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Tote Trolle meckern nicht

Ein Fall für Biene Hagen

von Vera Nentwich (Autor:in)
131 Seiten
Reihe: Biene Hagen, Band 5

Zusammenfassung

Was tust du, wenn dich jemand bedroht und gegen dich hetzt? Trolle jagen! Alles scheint sich gegen Sabine »Biene« Hagen verschworen zu haben. Ihr Versuch, eine Detektei aufzubauen wird nur belacht, mit dem Freund Jochen ist Beziehungspause, der Geschäftspartner Jago weilt in Argentinien und im Netz hetzt ein Troll über sie. Zu allem Überfluss bekommt sie auch noch Drohbriefe und wird von Albträumen geplagt, nachdem sie bei ihrem letzten Einsatz als Privatermittlerin in Notwehr jemanden erschossen hat. Dann gibt es wieder einen Mord, bei dem Biene zu den Verdächtigen zählt. Ihr Durchhaltevermögen wird zusätzlich auf eine harte Probe gestellt, als dieses Mal auch ihre Freunde in Gefahr geraten. Kann sie alleine auf sich gestellt, dem Urheber der Drohungen auf die Spur kommen? Wird sie den Troll fassen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tote Trolle meckern nicht

Vera Nentwich

 

I

Wenn diese olle Tusse nicht langsam ihre Teilchen zusammengestellt hat, gibt es hier den nächsten Mord. »Werden Sie endlich mal fertig?« Die dusselige Blonde dreht sich erschrocken zu mir um, und Micha hinter der Theke der Bäckerei sieht schockiert aus. »Was ist?«, frage ich. »Andere wollen auch endlich mal drankommen.« Ich drehe mich zu dem jungen Mann hinter mir, aber sein Blick bringt nicht die erwartete Unterstützung.

»Entschuldigen Sie«, säuselt Micha der Kundin zu und sendet mir einen Blick, der mich auf der Stelle tot umfallen lassen müsste. Ich zeige ihr durch eine Handbewegung meinen Unmut. Micha gehört zu meinen ältesten Freundinnen. Sie müsste eigentlich nicht arbeiten, denn ihr Mann Olaf verdient als Techniker für Kartonmaschinen genug. »Was soll ich denn zu Hause?«, sagt sie immer, wenn das Thema darauf fällt. Kinder wollten die beiden schließlich nie. So arbeitet sie eben in der Bäckerei. Sie braucht eben den Kontakt zu den Menschen. Gemeinsam mit Annette und Betty bilden wir die Vierermädelsbande. Aber im Moment scheint Micha nicht auf meiner Seite zu sein.

Die Kundin sieht sich noch einmal unsicher zu mir um, als sie die Bäckerei verlässt.

»Na endlich!«, murre ich, als ich einen Schritt auf die Theke zu mache. »Machst du mir eine Latte?«

»Du kannst warten«, bestimmt Micha und wendet sich dem Mann zu. »Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann sendet mir ein verächtliches Grinsen und bestellt dann zwei Brötchen. Er sieht aus wie ein Hipster mit seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe und der Nerdbrille. Hier in Grefrath wirkt das irgendwie fehl am Platze. Ich beobachte das Prozedere, bis er mit seiner Brötchentüte aus der Tür ist.

»Sag mal, spinnst du? Was fällt dir ein, eine Kundin so anzumachen?«, schimpft Micha los, ohne Anstalten zu machen, mir den gewünschten Kaffee zuzubereiten.

»Mein Gott, die hat doch ewig gebraucht.«

»Das ist noch kein Grund, so ausfallend zu werden.«

»Was regst du dich auf? Mach mir einfach meinen Kaffee.«

»Biene, was ist los mit dir? In letzter Zeit bist du unausstehlich.«

»Nix ist los. Kriege ich jetzt endlich meinen Kaffee?«

Micha schüttelt den Kopf und geht zum Kaffeeautomaten. »Ich nehme an zum Mitnehmen?«

»Klar.«

Sie dreht sich wieder zu mir und hält mir einen dieser Coffee-to-Go-Becher hin, die wiederverwendbar sind. »Weißt du, wie viele Kaffeepappbecher stündlich in Deutschland weggeschmissen werden und die Umwelt belasten? Wir bieten jetzt diese wiederverwendbaren Becher an für nur drei Euro, und die erste Latte macchiato ist umsonst. Willst du einen?«

»Lass mich mit diesem Umweltscheiß in Ruhe. Gib mir einen Pappbecher und fertig.«

Micha schüttelt erneut den Kopf und macht sich daran, die Milch aufzuschäumen.

Als sie den Pappbecher vor mich hinstellt, sieht sie mich durchdringend an. »Biene, du musst dir Hilfe holen. So geht das nicht weiter.«

Ich schmeiße das Geld auf die Theke, greife den Becher und drehe mich zum Gehen. »Lasst mich doch einfach alle in Ruhe.«

Während ich über den Deversdonk in Richtung meines Büros schlurfe, denke ich darüber nach, dass mich in Grefrath einige für ziemlich verrückt halten. Schließlich falle ich als arbeitslose Steuerfachangestellte, die nun mit aller Kraft eine Detektei aufbauen möchte, bei vielen aus dem Raster der Normalität. Ich könnte mich genau damit trösten, dass in Grefrath jeder Sabine Hagen kennt. Zumeist nutzt man den Spitznamen Biene, der nicht von ungefähr seit meiner Kindheit immer wie das Insekt geschrieben wird. Soll meinem Charakter entsprechen. Ich hoffe, dass dies auf den Fleiß der Biene gemünzt ist. Bin mir da aber nicht sicher. Die mehr als dreißig Jahre meines Lebens habe ich hier in Grefrath verbracht. Hier kenne ich nahezu jeden, und jeder kennt mich. Oder wenn man mich nicht kennt, dann meine Oma, bei der ich lebe, seit meine Eltern vor mehr als zwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Im Moment scheint in meinem Leben aber alles aus den Fugen geraten zu sein. Ich versuche, mir meine aktuelle Situation vor Augen zu führen. Alle haben mich verlassen. Jochen und ich haben eine Beziehungspause eingelegt, von der ebenfalls niemand weiß, ob sie je beendet sein wird. Mit Jochen ist das so eine Sache. Wir können nicht miteinander und nicht ohne einander. Seit der Grundschule sind wir mehr oder weniger zusammen. In letzter Zeit haben wir es mit einer Beziehung versucht, aber es hakt. Jochen ist als Polizist die Ordnung in Person, und ich bin eher das Gegenteil. Da sind Spannungen unvermeidlich. Und da ist da noch Jago. Er ist zurück nach Argentinien, und niemand weiß, ob er je wiederkommen wird. Er ist der Finanzier der Detektei und es gab da diesen Kuss, bevor er abgereist ist, der mir nicht aus dem Kopf gehen will. Wenigstens meine Oma ist zwischenzeitlich wieder zurück von ihrer Kreuzfahrt, aber nun nistet sich ihr Lover Karl immer fester bei uns ein. Nicht, dass ich es meiner Oma nicht gönnen würde, aber für mich ist kein Mensch mehr da. Zu allem Überfluss hat es irgendein Troll im Internet auf mich abgesehen und hetzt auf Facebook über mich. Biene Hagen ist eine Gefahr, steht dort. Man sollte sie einsperren, weil sie eine Gefahr für alle ist. Warum schreitet die Polizei nicht endlich ein und sperrt sie für immer weg? Ich versuche, Facebook zu meiden, aber es gärt in mir. Es hilft auch nicht, dass ich seit Wochen kaum noch schlafe, weil ich nachts immer und immer wieder aufschrecke. Im Traum liege ich jedes Mal wieder in dem Auto. Der Gestank von Benzin ist überall, und dann sind da diese Schüsse. Im Auftrag von Herrn Gerhard, dem reichsten Mann in Grefrath, hatte nämlich ein Killer versucht, Jochen und mich umzubringen. Ich habe ihn erschossen, und seitdem werde ich die Erinnerung an diesen Moment nicht mehr los. Ich muss auch jetzt meinen Kopf kräftig schütteln, um den Gedanken daran zu vertreiben. In einer Kurzschlussreaktion trete ich gegen einen Kieselstein, der gegen eines der parkenden Autos knallt und eine merkliche Beule in der Tür hinterlässt. Ich sehe mich erschrocken um, ob jemand mein Malheur gesehen hat, aber der Platz ist glücklicherweise menschenleer. Ich beschleunige meine Schritte.


Mein Blick fällt auf Jagos Aston Martin, der vor dem Büro parkt. Ein paar Herbstblätter liegen auf der Motorhaube, und ein Vogel hat genau die Mitte der Windschutzscheibe mit seinem weißen Schiss getroffen. Ich betrachte kurz den Wagen und öffne dann die Bürotür. Ein paar Briefe und ein Päckchen liegen auf dem Boden. Ich nehme alles auf und sehe es durch. Ein Angebot für ein Abonnement der FAZ, eine Einladung zu einem internationalen Symposium zur Wirtschaftsentwicklung in China und eine Fachzeitschrift für Logistiker. Ein Brief trägt keinen Absender. Bei dem Päckchen habe ich eine Ahnung, was es ist. Während ich mich frage, welcher Adressenvertrieb da wieder mit unserer Anschrift Geld verdient und Kunden abgezockt hat, betrachte ich den Umschlag ohne Absender. Die restliche Post schmeiße ich in den Papierkorb.

Seit mehr als einer Woche war ich nun nicht mehr im Büro, und ganze drei Werbesendungen sind in der Post. Das ist nicht gerade ein Zeichen für ein florierendes Unternehmen. Vielleicht enthält dieser unbeschriftete Umschlag ja eine positive Überraschung, auch wenn mein Bauchgrummeln etwas anderes anzeigt. Doch bevor ich ihn aufreiße, gehe ich in Jagos Büro und öffne ein Fenster. Die Luft steht in den Räumen. Jago hat eindeutig mehr Geschmack als ich, und so wirkt sein Büro edel. Kein Wunder, dass alle ihn für den Chef halten. Der Mahagonischreibtisch, aus ökologisch einwandfreiem Holz gefertigt, ist perfekt aufgeräumt. Ein Montblanc-Kugelschreiber liegt schmückend vor der Schreibtischunterlage. An der Seite rundet das Sideboard aus demselben Holz den Gesamteindruck ab. Ich gehe in mein Büro, öffne auch hier das Fenster und spüre dem Luftzug nach, der sich entwickelt. Mein Schreibtisch könnte im typischen Büromöbel-Hellgrau kaum unterschiedlicher sein. Die bekritzelte Schreibtischunterlage und die wild verstreuten Utensilien und Papiere unterstreichen dies noch. Ich setze mich auf meinen Bürostuhl, schiebe das Durcheinander aus Papieren, Büroklammern und Stiften mit Werbeaufdruck beiseite, lege das Päckchen auf den Schreibtisch und öffne den Brief.

Du Schlampe, steht dort mit krakeliger Schrift geschrieben. Es wird Zeit, dass du dich verziehst. Du hast genug Schaden angerichtet, und du solltest aufpassen, dass es dich nicht irgendwann erwischt. Als Unterschrift ist ein Kreuz unter die Zeilen gemalt.

Ich lasse das Blatt angewidert auf den Schreibtisch fallen. Ist das eine Todesdrohung? Dieser Troll treibt nicht nur im Netz sein Unwesen, und es wird immer schlimmer. Ich packe den Brief mit spitzen Fingern, öffne die unterste Schreibtischschublade und stopfe ihn zu den anderen. Seit Wochen gibt es diese Briefe, und ich dachte, es würde sich irgendwann von alleine legen. Tut es aber wohl nicht. Ich trete gegen die Schublade, so dass sie sich mit einem lauten Knall schließt, und wende ich mich dem Päckchen zu. Als ich es aufreiße, wird meine Vermutung bestätigt. Ein schwarzes Mäppchen liegt vor mir. Ich öffne es, breite den Inhalt vor mir aus und denke an den Werbetext, der mich zur Bestellung bewogen hat. Mit diesem Set wird Sie kein Schloss mehr aufhalten, stand auf der Internetseite. Zufrieden schließe ich das Mäppchen und packe es in meine Handtasche.


Das Klingeln des Telefons holt mich aus meinen Gedanken. Betty steht auf dem Display, und ich klicke auf den grünen Hörer. »Hallo, Betty«, begrüße ich meine Freundin. Sie ist so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Seit wir uns in der Schule kennengelernt haben, hat sie ein klares Ziel verfolgt und es auch erreicht. Sie hat sich Georg als Mann geangelt, der stellvertretender Filialleiter der hiesigen Sparkasse ist. Die beiden haben ein Haus gebaut und die dazugehörigen zwei Kinder gezeugt, natürlich einen Jungen und ein Mädchen. Dazu ist sie meine beste Freundin. Gegensätze ziehen sich eben an.

»Hallo, meine Liebe«, klingt es mir fröhlich entgegen. »Was machst du gerade?«

»Sitze im Büro.« Ich versuche, die herumliegenden Stifte alle parallel auszurichten.

»Oh.«

»Hm, ist ruhig hier.«

»Ja, die Grefrather brauchen lange, bis sie jemandem vertrauen.«

»Die kennen mich doch schon von Geburt an.« Ich nehme einen der Stifte und kritzele Strichmännchen auf meine Schreibtischunterlage. »Mir können sie vertrauen.«

»Na ja, die meisten kennen dich nicht wirklich. Lass ihnen Zeit. Das wird schon. Es hilft allerdings nicht, wenn du Kundinnen in der Bäckerei anschreist.«

»Ach, hat sich Micha etwa bei dir ausgeweint?«

»Sie macht sich Sorgen um dich. Wie wir alle.«

»Du hast gut reden. Hast du mal gelesen, was da im Internet so über mich geschrieben wird?«

»Ach, das interessiert doch keinen.«

»Das glaubst du, die gerade mal ihre E-Mails abruft. Ist doch alles Scheiße. Wenn jemand einen Detektiv sucht und meinen Namen googelt, wird er gleich auf die Hetzkommentare stoßen und dann bestimmt nicht zu mir kommen.«

»Hast du denn eine Ahnung, wer da so eine Kampagne im Netz gegen dich startet?«

Ich schüttele heftig den Kopf und bemerke dann, dass sie es nicht sehen kann. »Nein. Diese Trolle im Netz verstecken sich immer hinter Fake-Accounts«, füge ich an.

»Trolle? Haben die grüne Strumpfhosen an?« Betty lacht, und nach einem kurzen Unmut über die unpassend erscheinende Reaktion muss ich doch mitlachen.

»Die mit den Strumpfhosen sind Elfen, glaube ich. Aber da bin ich auch nicht sicher. Als Trolle bezeichnet man die Typen, die im Netz Hasskommentare posten und nur auf Provokation aus sind.«

»Ach so. Nur gut, dass ich mich nicht im Netz herumtreibe.«

»Ja, ja. Hilft mir aber jetzt auch nicht.« War klar, dass Betty mir in solchen Dingen keine Hilfe sein würde.

»Na ja, du willst doch Detektivin sein …«

»Wie meinst du das?«

»Was machen Detektivinnen so im Normalfall?« Ihr Tonfall klingt, als ob sie mit einem Kleinkind sprechen würde, das selbstständig aufs Pöttchen gehen soll.

»Du meinst, ich sollte mal nachforschen?«

»Ja, schlaues Kind.« Wieder lacht sie. »Vielleicht kannst du den Typen zur Rede stellen und es beenden.«

»Betty, du bist ein Schatz. Das ist es. Ich werde diesen Mistkerl ausfindig machen und ihm kräftig den Marsch blasen. Wieso bin ich da selbst noch nicht drauf gekommen?«

Bettys Lachen ist jetzt noch lauter. »Das frage ich mich allerdings auch. Dass du Detektivin bist, musst du wohl noch mehr verinnerlichen. Ach ja, es könnte übrigens auch eine Mistziege und nicht nur ein Mistkerl sein.«

Ich muss mitlachen. »Na klar, das könnte auch sein.«

Wir beenden das Telefonat, und ich verspreche, ihr zu berichten, was ich herausfinde.

Ich laufe in meinem Büro auf und ab. Beim Gehen sollen Ideen kommen, und ich brauche eine Idee, wo ich bei meiner Suche nach dem Troll ansetzen könnte. Ich greife Jacke und Tasche und verlasse das Büro. Der Deversdonk liegt vor mir. An dem zentralen Platz in Grefrath befinden sich neben der Bäckerei unter anderem ein Drogeriemarkt, ein Blumengeschäft und auch die hiesige Polizeiwache. Letztere ist allerdings nur an zwei Tagen zu jeweils zwei Stunden besetzt. Ich schlendere in Richtung Hohe Straße. Die ist so etwas wie die Einkaufsstraße von Grefrath und führt zum Marktplatz direkt an der katholischen Kirche St. Laurentius. Immerhin gibt es noch ein paar Geschäfte in Grefrath, und der Marktplatz sieht sogar recht ansehnlich aus. Heute ist ein sonniger Tag, und es sitzen schon ein paar Menschen vor der Eisdiele und schlürfen ihren Kaffee. Ja, Grefrath hat etwas Beschauliches. Bei dem Gedanken wird mir sogar ein bisschen warm ums Herz. Ich bin schließlich Grefratherin durch und durch. Gut, geboren bin ich hier nicht, weil es hier kein Krankenhaus mehr gibt, aber das ist nur eine Formsache. Von klein auf spielte sich mein ganzes Leben in Grefrath ab. Deshalb ist es für mich so unverständlich, dass mir nun ein derart kalter Wind entgegenbläst. Ich weiß genau, dass sich die Leute das Maul über mich zerreißen. Aber dieser verdammte Troll mit seinen ständigen Falschmeldungen über mich im Netz und diesen Drohbriefen setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Er hätte sich dazu keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, schließlich bin ich derzeit so ziemlich auf mich alleine gestellt. Aber wie kann ich ihn ausfindig machen? Die Briefe sind das Einzige, das ich von dem Mistkerl habe. Für mich ist es einfach ein Mistkerl, auch wenn es sich irgendwann herausstellen sollte, dass es eine Frau ist. Es gibt unzählige Posts im Netz von ihm. Aber das sind immer irgendwelche Fake-Accounts, und ich konnte bisher nie eine Spur zu einem realen Menschen finden. Die Briefe sind vielleicht meine einzige Chance, aber sie sind alle unfrankiert und unadressiert. Sie lagen einfach bei der normalen Post im Briefkasten. Ich betrachte den Marktplatz und drehe um, zurück zum Deversdonk. In den Serien, die ich so gerne gucke, gibt es immer irgendwelche Überwachungsbilder, die auf die Spur des Täters führen. Es wäre toll, wenn so eine Kamera meinen Troll beim Einwerfen der Briefe gefilmt hätte. Aber am Deversdonk gibt es keine Kameras. Zumindest nicht, soweit ich weiß. Als ich wieder dorthin einbiege, halte ich Ausschau nach möglichen Kameras, aber ich kann nichts entdecken. Es müsste irgendwer etwas gesehen haben. Aber ich weiß nicht einmal, wann die Briefe eingeworfen wurden. Ich bin ja immer nur alle paar Tage mal im Büro gewesen. Es waren drei Briefe in vierzehn Tagen. Also muss dieser Mensch drei Mal hier gewesen sein. Das könnte schon jemandem aufgefallen sein. Die einzige Stelle, die mir spontan einfällt, an der ich fragen könnte, ist die Bäckerei, an der ich gerade vorbeischlendere. Aber Micha gehe ich momentan besser aus dem Weg. Die Bäckerei ist wahrscheinlich sowieso zu weit weg, als dass man von dort etwas sehen könnte. Ich schaue von meiner Position zu meinem Büro. Aus der Entfernung lässt sich niemand erkennen, der nicht erkannt werden will. Der Einzige, der mir sonst noch einfällt, den ich um Hilfe bitten könnte, ist Jochen. Ich beschleunige meine Schritte in Richtung Büro. Beziehungspause hin oder her, hier geht es um ein potenzielles Verbrechen, da muss er ran. Dienst ist schließlich Dienst.

II

»Warum sagst du mir denn nichts davon?« Jochen steht vor meinem Schreibtisch und wedelt mit dem heutigen Drohbrief. In seiner blauen Uniform wirkt er immer etwas martialisch, aber auch verdammt sexy. »Das sind handfeste Drohungen. Damit ist nicht zu spaßen.« Seine Kollegin steht etwas abseits im Türrahmen und nickt zustimmend.

»Ihr habt ja recht«, gebe ich kleinlaut zu. »Aber ich dachte, es würde sich schon wieder legen.«

Jochen sieht mich besorgt an. »Du bist vielleicht in Gefahr, Biene!«

»Jetzt übertreib mal nicht. Mir wird schon nichts passieren.«

»Ach ja, das weißt du weshalb? Weil du noch nie in bedrohliche Situationen geraten bist?« Er sieht mich herausfordernd an und verschränkt die Arme vor seiner Brust.

»Nein, weil ich sie alle überlebt habe«, stelle ich trotzig fest.

»Weil wir dich jedes Mal rausgeholt haben. Und es war immer fünf vor zwölf.« Seine Stimme wird lauter. »Ich bin gerade erst wieder im Dienst nach der letzten Aktion und der Zeit im Krankenhaus. Ich habe keine Lust, noch einmal für dich angeschossen zu werden, wenn ich dich mal wieder aus der Klemme retten muss..«

»Was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Ich kann mich schlecht einschließen.«

Jochens Blick wird versöhnlicher. »Dass du mir davon erzählt hast, ist ein guter Schritt. Hast du eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

Ich schüttele den Kopf, stehe auf und gehe um den Schreibtisch auf ihn zu. »Ich habe mir schon das Hirn zermartert, aber ich kann mir niemanden vorstellen, der so etwas tun würde.«

Jochen verzieht das Gesicht und sieht mich an. Wir stehen uns gegenüber.

»Was ist?«, frage ich nach.

»Du bist einfach zu naiv, um Detektivin zu sein.«

»Wieso?« Jetzt ist es an mir, die Stirn zu runzeln.

»Das fragst du noch?« Jochen legt seine Hände auf meine Schultern. »Weißt du eigentlich, wie vielen Leuten du in letzter Zeit auf die Füße getreten bist?«

»Ach ja? Und wem?«, hake ich trotzig nach.

Jochen nimmt die Hände von meinen Schultern und sieht mir streng in die Augen. »Jetzt tu nicht so blöd.« Er löst den Blick von mir. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Aufzählen anfangen soll. In den letzten Wochen hast du wohl jeden beleidigt, der dir irgendwie über den Weg gelaufen ist. Dann sind da die ganzen Mitarbeiter von den Gerhards, die jetzt den Job verloren haben, seit du ihren Chef in den Knast gebracht hast. An möglichen Verdächtigen mangelt es wirklich nicht.«

Herr Gerhard ist so etwas wie der Oligarch von Grefrath. Ihm gehören ganze Straßenzüge und noch einiges mehr. Er hat damals den Unfall meiner Eltern in Auftrag gegeben und den Killer auf Jochen und mich gehetzt. Jetzt sitzt er im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess wegen Mordes. Sein Unternehmen musste Insolvenz anmelden und deswegen alle Mitarbeiter auf die Straße setzen. Ging vor Kurzem durch die Presse. Ich sehe Jochen überrascht an. »Der hat meine Eltern umbringen lassen und einen Killer auf uns gehetzt. Da können die mir doch nicht böse sein.«

»Da kennst du aber die Menschen schlecht.«

»Echt?« Ich versuche, in Gedanken nach Personen zu suchen, von denen ich weiß, dass sie für Herrn Gerhard gearbeitet haben. Mir fallen aber keine ein. Eigentlich habe ich damals nur die Assistentin kennengelernt. Okay, sie war immer recht biestig zu mir. Sie könnte tatsächlich wütend genug auf mich sein, um solche Drohbriefe zu schreiben. »Mir fällt nur seine frühere Assistentin ein«, erläutere ich Jochen meinen Gedanken. »Sie konnte mich nicht leiden. Jedenfalls hat sie in einem Artikel mir die Schuld für ihre Misere gegeben. Ich hätte ihren Chef falsch beschuldigt. Wie heißt sie noch? Sandra Bauer oder Brauer, ich erinnere mich nicht genau. Sonst kenne ich gar keine Ex-Mitarbeiter von ihm.«

Jochen nickt. »Ist ein Anfang. Wir machen uns mal schlau.« Er nickt seiner Kollegin zu, und die nickt zurück.

»Hast du schon mal herumgefragt, ob jemand was gesehen hat?«, hakt er nach.

»Nein, bisher nicht. Ich könnte höchstens mal in der Bäckerei fragen.«

Jochen sieht in Richtung der Bäckerei, als ob er durch Wände schauen könnte und den Deversdonk abscannen würde. »Die sind zu weit weg. Du bist mir ja eine schöne Detektivin.« Er grinst und sieht zu seiner Kollegin. »Wir werden mal die Nachbarn befragen.« Dann macht er einen Schritt auf mich zu und sieht mir tief in die Augen. »Und du bist vorsichtig, ja?«

»Klar.«


Als sich die Tür hinter ihnen schließt, meldet sich mein Magen mit einem lauten Knurren. Noch in Gedanken an das Gespräch schaue ich auf die Uhr. Es ist schon fast ein Uhr. Oma wartet gewiss mit dem Mittagessen auf mich. Vor noch nicht langer Zeit wäre ich nun schnell nach Hause gehetzt und hätte mich auf das Essen mit ihr gefreut. Zum einen, weil ich Omas Küche einfach nur liebe, und zum anderen, weil ich Oma liebe. Doch nach ihrer Rückkehr von der Kreuzfahrt mit Karl, den sie mittlerweile gelegentlich schon als ihren Freund bezeichnet, ist irgendetwas anders. Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich daran denke, nach Hause zu gehen, grummelt mein Magen schon wieder. Wenn dieses Grummeln nicht aufhört, bekomme ich noch Magengeschwüre. Ich überlege, ob ich mir stattdessen einen Döner holen soll, aber der Gedanke gibt mir kein befriedigendes Gefühl. Ich kann Oma nicht ständig aus dem Weg gehen. Das würde ihr wehtun, und wenn ich eines nicht möchte, dann das.

Als ich das Büro verlasse und mich auf den Weg machen möchte, fällt mein Blick auf Jagos Aston Martin vor der Tür. Ich könnte jetzt den ganzen Weg bis zum Feldchen laufen, aber es wäre sicherlich bequemer, mit dem Auto zu fahren. Jago hat gesagt, dass er den Autoschlüssel hier lassen würde. Ich schaue auf den Wagen und den großen Vogelschiss auf seiner Windschutzscheibe. So ein Auto darf nicht nur herumstehen. Das muss bewegt werden. Wie ein hochgezüchtetes Rennpferd. Die Zweifel, ob es Jago wirklich recht wäre, sind schnell weggewischt. Ich gehe zurück ins Haus und in Jagos Büro. Auf dem Schreibtisch liegt nichts außer dem Edelkugelschreiber. Ich öffne die Schubladen. Auch nichts Passendes zu sehen. Lediglich ein viereckiges Ding mit Aston-Martin-Logo ist zu entdecken. Sollte das der Schlüssel sein? Ich drehe und wende es in meiner Hand. Es sind Tasten mit Symbolen zu sehen, die darauf schließen lassen, dass sich damit Autotüren öffnen lassen. Das muss es sein.

Zurück am Auto drücke ich auf einen der Knöpfe, und die Türverriegelung gibt ein sonores Klack von sich. Zaghaft ziehe ich an der Tür, die überraschend leicht den Zugang zum Wageninneren freigibt. Vorsichtig gleite ich auf den Ledersitz und schließe die Tür. Jago ist etwas größer als ich, und ich suche den Griff, um den Sitz etwas nach vorne zu schieben. Stattdessen finde ich einige Knöpfe, und als ich auf einen drücke, bewegt sich der Sitz leicht surrend in die gewünschte Richtung. Nachdem ich mich angeschnallt habe, atme ich tief ein und suche einen Startknopf. Vergeblich. Ich betrachte den Schlüssel. Ist da irgendwo ein Startknopf? Aber auch dort finde ich nichts. Wie geht diese Kiste denn nur an? Ich suche auf der Mittelkonsole nach irgendeinem Ding, das wie ein Starter aussieht. Können die nicht einfach einen dicken, roten Knopf mit dem Wort »Start« darauf anbringen? Anscheinend nicht, denn ich finde nichts. Muss ich jetzt doch laufen, weil ich diese Luxuskarre nicht mal gestartet kriege?

Mein Blick fällt auf eine rechteckige Öffnung in der Konsole. Wieder sehe ich mir den Schlüssel an. Die Öffnung scheint genau so groß zu sein. Ob der Schlüssel dort hinein gehört? Ich versuche es, und siehe da, er gleitet in die Öffnung. Am Ende ist ein federnder Widerstand. Ich drücke weiter, und plötzlich startet die Maschine mit einem tiefen Brummen. Die erste Hürde ist genommen. Nun nur noch das Automatikgetriebe auf D schalten, und los geht’s. Nur zu dumm, dass ich keinen Schalthebel finden kann. Es scheint, dass Käufer dieses Fahrzeugs erst einmal einen Kurs machen müssen, um es überhaupt in Gang bringen zu können. Ich finde einen Knopf am Lenkrad, der meine Rettung sein könnte. Ich drücke ihn vorsichtig und gebe Gas. Der Motor brüllt auf, und ich habe das Gefühl, dass mich gleich das Heck des Wagens überholt. Schnell stehe ich mit beiden Füßen auf der Bremse. Ich bin eben das Kuppeln gewöhnt. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich schaue vorsichtig nach rechts und links, ob jemand mein Startmanöver beobachtet hat. Es scheint aber unbemerkt geblieben zu sein. Allerdings hat mich mein Fehlstart gefährlich nahe an das gegenüber parkende Fahrzeug gebracht, sodass ich nun etwas rangieren muss, um losfahren zu können. Also mit zitternden Händen den Knopf drücken, den ich für den Rückwärtsgang halte. Dann höchst sensibel das Gaspedal streicheln. Der Wagen setzt sich brummend in Bewegung. Ich schaffe es, unfallfrei vom Deversdonk zu rollen, und fahre die Dunkerhofstraße entlang. Ich traue diesem Edelgefährt noch nicht so recht und bewege den Fuß auf dem Gaspedal so vorsichtig, wie es nur geht. So rolle ich eher in Schrittgeschwindigkeit an den beiden Sparkassen des Ortes vorbei und passiere das ehemalige Kino, das nun ein Fitnessstudio beherbergt, um dann an der Kreuzung wieder viel zu abrupt zu bremsen. Dass mit dem Kuppeln muss ich mir schnellstens abgewöhnen. Ich schaffe es, den Blinker zu setzen und langsam nach rechts in die Umstraße zu rollen. Ich trete etwas mehr auf das Gaspedal, und der Wagen zieht vernehmlich an. Als ich auf den Tacho schaue, stelle ich mit Schrecken fest, dass ich bereits auf über siebzig Kilometer beschleunigt habe. Das geht aber auch schnell bei diesem Rennwagen. Hastig trete ich auf die Bremse, um sogleich eine formidable Vollbremsung hinzulegen. Zum Glück ist niemand hinter mir, denn sonst hätte es eine Karambolage gegeben. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und mache einen weiteren Versuch, dieses Rennpferd zu beherrschen. Die wenigen Meter bis zur Abbiegung zum Feldchen gelingen ohne weiteres Malheur, und ich schaffe es, den Wagen unfallfrei an den Straßenrand vor unserem Haus zu bugsieren und den Motor zu stoppen. Meine Hände zittern leicht, und ich habe das Gefühl, während der Fahrt die Luft angehalten zu haben. Es ist mir ein Bedürfnis, erleichtert auszuatmen. Ich streiche über das Lenkrad und bin mir nicht sicher, ob ich dies wegen der Erleichterung tue, unfallfrei angekommen zu sein, oder in Gedanken an Jago.


Im Hausflur empfängt mich der wohlige Duft von Omas Kochkünsten. »Kengk, da bös du ja«, begrüßt sie mich, als ich die Küche betrete.

»Hallo, Biene« sagt Karl, der mal wieder auf meinem Stammplatz am Kopfende des Tisches auf der Eckbank sitzt. Der Bezug ist schon ziemlich durchgesessen und die gelegentlich ziemlich knackt, wenn man sich daraufsetzt. Ich verzichte darauf, auf die Bank zu rutschen, sondern nehme auf dem Stuhl gegenüber Platz. Das Grummeln im Magen stellt sich ein.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du bleibst.« Oma steht von ihrem Platz auf, während ich die bunte Wasserpumpgun betrachte, die neben der Terrassentür an der Wand lehnt. »Warst du wieder auf Taubenjagd?«, frage ich lachend.

Oma folgt meinem Blick auf die Pumpgun und nickt. »Die Viecher fressen den Vögelchen alles weg.« Omas Vögelchen sind ihr Ein und Alles. Da muss sie eben mal zu härteren Waffen greifen, um sie zu schützen. Oma nimmt die fast leeren Schüsseln vom Tisch und füllt sie am Herd neu auf. Dann stellt sie alles vor mir hin. Kartoffelpüree, Sauerkraut und Schweinebraten. Mein Magen mag zwar aus einem unerfindlichen Grund grummeln, aber er kann mich nicht davon abhalten, mir genüsslich den Teller zu füllen. Oma beobachtet mich mit Genugtuung.

»Hat sich im Büro etwas ergeben?«, fragt sie, als ich die Schweinebratensoße in die vorbereitete Püreekuhle löffele. Ich blicke von meinem Tellerkunstwerk auf und schüttele den Kopf.

»Kengk, wie lange willst du das denn noch machen? Du musst doch mal auf einen grünen Zweig kommen.«

Ich nehme die erste Gabel Püree und beobachte, wie sich die Soße in meinem geschaffenen Bachlauf verteilt.

»Das wird schon«, sage ich mechanisch, wie ich es schon hunderte Male gesagt habe.

»Dein Optimismus ist bewundernswert«, mischt sich Karl ein. Ich sehe von meiner mit Schweinebraten bestückten Gabel auf und ihm direkt ins Gesicht. »Was soll ich denn sonst machen, deiner Meinung nach? Aufgeben?« Ich kann nicht verhindern, dass mein Tonfall eine gewisse Schärfe bekommen hat, und stopfe mir schnell den Braten in den Mund, um weitere Äußerungen zu verhindern.

»Es ist kein Aufgeben, wenn man feststellt, dass etwas nicht funktioniert. Das ist eher klug.« Karl sieht Oma an, und die nickt.

»Verdammt nochmal!« Ich schmeiße meine Gabel auf den Teller, Soße spritzt auf und besprenkelt rundherum die Kaffeemotive auf der Plastiktischdecke mit zusätzlichen braunen Punkten. »Lasst mich doch einfach mein Ding machen. Was ist daran so schwer?« Ich springe auf, und der Stuhl rutscht mit knarzendem Geräusch bis an die Wand. »Ihr könnt mich alle mal!«

Als ich die Küchentür zuknalle, wackelt die Glasscheibe darin, und für einen kurzen Moment rechne ich damit, dass sie in tausend Splitter zerspringt, aber sie überlegt es sich doch noch anders und bleibt im Rahmen. Ich laufe die Treppe hoch in meine Wohnung und schmeiße mich auf die Couch. Ich hasse mein Leben.


Seit meine Eltern verstorben sind, wohne ich mit Oma in ihrem Haus. Sie im Erdgeschoss und ich habe mein Reich in der Etage darüber. Ich habe eigentlich ein geruhsames Leben in einem behüteten Umfeld. Doch heute renne ich nur unruhig hin und her. Ich kann einfach nicht nur so daliegen. Nicht nur, dass ich ständig darüber nachdenken muss, wie ich dem Urheber der anonymen Drohungen auf die Spur kommen könnte. In mir brodelt es unaufhörlich. Es ist, als ob alles aus den Fugen geraten ist. Warum bin ich nicht einfach Steuerfachangestellte geblieben? Ich säße jetzt gemütlich in einem Büro und würde Quittungen von Mandanten sortieren. Kein Mensch würde mir Drohbriefe senden, und in Grefrath würde niemand das Gesicht verziehen, wenn er mich sieht. Und ich hätte niemanden erschossen.

Ich lasse mich auf meine Couch fallen und versuche die Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Aber man kann nicht aufhören zu denken. Irgendwelche Buddhisten können das womöglich. Ich aber nicht. Ich denke immer irgendwas. Bevor ich weiter über mein verkorkstes Leben grübele, ist es vielleicht besser, mich auf die aktuelle Herausforderung zu konzentrieren. Ob Jochen weitere Ex-Mitarbeiter von Gerhards Firma ausfindig gemacht hat?, blitzt es in meinem auf Hochtouren arbeitenden Hirn auf. Ich überlege, ob ich ihn anrufen und fragen soll, doch entscheide mich dagegen. »Komm, Sabine, du bist schließlich Detektivin«, fordere ich mich selbst auf. Ich springe von der Couch auf, schnappe Tasche und Jacke und laufe die Treppe hinunter. Die Küchentür steht wieder offen, und Karl sieht mir nach, wie ich ohne Gruß durch die Haustür verschwinde.

Immer noch mit Respekt vor der kraftvollen Maschine schiebe ich das Schlüsseldings in die dafür vorgesehene Öffnung des Aston Martin. Die Maschine brummt los. Glücklicherweise hat niemand vor mir geparkt, sodass ich nicht rangieren muss, um losfahren zu können. Ich entschließe mich, nicht den kürzesten Weg zum Deversdonk zu nehmen, sondern biege rechts in die Straße Zum Nordkanal ab. An der Lobbericher Straße entschließe ich mich, nach links abzubiegen. Jagos Worte klingen durch meinen Kopf. »Ein Aston Martin will gefahren werden«, hat er immer gesagt. Den Gefallen wollen wir ihm tun. Ich biege auf die Bundesstraße ab und lasse die Maschine röhren.

An der Ampel vor der Ortseinfahrt von Lobberich angekommen, setze ich den Blinker nach links, um auf die Autobahn zu fahren. Doch dann schießt mir ein Gedanke in den Kopf. Lobberich, was war noch in Lobberich? Wohnte nicht die Assistentin von Herrn Gerhard in Lobberich?

Als die Ampel auf Grün schaltet, biege ich nicht ab, sondern fahre geradeaus über die Kreuzung, was dem Fahrer des blauen Autos hinter mir anscheinend auch deutlich macht, dass er sich falsch eingeordnet hat. Er fährt nämlich auch geradeaus, obwohl er nach links geblinkt hatte. Ich fahre in den ersten Kreisverkehr ein und biege an der ersten Ausfahrt ab, um an der Tankstelle zu halten und mich erst einmal zu orientieren. Der blaue Wagen fährt an mir vorbei und hält an der Tankstelle. Ihm ist wohl eingefallen, dass er noch tanken muss. Beim Blick auf die Zapfsäulen wird mir spontan bewusst, dass ich gar nicht weiß, was diese Rennmaschine tankt und wo der Treibstoff hineinkommt. Die Tankanzeige zeigt zum Glück noch einen beruhigenden Füllstand an. Ich zücke mein Handy und suche nach Sandra Bauer oder Brauer in Lobberich. Ich erinnere mich an ihr Gesicht. Schließlich war ich einige Male bei Herrn Gerhard im Büro. Sie erschien mir damals wie das Klischeebild einer Assistentin. Die aschblonden Haare zurückgebunden, immer im Kostümchen und dazu natürlich die etwas zu groß wirkende Brille mit geschwungenem Gestell. Zuerst dachte ich immer, sie würde wie eine seriöse Version von mir aussehen. Gut, meine Haare sind nur knapp kinnlang und eher straßenköterblond. Kostümchen trage ich auch sehr selten. Jeans, T-Shirt und Lederjacke ist mehr mein Outfit. Eine Brille trage ich allerdings auch. Ich hoffe, die wirkt bei mir nicht zu groß.

Manchmal ist die Sammelwut der amerikanischen Großkonzerne hilfreich. Mein Handy zeigt ein Foto an, das zu meiner Erinnerung passt. Sandra Bauer heißt sie. Mit ein paar Klicks gibt es auch einen Ort zum Bild. Ich werde Frau Bauer einmal auf den Zahn fühlen. Mein Versuch, die Adresse in das Navigationsgerät des Autos einzugeben, scheitert. So sehe ich mir den Ort lediglich auf dem Handy an und fahre los.

III

Leute sehen mir nach, wie ich in diesem Supergefährt durch Lobberich kurve, um zu meinem Ziel zu gelangen. Manchmal gebe ich extra etwas mehr Gas als nötig, um den tollen Sound der Maschine gut hörbar werden zu lassen. Langsam komme ich mit der Edelkarosse besser klar, und die Umrundung der Ortsmitte von Lobberich trainiert sehr. Es ist wirklich kurven angesagt. Es gibt einen Kreisverkehr nach dem anderen. Zuerst geht es an dem Traditionscafé von Lobberich vorbei, dann lasse ich die Kirche links liegen, um vor der Abfahrt zum Krankenhaus den nächsten Kreisverkehr zu bewältigen, der aber eher oval ist. An den üblichen Discountern vorbei geht es zum Kreisverkehr vor einem Möbelhaus, bis ich dann die Zielstraße, den Caudebecring, erreicht habe. Laut meinem Handy muss Frau Bauer in einem der hohen Mehrfamilienhäuser auf der rechten Seite kurz vor dem nächsten Kreisverkehr wohnen. Ich parke am Straßenrand und steige aus. Zwei Jugendliche bleiben auf dem Bürgersteig stehen und starren abwechselnd auf das Auto und auf mich. Ich versuche, möglichst lässig zu wirken, und stolpere fast über die Bürgersteigkante. Als ich meinen stabilen Stand wieder habe, grinsen mich die beiden jungen Kerle an. Ich sende ihnen einen vernichtenden Blick und gehe zum Hauseingang, um die Klingelschilder zu studieren. Ich drücke auf den Knopf neben dem Namen Bauer. Nichts geschieht. Ich drücke erneut und etwas länger. Es geschieht immer noch nichts. Frau Bauer scheint nicht zu Hause zu sein. Gerade, als ich mich abwenden will, öffnet sich die Tür, und eine ältere Dame kommt heraus. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit schalte ich schnell, werfe ihr ein fröhliches Danke entgegen und bin schon durch die Tür, bevor die Dame Einspruch erheben kann, und renne die Treppe in den ersten Stock hinauf, in dem ich die Wohnung von Frau Bauer vermute. An den Seiten sind jeweils Türen, die zu einem Außengang führen, an dem zusätzliche Wohnungen sind. Das sehr seriöse Türschild, das auch ohne weiteres den Konferenzraum eines Unternehmens ausweisen könnte, auf dem aber nun lediglich Bauer in Schriftart Arial geschrieben steht, zeigt mir aber, dass mein Ziel die Wohnung ist, die direkt vom Hausflur erreichbar ist. Ich klingele auch dort noch einmal, aber es passiert wieder nichts. Was kann ich tun? Unverrichteter Dinge umkehren? Es widerstrebt mir. Ich betrachte die Wohnungstür. Dies wäre doch ein guter Moment, mein neues Werkzeug auszuprobieren.

Ich hole mein Mäppchen aus der Tasche, öffne es und betrachte abwechselnd die verschiedenen Werkzeuge und das Schloss. Ich hätte vielleicht die ebenfalls im Internet angebotenen Übungsschlösser mitbestellen sollen. Ach, übe ich eben in der Praxis. Schließlich habe ich das schon viele Male im Fernsehen gesehen. Dort knacken sie Schlösser in Sekundenbruchteilen. Ich kriege das hin.

Zuerst nehme ich das dünne Ding und führe es ins Schloss. Da soll ja irgendetwas zu spüren sein, das weggeschoben werden muss. Ich spüre ein Hindernis und kann es tatsächlich bewegen. Jetzt das andere dünne Ding und nach einem weiteren Hindernis suchen. Ich stochere hin und her, aber finde nichts. Dann ist da doch etwas. Ich probiere herum, ohne zu wissen, was ich da tue, und tatsächlich springt die Tür auf. Ich jauchze begeistert auf, halte mir dann erschrocken die Hand vor den Mund und horche in die Stille des Hausflurs, ob es irgendeine Reaktion gibt. Als nichts zu hören ist, packe ich mein Werkzeug hastig ein und gehe in die Wohnung. Leise schließe ich die Tür hinter mir.

Was suche ich hier eigentlich? Wenn die Assistentin die Urheberin der Drohbriefe ist, dann finde ich vielleicht Spuren davon. Ich stehe in einer Zweizimmerwohnung. Die Küche ist nur durch eine Theke vom Wohnzimmer getrennt. Es gibt kein gesondertes Arbeitszimmer. Im Wohnzimmer entdecke ich aber einen Sekretär, unter dem ein PC und ein Drucker stehen. Wenn Frau Bauer die Briefe hier gedruckt hat, sollte ich etwas finden. Ich öffne den Sekretär und lege einige Unterlagen frei. Aber nichts deutet auf Drohbriefe. Nur die üblichen Rechnungen sind zu finden. »Denk nach, Frau Detektivin«, fordere ich mich auf. Wie geht man bei einer heimlichen Wohnungsdurchsuchung vor? Auf jeden Fall akribisch. Akribie bin ich als gelernte Steuerfachangestellte doch gewohnt. Wie lange musste ich in Schuhkartons mit Haufen von Belegen nach den richtigen Quittungen suchen. Allerdings habe ich dies immer gehasst. Und alleine die Erinnerung daran lähmt mich in meinem Enthusiasmus, meinen Troll zu entlarven. »Los, Sabine«, fordere ich mich auf und schalte den PC ein. Natürlich erscheint sofort die Abfrage für das Kennwort. Ich versuche die üblichen Standards, wie 123456, aber so einfach macht es mir Frau Bauer nicht. Kombinationen ihres Namens bringen auch keinen Erfolg. Mist. Sagen die Skeptiker nicht immer, die Rechner wären so leicht zu knacken? Ich kann das nicht bestätigen. Ich suche das Umfeld des Rechners nach Hinweisen ab, die mich zum Kennwort führen könnten. Sicher ist, Frau Bauer hat kein Haustier, dessen Name als Schlüsselwort dienen könnte. Es muss also etwas anderes sein. Hoffentlich ist sie nicht so eine Verschwörungsgläubige, die ein Hochsicherheitskennwort generiert hat, dann sitze ich hier noch Stunden. Dabei wird von Minute zu Minute die Gefahr größer, dass die Bewohnerin in der Tür steht und mich in flagranti erwischt. Also, ich gebe mir noch einen Versuch, dann breche ich ab und verziehe mich.

Ich starre auf den Rechner. Was könnte es sein? Ich lasse meinen Blick noch einmal herumschweifen. Komm, gib mir einen Hinweis. Neben dem Bildschirm steht ein digitaler Bilderrahmen. Vielleicht geben mir die Bilder einen Hinweis. Ich schalte ihn ein, und es erscheinen Urlaubsbilder. Es ist ein Strand zu sehen. Südliche Gefilde. Ich tippe auf Mittelmeer. Auf einem Bild ist Frau Bauer zu erkennen. Allerdings sieht sie ganz anders aus, als ich sie kenne. Das Haar liegt offen auf ihrer Schulter. Sie trägt einen Badeanzug und einen Pareo. Sie lacht in die Kamera. Dieser Urlaub scheint eine schöne Erinnerung für sie zu sein. Die ideale Grundlage für ein Kennwort. Ich blättere die Fotos weiter durch, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Ort zu finden. Es sieht nicht spanisch aus, eher griechisch. Die Säulen auf einem Foto bestätigen meine Vermutung. Ein Foto zeigt die Akropolis. Aber Moment mal. Sie sieht nicht so aus wie die Akropolis in Athen. Es scheint eine kleinere Variante zu sein. Annette hat mir mal erzählt, dass sie auf Rhodos war und dass es dort auch eine Akropolis gibt. Frau Bauer könnte also auf Rhodos gewesen sein. Jetzt wäre es noch gut, das Jahr zu wissen. Ich drücke an den Knöpfen des Bilderrahmens herum, bis ich die Dateiliste sehen kann und damit auch das Datum, wann die Bilder aufgenommen wurden. Ich tippe Rhodos2017 in den PC. Kein Erfolg. Dann eben rhodos2017. Auch nichts. Bei Rhodos17 zuckt der Bildschirm und gibt den Desktop frei. Ich muss mich beherrschen, um nicht laut loszujubeln. Wenn Frau Bauer die Drohbriefe an diesem PC gedruckt hat, dann werde ich Spuren finden. Ich öffne Word und sehe mir die Liste der zuletzt geöffneten Dateien an. Aber nichts deutet auf Drohbriefe hin. Wie würde man einen Drohbrief auf dem PC benennen? Ich öffne ein paar Dokumente. Es gibt Schreiben an den Vermieter. Anscheinend hat Frau Bauer Probleme mit dem Spülkasten im Bad. Es gibt einen Ordner Wilfried. Darin sind Schreiben an einen Anwalt. Liest sich wirklich spannend. Dieser Wilfried war wohl mal ihr Freund und stalkt sie jetzt. Sie hat E-Mails von ihm gesichert, in denen er ihr droht, sie niemals einem anderen Mann zu überlassen. Frau Bauer hat anscheinend kein Glück mit den Kerlen. Doch Drohbriefe an mich sind nicht zu entdecken. Es scheint, die ganze Mühe war umsonst. Wenn Frau Bauer die Drohbriefe geschrieben hat, dann nicht an diesem PC. Aber sie könnte dennoch der Troll sein, der diese Falschmeldungen über mich verbreitet. Ich öffne den Browser und rufe Facebook auf. Wie ich erwartet habe, werde ich direkt eingeloggt. Der Name, der angezeigt wird, ist aber nicht Sandra Bauer. Es ist ein männlicher Name, und beim Klick auf das Profil und die bisherigen Posts wird sehr schnell klar, der Troll ist identifiziert. Eine frustrierte Frau, die Stress mit dem Exfreund, muss ihrem Frust ein Ventil geben. Und das tut sie, in dem sie mich im Netz verunglimpft, weil sie der Meinung ist, sie hätte ihren Job nur wegen mir verloren. Ich möchte gleich noch einmal jubeln. Ich schalte den PC aus und stelle den Bilderrahmen wieder an seinen Platz.

Ich habe den Troll! Dieses Hochgefühl lässt mich unachtsam sein. Dies fällt mir auf, als ich die Wohnungstür öffne. Sofort schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Du hättest erst durch den Türspion gucken sollen! Ich stehe im Türrahmen einer fremden Wohnung, in die ich soeben eingebrochen bin, und blicke in die erschrockenen Augen der älteren Dame, der ich schon beim Hereinkommen begegnet bin. Jetzt nur cool bleiben. »Hallo«, flöte ich übertrieben höflich, während ich die Wohnungstür hinter mir schließe. »Musste Blumen gießen.« Dann renne ich die Treppe hinunter, so schnell es geht, und bevor die Dame irgendetwas sagen kann. Während ich zum Auto laufe, krame ich schon das Schlüsseldings für den Aston Martin aus meiner Handtasche und drücke auf den Türöffner.

Um die Nerven zu beruhigen, biege ich Richtung Autobahn ab und fahre nun auf der A61 in Richtung Koblenz. Aber hinter dem Autobahnkreuz Mönchengladbach-Nord gibt es nur Tempolimit. Das macht keinen Spaß mit diesem Auto. Also wechsele ich an der Ausfahrt Wickrath die Spur und fahre zurück in Richtung Venlo. Von Mönchengladbach bis zur Ausfahrt Boisheim kann ich richtig Gas geben und spüre, wie das Adrenalin in meinen Adern pulsiert. Jeder Tempolimitbefürworter sollte dieses Gefühl einmal erlebt haben. Ich bedauere es, wieder auf die Bundesstraße in Richtung Grefrath einbiegen zu müssen. Noch immer bin ich im Geschwindigkeitsrausch, aber jetzt heißt es, einen Plan zu machen, wie ich den Troll zum Schweigen bringen kann.

In diesem guten Gefühl lasse ich den Wagen geschmeidig die Anhöhe hinunterrollen, die wir Lobbericher Berg nennen, nehme lässig die Kurve bei Schlibeck, als ich einen Polizisten vor mir auf der Straße erkenne, der mit einer Kelle winkt. Das gute Gefühl hat sich abrupt erledigt. Ich halte am Straßenrand vor dem Polizisten, der zu mir kommt. Hektisch suche ich den Knopf, mit dem ich das Seitenfenster herunterfahren kann. Endlich habe ich ihn gefunden und schaue in das ausdruckslose, aber wachsame Gesicht des Beamten. Ich krame meine Erinnerungen durch, ob ich ihn schon einmal mit Jochen gesehen habe. Dies würde bedeuten, dass er mich vielleicht kennt und gnädig ist. Aber dummerweise kommt mir dieses Gesicht überhaupt nicht bekannt vor. Ich setze das unschuldigste Lächeln auf, das ich in dieser Situation hinkriegen kann. »Habe ich was falsch gemacht?«, flöte ich.

»Wissen Sie, dass hier eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h gilt?«

»War ich etwa zu schnell?«

»Ja, Sie sind laut unserer Messung 85 km/h gefahren. Kann ich bitte Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere sehen?«

Ich greife nach meiner Tasche und krame den Führerschein heraus. Doch wo sind die Fahrzeugpapiere? Ich suche das Handschuhfach, und als ich es gefunden habe, öffne ich es, um nach den Papieren zu sehen. Doch sie sind nicht dort.

»Äh, die Fahrzeugpapiere habe ich wohl zu Hause vergessen«, murmele ich kleinlaut und reiche dem Beamten meinen Führerschein. Er mustert das Dokument und sieht dann wieder zu mir. »Ist das Ihr Fahrzeug?«

»Nein, es gehört einem Freund.«

»Weiß der Freund, dass Sie damit unterwegs sind?«

»Äh, ja, natürlich!« Ich bin überrascht, wie selbstbewusst ich lügen kann. Glücklicherweise wird die Polizei Jago wohl kaum fragen können.

»Wie heißt der Freund?«, fragt der Beamte skeptisch nach.

»Jago Diaz Fernandez, Herr Kommissar.« Von Jochen weiß ich, dass in NRW alle Beamten Kommissare sind. Mein Gegenüber soll sich möglichst respektiert fühlen. Ich weiß nicht, ob es wirkt, denn er fordert mich auf, im Auto zu bleiben und kurz zu warten. Ich beobachte, wie er das Kennzeichen des Aston Martin notiert, zum Polizeifahrzeug geht, das ein paar Schritte voraus steht, und mit dem Kollegen im Wagen spricht. Wahrscheinlich überprüft er nun mit dem Kennzeichen, ob der Wagen als gestohlen gemeldet ist. Ich wirke sicher nicht wie eine gewöhnliche Aston-Martin-Fahrerin.

Es dauert nicht lange, und der Beamte kommt zurück zu mir. »Es scheint, dass Ihre Angaben korrekt sind. Sind Sie mit einem Verwarnungsgeld von € 30 einverstanden?«

Ich nicke. Protest würde mir sicher nicht weiterhelfen.

Nachdem ich mit dem Polizisten alles abgewickelt habe, fahre ich wieder in Richtung Grefrath, aber das tolle Gefühl will sich nicht mehr einstellen.


Beim Öffnen der Tür zum Büro drehe ich mich auf der Treppenstufe noch einmal zu dem Wagen, und es kommt mir tatsächlich so vor, als ob ich auf ein Rennpferd schaue, das froh ist, einmal bewegt worden zu sein. Ich nicke ihm zum Abschied zu, schlendere in mein Büro und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Wie kann ich Sandra Bauer stoppen, und wie kriege ich heraus, ob sie auch die Drohbriefe geschrieben hat? Vielleicht stimmt die Theorie auch nicht, dass es ein und dieselbe Person ist, und es steckt noch jemand anderes dahinter. Ich vermute, dass es einige Leute gibt, die mich nicht mögen. Wie man so liest, brauchen Verrückte noch nicht einmal einen realen Grund für ihren Hass. Wie soll ich da je den Urheber der Drohungen gegen mich finden?

Lange halte ich es im Büro nicht aus. Es ist einfach zu still. Ich entschließe mich, den Heimweg anzutreten, und als ich die Tür hinter mir schließe, überlege ich kurz, mit dem Aston Martin zu fahren, aber dann erscheint es mir unangemessen, dieses Edelgefährt für solch eine kurze Strecke zu missbrauchen. Gerade, als ich mich zum Gehen wenden will, erscheint ein Junge vor mir, der mich unsicher ansieht. »Sind Sie die Detektivin?«, flüstert er fast, und ich muss unweigerlich lächeln.

»Ja, die bin ich. Kann ich was für dich tun?« Ich bin schlecht darin, das Alter zu schätzen. Von Kindern ganz besonders. Der Junge vor mir mag vielleicht zehn Jahre alt sein. Vielleicht auch jünger.

»Beschützen Sie auch Leute?«

»Äh, also …« Ich räuspere mich. »Musst du denn beschützt werden?«

Er nickt zaghaft.

»Dann komm«, fordere ich ihn auf. »Wir gehen in mein Büro, und dann erzählst du mir alles.«

Als er auf meinem Besucherstuhl Platz genommen hat und ich ihm ein Glas Wasser hingestellt habe, setze ich mich ihm gegenüber. »Ich heiße Biene. Wie heißt du denn?«

»Felix«, sagt er leise.

»Schön, Felix. Dann erzähl mal. Wieso musst du beschützt werden?«

Er druckst etwas herum, und ich sende ihm einen auffordernden Blick. Er sieht auf und beginnt vorsichtig zu sprechen. »Der Ben, in der Schule. Der klaut mir immer mein Geld und schmeißt meine Sachen in den Dreck.«

»Oh, das ist böse. Ich nehme an, der Ben ist größer und stärker als du.«

Felix nickt.

»Hast du es schon deinen Eltern erzählt?«

Er schüttelt schwach den Kopf.

»Warum denn nicht? Sie helfen dir doch sicher.«

Wieder sieht er auf seine Finger und redet mehr mit dem hellblauen Teppichboden als mit mir. »Mein Bruder macht sich dann lustig über mich.«

»Oh, du hast einen älteren Bruder?«

Nicken bestätigt meine Annahme. »Eine Detektivin hilft doch dabei, oder?« Er sieht mich an. »Ich habe auch Geld.« Er kramt in seiner Hosentasche und hält mir einige zerknüllte Geldscheine entgegen. Ich winke ab. »Ich weiß ja noch gar nicht, wie viel Aufwand ich haben werde.«

»Dann helfen Sie mir?« Der Junge sieht mich mit großen Augen an.

»Äh, also …«

»Bitte!«

»Du solltest mit deinen Eltern sprechen. Wie heißt du denn mit Nachnamen?«

Felix sieht mich unsicher an. »Metzler«, murmelt er.

Ich sende ihm ein Lächeln. »Wenn du magst, gehe ich mit dir zu deinen Eltern, und wir erzählen ihnen alles.«

Der Junge springt auf. »Nein, das dürfen Sie nicht.« Tränen machen sich in seinen Augen bemerkbar. »Warum helfen Sie mir nicht einfach?« Die Verzweiflung des Jungen bricht mir das Herz.

»Okay, okay, ich werde sehen, was ich tun kann.«

Das Gesicht des Jungen erhellt sich, und er schnieft erleichtert.

»Wann malträtiert dich dieser Ben denn immer?«

»Vor der Schule. Und danach auch.«

»Okay, wann hast du morgen Schule?«

»Um acht Uhr.«

Ich fluche innerlich. Ist nicht meine Zeit, aber so ist der Job, und wenn mich jemand um Hilfe bittet, muss ich dadurch. »Okay, wir treffen uns morgen um 7:30 Uhr an der Ecke Burgweg und Stadionstraße, und ich werde dich dann begleiten. Ist das in Ordnung?«

Felix nickt überschwänglich. »Und Sie sagen nichts meinen Eltern?«

»Ja, ja, versprochen. Dann sehen wir uns morgen.« Ich führe ihn aus dem Büro und winke ihm zu, als er um die Ecke verschwindet. Wenigstens habe ich jetzt einen Klienten. Nun doch irgendwie zufrieden, mache ich mich auf den Weg nach Hause.

Karls Fahrrad lehnt an der Wand neben der Haustür. Es stellt sich schon wieder dieses Grummeln ein, und ich schüttele mich, um es zu vertreiben. Als ich meine Lederjacke an die alte Eichengarderobe hänge, höre ich Stimmen aus Omas Küche. Karl sitzt immer noch auf meinem Stammplatz. Oma ihm gegenüber. In der Mitte steht ein Teller mit Marmorkuchen, und beide halten große Kaffeepötte in der Hand. Oma stockt im Gespräch und sieht mich an. »Möchtest du auch einen Kaffee und ein Stück Marmorkuchen? Frisch gebacken.« Sie macht eine Pause und mustert mich intensiv. »Oder muss ich damit rechnen, dass der Kuchen gleich durch die Küche fliegt?«

Ich verziehe das Gesicht zu einem gespielten Lachen und setze mich. »Nein, nein, ich verspreche, den Kuchen nicht an die Wand zu schmeißen.«

Oma steht auf und holt einen Kaffeepott für mich. Karl sieht mich freundlich und etwas unsicher an. Ich weiche seinem Blick aus. Dennoch fühlt er sich wohl aufgerufen, etwas zu sagen. »Wir diskutieren gerade, welche Reise wir als nächstes machen wollen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739491103
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Deutschland Cosy Crime deutsch Niederrhein Krimi Internet Humor Thriller Spannung

Autor

  • Vera Nentwich (Autor:in)

Vera Nentwich ist lustig und irgendwie ungewöhnlich. Ob das daran liegt, dass das Jahr 1959, in dem sie geboren wurde, ein ganz besonders gutes Weinjahr war? Die Autorin ist Entertainerin durch und durch; sie eroberte die Theaterbühne, macht Musik und schreibt seit Jahren erfolgreich humorvolle Krimis und Romane. Mit ihren Büchern will sie inspirieren, Hoffnung geben und Traumschlösser bauen. Und sie liebt all die Themen, die so sind wie sie. Anders eben.
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Titel: Tote Trolle meckern nicht