns lieb hat. Er hat auch schon zwei Paar von meinen Hausschuhen gegessen“, verkündete er frohgemut.

„Außerdem hat er die Hälfte unseres Sofas in Beschlag genommen und wenn ich mir ein Tennismatch im Fernsehen ansehen will, kommentiert er quasi jeden Ballwechsel. Und er hat ein sehr lautes Organ, kann ich euch sagen“, brummelte David unter allgemeinem Gelächter. „Ach, ich habe ein Video davon auf dem Handy, wartet, ich zeige es euch gleich –“

Renie räusperte sich. „Können wir das auf später verschieben, David? Wir müssen jetzt hinein. Unser Guide erwartet uns und ihr müsst noch durch die Sicherheitskontrolle.“

„Ich wollte lieber bei Mummy daheim bleiben und mit Joey spielen. Das blöde alte Parlemant interessiert mich nicht“, murrte Christopher.

„Dann sind wir schon zu zweit“, kam es postwendend von Tommy. „Ich war da schon mal mit der Schule drin. Das eine Mal hat mir gereicht.“

Während Tommy einen strafenden Blick seiner Mutter erntete, ging David vor seinem Sohn in die Hocke und erklärte geduldig, „Wir haben das doch besprochen. Du kommst in ein paar Tagen in die Grundschule – das ist ein wichtiger Abschnitt. Nach der Vorschule geht es jetzt so richtig los mit dem Lernen und mit der Basis für deine Zukunft. Wenn eure neue Lehrerin dann fragt, was ihr im Sommer so gemacht habt, kannst du ihr gleich erzählen, dass du unser Par-la-ment – so heißt das richtig – besichtigt hast. Was denkst du, was für einen guten Eindruck das macht.“

„Er könnte auch noch ausführen, dass er die Kathedrale von Salisbury besucht hat, um ein Original der Magna Carta zu sehen“, warf Maggie mit einem unschuldigen Lächeln ein. „Während sein Vater, der ‚Bildungsbürger‘, es vorgezogen hat, seine Zeit stattdessen im örtlichen Fudge-Laden zu verbringen.“

David funkelte sie an. Während Renie Christopher mit dem Versprechen auf einen Schokomuffin in der Teestube des Parlaments lockte und den Trupp ins Gebäude führte, zischte er, „Untergrab nicht meine Erziehungsversuche. Unser Sohn wird mit einer Horde von Professorenkindern die Schule besuchen. Da muss man schon schauen, wo man bleibt –“

„Alle mal herhören“, erhob Renie die Stimme. „Ich darf euch Mr. Shaw vorstellen. Er wird uns herumführen.“

Vor ihnen stand ein alter Herr, dessen spärliches weißes Haar sorgsam frisiert war. Sein Anzug wirkte ein wenig zu groß, als wäre sein Träger im Lauf der Zeit eingeschrumpft. John fühlte sich an eine weise alte Schildkröte erinnert – aber nur, bis Shaw den Mund aufmachte. Wenn er sprach, erhielt man eher den Eindruck eines in Ehren ergrauten, aber immer noch voller Temperament steckenden Vollblutpferdes.

„Willkommen im Weltkulturerbe Westminster Palace. Wie Sie sich vielleicht denken können, bin ich schon seit einer Weile hier in diesen ehrwürdigen Hallen unterwegs. Genauer gesagt seit 1960. Elf Premierminister habe ich erlebt, und zwar aus nächster Nähe. Ich war nämlich einer der Torwächter im Unterhaus, bis ich in den Ruhestand ging. Aber so untätig zu sein, war nichts für mich. Das Gebäude kenne ich wie meine Westentasche und ein Interesse für Geschichte hatte ich immer schon. Und so habe ich mich als Gästeführer verdingt und hoffe, das auch noch einige Jährchen machen zu können.“

Während Johns Vater beifällig nickte, hob Bella zögernd die Hand, als würde sie sich in der Schule melden wollen.

„Ja, junge Dame?“

„Was macht ein Torwächter?“, fragte sie.

Shaw freute sich offensichtlich über die Frage. „Ah, das kann ich dir sagen. Hauptsächlich sind wir für die Sicherheit im Haus zuständig. Aber wir überbringen auch Nachrichten und sorgen dafür, dass die acht Minuten, die für eine Abstimmung zur Verfügung stehen, eingehalten werden. Wer zu spät kommt, steht vor verschlossenen Türen.“ Er zwinkerte. „Oh, da könnte ich Geschichten erzählen, wie da schon so mancher Abgeordnete reagiert hat, wenn wir ihm den Zutritt verweigert haben. Aber Ordnung muss sein.“

Er führte sie mit federnden Schritten einige Stufen hinauf.

„Der Abgeordnete Merriweather hat mich gebeten, eine schöne Runde durch den Palast für Sie zusammenzustellen. Miss Maureen hier hat ihn mit ihrer Kompetenz und ihrem Engagement sehr beeindruckt und es war ihm ein Anliegen, sich zu revanchieren.“ Er tätschelte Renies Arm, die sichtlich vor Stolz platzte.

„Sie werden dabei auch einiges zu sehen bekommen, was den üblichen Besuchern vorenthalten bleibt. Ich hoffe, Sie haben Zeit und ein bisschen Kondition mitgebracht. Wir werden zwar nur einen Bruchteil unserer über tausend Räume besichtigen, aber dennoch werden wir ganz hübsch unterwegs sein.“

Nachdem Renie jeden mit einem Besucherausweis ausgestattet hatte, passierten sie die Sicherheitskontrolle und standen gleich darauf in der gewaltigen Westminster Hall. John sah staunend hinauf zu der gewagten gotischen Dachkonstruktion. Sein Schulausflug hierher lag wohl dreißig Jahre zurück – bei diesem Gedanken wurde ihm kurz flau – und genauso wie Tommy hatte er damals wenig Sinn für die Bedeutung des Ortes gehabt.

„Tausend Jahre Geschichte umfangen uns“, begann Mr. Shaw feierlich. „Der Dänenkönig Knut war der Erste, der sich hier an der Themse einen Palast baute. Als der Sohn von William dem Eroberer 1097 diese freitragende Halle erschaffen ließ, war sie ein architektonisches Weltwunder. Seitdem hat hier eine Unzahl von bedeutenden Ereignissen stattgefunden. Da wäre natürlich an vorderster Stelle die allererste Sitzung eines Parlaments zu nennen. 1265 war es, als der Grundstein für unser demokratisches System gelegt wurde. Heute, 750 Jahre später, können wir mit Fug und Recht sagen, dass wir Briten über die Mutter aller Parlamente verfügen.“

Er strahlte stolz in die Runde, während Tommy innerlich aufstöhnte. Er hatte es ja gewusst – mitten in seinen sauer verdienten Ferien musste er nun eine sterbenslangweilige Geschichtsstunde über sich ergehen lassen. Wenn das nicht madig war.

„Dann gab es hier auch jede Menge royalen Glamour“, fuhr Mr. Shaw fort. „Vor allem bei den Krönungszeremonien – die opulenteste war die von George IV., sie hätte nach heutigen Maßstäben um die 20 Millionen Pfund gekostet. Er soll sich dabei derartig betrunken haben, dass er schließlich vom Thron gefallen ist. Das muss ein peinliches Spektakel gewesen sein, wie der frischgekrönte König, der auch ein ziemlicher Vielfraß war, da so würdelos herumlag.“

„Ungefähr so peinlich wie kürzlich der edle Lord, der im apricotfarbenen BH bei einer Sexparty mit Prostituierten und Kokain gefilmt wurde“, entschlüpfte es David, der gerade noch daran gedacht hatte, Christopher die Ohren zuzuhalten.

Renie kicherte. „Das war schon ein Kracher. Da sind richtige Schockwellen durch die Palastmauern gelaufen. Man stelle sich vor: Ausgerechnet der Chef der Kommission für korrektes Verhalten und moralische Standards wird bei so etwas ertappt. Ein Super-GAU.“

Mr. Shaw nickte. „Der Würde des Hauses war das auf jeden Fall nicht angemessen. Aber es ist eben kein Mensch, egal in welcher Position, über allzu menschliche Gelüste erhaben. Denken Sie nur an den amerikanischen Präsidenten Clinton und seine Praktikantin.“ Er zuckte mit den Schultern und nahm den Faden wieder auf.

„Westminster Hall hat über viele Jahrhunderte auch als Ort der Rechtsprechung eine wichtige Rolle gespielt. Berühmte Prozesse wurden hier geführt. William Wallace, Charles I., Guy Fawkes, alle sind sie hier zum Tode verurteilt worden. Und auch Thomas More, nachdem er sich Henry VIII. entgegengestellt hatte. Er gilt heute wegen seiner Standhaftigkeit übrigens als Schutzpatron aller Politiker.“

James Mackenzie schnaubte. „Seinen Beistand könnten etliche von den Herren und Damen brauchen, damit sie nicht so oft vor allen möglichen Lobbyisten einknicken.“

Der Guide lächelte fein. „Ja, es sind vielfältige Einflüsse, die auf unsere Mächtigen einwirken. Ich muss sagen, ich habe nie einen unserer Abgeordneten beneidet. Die Verantwortung, die mit so einer Rolle einhergeht, ist sicher nicht leicht zu tragen. Lassen Sie uns jetzt hinuntergehen in die St. Mary’s Kapelle.“ Er sperrte eine Tür auf und führte sie über eine Treppe hinunter in ein farbenprächtig ausgestattetes Gewölbe.

„Dieser Raum hatte schon die verschiedensten Funktionen. Königlicher Andachtsraum, Kohlenkeller, Speisezimmer, Stall für die Pferde von Oliver Cromwell. Heute können unsere Parlamentarier hier heiraten, wenn sie möchten. Was ich Ihnen zeigen möchte, ist dies hier.“

Er öffnete eine unscheinbare Tür in eine Art Besenschrank. „Hier hat sich eine der Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht, Emily Wilding Davison, am 2. April 1911 versteckt. Es war die Nacht der Volkszählung und so konnte sie als aktuelle Adresse das Parlament angeben, wo ihrer Meinung nach die Frauen auch hingehörten.“

Ehrfürchtig fuhr Renie mit den Fingern über eine Plakette, die in die Wand eingelassen war. „Ich habe über Emily gelesen. Sie war eine sehr tapfere Frau. Obwohl sie wie viele andere Suffragetten immer wieder inhaftiert wurde und dort unter schlimmsten Bedingungen leiden musste, gab sie ihren Kampf nicht auf. Am Ende hat sie sich dann aus Protest beim Derby vor das Pferd des Königs geworfen. Sie ist dabei überrannt und getötet worden.“

Mr. Shaw nickte. „Sie ist ihren Weg kompromisslos bis zum Ende gegangen und war eine der großen Wegbereiterinnen dafür, dass Frauen ab 1918 endlich ebenfalls ihre Stimme abgeben konnten. Die erste, die ihren Platz als gewählte Abgeordnete 1919 einnahm, war natürlich die berühmt-berüchtigte Lady Astor.“

„Über sie habe ich im Studium eine Hausarbeit verfasst“, erinnerte sich Maggie. „Sie war eine echt zwiespältige Persönlichkeit mit einem Hang zu unüberlegten Aussagen. Am besten ist mir einer ihrer Wortwechsel mit Winston Churchill im Gedächtnis geblieben. Sie sagte zu ihm: ‚Wenn ich Ihre Frau wäre, würde ich Ihren Tee vergiften.‘ Churchill darauf: ‚Madam, wenn Sie meine Frau wären – ich würde ihn trinken.‘“

Mr. Shaw lachte mit ihnen. „Auf den Mund gefallen waren beide definitiv nicht. Übrigens ist im letzten Jahr zum ersten Mal hier im Palast ein Spielfilm gedreht worden, der im Herbst herauskommen soll. Das Thema sind just die Suffragetten. Wir hatten einige Größen der Schauspielerzunft im Hause. Unter anderem die wunderbare Helena Bonham Carter –“

„Ui, die böse Bellatrix Lestrange aus Harry Potter“, warf Bella ein.

Der Guide nickte. „Sie hat natürlich ohnehin enge Verbindungen zum Parlament. Ihr Urgroßvater war Anfang des letzten Jahrhunderts unser Premierminister und ihre Cousine sitzt bis heute im House of Lords. Aber mein persönlicher Favorit unter den Schauspielerinnen war Meryl Streep, in der Rolle der Emmeline Pankhurst.“

Johns Mutter lächelte. „Nach ihr bin ich benannt. Meine Großmutter war Mitglied der Frauenbewegung, die Mrs. Pankhurst mit ihren Töchtern begründet hatte.“

„Grandma! Das wusste ich gar nicht!“ Renie machte große Augen. „Das ist ja spannend.“

James Mackenzie legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und strahlte in die Runde. „So ist es. Kinder, ihr könnt stolz sein. Ihr stammt von einer langen Ahnenreihe couragierter Frauen ab.“

Emmeline lächelte geschmeichelt.

„Und dabei dürfen wir meine Seite der Verwandtschaft nicht vergessen“, fuhr Johns Vater fort. „Auch wir haben unseren Anteil an Kämpferinnen. Allen voran natürlich unsere unvergleichliche Tante Isabel.“

Augenblicklich umwölkte sich Emmelines Stirn.


Kapitel 5

 

Mayday, mayday“, wisperte Maggie angesichts des gefährlichen Funkelns in den Augen ihrer Mutter. Sie stieß John mit dem Ellbogen an. Bevor diesem ein Ablenkungsmanöver einfallen konnte, rettete David die Situation.

„Dad, könntest du ein Foto von mir und Christopher machen?“

„Hier unten ist das Fotografieren wie im Großteil des Palastes nicht erlaubt. Aber oben in der Westminster Hall können Sie eines machen“, mischte Mr. Shaw sich in entschiedenem Ton ein. Dann wandte er sich an Emmeline. „Sie kennen gewiss die Statue für Mrs. Pankhurst, die neben dem Victoria Tower steht?“

„Oja, selbstverständlich. Wir waren schon als Kinder dort im Park spazieren.“ Mit einem giftigen Blick auf James ging sie an der Seite des Guides die Treppe hinauf.

Das seit Jahr und Tag angespannte Verhältnis von Emmeline Mackenzie zur Großtante ihres Mannes, Dame Commander of the British Empire Isabel Mackenzie war seit dem gemeinsamen Urlaub in Cornwall auf einem Allzeittief angelangt. Bei der Verabschiedung waren Worte wie ‚alter Dragoner‘ und ‚Beißzange‘ gefallen. Daher war es unklug, Tante Isabels Namen in Emmelines Beisein zu erwähnen.

Johns Vater seufzte und stapfte hinterher.

„Wie sieht es eigentlich mit den angekündigten Neuigkeiten aus?“, fragte Maggie ihre Tochter, während sie nach oben gingen.

„Später“, meinte Renie leichthin.

„Wir verlassen nun den Teil des Palastes, der – bis auf den Jewel Tower – als einziges den verheerenden Brand im Jahr 1834 überlebt hat“, erklärte Mr. Shaw, nachdem er ihnen einige Minuten zum Fotografieren gegeben hatte. Auch John hatte Tommy um ein paar Aufnahmen gebeten, die er später Pauline schicken wollte. Da sie mit Herzblut Geschichte unterrichtete, begeisterte sie sich stets für historische Gemäuer.

„Es war der 16. Oktober“, schilderte Mr. Shaw. „Im Schatzamt waren mehrere Kisten alter Zählstöcke aussortiert worden, die über Jahrhunderte für die Steuererhebung verwendet worden waren. Leider wurden diese, wie der junge Charles Dickens dann schrieb, der zu der Zeit als Parlamentsreporter arbeitete, nicht den Armen als Feuerholz zur Verfügung gestellt. Nein, die Anweisung lautete, sie für die Heizung im Oberhaus zu verwenden. Offenbar wurden zu viele auf einmal verfeuert, so dass der Heizkessel explodierte und ein gewaltiger Brand ausbrach, der fast alles in Schutt und Asche legte.“

Sie waren in der zentralen Lobby angelangt und Bella blickte staunend um sich und hinauf in die gewaltige Kuppel. „Wow. Das ist ja wie in einer Kirche.“

Mr. Shaw nickte. „Ein beeindruckender Raum. Wie alles andere von Charles Barry geplant, der nach dem Brand den Auftrag bekam, das Parlamentsgebäude im neogotischen Stil neu zu erbauen. Für die opulente Innenausstattung war Augustus Welby Pugin zuständig. Die beiden hatten eine sehr schwere Aufgabe, muss man sagen. Es ist vielleicht kein Wunder, dass beide sehr jung starben. Pugin, der ein genialer Designer war und schlichtweg für alles im Inneren des Hauses die Entwürfe machte – von Textilmustern und Glasfenstern über Metallgitter bis hin zu Gaslampen und Schirmständern – und das, während er sich mit einer Kommission unter dem Vorsitz von Prinzgemahl Albert herumschlagen musste, verbrachte seine letzten Jahre in einer Irrenanstalt. Das Bauprojekt hatte ihn in den Wahnsinn getrieben.“ Er seufzte. „Nun ja. Die Fußbodenmosaike hier in der Lobby sind ebenfalls von ihm gestaltet worden.“

Er beugte sich zu Christopher hinunter. „Junger Mann, kannst du die Symbole unserer Landesteile erkennen?“

Der Junge sah ihn verwirrt an.

„Ah, die Rose für England“, meldete Bella sich zu Wort und deutete auf den Boden. „Und das irische Kleeblatt.“

„Da, unsere schottische Distel.“ James Mackenzie hatte seine heimatliche Blume entdeckt.

Emmeline schnaubte. „Wie passend. Unansehnlich, voller bösartiger Stacheln und getrocknet einfach nicht tot zu kriegen.“ Es war unschwer zu erraten, dass sie ihre Erzfeindin aus den Highlands vor Augen hatte.

„Ähm, ja.“ Mr. Shaw sah leicht verunsichert drein. „Hier haben wir noch den walisischen Lauch“, fuhr er fort. „Um diesen herrlichen Fußboden zu erhalten, beschäftigen wir einen ganzen Trupp von Steinmetzen, genauso wie wir Elektriker, Zimmerer, Maler, Möbelrestauratoren und andere Bau-Fachleute in unserem Instandhaltungsteam haben. Nicht zu vergessen die Klempner. Ohne die könnten wir den Betrieb hier keinen Tag aufrechterhalten.“

„Oja“, bekräftigte Renie. „Was gestern wieder im Damenklo passiert ist, das möchten die Anwesenden lieber nicht wissen.“

Mr. Shaw verzog schmerzlich das Gesicht. „Unser Abwassersystem gehört wirklich zu den größten Baustellen. Leider wurden die beiden zentralen Auffangbehälter – einer für die Hinterlassenschaften der Lords und einer für die des Unterhauses – in viktorianischer Zeit so angelegt, dass sie unterhalb des Levels der allgemeinen Londoner Abwasserentsorgung liegen. Nun muss in regelmäßigen Abständen die ganze … äh … mit Luftdruck nach oben geschossen werden, um ablaufen zu können.“

„Uäh.“ Bella verzog angewidert das Gesicht ob der unappetitlichen Vorstellung der aufgewirbelten proletarischen wie adligen Ausscheidungen.

„Steve Bradshaw hat mich kürzlich mit in ein paar der Wartungskorridore genommen“, erzählte Renie. „Im Untergeschoss gibt es ein richtiges Labyrinth davon. Das kann sich kein Mensch vorstellen, wie es da aussieht. Alle möglichen Versorgungsleitungen liegen in einem unglaublichen Kuddelmuddel übereinander. Da kann es schon mal passieren, dass aus einem undichten Ablaufrohr aus der Küche Fett auf eine elektrische Leitung tropft und einen fetten Kurzschluss auslöst. Oder eins der 150 Jahre alten Ventile aus der Heizungsanlage gibt den Geist auf und plötzlich schießt kochend heißer Dampf raus, total lebensgefährlich. Steve sagt, im letzten Jahr gab es allein schon in den ganzen elektrischen Systemen 3000 Defekte. Ein Wahnsinn.“

Mr. Shaw wackelte mit den Augenbrauen. „Ja, Mr. Bradshaw gehört zu unseren tüchtigsten Handwerkern. Er ist sehr fleißig, hat aber trotzdem immer Zeit für eine hübsche Dame.“

Während Renie leicht errötete, wurde Shaw wieder ernst.

„Mir blutet das Herz, dass die Politik seit Jahrzehnten einfach mit ansieht, wie unser Palast vor die Hunde geht. Egal, wie sehr sich alle Ingenieure und Techniker und Handwerker bemühen – der Verfall geht einfach schneller, als man mit den Reparaturen hinterherkommt. Jetzt in den Parlamentsferien wird immer mit Hochdruck an Renovierungsprojekten gearbeitet, aber es ist eine Sisyphos-Arbeit. Wenn die Regierung sich nicht bald zu einer Generalsanierung durchringt, werden wir das alles unwiederbringlich verlieren. Oder noch schlimmer, es kommt zu einer Katastrophe und dann könnte es sogar um Menschenleben gehen.“ Er schüttelte düster den Kopf.

„Die Kostenschätzung für die Grundsanierung liegt bei 3 Milliarden Pfund, habe ich gelesen“, meldete sich David zu Wort.

Mr. Shaw winkte ab. „Mittlerweile gehen die Spezialisten schon von 3.5 Milliarden aus, und das auch nur, wenn das Gebäude leer steht. Ob das Parlament sich entschließen kann, ein Ausweichquartier zu suchen, steht in den Sternen. Und wahrscheinlich läuft es dann genauso, wie im 19. Jahrhundert. Damals sollte der Neubau 700 000 Pfund kosten und innerhalb sechs Jahren fertig sein. Tatsächlich dauerte er 20 Jahre und kostete mehr als das Dreifache. Aber nun lassen Sie uns ins Allerheiligste gehen. Da, wo das Herz unserer Demokratie schlägt.“

Er führte sie einen der vier Gänge entlang, die von der zentralen Lobby abgingen. Vor einer schweren zweiflügeligen Tür blieb er stehen und deutete auf eine Stelle, wo das dunkle Holz abgeschabt war.

„Hier klopft der Repräsentant der Queen immer mit seinem Stab an, wenn die große jährliche Eröffnungszeremonie des Parlaments ansteht und er die Unterhausabgeordneten hinüber ins House of Lords holen will. Der Brauch verlangt es, dass ihm von den Torwächtern des House of Commons die Tür erst einmal vor der Nase zugeschlagen wird – etwas, das uns zugegebenermaßen immer Freude bereitet hat.“ Er grinste spitzbübisch.

„Seit sich Charles I. 1642 erdreistet hat, das Unterhaus zu stürmen und die Verhaftung einiger missliebiger Parlamentarier zu fordern, darf kein Monarch jemals einen Fuß hineinsetzen. Insofern dürfen wir nun etwas tun, was unserer verehrten Regentin für immer verwehrt bleibt.“ Er öffnete die Tür.

„Oh, das ist ja klein“, kommentierte Bella. „Im Fernsehen sieht alles viel größer aus.“

„Ja, es ist sehr lauschig hier“, stimmte Mr. Shaw ihr zu. „Der gesamte Raum ist gerade mal 21 Meter lang und 14 Meter breit. Ein sehr intimer Rahmen, wenn man so möchte. Das Problem ist, dass für unsere 650 Abgeordneten nur ungefähr 430 Plätze zur Verfügung stehen. Die Folge ist, dass vor wichtigen Debatten schon die ersten Leute frühmorgens hier sind und mit einem Platzkärtchen markieren, wo sie sitzen wollen. Gerade so, wie ein Urlauber schon vor dem Frühstück sein Handtuch auf einer schönen Liege ausbreitet.“

Christopher hüpfte nach vorn und balancierte vergnügt auf einer leuchtend roten Linie im grünen Teppich entlang, der die zwei gegenüberliegenden Bankreihen voneinander trennte.

„Junger Mann, das ist eine der beiden Schwertlinien“, machte Mr. Shaw ihn lächelnd aufmerksam.

„Ich habe ein Schwert“, verkündete Christopher stolz. „Daddy hat’s mir gekauft.“

„Das ist schön. Als Parlamentarier müsstest du es in der Garderobe deponieren. Seit grauer Vorzeit hat dort jeder an seinem Platz eine rosarote Schlaufe, an der man sein Schwert aufhängen könnte. Aber obwohl hier drin noch nie Waffen erlaubt waren, hat man durch diese beiden roten Linien, die genau zwei Schwertlängen voneinander entfernt sind, den Abstand der Regierungsvertreter und der Opposition festgelegt. Niemand darf die Linien übertreten, es sei denn, er gibt eine Erklärung am Rednerpult ab.“

Er ging nach vorn zu dem wuchtigen Holztisch, der so gut wie täglich in den Nachrichten zu sehen war, wenn der Premierminister ein Statement abgab.

„Mich hätte immer schon interessiert, was in diesen Holzboxen drin ist.“ Emmeline kam näher und betrachtete die beiden metallbeschlagenen Schatullen, die einander gegenüber auf dem Tisch standen. „Man sieht im Fernsehen immer, dass die jeweiligen Redner ihre Notizen darauf legen.“

Mr. Shaw nickte. „So ist es.“ Er senkte die Stimme. „Ich darf Ihnen etwas verraten: Unser Premierminister hebt darin immer seine Brotzeit auf.“ Gleich darauf lachte er über ihre erstaunten Gesichter.

„Kleiner Scherz. Aber wenn man bedenkt, dass die längste Sitzung in der Geschichte des Unterhauses über 41 Stunden gedauert hat, wäre es vielleicht ab und zu ganz vorteilhaft, eine kleine Stärkung griffbereit zu haben. Nun aber im Ernst: In diesen sogenannten Depeschenboxen werden die religiösen Schriften aufbewahrt, die für die Vereidigung der neuen Parlamentarier benötigt werden. Ganz früher war nur eine Bibel darin, aber schon seit dem 19. Jahrhundert, als die ersten indischstämmigen Abgeordneten hier waren, wurde das Repertoire erweitert, so dass heutzutage Angehörige jeder Glaubensrichtung – oder natürlich auch Atheisten – ihren Eid auf einen passenden Text schwören können. Das schöne Holz der Kisten kommt übrigens aus Neuseeland.“

Er deutete auf den erhöht platzierten thronartigen Sessel des Parlamentssprechers. „Dieser ist aus australischen Hölzern gefertigt. Der Tisch ist ein Geschenk von Kanada, die Stühle von Südafrika. Darüber hinaus haben wir in diesem Raum Gegenstände aus Indien, Zypern, Botswana und drei Dutzend weiteren Ländern. All das wurde dem Palast zum Geschenk gemacht, als der Neuaufbau nach dem zweiten Weltkrieg notwendig wurde.“

Sein Blick wanderte in die Ferne.

„Es war die Nacht des 10. Mai 1941, die schlimmste der monatelangen Attacken. Vollmond. Die Deutschen schickten über 500 Bomber der Luftwaffe über den Kanal. Überall heulten die Sirenen und jeder versuchte, sich mit Kind und Kegel in Sicherheit zu bringen. Wir hatten Glück. Unser Nachbar in Islington hatte sich einen Anderson Bunker im Garten aufgestellt und sie haben uns mit hinein genommen. Es war grässlich, mit zwölf Menschen auf engstem Raum, zusammengequetscht über Stunden. Aber die Konstruktion war genial. Während rund um uns alles in Schutt und Asche fiel und die Bombensplitter herumflogen, hat uns diese Wellblechhütte das Leben gerettet.“

„Zu zwölft!“, ließ sich Tommy erstaunt vernehmen. „So ein Ding haben wir uns kürzlich mit unserer Geschichtslehrerin angeschaut. Ihr Großvater hat so einen und benutzt ihn immer noch als Gartenschuppen. Wir waren zu sechst da drin und das war schon horrormäßig eng.“

„Meine Eltern haben ihren nach dem Krieg wieder abgegeben“, meldete Emmeline sich zu Wort. „Damals hieß es von der Regierung, Metall wird gebraucht. Es war wohl ein ziemliches Stück Arbeit, ihn wieder auszugraben, weil Vater einen mächtigen Erdwall rundherum aufgeschüttet und bepflanzt hatte. Hah, wenn die Krauts damals einmarschiert wären, wären sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass da drunter etwas ist. Aber Gott sei Dank ist es ja nicht so weit gekommen. Der Bunker stand da, wo jetzt unser Komposthaufen ist, James.“

James Mackenzie nickte versonnen. „Wir können uns glücklich schätzen, dass wir uns zu unseren Lebzeiten nie Gedanken machen mussten, wie wir unser Leben, unsere Kinder, vor einem Bombenhagel schützen können.“

„Da sprechen Sie ein weises Wort aus, Mr. Mackenzie“, stimmte Mr. Shaw ihm zu. „Ein weises Wort, in der Tat. Nachdem die Alten wie ich, die das Grauen noch selber durchlebt haben, immer weniger werden, können sich die meisten Menschen in unserem Land gar nicht vorstellen, wie das Leben damals war. Aber –“ Der drahtige Mann ballte die Faust und blickte mit grimmigem Triumph in die Runde. „Wir haben uns nicht unterkriegen lassen. ‚Keep calm and carry on‘ – nach diesem Motto haben wir weitergemacht und die dunklen Zeiten schließlich hinter uns gebracht. Und all dies“, er breitete die Arme aus, „ist bis auf kleinere technische Neuerungen so gut wie originalgetreu wieder aufgebaut worden. Das war Winston Churchill ein besonderes Anliegen. Sie kennen sicher seinen berühmten Ausspruch: ‚Erst formen wir unsere Gebäude und hinterher formen sie uns‘.“

Maggie sah sich nachdenklich um. „Gut möglich, dass diese frontale Sitzordnung, so von Angesicht zu Angesicht, die Diskussionskultur beeinflusst. Aber wie man oft genug im Fernsehen sieht, nicht gerade zum Positiven.“

Mr. Shaw wog den Kopf. „Nun ja, natürlich wird es des Öfteren recht lebendig hier drin, wenn es um wichtige Themen geht. Aber es gibt ein durchaus strenges Regelwerk, an das sich jeder zu halten hat und Verstöße dagegen werden auch konsequent geahndet. So gibt es zum Beispiel eine ganze Reihe von Ausdrücken, die verboten sind. Wenn Sie jemanden als Ratte, Feigling oder Verräter bezeichnen, droht Ihnen ein mindestens fünftägiger Ausschluss aus dem Haus. Sie dürfen außerdem nichts essen, trinken, rauchen, Zeitung lesen oder einen Hut tragen und als Mann kommen Sie auch nicht ohne Krawatte herein. Gewisse Umgangsformen müssen einfach gewahrt bleiben.“

„Erzählen Sie das Dennis Skinner“, schmunzelte James Mackenzie. „Wie er der Königin damals – es muss Anfang der Neunziger gewesen sein – bei der Thronrede entgegenschleuderte, sie sollte doch mal ihre Steuern zahlen, das war schon eine Schau.“

„Ah, das Ehrenwerte Mitglied für den Bezirk Bolsover.“ Shaw schüttelte lächelnd den Kopf. „Über die Jahrzehnte hat er sicher über hundert Parlamentsausschlüsse angesammelt. Er ist … ein Original. Dieses Jahr waren etliche enttäuscht, weil er bei der Thronrede im Mai keinen Spruch bereit hatte. Er hat hinterher erzählt, dass er keinen Sinn für Scherze hatte, weil er so gestresst war von den neuen Abgeordneten der Scottish National Party. Nachdem sie bei den Wahlen groß aufgetrumpft hatten, wollten sie hier ein paar alte Gepflogenheiten über Bord werfen und ihm unter anderem seinen altgewohnten Sitz in der ersten Reihe abspenstig machen.“

„Typisch. Diese Ungehobelten aus dem Norden“, meinte Emmeline spitz. „Überschätzen ihre eigene Wichtigkeit immer grandios.“

James schnaubte empört.

John trat zu seiner Mutter, hängte sich bei ihr ein und meinte mit einem versöhnlichen Lächeln, „Immerhin hast du einen dieser Ungehobelten geheiratet, Mum. So übel sind sie also offenbar nicht.“

Sie quittierte diese Anmerkung mit einem eigensinnigen „Hmpf“.

„Wir gehen nun hinüber in die zweite Kammer unseres Parlaments, die, weltweit einzigartig, mehr Mitglieder hat als die erste“, kündigte Mr. Shaw an und führte sie zurück in die zentrale Lobby und in einen weiteren Gang. Kaum hatte er die Tür zum Oberhaus geöffnet, flitzte Christopher schon hinein und krähte, „Darf ich auf dem Thron sitzen?“

„Du liebe Güte, nein“, rief Mr. Shaw aus, aber Christopher stürmte schon durch die mit rotem Leder bezogenen Bänke ans andere Ende des Saals.

Glücklicherweise stolperte er in seiner Hast über seine eigenen Füße und legte eine unsanfte Landung zu Füßen des Rednertisches hin.

David klaubte ihn wieder auf und nahm den Jungen dann an die Hand, um eine Thronerstürmung im Keim zu ersticken.

„Sie sehen, dass das Domizil der Lords im Wesentlichen gleich angelegt ist wie das Unterhaus“, hob Shaw mit einem misstrauischen Blick auf Christopher an.

„Der Rednertisch ist zum Beispiel genauso platziert wie drüben. Eine Sache möchte ich Ihnen zeigen.“ Liebevoll fuhr er mit den Fingern über die blankpolierte Oberfläche.

„Sehen Sie hier? Diese Schrammen wurden dem guten Stück von Winston Churchill beigebracht. Nachdem das Unterhaus zerstört war, sind die Abgeordneten während des Krieges vorübergehend hier eingezogen und Churchill hat viele seiner aufrüttelnden Reden hier an diesem Platz gehalten. Temperamentvoll, wie er war, hat er mit der Faust oft auf den Tisch gehauen und dabei hat sein wuchtiger Siegelring diese Spuren hinterlassen.“

Während die Erwachsenen sich um den Tisch scharten, schaute Tommy auf die Uhr. Wie lange sie sich hier wohl noch die Beine in den Bauch stehen mussten? Müßig ließ er den Blick nach oben wandern. Genauso wie im Unterhaus hing ein ganzer Wald von Mikrofonen von der Decke. Er sah genauer hin. Nach seiner fachkundigen Meinung – und in Sachen Medientechnik machte Tommy Hughes keiner etwas vor – war das ganze Zeug total veraltet. Wahrscheinlich stammte es aus derselben Zeit wie dieses ulkige Ding, das sein Vater wie einen antiken Schatz hütete. Ein Kassettenrekorder, den er sich von seinem ersten verdienten Geld gekauft hatte, wie er sagte. Na, immerhin hatte sein Vater sich seither weiterentwickelt. Das musste Tommy ihm zugestehen. Er war voll up to date bei allem Technischen. Ganz anders als Onkel John. Der war ja echt im letzten Jahrhundert stehen geblieben …

 

„Aber natürlich springen auch die Unterschiede ins Auge“, dozierte Mr. Shaw weiter. „Zu allererst natürlich der großartige Thron, der dem Krönungsstuhl aus Westminster Abbey nachempfunden ist. Dann die Querbänke gegenüber. Wie Sie wissen, haben wir anders als im Unterhaus hier Volksvertreter, die keiner Partei zugehörig sind, die Unabhängigen oder Crossbenchers. Sie machen ungefähr ein Viertel aller Mitglieder des Hauses aus. Ansonsten ist die Sitzordnung vergleichbar mit dem Unterhaus. Diejenigen, die einer der Regierungsparteien angehören, sitzen rechts vom Thron, die Lords der Opposition gegenüber. Allerdings ist nur Platz für rund die Hälfte aller Mitglieder. Auch wenn etliche Lords von ihrem Recht, hier in diesem hohen Haus etwas mitgestalten zu dürfen, nur sporadisch Gebrauch machen, wird es doch des Öfteren recht eng.“

„Und wenn nächste Woche die ‚Honours list‘ veröffentlicht wird, dürfte es noch voller werden“, merkte Maggie an. „Vor allem auf der Seite der Regierung.“

Mr. Shaw lächelte dünn. „Unser verehrter Premier hat wie alle Amtskollegen vor ihm das Recht, neue Oberhausmitglieder nach eigenem Gutdünken zu ernennen. Ich bin sicher, er schenkt der Frage nach der Anzahl und Qualifikation der neuen Abgeordneten seine volle Aufmerksamkeit.“

„Der Mann hätte auch Diplomat werden können“, raunte David John zu. „So viel Neutralität musst du erstmal schaffen.“

Mr. Shaw verließ das heikle Terrain der Politik und zeigte auf den blauen Teppich. „Was hier fehlt, sind die Schwertlinien. Beim Adel hielt man das offenbar nicht für notwendig. Tatsächlich muss man sagen, dass der Umgangston hier wesentlich gepflegter ist als im Unterhaus. Das könnte allerdings daran liegen, dass das Durchschnittsalter hier bei über 70 liegt und auch Neunzigjährige sind keine Seltenheit. In dieser Altersgruppe lässt sich schon eher davon ausgehen, dass man seine Zunge im Zaum halten kann.“

„Es soll auch Leute geben, die auf die Hundert zugehen und immer noch keifen wie ein Fischweib“, bemerkte Emmeline.

„Äh, gewiss. Aber hier drin kommt dies in der Regel nicht vor. Vielleicht auch wegen der Vertreter der hohen Geistlichkeit, die wir unter unseren Abgeordneten haben.“ Shaw wies auf drei Bankreihen neben dem Thron.

„Hier auf der Regierungsseite haben wir den Bereich, der unseren 26 Geistlichen Lords vorbehalten ist, an ihrer Spitze natürlich der Erzbischof von Canterbury. Hier steht uns übrigens jetzt im Herbst ein historischer Moment bevor: Zum ersten Mal in der Geschichte wird eine Frau als Kirchenvertreterin hier Platz nehmen, die Bischöfin von Gloucester.“

„Hört, hört“, kommentierte Maggie beifällig.

„Wurde auch höchste Zeit“, kam es von Renie. „Ich habe mal nachgesehen, wie hoch – oder vielmehr niedrig – der Anteil der Frauen im Parlament ist. Stellt euch vor, im Unterhaus sind es grade mal 22 Prozent, hier bei den Lords ein paar Prozent mehr. Und das im Jahr 2015. Total unterirdisch ist das.“

Während Mr. Shaw ihren Einwurf geflissentlich überhörte und anhob, über die kostbare Innenausstattung des Raums zu erzählen – „Allein über die Gemälde und die Deckenschnitzereien könnte ein Kunsthistoriker abendfüllende Vorträge halten“ – hörte John, wie Bella ihrem Bruder etwas zuwisperte.

„Hörst du das? Jetzt weiß ich, was Renies Neuigkeiten sein sollen. Bestimmt will sie ins Parlament.“

„So’n Quatsch. So crazy ist nicht mal Renie“, wehrte Tommy ab.

„Doch, logisch! Von wegen Frauen-Power und so“, beharrte Bella.

John stutzte. Konnte seine Nichte recht haben? Zuzutrauen wäre es Renie durchaus. Schon vor Jahren hatte er selbst Maggie im Scherz prophezeit, Renie werde eines Tages das Entwicklungshilfe-ministerium übernehmen.

„Hör doch auf. Was meinst du, was man da alles tun muss, um hier reinzukommen? Die Parteibonzen anschleimen, jahrelang Klinken putzen und Kugelschreiber verteilen und die Leute anbetteln, einen zu wählen. Das geht ja voll aufn Sack“, urteilte Tommy im Flüsterton.

„Wetten wir?“, forderte Bella ihn heraus.

Ihr Bruder überlegte kurz. „Okay. Um eine Woche Geschirrspüler ausräumen.“

Bella nickte siegessicher.

Tatsächlich stellte Renie sich just in diesem Moment in Positur und erklärte, „Ich glaube, hier ist ein passender Ort, um von meinen Neuigkeiten zu berichten.“

Alle Blicke hefteten sich gespannt auf sie. Sie deutete auf die Galerie hinauf.

„Seht ihr diese Sitze dort? Die sind reserviert für die Parlamentsreporter. Und … dort werde ich auch bald sitzen. Ab Mitte September, um genau zu sein. Bis dahin behalte ich meinen Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann werde ich meinen Journalistik-Studiengang an der City University antreten. Die ersten eineinhalb Jahre werde ich damit verbringen, mich beim Hansard ausbilden zu lassen. Wie findet ihr das?“

„Chaka“, ließ Tommy hören und grinste seine kleine Schwester schadenfroh an. „Tja, das war wohl nix, Krümel.“

Während Maggie sich sichtlich über Renies Ankündigung freute, verzog Bella enttäuscht das Gesicht. Dann murmelte sie John hinter vorgehaltener Hand zu, „Was ist überhaupt dieses Hansard? Sollte ich das wissen?“

„Darin werden schon seit Urzeiten alle Debatten im Unter- und Oberhaus aufgezeichnet. So kann man später immer nachsehen, wer wann was zu welchem Thema gesagt hat“, gab er ebenso leise zurück.

„Ach so. Naja.“ Der neueste Karrierewunsch ihrer großen Schwester erschien Bella nicht gerade spektakulär. „Da hat sie schon coolere Sachen gemacht.“

John betrachtete seine älteste Nichte nachdenklich. In ihrem wollenen Twinset wirkte Renie Lichtjahre entfernt von der flippigen jungen Frau, die mal Managerin einer Punkband sein wollte, mal Schauspielerin und zuletzt Investigativreporterin. Sie wirkte so … er suchte nach dem richtigen Wort … vernünftig? Erwachsen? Angepasst? Hmm. Er wusste nicht recht, was er von der ganzen Sache halten sollte, wünschte Renie aber von Herzen, dass sie ihre Nische diesmal gefunden hatte.

Tommys Meinung dagegen war eindeutig. „Die ganze Zeit hier drin mit den ganzen alten Knackern, die über irgendwelches Zeug palavern, was keine Sau interessiert? Voll öde. Da musst du ja höchstens Angst haben, dass einer während der Sitzung aus Altersschwäche den Löffel abgibt.“

Mr. Shaw hatte seine letzte Bemerkung mitbekommen.

„Todesfälle hatten wir hier noch keine, junger Mann“, meinte er und konnte angesichts der ihm entgegenschlagenden Arroganz der Jugend einen tadelnden Unterton nicht ganz unterdrücken.

„1812 wurde der damalige Premierminister Spencer Perceval ermordet, aber das geschah nicht hier, sondern im Vorraum des Unterhauses. Für das House of Lords gilt: Es hat noch jeder, der hier hereinkam, den Raum auch auf seinen eigenen zwei Beinen wieder verlassen.“

Unglücklicherweise sollte sich dies nur kurze Zeit später jäh ändern.


Kapitel 6

 

Ein frühherbstlicher Schauer schlug an die Scheiben des Küchenfensters. Der unüblich heiße August war einem regnerischen September gewichen.

Bis auf die Knochen müde saß John am Tisch und machte sich über einen aufgewärmten Rest Nudelauflauf her. Er hatte nicht einmal die Energie, sich einen Salat dazu zu machen.

Der Tag, nein, die ganze Woche war anstrengend gewesen. Nach dem Knochenfund hatten die Archäologen die Baugrube des Rabenhauses mit einem blickdichten Zaun umgeben lassen und gaben sich seither äußerst zugeknöpft. Ihnen war keine Aussage zu entlocken, wie die Ausgrabungen sich weiter entwickelten, aber so wie es aussah, war der Baubeginn in weite Ferne gerückt.

George war darüber so erbost, dass sein Blutdruck bedenklich gestiegen war und ihm Doc Hunter eine Auszeit verordnet hatte. Seine Frau Marcia, die seine Übellaunigkeit satt hatte, hatte mit Engelszungen auf George eingeredet, dass ihm ein paar Tage bei seiner Verwandtschaft in Schottland gut tun würden. Schließlich hatte der Ravenmaster sich überreden lassen und war in den Zug nach Norden gestiegen, bombardierte John nun jedoch täglich mit Anrufen und verlangte nach Neuigkeiten.

Zusätzlich zur Pflege der Raben, für die er nun allein zuständig war, hatte John in den letzten Tagen neben seinem normalen Besucherdienst noch drei Extraschichten geschoben. Am liebsten hätte er sich nach dem Essen sofort aufs Ohr gelegt, aber in einer Viertelstunde stand die monatliche Besprechung aller Beefeater an. Da gab es kein Entkommen.

Leidend sah er den Regentropfen zu, die an den Scheiben herabrannen und lauschte mit halbem Ohr den BBC-Nachrichten, als eine Meldung ihn aufhorchen ließ.

„Westminster. Heute Nachmittag kam es zu einem tragischen Zwischenfall im Oberhaus: Bei den Vorbereitungen für die morgige Parlamentseröffnung kam ein Handwerker durch einen Stromschlag ums Leben. Dieser Unglücksfall wird die Debatte um eine schnelle Sanierung des Parlamentsgebäudes wieder aufflammen lassen. Der marode Zustand des Palastes ist seit Langem bekannt. Angesichts der enormen zu erwartenden Kosten – gemäß neuesten Schätzungen 3.5 Milliarden Pfund – und der komplexen Frage, ob ein zeitweiliger Auszug des Parlaments in ein Ausweichquartier sinnvoll ist, wurde eine Entscheidung über das Jahrhundertprojekt jedoch immer wieder vertagt. Manchester: …“

‚Tod im Parlament‘ – John konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Medien das Schicksal des bedauernswerten Handwerkers ausschlachten würden. Renies neuer Arbeitsplatz schien ja wirklich nicht ungefährlich zu sein. Sofort kam ihm seine Schwester in den Sinn, die sich bestimmt augenblicklich, nachdem sie die Nachricht gehört hatte, bei Renie vergewissern würde, dass es ihr gut ging und sie zur Vorsicht mahnen würde. Aber nein, Maggie war ja gestern nach Aruba geflogen und aalte sich wahrscheinlich schon auf ihrer Yacht in der karibischen Sonne. John konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken.

Er nahm das gerahmte Bild von Pauline zur Hand, das auf dem Fensterbrett stand. Darauf war sie zu sehen, wie sie an einer Kurbel drehte, um das Segel zu trimmen. In einen unförmigen Sweater und abgeschnittene Jeans gekleidet und ganz auf ihre Aufgabe konzentriert sah sie hinreißend aus.

John war versucht, sie auf der Stelle anzurufen, aber das musste warten. Chief Mullins duldete keine Verspätung. Und schon gar nicht bei John, der in der Vergangenheit schon so manches Mal seine Schwierigkeiten mit dem Thema Pünktlichkeit gehabt hatte. Der Mickymauswecker, den sein Kommandant ihm vor ein paar Monaten zusammen mit einigen mahnenden Worten überreicht hatte, zeigte John an, dass es höchste Zeit wurde, sich auf den Weg zum Besprechungsraum zu machen.

 

„Männer, wir haben eine Situation“, begann Chief Mullins in seiner gewohnt schnörkellosen Art. „Deshalb werden die weniger dringlichen Tagesordnungspunkte auf die nächste Sitzung verschoben. Professor Williams wird uns jetzt über die aktuellen Entwicklungen an unserer Grabungsstelle informieren.“

Der Archäologe trat vor die knapp drei Dutzend Beefeater. Bis auf George waren alle anwesend.

„Meine Herren, ich habe aufregende Neuigkeiten für Sie. Wie Sie alle wissen, haben unsere Bodenanalysen Knochenfunde humanen Ursprungs erbracht. Einen Unterkiefer, um genau zu sein, dazu noch einen Unterarmknochen und ein Zehengelenk. Die Funde sind ersten Untersuchungen unterzogen worden und konnten mittlerweile ansatzweise datiert werden. Sie stammen mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem späten 15. Jahrhundert. Erste Schätzungen unserer Anthropologen sagen, dass der oder die Toten – im jetzigen Stadium der Untersuchungen können wir noch nicht sagen, ob alle Funde von der derselben Person stammen – im Alter zwischen 8 und 16 Jahren verblichen sind –“

„Da brat mir doch einer nen Storch!“, brach es aus Archie Armstrong heraus. „Die Prinzen aus dem Tower.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739482651
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Tower of London Parlament Richard III London England Familie Krimi Thriller Spannung Historisch

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer cozy mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod im House of Lords