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Tausche Alltag gegen Horizont

Roman

von Anne Lux (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Cornwall, Band 3

Zusammenfassung

<p>++ Postkartenidyll ist nicht automatisch Paradies: Der finale Band der Cornwall-Trilogie von Bestseller-Autorin Anne Lux ist eine mitreißende Geschichte über die verschlungenen Wege zum Glück +++</p> Ein Cottage mit Meerblick und eine eigene Galerie machen noch kein perfektes Leben. Das hatte Vivian auch nicht erwartet, als sie vor zwei Jahren von München auf die idyllische Insel St. Mary’s vor der Küste Cornwalls gezogen war. Als Fotografin zufrieden und mit Paddy glücklich sein, mehr wollte sie nicht. Doch ihre beruflichen und privaten Pläne werden durch eine Verkettung unglücklicher Umstände jäh durchkreuzt. Vivian muss rasch handeln, damit nicht alles auseinanderbricht, was sie sich auf St. Mary’s aufgebaut hat. Ein lukrativer Auftrag führt sie nach New York, doch dort wird alles noch viel komplizierter. Denn Vivian wird völlig unerwartet mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert – und trifft eine fragwürdige Entscheidung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Als Kind hatte Vivian Steiner eine Schneekugel besessen, in der es, wenn sie sie kräftig schüttelte, in dichten Flocken auf München herunterschneite. Oder auf das, was nach Ansicht des Schneekugelherstellers die bayerische Landeshauptstadt auf den wenigen Quadratzentimetern unter dem Kunststoffhimmel am prägnantesten repräsentierte: Rathaus, Frauenkirche, Olympiaturm, Chinesischer Turm und ein Dackel, der neben einem winzigen Busch sein noch winzigeres linkes Hinterbein hob. Die kleine Plastik-Anordnung hatte Vivian zu Übernachtungsbesuchen bei Freundinnen oder an Wochenenden bei Oma und Opa begleitet, war beim ersten Aufenthalt im Landschulheim und beim ersten Skilager in der siebten Klasse dabei gewesen, beim zweiten ein Jahr später jedoch nicht mehr. Die Kugel, die den Ort ihrer Herkunft auf vier Gebäude und einen Hund reduziert und viele Jahre auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, wanderte irgendwann in dieser Zeit in eine Schublade und von da in eine Kiste für den Flohmarkt, wo sie schließlich in fremde Hände gelangte.

Neulich hatte Vivian plötzlich an ihr Mini-München gedacht und sich erst darüber gewundert. Dann hatte sie sich die Erinnerung mit dem Ort erklärt, an dem sie mittlerweile lebte. Natürlich, St. Mary’s war keine Schneekugel, sondern eine vom Golfstrom umgebene Insel, aber eben auch eine komprimierte Angelegenheit, ein Königreich im Kleinformat. Es gab hier vieles von dem, was den meisten Menschen beim ersten Gedanken an Großbritannien eingefallen wäre – aber eben alles in überschaubarer Menge. Ein paar Mauern, die einige wenige enge Straßen säumten, ein paar Wiesen mit Kühen, drei Pubs, eine Fußballliga. Mit zwei Mannschaften, den »Garrison Gunners« und den »Woolpack Wanderers«, die den Insulanern pro Saison 18 sonntägliche Spiele boten. England in der Nussschale auf 6,3 Quadratkilometern Insel, die man bequem in wenigen Stunden umrundet hatte.

»Viv? Viviii! Nicht schon wieder träumen! Ich will heim. Ich bin so krass müde!«

Vivian blieb stehen. Sie blieb oft stehen, wenn sie geistig davonpreschte, weil sie festgestellt hatte, dass ihre Gedanken dann auch haltmachten und wieder verschwanden, wie abgelassenes Wasser, das sich gurgelnd in den Abfluss windet.

Polly war schon zehn Meter vor ihr. Sie hatte sich umgewandt und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Ihre linke Hand umfasste das Stativ, das auf ihrer Schulter lag, in der rechten hielt sie ihr Handy. Es war noch nicht lange her, da wäre es undenkbar gewesen, dass Polly mehr trug als ihr Mobiltelefon. Einmal, weil sie überhaupt kein Interesse daran hatte, etwas zu tragen und anderen damit zu helfen, und zum anderen, weil sie einfach so dünn gewesen war, dass auch niemand gewollt hätte, dass sie sich etwas auflud, was mehr wog als ein halbes Kilo.

Mittlerweile trug Polly, wenn sie Vivian bei Jobs assistierte, alles, von Ausrüstung bis Verantwortung. Sie hatte an Gewicht und die Erkenntnis gewonnen, dass sie ihr Leben nicht ausschließlich mit Partys, Drogen und Dagegensein verbringen wollte. Es war keine in Stein gemeißelte Erkenntnis, aber zumindest hatte sie, so versicherte sie, seit über einem Jahr keine künstlichen Substanzen mehr zu sich genommen. Wenn man von den »Honey Monster Wheat Puffs« einmal absähe, die derzeit ihre bevorzugten Frühstückscerealien darstellten.

»Du träumst ja schon wieder«, wiederholte sie, als Vivian zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Tja, wer würde nicht träumen nach einem Fest wie diesem.« Vivian bugsierte ihren Fotorucksack von einer Schulter zur anderen.

»Das stimmt. Wer würde nicht schwelgerisch werden nach diesem wunderbaren Tag.« Polly hielt sich das Handy wie ein Mikrofon vor das Gesicht. »Das Kleid, ein Traum aus Zuckerwatte. Die Frisur, ein Triumph der Haarspray-Gilde.«

»Ja, die Haare waren wirklich unglaublich«, murmelte Vivian. »Wie blonder Beton.«

»Der Bräutigam, ein Gollum im Großformat, die wässrigen kleinen Augen und den grauen, verwitterten Kopf nicht eine Sekunde abwendend von seinem Schaaatz, der fünfzig Jahre jüngeren Maid, der er einen güldenen Ring an den zarten Finger gesteckt hat, um sie von nun an für immer zu knechten und ewig an sich zu binden

»Zweiunddreißig.«

»Was?«

»Er ist lediglich zweiunddreißig Jahre älter als sie. Nicht fünfzig.«

»Ach so. Dann steht ja einer jahrzehntelangen, glücklichen Ehe nichts mehr im Weg.«

Schweigend stiegen sie eine Weile den gepflasterten Weg vom Hotel hinunter, der von den wenigen Laternen nur unzureichend beleuchtet wurde. Mehr Licht spendete in dieser Nacht der Mond, der wie eine bleiche, ungeprägte Münze am Himmel hing. Die Luft war von einer frischen Samtheit, die erahnen ließ, dass der Frühling bald in den Sommer übergehen würde. Wenn der Wind günstig war, konnte man von hier oben das Glucksen der kleinen Wellen im Hafenbecken hören und das Knarren der aneinanderstoßenden Boote.

»Das war Kategorie 5«, sagte Polly und gähnte. »Krasse, fette Kategorie 5. Kategorie Eheschließungen, wie sie elender nicht beginnen können

Vivian wiegte den Kopf. »Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht eine Kategorie 6 einführen sollten. Für Fälle wie diesen.«

»Bitte versprecht mir, dass du und Paddy niemals so etwas aufführen werdet.«

»Da kannst du ganz sicher sein. Ginge nicht mal, wenn wir es wollten. Allein die Miete für den Saal im Star Castle … Dafür müssten wir noch einen Kredit aufnehmen und mir reicht schon einer.«

»Wann müssen wir morgen antreten?«

»Erst zum Abendessen. Ist eine kleinere Feier. Polly, wenn du weiter so gähnst, renkst du dir noch den Kiefer aus.«

»Sorry. Gibt es ein Motto morgen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Oh bitte, dann lass es dieses Mal Kategorie 1 sein. Ich brauche dringend wieder mal ein Fest, wo ich danach nicht das Gefühl habe, wochenlang in einem Irrenhaus eingesperrt gewesen zu sein.«

»Ich auch, Polly. Ich auch. Was macht deine Migräne? Ist es besser?«

»Bin völlig entspannt. Eine der Bridemaids hat mir Tabletten gegeben. Richtig schönes amerikanisches Zeug aus dem Drugstore, das es bei uns nur auf Rezept gibt.«

»Hm.«

»Es waren einfach Schmerztabletten, Viv. Kein Speed.«

»Ich hab nichts gesagt.«

»Du hast ge-hm-t.«

»Ich freu mich einfach, dass es deinem Kopf wieder gut geht.«

»Wir sollten unser Augenmerk auch eher darauf lenken, was sie uns ins Gesicht geschmiert haben – ich bin nicht sicher, ob wir uns da nicht juristisch beraten lassen sollten. Wegen Körperverletzung.«

»Frag doch deinen Vater«, schlug Vivian vor.

»Jaja.« Polly gähnte erneut. »Krass, ich bin so fertig.«

Sie trennten sich vor Mabels Haus in Sally Port, wo Polly immer unterkam, wenn sie Vivian bei Hochzeiten assistierte.

Vivian ging die Straße weiter, bis sie endete, lief etwa fünfzig Meter über einen ausgetretenen Pfad Richtung Osten, bis sie auf einen Zaun stieß, der erst seit wenigen Wochen die Südseite ihres Grundstücks abschloss. Sie öffnete das Gartentor, sah die Umrisse des Cottage und atmete auf. Endlich zu Hause.

Kapitel 2

Im Haus war es dunkel und still. Vivian stellte ihren Rucksack neben der Tür ab, streifte die Schuhe von den Füßen und blieb eine Weile einfach stehen, wiegte den Kopf hin und her und massierte den Übergang vom Hals zu ihrer rechten Schulter, wo der Muskel sich hart und heiß anfühlte. Tesco kam aus dem Wohnbereich angeschlichen, schnüffelte pflichtschuldig an ihren Beinen und tapste gähnend wieder davon. Vivian wusste, dass der Hund sie ganz okay fand, aber minutenlange Freudentänze, bei denen sein Schwanz sich hin und her bewegte wie ein Metronom auf Speed, waren Paddy vorbehalten.

In der Küche trank sie zwei Gläser Wasser und stieg dann im üblichen Zickzack die Treppe nach oben, um die Stellen auszusparen, die am lautesten knarzten.

In der Badewanne stand das Wasser noch, eine unbewegte, blasslila Flüssigkeit, die interessant harmonierte mit den neuen blauen Kacheln, die sie eigenhändig verlegt hatten. Vivian schnupperte. Paddy schien in Lavishly Lavender eine ausgiebige »kleine Auszeit vom Alltag« genommen zu haben, wie es der Slogan auf der Flasche aus abbaubarem Material versprach, die jetzt halbvoll auf dem Wannenrand stand. Der Badezusatz war in einer Goodie Bag gewesen, die allen Gästen einer Hochzeit mitgegeben worden war, die Vivian vor vier Wochen fotografiert hatte. »Lavendel-Lust« hatte das Motto der zwei Tage gelautet, weil sich die Großeltern der Braut (oder des Bräutigams?) im letzten (oder vorletzten?) Jahrhundert auf einer Lavendel-Farm in Vivian-wusste-es-nicht-mehr kennengelernt hatten, sechsundsiebzig Jahre verheiratet gewesen und immer wieder an den Ort ihres ersten Treffens gefahren waren.

Alles hatte nach Lavendel gerochen auf dieser Hochzeit. Die Seifen in den Toiletten, die Menükarten, die Servietten, die Kerzen. Sämtliche Sträuße – die an den Tischen in blasslilafarbenen Vasen sowie die in den Händen der Braut und ihrer natürlich lavendelfarbene Kleider tragenden Maids – hatten Lavendel enthalten. Als Vivian und Polly nach Hause gegangen waren, hatten sie geduftet wie jene kleinen Kissen, die man sich zwischen die Wäsche steckt, damit sie frisch bleibt.

Der gleiche Duft empfing Vivian jetzt, als sie in das Schlafzimmer trat und im Dunkeln auf das Bett zuging. Vorsichtig schob sie ihre nackten Zehen nach vorne, damit sie nicht über Kleidungsstücke stolperte, die Paddy gerne großzügig über den Boden verteilte, wenn er müde war. Und er musste sehr müde gewesen sein, denn er hatte nicht nur vergessen, das Badewasser abzulassen, sondern auch den Prozess der Dentalpflege unterbrochen. Seine blaue Zahnbürste hatte auf dem Rand des Waschbeckens gelegen, üppig mit rot-weiß gestreifter Paste belegt, die eindeutig unbenutzt war.

Vivians großer Zeh stieß an etwas Kühles, das leise klirrte, vermutlich eine Gürtelschnalle. Das Bettzeug begann zu rascheln, es raschelte noch richtig laut, weil Vivian es gestern erst gewechselt hatte.

»Viv?«, krächzte Paddy.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.«

»Macht nichts. Komm rein.«

»Du hörst dich noch schlimmer an als heute Morgen.« Vivian schlüpfte unter die Decke, blieb aber in ihrer Betthälfte liegen und tastete im Dunkeln nach Paddys Stirn. »Hast du mal Fieber gemessen?«

»Ich hab kein Fieber, ich hab einfach eine Erkältung. Morgen geht es wieder.«

»Ich finde, du solltest morgen einfach im Bett bleiben.«

»Und wer macht dann meine Flüge?«

»Lenny? Wie ausgemacht, wenn du nicht kannst?«

»Das geht nicht.«

»Wieso nicht? Er hat gesagt, dass er dir in Notfällen aushilft.«

»Es ist kein Notfall, Viv, es ist eine Erkältung.« Er hustete ausgiebig, bevor er weitersprach. »Ich habe einen ausgebuchten Abendflug morgen, die erste richtige Buchung über meine Homepage.« Das Wort »meine« kam kieksend aus seinem Mund, wie bei einem Stimmbrüchigen. »Die kann ich nicht gleich wieder an die Konkurrenz geben. Wir brauchen das Geld!«

»Ihr habt doch aber ausgemacht, dass …«

»Viv, bitte, ich …« Ein erneuter Hustenanfall unterbrach Paddy, und Vivian legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Ich nehm morgen früh einen Hustenblocker und dann geht es schon.«

»Okay«, sagte sie, als er wieder schwer atmend neben ihr lag. »Wichtig ist, dass du jetzt weiterschläfst. Manchmal geht es einem nach einer guten Nacht …«

»Ich brauch ein Taschentuch, sorry.«

Vivian blieb liegen, während Paddy sich aufrichtete, die Nachttischlampe einschaltete, geräuschvoll schnäuzte, einige Schlucke aus dem Wasserglas nahm und sich dann stöhnend zurücklegte.

»Oje, Paddy«, sagte Vivian leise, legte einen Finger unter sein Kinn und drehte seinen Kopf zu ihr. »Du siehst ganz zerwühlt aus.«

Paddys Augen, verquollen wie sonst am Morgen nach einer langen Nacht im Mermaid Inn, wanderten über ihr Gesicht.

»Immer noch besser als du«, sagte er dann. »Hast du dir wehgetan oder Himbeereis aus Dessertschüsseln geschleckt?«

»Was? Ach so.« Vivian griff an ihre Nase. »Ist es nicht weg?«

»Nein … und warte mal …« Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Rund um den Mund ist auch noch was. Du siehst ein bisschen aus wie der Joker in Batman.«

»Sollte ein Clown sein. Ich war jetzt einfach zu faul, um länger zu schrubben, und meine Schulter tut immer noch ziemlich weh. Ist Theaterschminke oder so etwas.«

»Hast du beim Kinderschminken mitgemacht?«

»Nein. Das Paar wollte nicht, dass Polly und ich die Einzigen sind, die normal rumlaufen. Das Motto war … nun ja, interessant, ich hatte dir doch davon erzählt.«

Paddy ließ sich auf den Rücken fallen und bedeckte seine Augen mit dem Unterarm. »Ich habe es vergessen und glaube, ich will nicht daran erinnert werden.«

»Oh doch, das willst du, Patrick Mitchell.«

»Dann lass hören«, murmelte er. »Waren das wieder Amis?«

»Ja, Upstate New York. Und das Motto lautete, Achtung, tschingderassa-bumm-bumm: Circus, Clowns and Circumstance

Paddy brummte etwas Unverständliches.

»Wer nicht schon von vornherein mit Zirkusanleihen an seiner Kleidung kam, kam, wurde angemalt.«

»Hm.«

»Glitzer, Schmetterlinge, Blumen.«

»Puh.«

»Die meisten bekamen aber rote Clown-Nasen.«

Paddy stöhnte leise und schaltete das Licht aus.

»Wobei ich dir nicht mit Sicherheit sagen kann, ob alle roten Nasen aufgemalt waren. Bei einigen Herren könnte es auch von … naja, du weißt schon … gluckgluck kommen.«

»Hmm«, brummte Paddy. »Gluckgluck.«

»Der Bräutigam hatte so eine Art Zirkusdirektoranzug an. In Silber. Und die Haare der Braut waren …« Vivian zeichnete mit beiden Händen einen großen Kreis in die Dunkelheit und ächzte auf, als ein scharfer Schmerz durch ihre Schulter fuhr.

»Mmm?«, machte Paddy noch, dann waren nur noch seine regelmäßigen Atemzüge zu hören.

»Ich erzähle es dir morgen.« Vivian drehte sich vorsichtig auf ihre linke Seite, legte die Hand unter die Wange und sah aus dem Fenster, das ein mit Sternen gefülltes Rechteck in die Wand schnitt. Die Wetteraussichten für die nächsten Tage waren sehr gut, also würde nach Sonnenaufgang helles Licht in den Raum fluten. In ihrer ersten Zeit im Cottage hatte die Helligkeit am Morgen sie noch gestört, weil sie in München am liebsten in absoluter Dunkelheit geschlafen und die Rollläden immer komplett geschlossen hatte, sodass weder Straßenlampen noch die Scheinwerfer von Autos ihre Nachtruhe stören konnten. Hier am Cottage gab es nur Fensterläden, die laut klapperten, wenn der Wind blies, aber fast nie für ihren eigentlich Zweck eingesetzt wurden, denn Paddy liebte den Blick aus den Fenstern. Bei Tag und bei Nacht. Weil Vivians Beschwerden aber am Anfang nicht abgeklungen waren, hatte er ihr eines Tages eine Schlafmaske mitgebracht, die ihm eine wohlhabende Französin geschenkt hatte, die mit ihm von Newquay nach St. Mary’s geflogen war.

»Hier, mein Lieber«, hatte sie gesagt. »Originalverpackt, unbenutzt. Bringen Sie das Ihrer Liebsten mit, ich habe meine eigene von Gucci.«

Vivian war in schallendes Lachen ausgebrochen, als sie die Maske aus dem nachtblauen Etui gezogen hatte. »Mit Klunkern? Dann kannst du nachts aber nicht mehr schlafen, weil ich so funkle, Paddy!«

Später hatte sie nach der Schlafmaske gegoogelt und nicht mehr gelacht. Das schillernde Accessoire war von einer bekannten Kristall-Firma exklusiv für die allerbesten First-Class-Kunden einer Airline hergestellt worden und einige tausend Euro wert. Vivian hatte das teure Stück sorgfältig in ein weiches Halstuch gewickelt, es, in gehörigem Abstand zu den anderen Dingen, in einer Schublade verstaut – und ein halbes Jahr später auf Ebay verkauft. Natürlich hätten der Zaun und das Bad warten können, aber sie waren es leid, dass fast täglich Touristen, die am Strand unterwegs gewesen waren, auf ihrem Grundstück auftauchten. Und sie hatten genug davon, dass ihnen in der Wanne ständig Mauerstücke in das Badewasser fielen. Also wurde das Schlafmaskengeld in Holz für den Zaun (sie hatte keine Ahnung gehabt, wie teuer Holz war) und kobaltblaue Kacheln investiert. Auch ein neues Sofa war noch möglich gewesen. Und eine Rate für Paddys Riesenanschaffung aus dem letzten Frühjahr, sein eigenes Flugzeug. Vielleicht war dadurch ein Vorderrad getilgt worden …

Vivian seufzte. Am Himmel war ein winziger Lichtpunkt zu sehen, der wieder erlosch, bevor er erneut aufblinkte und dann hinter dem Fensterrahmen verschwand. Wohin das Flugzeug wohl flog? In die USA vermutlich, New York, Washington, Los Angeles oder San Francisco. Vielleicht nach Kanada. Über den Atlantik jedenfalls. Vivian seufzte noch tiefer und schloss die Augen, um die Sterne nicht mehr zu sehen, die ihr so weit weg erschienen wie das Ende des ersten Kredits, den sie in ihrem Leben jemals aufgenommen hatte.

Hinter ihr raschelte es, dann spürte sie Paddys Hand auf ihrem Rücken. »Ich wollte dich vorhin nicht küssen wegen der Bazillen und deiner roten Nase«, sagte er leise. »Aber ich liebe dich sehr, Vivian Steiner.« Seine Finger glitten wieder von ihr ab. »Und es freut mich, dass dir deine verrückte Arbeit so gefällt«, murmelte er.

Vivian öffnete die Augen. Die Sterne funkelten kalt, und in ihrem Magen breitete sich ein heißes Kribbeln aus.

»Gute Nacht, Paddy«, sagte sie so sanft, wie es ihr möglich war. »Ich liebe dich auch.«

Paddy atmete schwer im Schlaf und warf sich ununterbrochen von einer Seite auf die andere. Regelmäßig schob Vivian seinen Arm von ihrem Gesicht, bis sie um drei Uhr beschloss, das Quartier zu wechseln. Ganz ohne Schlaf wollte sie den neuen Tag nicht beginnen, und sie fand ohnehin keine Position mehr, in der ihre Schulter nicht schmerzte.

Als sie nach unten ging, hörte sie es im Wohnbereich rascheln und blieb kurz stehen, um Tesco genug Zeit zu geben, in seinen Korb zurückzukehren. Vor wenigen Wochen war das neue Sofa geliefert worden, ein schlichter, felsengrauer Dreisitzer mit gebeizten Holzbeinen. Damit war der Ruhestand eingeleitet worden für die alte, teilweise zerschlissene Ledercouch, auf der sich Paddy und Tesco fast täglich am Abend getroffen hatten, um gemeinsam fernzusehen. Vivian hatte die Männerabende auf dem Möbelstück stillschweigend akzeptiert, denn schließlich war sie als Letzte in das Cottage gezogen, zu einer Zeit, als der Bund zwischen Paddy und seinem Golden Doodle schon längst unzerstörbar eng gewesen war. Aber nun, mit dem neuen Sofa, war es Tesco streng verboten, einen anderen Schlafplatz einzunehmen als seinen mit Lammfell ausgelegten Korb.

Vivian wusste, dass Tesco das Verbot jede Nacht missachtete – die Haare auf der Couch und an den Kissen würden ihn in einem Indizienprozess zweifelsfrei überführen –, aber sie war nicht ohne Grund von ihren früheren Kolleginnen und Kollegen häufig als »zu sanfte« Lehrerin bezeichnet worden.

»Braver Junge«, flüsterte sie also, als sie von der Treppe zur Küchentheke schlich. Immerhin hatte Tesco seinen Fehler sofort erkannt und durch Eigeninitiative eine Änderung der Situation herbeigeführt. Vivian hoffte, dass sein schlechtes Gewissen ihn plagen und beim nächsten Mal davon abhalten würde, sich wieder zwischen die Kissen auf der Couch zu schmiegen. Paddy lachte jedes Mal, wenn sie von ihrer pädagogischen Taktik berichtete.

Ihre Müdigkeit war durch die wenigen Schritte wie verflogen, ihr Kreislauf angeregt. Sie schaltete den Fernseher ein und wieder aus, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn wieder, schaute auf ihr Handy und legte es wieder weg. Schließlich zog sie Paddys schwarzen Kapuzenpulli an, der über der Lehne eines Küchenstuhls hing, und trat vor das Haus. Tesco, der beim Öffnen der Tür sofort aufgesprungen war, glitt an ihr vorbei ins Freie.

»Aber mach nicht zu wild«, flüsterte Vivian. »Wir werden morgen wieder den gesamten Strand kontrollieren, keine Sorge.«

Sie setzte sich auf die Holzbank neben dem Eingang, schloss die Augen und lauschte. Das Meer schien sich im Schutz der Nacht näher an das Cottage heranzuwagen, seine Wellen bis an den Rand des Grundstücks gleiten zu lassen. Zumindest hörte es sich so an, aber Vivian wusste, dass es eine akustische Täuschung war. Würde sie aufstehen und über den leicht abschüssigen Rasen gehen, träfe sie nach etwa hundert Metern nicht auf forsche Wellen, die ihren angestammten Bereich verlassen hatten, sondern auf das neue Gartentor im neuen Zaun. Dahinter begann der sanft ansteigende Dünenstreifen. Bis zu den Knien würde sie beim Hochsteigen im Sand einsinken, der in einer Mainacht wie dieser samtig-kühl wäre. Auf der anderen Seite würde sie hinunterstolpern, würde bald festeren Sand unter ihren Füßen spüren, der feuchter wurde mit jedem Meter, den sie in Richtung des Rauschens ginge. Und dann erst, nach weiteren Schritten, würden ihre Füße umspült werden von den kalten Wellen des Atlantiks, der unermüdlich Algen, Schlick, Steine und Muscheln an Land legte und in anderer Zusammensetzung wieder mit sich nahm.

Als Vivian die Augen wieder aufschlug, fror sie und in ihrer rechten Schulter pochte ein dumpfer Schmerz. Sie blieb eine Weile unbewegt sitzen und atmete ruhig und konzentriert, bevor sie vorsichtig den Kopf bewegte und dann stöhnend aufstand. Ihr Oberkörper war steif wie ein Brett, und das hier war keine gute Idee gewesen. Sie hätte auch in Lavishly Lavender entspannen sollen, anstatt nachts Stunden auf einer harten Holzbank zu verbringen.

Langsam ging sie ein paar Schritte Richtung Meer. Der Morgen kündigte sich mit einer leichten Blaufärbung des Himmels an, und die scheuen Wellen hatten sich längst wieder auf ihre Tageslautstärke eingependelt.

Von Tesco war nichts zu sehen. Vermutlich war er wieder ins Haus geschlüpft oder lag an der Rückseite des Cottage, wo der Wind weniger zu spüren war und sich eines von seinen insgesamt vier Deckenlagern auf dem Grundstück befand.

Vivian wendete in einem großen Bogen, weil ihre Verspannungen kein normales Umdrehen zuließen, und ging zurück Richtung Cottage, als es hinter ihr plötzlich kurz klapperte. Tesco lief an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor der Haustür stehen, engagiert wedelnd und wohl in der Hoffnung, dass sie ihn gleich hereinlassen und nicht die lose Zaunlatte bemerken würde, die immer noch hin und her baumelte.

»Ausbüxen ist streng verboten – und du weißt es!«, rief Vivian.

Tesco schnüffelte übereifrig an der Fußmatte, als habe er dort Spuren gefunden, die zu einer großen Entdeckung führen würden, die für die Menschheit bedeutsamer sein würde als die von Machu Picchu und dem Grab von Tutanchamun zusammen. Seine Ohren, die aussahen wie kleine karamellfarbene Waschlappen, wackelten aufgeregt.

»Absolut streng verboten!«, rief Vivian.

Der neue Zaun hatte nicht nur Spaziergänger davon abgehalten, über ihr Grundstück zu laufen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass Tesco seine eigenmächtigen Patrouillen über die Insel nicht mehr durchführen konnte. Das war lange kein Problem gewesen, doch dann hatte sich vor einigen Wochen der Labrador eines Touristen frühmorgens aus dem gemieteten Cottage davongeschlichen und mehrere Hühner von Joe Hammett, einem alteingesessenen Inselbewohner, gerissen. Dieser war in den Tagen darauf jedes Mal vor die Tür getreten, wenn Wanderer mit Hunden sein Haus passierten, und hatte sie gebeten, gut auf ihre Tiere aufzupassen, damit keine schwächeren Lebewesen durch sie zu Schaden kämen.

Das war jedoch nur seine Version der Ereignisse gewesen. Nach übereinstimmenden Berichten der Wanderer hatte er sich mit einer Schrotflinte vor ihnen aufgebaut und gedroht, die »Köter abzuknallen«.

Der Council of the Isles of Scilly, der sich um die Angelegenheit kümmern musste, glaubte den Darstellungen der Touristen und beschloss bei der nächsten Gemeinderatssitzung, dass Hunde nicht mehr unbeaufsichtigt auf der Insel herumlaufen dürften. Nein, auch die Hunde der Eingeborenen nicht, nein, auch nicht der knopfäugige Golden Doodle von Patrick Mitchell, dessen Familie hier seit Generationen lebte.

Vivian war fast am Haus angelangt, als sich die Tür öffnete. Tesco verschwand in Windeseile und machte Platz für Paddy, der wie ein Gespenst ins Freie trat, mit bleichem Gesicht und eingehüllt in die weiße Bettdecke.

Vivian blieb stehen. »Um Gottes Willen … du siehst furchtbar aus!«

»Ich fühl mich auch nicht auf der Höhe meiner Kraft.«

»Du kannst heute unmöglich fliegen.«

»Ich weiß, Viv.« Paddys Stimme war kaum wiederzuerkennen. »Ich rufe gleich Lenny an.«

»Ja bitt, Paddy, tu das.«

»Morgen werde ich aber auf jeden Fall …«

»Paddy!«

»Bitte, Viv. Ich muss fliegen.«

»Jetzt schauen wir mal.« Vivian führte Paddy zurück in den Eingangsbereich.

»Nein, wirklich, Viv. Morgen muss ich wirklich. Bis dahin bin ich wieder …«, er hustete, »… fit.«

»Okay.«

»Wann musst du los?«

»Eigentlich bald. Ist das okay? Soll ich Mabel fragen, ob sie später mal vorbeikommt?«

»Nein, ich will lieber allein sein. Aber könntest du vorher noch mit Tesco ein bisschen gehen? Ich … ich will nur schlafen. Es tut mir leid, aber ich kann heute einfach nicht.«

Während sie Paddy Richtung Treppe schob, warf Vivian einen Blick auf Tesco, der sich, erschöpft von der unerlaubten Insel-Streife, gerade in seinem Korb zusammenrollte und definitiv keinen weiteren Spaziergang brauchte.

»Ich schaff das alles schon«, sagte sie und überschlug die Dinge, die heute anstanden. »Mach dir keine Sorgen, Paddy.«

Kapitel 3

Auf dem Weg zur Galerie addierte Vivian im Kopf Fotohonorare zusammen, die sie bald in Rechnung stellen konnte. Dann versuchte sie sich an die Summe zu erinnern, die Paddy für einen ausgebuchten Flug netto übrigblieb, und überschlug schließlich, wie viel Geld sie jeweils in den nächsten Monaten mindestens verdienen müssten, wenn sie im Herbst in den Urlaub fahren wollten, zum ersten Mal in den fast zwei Jahren, die sie jetzt hier auf St. Mary’s wohnte und arbeitete.

In ihrem früheren Leben waren Ferien und Finanzen zwei der wenigen Dinge gewesen, um die sie sich nicht ständig Gedanken gemacht hatte. Beides war zuverlässig gekommen, das eine an jedem Monatsende, das andere alle paar Wochen. Ihr Gehalt und die unterrichtsfreien Zeiten hatten den soliden Boden ihres Daseins gebildet, die verlässlichen Bretter der Bühne, auf denen sich die kleinen Dramen ihres Lebens abspielen konnten, ohne dass sie sich um das Materielle oder zu viel Stress Sorgen machen musste.

Inzwischen war Paddy wie sie freiberuflich und alles anders. Als er vor gut einem Jahr die gebrauchte Beechcraft mit den acht Passagiersitzen in einem Flugforum entdeckt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Die Aussicht auf ein eigenes Flugzeug und eine »eigene Fluggesellschaft« war zur verlockend, und er hatte sämtliche Vorteile einer Festanstellung weggeschleudert wie einen Apfelbutzen, den man bei einer Wanderung in hohem Bogen ins Gebüsch wirft.

»Damit kann ich dich auch mal am Wochenende nach Marrakesch fliegen, Liebste«, hatte Paddy gesagt, »nach Paris oder nach Helsinki!«

»Damit kannst du auch furchtbar auf die Nase fallen«, hatte Vivian geantwortet. Ihr war der Plan nicht geheuer gewesen, nicht nur wegen der Riesensumme, die das Flugzeug kostete. Denn mit Skybus gab es seit Jahrzehnten eine Airline, die Besucher vom Festland auf St. Mary’s flog, über zwanzig Flugzeuge besaß und mit Tourismusverbänden bestens vernetzt war. Wie sollte Paddy mit seiner Mini-Flotte da eine Chance haben?

»Meine Chance ist meine Flexibilität«, hatte er geantwortet. »Das war mein ganzes Leben schon so.«

Der erste Sommer lief gut, weil Paddy einsprang, wenn bei Skybus alle Flüge ausgebucht waren. Lenny rief ihn im Juli und August fast täglich an, weil es so viele Touristen gab, die St. Mary’s spontan einen kurzen Besuch abstatten und dafür nicht die Fähre nehmen wollten, die fast drei Stunden für die Überfahrt ab Penzance brauchte.

Paddy verdiente so gut, dass ihn und Vivian zunächst nicht störte, wie sehr sie von Skybus abhängig waren. Er nannte seine Airline Vivair und freute sich tagelang über ihre Freude. Er bat einen ehemaligen Klassenkameraden aus Irland um die Erstellung einer Website und war zunächst nicht betrübt, dass der erfreuliche Freundschaftspreis auch bedeutete, dass es immer wichtigere, weil lukrativere Aufträge gab und der Launch von vivair.uk Monat für Monat verschoben werden musste. Es lief ja auch so gut.

Doch dann verabschiedeten sich der Sommer und die Touristen. Zwischen September und November rief Lenny genau dreimal an. Die kalten Monate kamen und korrigierten den Wasserstand auf ihrem Gemeinschaftskonto noch einmal drastisch nach unten. Ebbe und Flut wechselten sich nicht ab, denn alles floss nur ab, es kam nichts mehr hinzu. Dauer-Ebbe quasi, denn auch die Galerie warf im Winter nicht viel ab. Das war auch im Jahr davor so gewesen, aber da hatte es noch nicht die Last einer sechsstelligen Kreditsumme gegeben, die sie die nächsten Jahre und Jahrzehnte gemeinsam abzahlen müssten.

Vivian ging jetzt durch die Jerusalem Terrace, wo sich die einstöckigen Steinhäuser aneinanderschmiegten und sämtliche hölzernen Eingangstüren in einer anderen leuchtenden Farbe gestrichen waren. Vivian hatte sie alle für die aktuelle Ausstellung in der Galerie fotografiert, aber heute keinen Sinn dafür, genauso wenig für den glänzenden Himmel und den Duft nach Meer und Zitrone. Erst als sie in die Hugh Street einbog, sah sie bewusst nach links zu dem ehemals blauen Haus, das in der Vormittagssonne so weiß und rein leuchtete wie Papier. Die Umbauarbeiten am früheren Hazel’s Heaven waren noch nicht abgeschlossen, und es war gut möglich, dass die Fassade noch einen anderen Anstrich bekam, aber eines war sicher: Das Café mit den köstlichen Scones und Croissants war Geschichte, seit Hazel, seine Besitzerin, die Insel kurz vor Weihnachten fluchtartig verlassen hatte. Keiner wusste, warum sie das getan hatte, nicht einmal Mabel, die seit vielen Jahren mit Hazel befreundet und über ihr Verschwinden tieftraurig war, zumal einige Monate zuvor schon ihre Bridgefreunde Theo und Janet zu ihrer Tochter nach Reading gezogen waren.

»Inselkoller«, raunten die einheimischen Frauen, wenn sie zusammen im einzigen Supermarkt von St. Mary’s an der Kasse standen und über Hazels Beweggründe mutmaßten. »Die einen trifft es nie, die anderen hart.«

»Da ist doch ein Herr im Spiel«, konstatierten die Männer am Tresen vom Mermaid Inn, weil ein anderer Grund für Hazels Fortgang außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag. Sie kannten niemanden über fünfzig, der St. Mary’s oder eine der anderen Isles of Scilly freiwillig (also nicht tot oder krank) einmal dauerhaft verlassen hatte. Die Jungen, ja, die gingen nach der Schulzeit aufs Festland, um zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, aber warum sollte man von hier als älterer Mensch weg, wenn man ein Auskommen hatte. Hazel’s Heaven war doch eins a gelaufen, hervorragende Lage am Hafen, unübersehbar für jeden Besucher, der von der Fähre kam.

»Vielleicht wollte sie noch einmal etwas ganz anderes machen, bevor es nicht mehr geht«, hatte Mabel zu Vivian gesagt. »In unserem Alter bleibt einem nicht mehr so viel Zeit.«

Paddy war nach Hazels Abschied unruhig und seltsam gewesen. Mehrere Tage schienen seine Zukunftsvisionen Achterbahn zu fahren. An manchen Morgen sprach er davon, dass er schon immer ein Gemüsebeet anlegen wollte, um abends zu verkünden, dass ihn nichts dazu bringe, jemals Gartenarbeit zu verrichten, er sprach hin und wieder davon, die verdammte Insel ebenfalls zu verlassen und für ein Jahr um die Welt zu reisen, und stand Stunden später vor ihrem Cottage und bezeichnete seine Heimat als schönsten Ort auf dem Planeten und die Idee mit dem eigenen Flugzeug als die beste, die er jemals gehabt hatte.

Vivians Gedanken und die Zahlenkolonnen in ihrem Kopf stoppten erst, als sie vor den zwei verwitterten Stufen stand, die zum Eingang der Galerie führten. Sie zupfte ein paar Blätter von den Ranken des Efeus, der sich von drei Seiten auf die türkisfarbene Tür zuschob, drehte sich dann um, ging zurück bis zu dem Holzschild am Wegrand und schob die Zweige des Ginsterbusches zur Seite, damit die Aufschrift zumindest nicht ganz verdeckt wurde. Founded by John Hunter, now run by his daughter Vivian Steiner. Jetzt erst einmal schön auf das Wesentliche konzentrieren, sagte sie sich und lehnte den Kopf weit nach links, damit das regelmäßige Trommeln in ihrer rechten Schulter nachließ. Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Geld. Morgen ist ja auch noch ein Tag.

Kapitel 4

Wenn Vivian den Auftrag bekommen würde, Mabel in einer für sie typischen Position zu fotografieren, hätte sie in diesem Moment auf den Auslöser drücken müssen. Mabel stand hinter der Theke, die Augenbrauen weit hochgezogen, die Lesebrille auf der Nasenspitze, das Handy eine Armeslänge von sich weggestreckt. Sie murmelte etwas, der Mund dabei von den Fingern der freien Hand fast verdeckt.

»Hi Mabel«, rief Vivian und stellte ihren Rucksack neben der Treppe ab, die in den ersten Stock führte. »Na, wieder Selfie-Time?«

Mabel ließ das Telefon sinken und kicherte. Mabel kicherte stets in Reinform. Warm und fröhlich, glucksend wie ein Gebirgsbächlein. Ihr einst kurzes graues Haar war über den Winter gewachsen und hatte jetzt fast Schulterlänge erreicht, was dazu führte, dass sie mit dem Zeigefinger Haarsträhnen hinter die Ohren schob, wenn ihre Hände dafür Zeit hatten – was selten vorkam.

»Ich habe hier einige Rezepte für herzhafte Muffins gefunden«, erklärte sie, während Vivian die Wand zwischen zwei großformatigen Fotografien abtastete. »Mit Käse und Schinken, ganz rustikal also, aber auch à al Carbonara und … Moment, das war etwas ganz Besonderes … mit Rosmarin und …«

»Siehst du den Riss von dir aus?«

»Wie bitte?«

Vivian wandte sich um. »Der Riss hier wird immer größer, aber ich kann die Bilder nicht enger aneinanderhängen.«

Mabel schob ihre Brille nach oben. »Also, man muss schon sehr genau hinsehen, um …«

»Quatsch, das erkennt sogar ein Blinder, dass hier die gesamte Wand aufplatzt!«

»Tja, dann bin ich wohl blind. Im richtigen Alter dafür wäre ich ja allmählich.« Mabel legte ihr Telefon ab und begann, mit einem Lappen die Oberfläche des Tresens zu wischen. »Putzen kann man Gott sei Dank auch noch mit eingeschränkter Sehkraft.«

»Mabel, es tut mir leid.« Vivian schloss kurz die Augen und presste zwei Finger an die Nasenwurzel. »Ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur so … Ich habe das Gefühl, dass hier alles allmählich auseinanderbricht und ich nicht hinterherkomme mit allem. Alles verwildert hier oder wächst zu oder springt auf oder blättert ab oder fällt runter. Oder sehe ich das zu kritisch?«

»Ach Liebes.« Mabel hatte den Lappen liegen lassen und war hinter dem Tresen hervorgekommen. »Jetzt mal ganz ruhig. Du siehst nicht besonders gut aus, ist alles in Ordnung?«

»Ich bin Mr. Chapman wahnsinnig dankbar, dass er die Miete so moderat hält.« Vivian presste ihre Hand auf den Riss, der sich wie ein Bleistiftstrich über die Wand zog. »Aber eigentlich wäre es am besten, wir müssten überhaupt keine Miete zahlen, damit wir hier endlich einmal gründlich renovieren könnten, die Wände, den Boden, das Dach! Und meine Ausrüstung bräuchte übrigens auch mal eine Kernsanierung und bei uns im Cottage ist längst auch noch nicht alles … Mr. Chapman braucht das Geld doch eigentlich gar nicht und … Ach, Mabel, sorry, ich wollte eigentlich gar nicht so viel jammern, aber …«

»Aber es ist okay«, sagte Mabel leise. »Komm mal her und lass dich …«

»Au, aber Vorsicht, Mabel, ich bin so verspannt hier überall, es tut wirklich richtig weh, wenn …«

»So? Geht es so?«

»Ja, so geht es.«

»Dann bleiben wir so eine Weile.«

»Okay.« Vivian legte ihr Kinn auf Mabels Kopf. »Es geht auch gleich wieder.« Sie sah durch das Panoramafenster auf das Meer, das gleichmütig Wellen Richtung Küste schob. Was für eine tolle Aussicht, sagten alle, die zum ersten Mal hier waren. Was für ein toller Arbeitsplatz. Sie arbeiten wirklich im Paradies, Frau Steiner.

»Ich kann mir gut vorstellen, wie es gerade für dich ist«, sagte Mabel leise. »Wir haben mit der Galerie ein Plateau erreicht und wissen gerade noch nicht, wie wir die Umsätze noch steigern können mit unseren Mitteln. Und dann noch die Schulden.«

Vivian kniff die Augen zusammen. Schulden. Sie sprach vor sich selbst und anderen gegenüber immer von Kredit, das klang kühler und gelassener, weniger prekär.

»Aber ich sage dir jetzt mal was.« Mabel presste zwei Finger in Vivians Rücken, als wolle sie dort einen Doppelpunkt einstanzen, bevor sie weitersprach. »Was du hier aufgebaut hast, ist phänomenal. Erstens. Und wenn alle Stricke reißen …«

»Ja?«

»Dann verkauft ihr das Flugzeug einfach wieder, Paddy lässt sich wieder anstellen und alles ist wieder wie vorher.«

»Paddy will es nicht wie vorher, Mabel, das weißt du. Und ich finde das gut. Ich bin auch hierhergekommen, weil ich es nicht mehr so wie vorher haben möchte. Und das Flugzeug könnten wir ohnehin nur mit großem Verlust verkaufen, es ist ja schon ziemlich alt.«

»Ja, aber bevor ihr am Hungertuch nagt, verkauft ihr wieder, in Ordnung?«

»Natürlich, Mabel, ist doch klar. Das sind ja auch alles Luxusprobleme.« Vivian löste sich aus der Umarmung. »Es geht schon wieder, es war einfach eine kurze Nacht nach einer sehr langen Hochzeit. Ich fang dann mal mit der Bildbearbeitung an. Die Zirkusmenschen wollten ihre Bilder so schnell wie möglich.«

»Und ich mach dir einen schönen Espresso.«

»Danke. War Polly schon wach, als du gegangen bist?«

»Nicht nur wach. Sie ist sogar mit mir gekommen und arbeitet seit zwei Stunden oben.«

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

»Immer wieder, Vivi, immer wieder.«

»Bis später, Mabel.«

»Ähm, Vivi?«

»Ja?«

»Weil du vorher das Selfie erwähnt hast …«

»Doch nur aus Spaß.«

»Ich weiß.« Mabel war wieder hinter die Theke gegangen und hatte den Lappen zu einer länglichen Wurst gedreht. »Es ist so: Ich habe tatsächlich schon ein paarmal versucht, ein Selfie zu machen, aber die Ergebnisse haben mir nicht gefallen. Da gucke ich so angestrengt, habe ein Doppelkinn und irgendwie sind auch immer meine Oberarme zu sehen. Ich wollte dich fragen, ob du ein paar schöne Aufnahmen von mir machen könntest, weil …« Sie rollte die Lappen-Wurst einmal nach vorne und zurück und Vivian schwieg höflich, auch wenn sie wusste, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.

»Weil ich mich entschlossen habe …« Mabel holte tief Luft. »Ich habe mich dazu entschlossen, ein Profil im Internet anzulegen. Beziehungsweise …« Auf ihren Wangen erschienen zwei Kreise, die sich rasch mit roter Farbe füllten. »Ich habe es bereits angelegt. Aber nur mit einem wirklich schrecklichen Selfie, auf dem eigentlich zu zwei Dritteln nur mein Arme zu sehen sind.«

»Auf der Plattform, die Paddy dir empfohlen hat?«

»Genau dort.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Dort, wo Paddy die Frauen immer zu … nun, zu reif waren.«

»Das finde ich richtig gut, Mabel.«

»Naja, Hazel ist weg und ich möchte nicht als alte Schachtel hier einsam und allein versauern.«

»Du wirst niemals hier versauern, weil Paddy und ich immer für dich da sein werden. Immer.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen, Vivi. Aber es ist …« Mabel rollte den Lappen wieder auf und legte ihre flache Hand darauf. »Es ist einfach nicht …«

»Nicht dasselbe, ich weiß.«

»Ich bräuchte also schöne Bilder von mir.«

»Das sollte nun wirklich in keinerlei Hinsicht ein Problem darstellen. Wollen wir das gleich morgen machen?«

»Nein, Vivian, es eilt wirklich nicht. Mach du erst einmal deine Arbeit und dann …«

»Morgen also.« Vivian nahm ihren Fotorucksack und stieg die Treppe hinauf. »Freu mich schon, Mabel«, rief sie noch und lächelte, als ein Kichern aus dem Erdgeschoss zu ihr drang.

»Ordner sind angelegt.« Polly sah nicht auf, während sie in schnellen Rhythmus etwas tippte. »Trauung, Empfang, Abend. Und die Erdbeeren sind für dich.«

Vivian nahm die braune Tüte von ihrer Tastatur und überprüfte rasch, ob sie noch sauber war. »Danke«, sagte sie.

»E-Mails sind fast alle beantwortet. Nur eine musst du noch einmal ansehen. Eve McIntire hat geschrieben.«

»Wer ist das?« Vivian stellte den Rucksack auf ihren Schreibtisch und begann die Kameras auszupacken. »Den Namen hab ich noch nie gehört.«

»Du hast ihn nur verdrängt, weil du nach der Zusammenarbeit mit ihr vier Wochen wie ein Lavendelkissen gestunken hast. Du kannst doch Eve nicht vergessen haben, die Hochzeitsplanerin, die sich anhört wie Siri und auch auf jede Frage und jedes Problem eine Antwort wusste.«

»Ach so, die war das. Was möchte sie denn? Mehr Bilder für ihre Klientin?«

»Sie möchte, dass du die Hochzeit der Cousine der Lavendel-Braut fotografierst, die da heißt … Rebecca Wallace.«

»Auf keinen Fall.«

»Warum denn nicht?«

»Auf keinen Fall, Polly.«

»Wäre aber in New York. Oder irgendwo in der Nähe von New York.«

Vivian ließ sich seufzend in ihren Stuhl fallen. »Wann wäre es denn?«

»Letztes Maiwochenende.«

»In der Woche danach ist der Workshop für Mr. Chapman und seine Freunde. Ausgebucht und gut bezahlt. Vergiss es. Dafür muss ich mich gut vorbereiten.« Vivian zog die Speicherkarte aus der ersten Kamera. »Ganz schön kurzfristige Anfrage.«

»Es gab wohl eine Terminkollision bei dem ursprünglich geplanten Fotografen und …«

»Sag ab, Polly. Es geht zeitlich nicht und wir machen nicht den Ersatz für jemanden. Sag ihr das.«

»Aber …«

»Sag bitte ab und sag ihr, dass wir für niemandem den Ersatz machen.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Okay, du bist der Boss.« Polly tippte eine Weile schweigend. »Wenn du mich nicht noch für etwas anderes brauchst, würde ich auch schon wieder abziehen und noch ins Yoga gehen.«

»Du liebe Güte, du bist ja aufreizend agil heute«, murmelte Vivian.

»Ich war so fertig gestern. Ich konnte gerade noch Zähneputzen und bin dann sofort eingeschlafen. Aber ich hatte eine vorzügliche Nacht.«

»Glückwunsch.«

»Ach ja, unter Gollum habe ich dir noch besonders schöne Aufnahmen des Paares zusammengestellt.«

»Du meinst, wo immer einer die Augen zu hat?« Vivian ließ sich auf ihren Drehstuhl fallen.

»Auch. Schau es dir einfach an, wenn du Zeit hast.«

»Hab ich nicht.«

»Dein Rechner ist schon hochgefahren, du musst nur noch …«

»Trotzdem keine Zeit.« Vivian beugte sich nach vorne, um den Bildschirm einzuschalten, und fuhr stöhnend zurück. »Au, Mist.«

Erst jetzt hob Polly ihren Blick und richtete ihre runden braunen Augen, die Paddy gerne mit denen von Tesco verglich, auf Vivian.

»Was ist? Immer noch die Schulter?«

»Schulter, Schulterblatt, Nacken. Alles wie aus Stahl.«

»Du solltest vielleicht mitkommen zum Yoga, Viv.«

»Keine Zeit.«

»Den Song kenne ich jetzt schon. Im Ernst – komm doch mit. Das ewige Kameratragen und dauernd Stress mit der Kohle, da hätte ich auch ’nen steifen Hals.«

Vivian legte eine Handfläche an die Schläfe und drückte ihren Kopf sanft zur Seite. »Es geht gleich wieder. Es sind ja nur die Hochzeiten, die mich so anstrengen. Und da das heute erst einmal die letzte ist für diesen Monat, wird sich mein Zustand ab morgen schlagartig bessern.«

»Wie du meinst.« Polly stieß sich mit den Händen vom Tisch ab und rollte ein Stück nach hinten. »Ich mach mich jetzt auf zum Morgengruß.«

»Grüß mal Sally von mir. Falls sie doch noch Bilder für ihre Homepage braucht, dann wüsste ich eine Lösung.«

Sally O’Brian war im vorletzten Winter auf die Insel gekommen, eigentlich nur für einen ruhigen Urlaub, in dem sie sich von ihrem stressigen Dasein als Investmentbankerin in London erholen wollte, doch dann hatte sie sich verliebt. In das zum Verkauf stehende Cottage, das sich eine knappe Meile nördlich der Galerie befand. Kurz entschlossen hatte sie ihren Job in der Hauptstadt gekündigt, sich im Erdgeschoss ihres neuen Eigenheims ein Yogastudio eingerichtet und die kleinen quadratischen Fenster an der Südseite des Hauses durch zwei bodentiefe Flügeltüren ersetzt, durch die man auf eine großzügige Holzterrasse gelangte. Dort fanden bei gutem Wetter von März bis Oktober die Kurse mit Meerblick statt, die sich bei Einheimischen wie Besuchern so großer Beliebtheit erfreuten, dass Vivian gegenüber Paddy gelegentlich witzelte, dass sie vielleicht beide die Branche wechseln sollten.

»Ich richte es ihr aus«, sagte Polly, griff nach dem Jutebeutel, der über der Stuhllehne hing, und band ihr Haar nach oben zu einem unordentlichen Knoten. »Wir treffen uns am Hotel?«

»Ja, um sechs.«

»Bis dann.« Polly war schon an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte, in ihrem Beutel kramte, etwas kleines Weißes hervorholte und auf den Schreibtisch legte. »Für dich, Vivi.«

»Was ist das?«

»Die Tabletten von gestern.«

»So viele?«

»Die Lady meinte, man soll das Ungemach schon ausschalten, wenn es sich ankündigt.«

»Danke, Polly. Ich denke, es wird auch so gehen.«

»Ich lass sie trotzdem mal da, für alle Fälle.«

»Bis später.«

Vivian blieb noch einige Minuten mit den Händen im Schoß sitzen, zog das Kinn Richtung Brust, dann nach links und rechts, lockerte die Schultern und schaltete schließlich den Bildschirm ein. Sie öffnete einen der von Polly angelegten Ordner, hielt jedoch plötzlich inne und schloss die Augen, weil der Schmerz im Nacken wieder stärker wurde. Aus dem Erdgeschoss waren Stimmen zu hören und Mabels Lachen, dazwischen das Zischen der Kaffeemaschine und ein lautes Quietschen, weil jemand anscheinend die Tür zur Veranda geöffnet hatte, die schon längst wieder einmal geölt werden musste. Die ersten Besucher des Tages hatten View Point betreten.

»Eins nach dem anderen.« Vivian presste beide Handflächen gegen die Schläfen, richtete sich auf und den Blick automatisch auf die Tabletten. Drei Reihen á fünf Pillen, eine fehlte und hatte Polly von ihrer Migräne erlöst, wegen der sie manchmal einen ganzen Tag im Bett liegen musste.

Vivian schob die Tabletten hinter ein Glas mit Stiften, um sie von ihrem Platz aus nicht zu sehen, und verlagerte den Körperschwerpunkt von links nach rechts. Die Positionen, in denen ihr Rücken nicht irgendwo zwickte, waren seit letzter Nacht rar geworden, an irgendeiner Stelle tat es immer weh. Langsam drehte sie ihren Kopf von links nach rechts und wieder nach vorne in den Schmerz hinein, stierte auf die Tischplatte.

Eine vielleicht, dachte sie. Vielleicht einfach nur eine.

Sie rollte ihren Stuhl an das Fenster und blickte eine Weile unbewegt auf das Meer, aber auch das half nichts. Da waren nur Schmerzen. Schließlich drückte sie eine der kleinen, weißen Tabletten mit den tiefen Bruchkerben in der Mitte heraus. Unscheinbar, aber anscheinend effektvoll. Sie sah sich um, ob eine Wasserflasche in Griffweite war, aber während sie sich drehte und ihr Lendenwirbelbereich plötzlich zu stechen begann, stieg ebenso schlagartig eine Erinnerung in ihr auf. An jene düsteren Zeiten, in denen ihr Stiefvater Hannes in Frührente gehen musste. Seine zertrümmerte Hüfte, von einem Flüchtigen zerschossen, dem sich Hannes, der fitteste Beamte seiner Einheit, an die Fersen geheftet hatte, war nur langsam geheilt. Die Schmerzen waren so groß gewesen, dass Hannes blaue, kleine Pillen geschluckt hatte wie andere Leute Gummibärchen. Als er nach vielen Monaten voller Leid und Reha schließlich wieder einigermaßen hergestellt war, hatte er alle Tabletten, die noch im Haus gewesen waren, aus den Blistern in die Toilette gedrückt, dann seine Hände abgeklopft und verkündet, dass er das Scheißzeug niemals mehr sehen wolle. Dann hatte er gespült. Vivian, damals noch in der Grundschule, hatte eifrig genickt und dabei zugesehen, wie die Tabletten im Wasser durcheinandergewirbelt worden und schließlich im Schlund der Toilette verschwunden waren. Sie wolle mit dem Scheißzeug auch nie etwas zu tun haben, hatte sie mit der entschiedenen Ernsthaftigkeit einer Achtjährigen verkündet, und in der Tat konnte sie an einer Hand abzählen, wie oft sie in ihrem Leben Schmerzmittel genommen hatte. Am Morgen vor der Deutschabiturprüfung, weil sie Tage davor nur gelesen, kaum etwas gegessen und viel zu wenig getrunken hatte und es in ihren Schläfen hämmerte, als würden Goethe, Schiller, Büchner und die Manns gleichzeitig an deren Innenseite pochen. Ein- oder zweimal etwas gegen Regelschmerzen, an mehr konnte sie sich nicht erinnern.

Vivian hielt die Tablette mit Zeigefinger und Daumen gegen das Fenster, kniff ein Auge zusammen und betrachtete die Pille eingehend.

Allein das Wissen, sie im äußersten Notfall schlucken zu können, müsste doch für Erleichterung sorgen, überlegte Vivian. Sie legte die Tablette neben den Sockel ihres Bildschirms, warf den Blister in die Tüte zu den Erdbeeren und schob die Tüte so weit zur Seite, wie es im Sitzen ging. Dann legte sie ihren gefalteten Pullover auf ihren Stuhl, damit ihr von Nervenschmerz gebeuteltes Gesäß eine weichere Unterlage hatte, und begann zu arbeiten.

Kapitel 5

Paddy Mitchell wurde von seinem eigenen Schnarchen geweckt und hatte das Gefühl, Teile seines Gesichts hätten sich aufgelöst und ihn nur mit den Partien unterhalb der Augenbrauen zurückgelassen, denn diese schmerzten so sehr, dass er nichts anders mehr spürte. Erst nach einigen Minuten des unbewegten Liegens vergewisserte er sich vorsichtig der Existenz der anderen Areale zwischen Stirn und Kinn und beiden Ohren. Er hob seine Lider, betastete mit der Zunge das Innere seines Mundes und zog die Nase hoch. Alles da, alles einsatzbereit, war sein Fazit, wenn nur dieser Schmerz über den Augen nicht gewesen wäre, so stark, dass er in diesem Moment wünschte, Vivian hätte das getan, was er ihr sonst vehement untersagte, und die Fensterläden geschlossen. Dann könnte er jetzt im gnädigen Dunkel darauf warten, dass der Druck weniger würde.

Sie musste dagewesen sein, während er geschlafen hatte, denn er war heute Morgen barfuß mit ihr die Treppe hinaufgestiegen und jetzt steckten seine Füße in den dicken grauen Socken, die er sonst anstelle von Hausschuhen trug. Paddy stellte sich vor, wie Vivian ihm, der schnarchend im Bett lag, zwei Wollsocken über die zuckenden Zehen zog, aber das Bild verstärkte seine Kopfschmerzen und er verdrängte es wieder. Wie kurz die Distanz doch war zwischen den einzelnen Wegmarkierungen einer Beziehung. An einem Tag riss man sich die Kleider vom Leib, als hätten sie Feuer gefangen, am nächsten zog die Frau dem Mann im Schlaf Socken an wie einem Baby oder einem gebrechlichen Alten. Die Fürsorge hakte sich bei der Leidenschaft unter und ging mit ihr zur nächsten Markierung an der Strecke, und vielleicht gingen sie danach zu zweit weiter oder nahmen noch die Langeweile auf in ihren Wandertrupp, und irgendwann ließen sie die schwächelnde Leidenschaft am Wegesrand zurück und stapften weiter als kuscheliges Duo aus Freundschaft und Gewohnheit. Wo hatte er das in abgewandelter Form noch mal gelesen? Oder hatte er es von jemandem gehört? Vermutlich hatte es ihm Gylfi erzählt, sein isländischer Freund, der schon ein paarmal zum Windsurfen auf der Insel gewesen war und jedes Mal eine andere alles umfassende Liebestragödie zu erzählen hatte.

Paddy runzelte die Stirn, aber das tat auch weh. Er versuchte, an nichts zu denken und ruhig zu atmen, aber dann fuhr er abrupt hoch, weil etwas Feuchtes seine Hand berührt hatte, die aus dem Bett hing.

»Scheiße, Tesco!«, schrie er, und der Schmerz rammte sich durch seinen Kopf. »Was soll das verdammte Anschleichen?« Er fiel stöhnend zurück in das Kissen. »Oh ne, Buddy, jetzt nicht beleidigt sein. Komm her.« Tesco war schon an der Tür angekommen und blieb jetzt stehen, ohne sich umzudrehen. Seine Waschlappen-Ohren hingen schlaff herunter. »Komm her, Kumpel, komm zu mir«, wiederholte Paddy und stützte sich auf den Ellenbogen. »Ja, hierher, aufs Bett, musst nicht schauen, Vivi ist nicht da, na komm, altes Haus, auf das Bett … ja, so ist es fein …und jetzt zum alten Paddy.«

Tesco kam ehrfürchtig auf ihn zu, hob bei jedem Schritt die Beine wie ein Storch, der über einen Acker stakst, und legte sich dann mit nach vorne gestreckten Pfoten neben sein Herrchen.

»Entspann dich«, murmelte Paddy und streichelte ihm über den Rücken, der sich anfühlte wie bei dem Teddybären, den er als Junge besessen hatte. »Entspann dich, Buddy … Wir ruhen uns einfach noch ein bisschen aus und dann sehen wir weiter, ja, komm noch bisschen näher, dann ist es auch wärmer … Ja, so ist es doch gut …«

Als Paddy erneut aufwachte, fand er den Platz neben sich leer und kühl vor. Das Licht von draußen tauchte die untere Hälfte des Bettes in weiches Orange und verriet ihm, dass es später Nachmittag war und damit zu früh, um einfach weiterzuschlafen. Spätestens um Mitternacht wäre er wieder hellwach. Außerdem schien seine Blase ihre Kapazitätsgrenze erreicht zu haben, und ein schüchterner Hunger nagte in seinem Magen. Er musste also aufstehen.

»Tesco-Buddy?«, murmelte er. »Wo bist du denn?«

Es blieb still.

Paddy schob einen graubesockten Fuß nach dem anderen aus dem Bett und versuchte sich dabei so langsam wie möglich zu bewegen. Schwindel überkam ihn, als er aufgerichtet saß, und er konzentrierte sich auf die gerade Linie des Horizonts, bis sich nichts mehr um ihn drehte und er aufstehen konnte.

Auf dem Nachttisch hatte Vivian weitere Beweise ihrer Fürsorge hinterlassen. Das Glas war wieder mit Wasser aufgefüllt, auf dem Teller daneben reihte sich klein geschnittenes, nach Farben geordnetes Gemüse zu einem Kreis: gelbe Paprika, Karotten, rote Paprika, Gurke, grüne Paprika, die wieder an gelbe stieß. Eine ungeschälte Orange thronte auf dem Atlas der sagenhaften Orte, seiner aktuellen Lektüre (zuletzt hatte er über die Heimat der Amazonen gelesen), an ihr lehnte ein Zettel mit Vivians Handschrift, die ihm mittlerweile genauso vertraut war wie ihre Muttermale rund um das rechte Schlüsselbein, die, würden sie mit Linien verbunden, ein M bildeten, oder ein W, je nachdem, von welcher Richtung man darauf blickte. Wie Kassiopeia, hatte Vivian ihm in einer ihrer ersten Nächte erklärt. Wie das Sternbild.

Paddy steckte sich ein Stück Gurke in den Mund und griff nach dem Zettel. Die Unterlänge des Ypsilons in seinem Namen ragte weit nach unten und bildete eine Schlinge um ein t in der zweiten Zeile.

Lieber Paddy, hoffe, es geht dir viel besser, wenn du aufgewacht bist. Hier ein kleiner Gruß aus der Küche – es gibt unten noch mehr Vitamin-Booster für dich!! Bis später, ich sollte heute vor Mitternacht daheim sein. Ich liebe dich sehr. Viv

PS: Wenn ich den Hund noch einmal im Bett vorfinde, ziehe ICH in seinen Korb – und zwar dauerhaft!!

Im Bad stieß Paddy ebenfalls auf Spuren von Vivians zwischenzeitlicher Anwesenheit. Jeans und Socken hingen über dem Badewannenrand, ihr Pulli lag auf dem Boden, die Ärmel waagrecht zur Seite ausgestreckt wie bei einem Polizisten, der an der Kreuzung den Querverkehr freigibt. Sie musste in großer Eile gewesen sein, denn auf dem Waschbeckenrand, wo sich sonst nur ihre Zahnbecher und -bürsten aufhalten sollten, befanden eine Bürste mit Haarbüscheln, mehrere Schminkutensilien und ein Ladekabel.

Amazone im Chaosmodus, dachte Paddy. Er steckte Hose, Pulli und Socken in den Wäschekorb und fischte aus der Badewanne den Hausmüll, der aus den Taschen von Vivians Jeans gefallen war: zwei Haargummis, ein zerknüllter Einkaufszettel, ein gebrauchtes Taschentuch und eine Kaugummipackung mit einem Kaugummi darin, den Vivian niemals kauen würde, weil sie niemals das letzte Exemplar von irgendetwas verspeiste oder verwendete, sei es nun der einzig verbliebene Keks in einer Packung (»Der ist sicher schon weich«) oder das letzte kümmerliche Blatt Klopapier auf einer Rolle (»Reicht eh nicht«).

Paddy warf alles weg, putzte Zähne, räumte seine Seite des Waschbeckens auf und ging schließlich nach unten.

Tesco lag auf dem Sofa, hatte alle Viere von sich gestreckt und zerstob mit seinem Atem regelmäßig die Staubpartikel, die im Licht der hereinfallenden Sonne über ihm schwebten. Vivian war nicht da, aber Paddy spürte ihren Blick von der Wand zwischen Haustür und Fenster. Das gerahmte Foto, das dort hing, war eines der wenigen Gegenstände, die Vivian aus München mitgebracht hatte. Sie war acht, als die Aufnahme entstanden war, und rannte auf das Meer zu, das glitzernd vor ihr lag. Im Laufen wandte sie sich um und streckte die Hand in die Richtung von John Hunter, der in diesen Minuten Dutzende Fotos von seiner Tochter geschossen und die Serie Mädchen am Strand genannt hatte. Paddy kannte die meisten Aufnahmen daraus, und die, auf denen Vivian den Betrachter ansah, waren mit Abstand die schönsten.

Auf dem Tisch standen zwei Flaschen, und Paddy hob sie tief seufzend an. Smoothies. Spinat-Karotte-Ingwer. Nein, danke.

Er war durchaus bereit, gesundheitsfördernde Maßnahmen zu ergreifen, aber alles hatte Grenzen.

»Sorry, Viv«, murmelte er in Richtung des Strandbilds.

Was gab es noch? Er wandte sich zum Tresen. Zwei Bananen. Okay. Eine Schale Erdbeeren. Naja. Eine Tüte mit dem vertrauten View-Point-Aufdruck und darin zwei Zimtschnecken, die Mabel besser buk als jede andere. Damit konnte er arbeiten. Er nahm einen Bissen und untersuchte die anderen Produkte, die in Vivians Augen zu seiner Genesung beitrugen: ein Netz Mandarinen, irgendwelche Tabletten, eine Toblerone-XL-Packung, noch mal Tabletten.

Paddy lachte. Tesco seufzte vorwurfsvoll im Schlaf, worauf Paddy erst zu ihm und dann aus dem Fenster sah. Was für außergewöhnliche Wolken, dachte er, was für ein Licht. Dann biss er wieder in die Zimtschnecke und nahm sich eine Erdbeere aus der Schale, denn Vivian würde es sicher gutheißen, wenn er sich ausgewogen ernährte.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er für einen Moment rot getönte Wolken, seitlich ausgefranst wie zarte Federn, auf blauem Himmel. Dann zerplatzte das Bild wie eine Seifenblase und hinterließ Schwärze, aber hinter seinen Lidern war Licht, und als er die Augen wieder öffnete, sah er die Sonnenblumen an der Wand, die ein seltsames Gefühl der Vertrautheit in ihm weckten, aber mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er drehte seinen Kopf langsam nach links, wo ein Fenster war und dahinter wieder ein Himmel, aber viel trister als der, den er eben noch gesehen hatte. Vor dem Fenster und dem Himmel, der durch etwas Dünnes, Schwarzes in zwei Hälften geteilt wurde, stand ein Bett, in dem jemand lag und ebenfalls nach draußen sah. Vorsichtig, um die Aufmerksamkeit der Person nicht auf sich zu ziehen, wandte Paddy seinen Kopf zur anderen Seite. Eine Thermoskanne. Eine Tür. Ein Stuhl. Darauf eine weiße Tüte, aus der etwas Graues lugte, etwas – er kniff die Augen zusammen – Graues, das aus Wolle zu sein schien. Wieder stieg ein Gefühl der Vertrautheit in ihm hoch, aber bevor er darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Tür und eine Frau in Blau kam herein, deren Gesicht nur aus roten Wangen zu bestehen schien.

»Sie sind ja wach, Herr Mitchell, wie schön! Da wird sich jemand freuen – einen kleinen Moment!«

Sie verschwand. Er hörte die Person im Nachbarbett murmeln, es klang unwirsch, und er wollte sich schon für die Störung entschuldigen, aber etwas anderes kam seinen Worten zuvor. Eine Frage, die schon seit Minuten als Buchstabensalat um ihn herumschwirrte, aber sich erst jetzt, nach dem Verschwinden der Frau in Blau, allmählich sortierte.

Paddy richtet sich auf. Unterhalb seiner Hüfte fühlte er sich seltsam steif und taub an. Aus der weißen Plastiktüte auf dem Stuhl krochen graue Wollsocken. Im Bett neben ihm lag ein älterer Mann mit weißem Haarkranz und starrte nach draußen. Kunstdrucke an der Wand und der Geruch von Desinfektionsmittel und Mullbinde in der Luft.

Er war in einem Krankenhaus.

Er versuchte mit den Zehen zu wackeln, aber es gelang ihm nicht, und als er seine Beine aus dem Bett schieben wollte, schienen sie auf der Matratze angeklebt zu sein.

Paddy ließ sich zurückfallen. Die Buchstaben der Frage hatten sich zu einer lesbaren Formation gruppiert.

Was zur Hölle ist mit mir passiert?

Kapitel 6

»Noch kurz ins Mermaid?«, fragte Polly. »Kleiner Absacker zur Feier der letzten Hochzeit in diesem Monat?«

Vivian schüttelte den Kopf. »Ich sollte heim zu Paddy.«

»Hat er sich denn gemeldet?«

»Er hat meine Nachrichten nicht mal gelesen.«

»Weil er den Schlaf der Gerechten schläft, Viv. Komm, ein kleines Bier, dann rüsselst du auch besser.«

»Oder ertrage Paddys Schnarchen gelassener.«

»Nur Vorteile, soweit mein Auge reicht. Ein Bier also?«

»Na gut. Weil es heute doch ganz gut lief.«

Die Hochzeit hätte, da waren sie sich während der Feier lange einig gewesen, eigentlich eine Eins verdient: klein, schlicht, sehr geschmackvoll, freundliche Menschen. Dann aber hatten sie kurz vor ihrem Aufbruch erfahren, dass der Bräutigam der Braut zuliebe seine Kinder aus erster Ehe nicht eingeladen hatte, worauf Vivian die Feierlichkeiten kurzentschlossen mit einer Fünf benotete.

»Böse Stiefeltern kann ich nicht ausstehen«, sagte sie. »Mein Stiefvater hätte meine Mutter auch geheiratet, wenn sie zwölf Kinder gehabt hätte, und alle zwölf hätten in der Kirche ihre Schleppe tragen dürfen, wenn sie denn kirchlich geheiratet hätten.«

Sie bogen nach links in die Hugh Street ein. Der Mond war um eine schmale Sichel weniger prall als vor vierundzwanzig Stunden, aber die Sterne leuchteten klar wie letzte Nacht, als Vivian durch das Fenster die Lichter des Flugzeugs beobachtet hatte.

Das Mermaid Inn am westlichen Ende des Hafenbeckens war wie St. Maryʼs eine komprimierte Angelegenheit. Abend für Abend trafen sich hier Einheimische und verwebten Neuigkeiten, Gerüchte, Spekulationen, Sorgen, Ängste, gute und schlechte Witze (und gute Witze, die sehr schlecht erzählt wurden), ausschweifende Rezensionen zu neuen Folgen von Blue Planet und Antique Roadshow sowie Bewertungen der politischen Vorgänge zu einem Konglomerat, das die aktuelle Befindlichkeit der Inselbevölkerung besser aufzeigte, als es jede Umfrage hätte tun können. Umgeben von internationalen Fahnen, Postkarten aus aller Welt, Piratenflaggen, Rettungsringen, Fischerkörben, Flaschen, Schiffsmodellen und Steuerrädern wurde hier erzählt und debattiert und getröstet und gelästert und geklagt, bis Betty, seit Jahren die Institution hinter dem Tresen, alle Anwesenden hinauswarf. Sorgen, dass sich jemand auf dem Heimweg verlaufen oder verletzen könnte, musste sie dabei nicht haben, denn die meisten waren innerhalb weniger Minuten Fußmarsch zu Hause.

Vivian und Polly setzten sich unter die gerahmte Tafel mit den über vierzig angepinnten Seemannsknoten und winkten in verschiedene Richtungen, aus denen ihnen zugenickt wurde.

»Ein Bier also?«, fragte Polly.

»Lass mich das mal machen.« Vivian wies mit dem Kopf in Richtung der Geldbörse, die Polly aus ihrer Jackentasche gezogen hatte und achselzuckend wieder einsteckte. »Und vielleicht ein paar Chips oder Erdnüsse.«

Während Polly an der Bar auf die Getränke wartete, wanderte Vivians Blick über die Wände mit den mittlerweile wohlvertrauten Ansichten von lebenden und toten Insulanern und Besuchern. Rechts neben dem Tresen hatte sich das Bild von ihrem leiblichen Vater John Hunter befunden, bis sie es bei ihrem ersten Besuch auf St. Mary’s gestohlen hatte. An seiner Stelle hing jetzt ein Porträt von Paddy, das Vivian im letzten Sommer geschossen hatte, als sie gemeinsam mit seinem Fischerboot unterwegs gewesen waren. Paddy grinste breit und hatte die Augen fest zusammengekniffen, vielleicht wegen der Sonne, die direkt auf sein Gesicht fiel und jede seiner Lachfältchen herausschälte, vielleicht wegen des Salzwassers, das der Wind auf ihn spritzte, vielleicht wegen Tesco, dessen Zunge von rechts ins Bild ragte und das Ohr seines Herrchens ansteuerte. Hinter Paddys Kopf, der das Bild fast vollkommen ausfüllte, war das satte Blau des Himmels zu sehen. Es war ein herrlicher Tag gewesen, sonnig und warm und beseelt, und ein noch schönerer Abend, an dem sie sich, erschöpft und mit zerzausten Haaren und nach Salz schmeckender Haut, im Wohnzimmer geliebt hatten. Auf der alten Ledercouch mit den vielen Kratzern und Rissen, die Paddy nur widerwillig ersetzen wollte.

»Voilà!«, sagte Polly und stellte zwei Biergläser auf den Tisch. »Auf den Abend. Auf uns. Auf die Zukunft.«

Das Bier versetzte Vivian in einen Zustand angenehmer Entspannung, und als Polly sie zu einer Runde Dart aufforderte, nickte sie. Sie stand auf, kreiste die Schultern, die sich mittlerweile deutlich besser anfühlten, und schlug ihre Gegnerin vernichtend. Polly forderte zu einer zweiten Runde auf und gestand erst nach ihrer vierten Niederlage und ihrem dritten Bier ein, dass das heute nicht ihr Tag sei und sie nach Hause müsse. Vivian war längst auf Cola umgestiegen, um damit die Müdigkeit zu bekämpfen, aber auch der Zucker half nichts mehr. Als sie gezahlt hatte und beim Anziehen ihrer Jacke auf ihr Handy schaute, musste sie mehrmals blinzeln, bis sie begriff, dass sie in der letzten Stunde vierzehn eingegangene Anrufe von einer unbekannten Nummer verpasst hatte.

Kapitel 7

Über ihnen spannte sich der Himmel, unter ihnen lag das Meer, aber es hätte auch umgekehrt sein können, denn durch das Fenster sah Vivian nur die Nacht. Der Mond und die Sterne waren weg, verschwunden hinter den Wolken, die aufgezogen waren, während sie im Mermaid Inn Pfeile auf die Dartscheibe geworfen hatte. Wo der Himmel aufhörte und die See begann, war nicht zu erkennen.

Das Flugzeug taumelte, kippte für Sekunden zur Seite, bis es sich wieder stabilisierte. Vivians Finger schlossen sich fester um die Plastiktüte, in die sie Paddys Toilettenbeutel gepackt hatte, dazu drei Boxershirts, drei T-Shirts, zwei Pullis, eine Jeans und die Wollsocken, die traurig und eingefallen auf dem Bett gelegen hatten.

»Alles okay?« Lenny wandte sich nicht um, während er fragte. Vor, neben und über ihm leuchteten die Knöpfe und Monitore des Cockpits. Lenny oder ein anderer Pilot von Skybus hätte die Flüge von Paddy heute problemlos übernehmen können. Das Problem war nur: Paddy hatte Lenny niemals angerufen deswegen.

»Ja, alles okay«, antwortete Vivian seinem Nacken, in dem die kurz geschorenen Haare unten spitz zusammenliefen.

»Wie bitte?«

»Alles gut«, sagte sie etwas lauter in das Dröhnen der Motoren und es klang wie eine Beschwörung. Sie legte ihre Stirn an das Fenster, sah die Lichter der Küste und wusste, dass sie in Kürze in Land’s End landen und von dort mit einem Taxi in das Krankenhaus in Penzance fahren würden. Vivian hatte keine Ahnung, wo sich das West Cornwall Hospital genau befand. Mabel war dort hin und wieder gewesen im letzten Jahr, hatte es aber es immer abgelehnt, dass jemand sie begleitete, weil es reine Vorsorgetermine seien.

»Meine Damen und Herren«, sagte Lenny über den Lautsprecher, als sei es ein regulärer Touristenflug. Vivian wusste, dass er sie damit beruhigen wollte, und zog zur Dankbarkeit die Mundwinkel hoch, so gut es ihr möglich war. »Wir beginnen nun mit unserem Landeanflug auf Landʼs End. Bitte stellen Sie die Sitzlehne aufrecht, klappen Sie den Tisch vor Ihnen hoch und öffnen Sie die Fensterverdunklung. Vergewissern Sie sich noch einmal über die Lage der Notausgänge.«

Vivian setzte sich auf und zog den Gurt fester.

»Und noch eines, meine Damen und Herren. Was immer uns unten erwartet, seien Sie sich gewiss, dass morgen die Sonne wieder aufgeht. Es gibt keine Nacht und kein Problem, die stärker sind als der Sonnenaufgang und die Hoffnung.« Lennys Kopf wandte sich zur Seite. »Also, das ist soʼn Spruch von einer Postkarte im Mermaid. Den kann ich auswendig, weil er in der Herrentoilette hängt. Ich sagʼs dir jetzt noch mit meinen eigenen Worten, Viv: Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.«

Grauer Boden, der unter den Sohlen ihrer Stiefel quietschte, ein langer, in Neonlicht getauchter Flur, in dem außer ihnen und der Frau in Blau, die voranging, niemand unterwegs war. Vor einer Tür mit einer leuchtend roten Aufschrift blieben sie stehen. Die Frau in Blau bat sie zu warten, und Vivian spürte Lennys Hand, die sich fest um ihre schloss. Durch die Glasscheibe beobachteten sie, wie die Frau und ein Mann in Weiß miteinander sprachen, danach verschwand der Mann wieder und die Frau kam zurück zu ihnen. Herr Mitchell werde noch mindestens eine Stunde operiert, sie hätten gerade erst begonnen und der Bruch im Oberschenkelknochen sei kompliziert.

Oberschenkel!, dachte Vivian und merkte, wie sich etwas von ihrer Anspannung löste und ihre Beine zu zittern begannen. Oberschenkel! Das klang nicht nach Tod und Lebensgefahr und lebenslangen Einschränkungen, das klang nach Reha und Krücken und Geduld und Frust, aber auch nach vollständiger Genesung, denn Paddy war jung und sportlich und zäh und ehrgeizig. Sie schluchzte laut auf, aber es war eher ein Laut der Erleichterung. Lenny klopfte ihr unbeholfen auf den Rücken, während die Dame in Blau noch etwas von einer Gehirnerschütterung und Prellungen im Brustbereich erzählte und ihnen die Nummer des Zimmers nannte, in das sie Paddy bringen würden, wenn er aus der Narkose erwacht war.

Minuten später saß Vivian im Wartebereich auf einem blumenbedruckten Sofa, neben dem eine Zimmerpalme in einem mit Granulat gefüllten Topf verkümmerte. Lenny brachte ihr einen dampfenden Becher Kaffee und einen Schokoriegel, bevor er in Richtung Ausgang ging, um vor dem Krankenhaus eine zu rauchen. Eine Weile hallten seine Schritte noch durch den Flur, dann war es so still, dass Vivian sich überlaut schlucken hörte, sie stellte den Kaffee weg und legte sich längs hin, weil ihr übel wurde. Ihre Gummistiefel ragten über die Armlehne hinaus, und sie schloss die Augen, weil das Neonlicht in ihren Augen brannte, doch dann sah sie das Flugzeug, das über die Landebahn schoss und nicht schnell genug langsamer wurde, und sie hörte Paddy rufen, dann brüllen, sie hörte die Schreie der Passagiere – und öffnete die Augen wieder.

Über ihr hing ein Bild mit Balletttänzerinnen, die sich grazil verbeugten, ein Bein nach vorne gestellt, eins nach hinten, die Füße jeweils fast im Neunzig-Grad-Winkel nach außen gedreht, ihre Tütüs wie die aufgeschlagenen Räder von zwei balzenden Pfauen.

Vivian betrachtete ihre Hände, die den Boden zu berühren schienen, den rosig schimmernden Hautton der Tänzerinnen, ihre zu langen Zöpfen geflochtenen Haare, die rotbraun waren wie ihre eigenen. Eindeutig ein Degas, musste um 1880 entstanden sein, überlegte sie, und sobald sich wieder Bilder vom Flugzeug in ihre Vorstellungskraft schoben, begann sie in Gedanken, sämtliche impressionistischen Maler aufzuzählen, die ihr einfielen, und versuchte sich dann an die zu erinnern, die sie als Kunstlehrerin mit ihrer allerletzten Klasse behandelt hatte.

Als Vivian wieder aufwachte, blickten die Tänzerinnen immer noch milde auf sie herab, aber eine betriebsame Geräuschkulisse hatte die gespenstische Stille der Nacht abgelöst. Sie hörte Stimmen, das Rattern von Rädern und das Klappern von Geschirr, irgendetwas piepte. Langsam drehte sie sich weg von der blumigen Rückenlehne des Sofas und richtete sich auf. Eine Krankenschwester, die gerade einen Frühstückswagen vorbeischob, nickte ihr freundlich zu, kurz nach ihr folgte mit federnden Schritten ein junger schwarzhaariger Mann mit wehendem weißem Kittel, der den Blick nicht von seinem Handy hob. Das Neonlicht war weniger grell und vermischt mit Tageslicht, das von Fenstern auf beiden Seiten des Flurs hereinfiel.

Von Lenny war nichts zu sehen, aber er hatte seinen Parka über sie ausgebreitet, der beruhigend nach Seife und Motoröl roch. Der leere Kaffeebecher steckte jetzt im Pflanzengranulat, die weiße Tüte lag unter dem Beistelltisch aus Fichte, und auf ihm, neben ihrem Telefon und dem Schokoriegel, befand sich ein Zettel.

Vivian, musste leider los, habe die Frühschicht und konnte so kurzfristig nicht tauschen. Wenn du zurückwillst – Rückflug für dich geht klar, kannst jede Maschine nehmen, die heute geht, wenn alles voll ist, kommste mit ins Cockpit, kein Problem. Lad mal dein Handy auf irgendwie und ruf mich an, dann kriegen wir schon alles hin. Lenny

Vivian griff nach ihrem Telefon, das sich in den letzten Stunden nicht durch ein Wunder selbst aufgeladen hatte, steckte es in die Jackentasche und stand auf.

Eine ältere Dame in altrosafarbenem Morgenmantel, die Füße in Hauspuschen mit Leopardenmuster, schlurfte mit ihrem Gehwägelchen sie zu, änderte aber die Richtung wieder und schob sich weiter den Flur entlang. Eine weitere Schwester mit Frühstückswagen tauchte auf. Sie steuerte Paddys Zimmer an und verschwand für kurze Zeit. Als sie wieder herauskam und in der entgegengesetzten Richtung den Flur hinabging, holte Vivian die Plastiktüte und atmete tief durch.

Paddy schlief. Im zweiten Bett, nur eine Nachttischbreite von seinem entfernt, lag ein älterer Herr, der seinen Kopf kurz zu Vivian drehte und sich dann wieder abwandte. Durch das Fenster, an beiden Seiten gerahmt von einem grauen Vorhang, konnte er lediglich eine Stromleitung sehen, die den blassblauen Himmel durchschnitt, aber auf ihr saßen zwei schwarze Vögel und schienen ihm ein gepflegteres Abwechslungsprogramm zu versprechen als die junge Frau, die gerade gekommen war, bleich, die Haare zerzaust, mit einer grünen, viel zu großen Jacke, einem knielangen seidigen Rock und schmutzigen, gelben Gummistiefeln. An der den Betten gegenüberliegenden Wand hingen die Sonnenblumen von van Gogh.

Nachdem Vivian vor einigen Stunden die unbekannte Nummer zurückgerufen und alles erfahren hatte, wäre sie im Mermaid Inn zusammengesackt, wenn Polly nicht neben ihr gestanden und sie gestützt hätte. Danach dauerte es nur eine halbe Stunde, bis sie mit Lenny vom Boden abhob, denn in St. Mary’s, diesem Mini-Kingdom, waren die Herzen groß, die Distanzen gering und die Hemmschwellen zu helfen so niedrig wie die Steinmauern zum Einfassen der Felder.

Bardame Betty rief ihren Schwager Pete an, der ebenfalls bei Skybus arbeitete und von dem sie wusste, dass er sein Handy niemals ausschaltete. Pete rief seinen Boss Lenny an, der sein Telefon ebenfalls vierundzwanzig Stunden am Tag anhatte, aber nach Mitternacht nur ranging, wenn es jemand von der Arbeit war (etwas, was ihm seine Frau Pat regelmäßig vorwarf). Lenny fuhr direkt zum Flughafen und bereitete alles vor, während der am wenigsten betrunkene Gast im Mermaid (John Hunters Cousin Henry, der sein drittes Bier noch nicht angerührt hatte) Vivian mit Bettys Auto so nahe an ihr Cottage fuhr wie möglich.

Zu Hause stopfte Vivian ein paar Klamotten für Paddy in eine Plastiktüte, die auf der Rückbank gelegen hatte, und packte Zahnbürste, Zahnpasta und nach hektischem Durchsuchen des Medikamentenschränkchens oberhalb der Toilette Nasentropfen in seinen Kulturbeutel, weil ihr nichts Besseres einfiel. Tesco war ihr mit hängendem Schwanz vom Schlafzimmer in das Bad gefolgt und vor dem Wäschekorb stehen geblieben, aus dem ein schwarzer Ärmel hing, der, das erkannte Vivian ohne näheres Hinsehen, zu Paddys Schlafshirt gehörte.

»Ab mit dir, Tesco«, flüsterte sie, obwohl sie hätte schreien mögen, und der Hund trottete mit schlaffen Ohren nach unten und blieb am Treppenabsatz stehen. Vivian folgte ihm, schlüpfte aus dem Blazer und zog sich, wie in der Nacht zuvor, Paddys Kapuzenpullover über, der über einem Stuhl hing. »Nein!«, sagte sie etwas lauter, als Tesco Anstalten machte, zu ihr zu gehen. »Ab auf deinen Platz!« Sie füllte seine Wasserschale und wartete, bis der Hund mit hoch erhobenem Kopf in seinem Korb saß. »So ist es fein.«

Sie schlüpfte in ihre Gummistiefel, die neben der Fußmatte standen, und rannte zurück zum Ende von Sally Port. Dort hatte Henry mit laufendem Motor gewartet, was nicht nötig gewesen wäre, ihm aber einen gewissen Thrill gab, der ihn wach und konzentriert hielt.

Vivian betrachtete die beiden reglosen Patienten und die zwei Tabletts auf den Nachttischen, auf denen Toastbrot, Marmelade und zwei gräuliche Omeletten vermutlich vergeblich auf ihren Verzehr warteten. Dann stellte sie die Plastiktüte vorsichtig auf den Stuhl neben der Tür, wo sie knisternd zur Seite kippte, worauf die Vögel auf der Stromleitung, als habe das Geräusch sie erschreckt, aufflogen. Der ältere Mann drehte sich zurück und begann, die Decke des Zimmers anzustarren.

Paddy zuckte, murmelte etwas im Schlaf und fuhr mit einer Hand über die Bettdecke, die unter seinen Achseln festgetackert schien. Vivian trat näher, wollte ihre Finger um seine schließen, aber dann fiel ihr Blick auf seine nackten Füße, die grau und rissig aus der Decke hervorragten. Vivian biss sich auf die Lippen, um so zu verhindern, dass sie zitterten. Wieso waren sie hier nicht in der Lage, einen Kranken ordentlich zuzudecken? Sie beugte sich vor, um die Decke nach unten zu ziehen, aber dann hielten ihre Hände inne. Die Frau in Blau hatte ihr gestern geklärt, dass Paddy nach der Operation keinen Gips tragen würde, und plötzlich hatte Vivian Angst, dass sie etwas kaputtmachte, wenn sie Paddy berührte und er sich daraufhin bewegte. Sie sah erneut zu seinen Füßen und weiter zu der weißen Tüte, aus der einer der dicken Wollsocken herauslugte, aber dann öffnete sich die Zimmertür, und der Mann in Weiß trat ein, den sie letzte Nacht durch die Glastür gesehen hatte.

»Frau Steiner?« Als er sie über seine Brille hinweg musterte, war am Oberkopf eine lichte Stelle in seinem ansonsten dichten grauen Haar zu sehen. »Sie sind die Lebensgefährtin von Herrn Mitchell?«

Vivian richtete sich auf, nickte und schüttelte ihm die Hand.

»Dr. Freeman, ich habe Herrn Mitchell letzte Nacht operiert und ich …«, er kniff die Augen zusammen, »… ich kannte Ihren Vater sehr gut, bin mit ihm zur Schule gegangen. Vielleicht hat er Ihnen einmal von Samuel Freeman erzählt und der Wilden Sieben

Vivian schüttelte stumm den Kopf. Weil sie noch nie von der Wilden Sieben gehört hatte und weil sie immer noch keine bessere Reaktion auf ihr unbekannte Anekdoten wusste, die wildfremde Menschen von ihrem leiblichen Vater erzählten. Wie viele waren es inzwischen, seit sie seine Beerdigung auf St. Mary’s besucht hatte? Hunderte vermutlich, wenn man auch die verschiedenen Versionen mit einberechnete, die allein seine Cousins von ein und derselben Geschichte zum Besten gegeben hatten.

»Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal davon, wenn das alles überstanden ist«, sagte Dr. Freeman und wies mit seinem Kopf zur Tür. »Haben Sie kurz Zeit für ein Gespräch? Draußen?«

»Ich würde gern hier sein, wenn Paddy aufwacht.«

»Das verstehe ich.« Die Pupillen des Arztes wirkten seltsam groß hinten den Brillengläsern. »Aber Sie sollten etwas wissen, bevor Sie mit ihm sprechen.«

Kapitel 8

Dr. Freeman führte Vivian wieder zu dem Blumensofa, auf dem sie die Nacht verbracht hatte. Der Becher im Pflanzengranulat war verschwunden und der niedrige Beistelltisch aus Fichte leer. Jemand hatte aufgeräumt in den wenigen Minuten, die Vivian weggewesen war, und sie war froh darüber, weil Dr. Freeman in seinem makellosen, gestärkten Kittel besser in eine Umgebung ohne Müll passte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte er, als sie bereits Platz genommen hatte, aber vermutlich kam ihm dieser Satz automatisch vor jedem Gespräch mit Patienten oder Angehörigen über die Lippen. »Wie halten Sie sich, geht es Ihnen soweit gut?«

»Es geht mir okay. Ich würde gerne mein Handy aufladen, wenn das geht. Oder von hier aus telefonieren.«

»Beides kein Problem. Wenden Sie sich einfach an eine der Schwestern, die helfen Ihnen gerne.«

»Danke.«

Dr. Freeman schwieg, schlug die Beine übereinander und wippte mit seinem weißen Schuh, der bequem und praktisch aussah. Sein Arm lag auf der Rückenlehne des Sofas, nicht weit entfernt von den Händen der sich verbeugenden Tänzerinnen. »Frau Steiner …«, begann er, stellte dann beide Füße auf den Boden und beugte sich nach vorne, sodass seine Ellenbogen auf den Knien lagen. »Ich nehme an, dass Sie von der Polizei schon über den Unfallhergang informiert wurden?«

»Am Telefon gestern, ja.« Vivian wich unwillkürlich vor dem Arzt und seinen großen Brillenaugen zurück. »Aber nur rudimentär.«

»Dann wissen Sie, dass der Unfallhergang und die Aussagen der Passagiere dazu geführt haben, dass wir einen Bluttest durchführen mussten?«

»Nein, das hat mir niemand gesagt.«

»Das Ergebnis war, dass Herr Mitchell gestern Abend niemals in ein Flugzeug hätte steigen dürfen.« Dr. Freemans Stimme wurde leiser und trotzdem eindringlicher. »Ich korrigiere mich: Er hätte es besteigen, aber nicht steuern dürfen. Niemals. Er hat sein eigenes Leben und das seiner Passagiere aufs Allerhöchste gefährdet.«

»Er … Er war …« Vivian räusperte sich. »Er war sehr erkältet seit einer Woche, seine … seine Nebenhöhlen waren völlig zu, und er wollte gestern auch gar nicht fliegen, weil ihm alles wehtat, und er …«

»Frau Steiner«, unterbrach der Arzt sie.

»Ja?«

»Ihr Lebensgefährte war verkehrsuntüchtig, aber nicht aufgrund verstopfter Nebenhöhlen. Wir haben in seinem Blut eine Dosis Alprazolam gefunden, die seine Verkehrstüchtigkeit erheblich eingeschränkt hat. Al-pra-zo-lam.« Dr. Freeman hatte das Wort in seine Silben zerlegt und bei jedem A seine Zähne gefletscht.

Vivian schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das ist.«

»Ein Wirkstoff, der in Tranquilizern enthalten ist.«

»So etwas würde Paddy nie nehmen.«

»Anscheinend doch. Ich wollte Ihnen das einfach alles sagen, bevor Ihr Lebensgefährte aufgewacht ist. Er wird sich anfänglich vermutlich nicht mehr an alles erinnern – nein, nein, keine Angst, er wird wissen, wer Sie sind, machen Sie sich da keine Sorgen. Es kann nur sein, dass die Erinnerung an den Unfallhergang erst allmählich wiederkommt. Aber da sind eben die Ergebnisse des Tests und die übereinstimmenden Aussagen der Passagiere.«

Vivian sah durch ihn hindurch, während ihr Gehirn mühsam das Gesagte verdaute. »Was … Was ist denn mit den anderen?«, fragte sie. »Die Polizei meinte, dass nur Paddy schwerer verletzt ist.«

»Das stimmt. Es gab eine Frau mit Platzwunde und einen Mann mit verstauchtem Handgelenk, ansonsten sind die Passagiere alle mit einem gehörigen Schrecken davongekommen. Ob da trotzdem noch zivile Klagen auf Ihren Lebensgefährten zukommen, kann ich natürlich nicht sagen. Es wurden wohl auch Züge und Flüge verpasst durch den Unfall.«

Zivile Klagen. Vivian starrte ihn stumm an.

»Im Hinblick auf die Versicherung des Flugzeugs hat es vermutlich schwerwiegende Folgen, wenn bekannt wird, dass der Pilot Substanzen eingenommen hat, die seine Verkehrstüchtigkeit in solch einem Maße einschränken«, hörte sie Dr. Freeman fortfahren. »Aber erst einmal sollten wir froh sein, dass nicht mehr passiert ist und …« Etwas an ihm piepte, und Vivian dachte erst, dass das Geräusch in ihrem Kopf wäre, bis ihr klar wurde, dass Dr. Freeman auf seinen Pager blickte. »Ich muss leider los, Frau Steiner. Wenn Sie meine Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte jederzeit an. Wirklich jederzeit.« Er legte ein weißes Kärtchen auf den Tisch und sah Vivian wie ganz am Anfang über seine Brille an, die Augen wieder auf Normalgröße geschrumpft. »Bis bald, Frau Steiner.«

Vivian schaffte es kaum, ihm zuzunicken und »Danke« zu krächzen. Unbewegt blieb sie sitzen. In ihren Ohren rauschte es, und der Schmerz in ihrem Rücken, in den letzten Stunden verdrängt durch Panik, Sorge und Hektik, kam zurückgekrochen.

»Frau Steiner?«

Sie sah hoch in das Gesicht einer weiteren Frau in Blau.

»Herr Mitchell ist wach!« Die Augen der jungen Frau waren von einer ähnlichen Farbe wie ihre Schwesternkluft und die Flecken auf ihren Wangen so kreisrund, wie Vivian sie als Kind in ihren Bildern immer den Menschen ins Gesicht gemalt hatte. »Da wollen Sie doch sicher zu ihm«, sagte sie so fröhlich, dass Vivian sich verpflichtet fühlte, zu nicken, aufzustehen und in ihren gelben Gummistiefeln zu Paddys Zimmer zu stapfen, auch wenn sie sich gerne noch länger überlegt hätte, was sie ihm sagen sollte.

Kapitel 9

Paddy schloss die Augen, nachdem die Tür hinter Vivian zugegangen war, und wartete, bis er sicher sein konnte, dass sie nicht zurückkommen würde. Dann atmete er hörbar ein und aus.

»Ja, das war in der Tat anstrengend«, sagte der ältere Mann neben ihm wie zur Bestätigung und schickte seiner Aussage noch ein »Ei-ei-ei-ei-ei-ei-ei« hinterher. Er sah zur Decke, denn draußen gab es nichts mehr zu beobachten, es waren keine weiteren Vögel aufgetaucht, nur die Stromleitung war da und zeichnete einen harten Strich durch den trüben Himmel.

Paddy legte wieder einen Arm über die Augen, um sich abzuschirmen von den Worten und der Existenz seines Zimmernachbarn, der während Vivians Anwesenheit in regelmäßigen Abständen Laute von sich gegeben hatte, die seinem Unmut Ausdruck verliehen. Aber er hatte natürlich recht: Ihr Besuch war anstrengend gewesen. Weil Vivian nach Dingen gefragt hatte, die er, Paddy, nicht beantworten konnte. Sie hatte freundlich und leise gefragt, das war nicht das Problem gewesen, und sie hatte so hübsch ausgesehen mit den wuscheligen Haaren und irgendwie mädchenhaft und zart in der großen, grünen Jacke. Aber mit jedem weiteren »Das weiß ich nicht« von ihm war sie blasser, war ihre Stimme gepresster geworden.

Warum in alles in der Welt bist du denn gestern Abend doch noch geflogen?

Warum hast du Lenny nicht angerufen, auf diesen einen Flug kam es doch wirklich nicht an.

Dir muss es richtig schlecht gegangen sein, hast du das gar nicht gemerkt?

Hast du denn … irgendetwas genommen vor dem Flug, damit du … damit du dich besser fühlst?

Was ist beim Landen passiert, Paddy?

Er wusste das alles nicht. Er wusste, wer Vivian war, und freute sich, sie zu sehen. Er wusste, dass er einen Hund hatte, und bat Vivian, sich um ihn zu kümmern. Aber er wusste nicht, wie er auf ihre Fragen antworten sollte. Das einzige Bild, das ihm immer wieder klar in den Sinn kam, war der rotgetönte Himmel mit den Federwolken. Alles andere konnte er nicht benennen. Es war, als stünde er auf einem zugefrorenen See und unter ihm tummelten sich schemenhafte Gestalten, die aus der dunklen Tiefe nach oben schossen, um an die Oberfläche zu kommen und nach Luft zu schnappen. Er sah sie auf sich zukommen, aber bevor er genau erkennen konnte, wie sie aussahen, stießen sie an die dicke Schicht aus Eis zu seinen Füßen und taumelten zurück nach unten.

»Ach herrje«, seufzte sein Zimmernachbar.

Paddy drehte sich von ihm weg, soweit es sein Bein zuließ. Sein Oberschenkel war gebrochen, das hatte ihm Vivian erklärt, er sei operiert worden, aber er trage keinen Gips, sondern einen sehr festen Verband.

Wie geht es dir?

Das war die einzige Frage, die er Vivian beantworten konnte. Gut, hatte er gesagt, eigentlich ganz gut. Tatsächlich hatte er sich wohlgefühlt, als sich die erste Verwirrung nach dem Aufwachen gelegt hatte, ein bisschen wie in Watte gepackt. Wahrscheinlich noch wegen der Narkose, hatte Vivian vermutet, aber er war sich nicht sicher. War es nicht normal, sich gut zu fühlen, wenn man einen Flugzeugunfall glimpflich überstanden hatte? Vivian hatte genickt, als er das gefragt hatte, und sich kurz weggedreht, dann erklärt, dass sie sich nun um Tesco kümmern und morgen wiederkommen werde.

»Ui, ui, ui, ui«, murmelte sein Zimmernachbar. »Das ist doch alles … man-man-man.«

Paddy heftete seinen Blick auf die Tür, die im selben Moment aufging. Als habe das Schicksal ein Einsehen mit ihm, der sich in den Fängen eines unermüdlichen Dauergrummlers befand.

Es war die Schwester mit den roten Backen, wobei sie jetzt deutlich blasser aussah, ein wenig so wie Vivian, nachdem sie festgestellt hatte, dass er auf ihre Fragen nichts zu sagen wusste.

»Herr Mitchell, sind Sie wach?«

Er fand ihre Frage seltsam, weil er sie doch mit offenen Augen ansah, aber vielleicht wollte sie ihm auch etwas mitteilen, weil sie sich so seltsam durch die halb geöffnete Tür schob und ihren Rücken dagegen lehnte.

»Sind Sie munter?«, fragte sie.

»Ähm. Ja?«, sagte er vorsichtig.

»Es sind zwei Herren hier, die Sie gerne sprechen möchten. Sehen Sie sich dazu in der Lage?« Sie sah ihn eindringlich an, ohne mit den Wimpern zu zucken, fast beschwörend, fand er, aber er war sich nicht sicher.

»Mir geht es ganz gut«, sagte er wie zu Vivian vorher.

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ich denke, dass ich …«

»Gut«, sagte die Schwester, und er meinte, einen Anflug von Enttäuschung in ihrem Gesicht zu kennen. »Wenn Sie das sagen. Dann lasse ich die zwei jetzt herein.« Sie öffnete die Tür. »Bitte sehr, meine Herren, Sie können kommen.«

»Oi-oi-oi«, murmelte Paddys Nachbar, als er die beiden Polizeibeamten sah, und richtete sich zum ersten Mal in seinem Bett auf. »Ei-ei-ei-ei-ei-ei.«

Vivian hatte das letzte Mal die Fähre nach St. Mary’s genommen, als sie zur Beerdigung ihres leiblichen Vaters angereist war. Seitdem hatte sie immer das Flugzeug und die zwanzig Minuten gewählt, die man damit vom Festland auf die Insel brauchte, aber heute wollte sie drei Stunden auf Wellen schauen und ihre Ruhe haben. Nach dem Besuch bei Paddy war sie erst eine Stunde ziellos durch Penzance gelaufen, bis sie schließlich am Hafen festgestellt hatte, dass die Scillonian III in Kürze auslief.

Nachdem ihr Telefon ausreichend geladen gewesen war – die Apfelbäckchen-Schwester hatte ihr tatsächlich sofort ein Ladekabel gebracht –, hatte eine minutenlange Klingel-Kaskade das Krankenzimmer erfüllt, die beide Patienten auf akustische und gestenreiche Weise missbilligten. Der alte Mann stöhnte laut, klappte sein Kissen über beide Ohren, und Paddy schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, bis der letzte Ton verklungen war.

»Fertig?«, fragte er dann mit heiserer Stimme.

Vivian stellte das Telefon auf stumm. »Zumindest mit einem Prozent deiner Freundinnen und Freunde.«

Alle, die in der Nacht an ihrer schnellen Übersetzung nach Penzance beteiligt gewesen waren, hatten sich mehrfach nach Paddy erkundigt, dazu Mabel ungefähr ein Dutzend Mal. In ihrer ersten SMS um sieben Uhr morgens hatte sie noch gefragt, wann sie sich treffen würden wegen des Fotoshootings. Gegen acht musste ihr jemand von Paddys Unfall erzählt haben, denn danach hatte sie alle paar Minuten nachgefragt, wie es ihm gehe, bevor sie sich vermutlich zur Ruhe gezwungen hatte für eine Stunde, danach waren wieder mehrere Nachfragen eingegangen.

Mabel war die Einzige, der Vivian jetzt antwortete, während die Fähre das Hafenbecken verließ. Sie gab Entwarnung, was Paddy anging, und bat sie darum, Tesco zu füttern und in den Garten zu lassen. Sie selbst hätte den Hund völlig vergessen, es war Paddy gewesen, der ihn erwähnte, noch bevor sie über sein eigenes Befinden hatten sprechen können. Dann schaltete sie das Handy aus und sah den Häusern an der Hafenfront beim Kleinerwerden zu.

Die Wolken hingen so tief über Penzance, als dächten sie darüber nach, sich die Stadt einmal genauer anzusehen. Als überlegten sie, sich zuerst von den Spitzen des Kirchturms kraulen zu lassen und dann durch die Straßen und Gassen weiterzugleiten: über die Köpfe im Jubilee Pool hinweg, im Slalom um die Masten der Fischdampfer am Ende der Hafenpromenade und schließlich durch die Räume des Penlee House, wo sie vor Sketch of a Hopeless Dawn zum Halt kämen, dem Entwurf zu dem berühmtesten Bild des Malers Frank Bramley.

Vivian fror. Bei ihrer letzten Fahrt mit der Fähre war das Wetter traumhaft gewesen, das Meer ein Teppich aus sanften Wellen und glitzernden Lichtreflexen. Delfine hatten sie begleitet und Vivian ein wenig die Furcht vor den anstehenden Ereignissen genommen. Heute war alles trüb und farblos, der Atlantik, der Himmel, die Gesichter der Passagiere, ihre Situation.

Sie würde zu Hause über alles nachdenken und eine Lösung finden, aber nicht jetzt auf dem Meer, in diesem wogenden Transitraum zwischen zwei Orten, wo sie sich nicht der Realität stellen musste. Das Ufer und die Fragen und Forderungen kamen noch früh genug. Jetzt einfach zwei Stunden nur atmen und den Möwen hinterherschauen.

Beim Einlaufen in den Hafen schaltete sie ihr Handy ein, und wie vorhin im Krankenhaus und wie Stunden davor im Mermaid Inn hörte es minutenlang nicht mehr auf zu vibrieren. Mabel. Wieder Mabel. Mabel, Mabel, immer nur Mabel. Mabel hatte mindestens zwanzig Mal versucht, sie anzurufen, und schließlich auch eine Nachricht geschickt. Als Vivian sie gelesen hatte, seufzte sie und ging raschen Schrittes in Richtung Gangway, wo sich schon eine Gruppe Menschen gebildet hatte.

Kapitel 10

Der Morgen hatte gut begonnen für Mabel Mallory, auch wenn der Himmel weiß und wenig verheißungsvoll gewesen war. Aber es tat nichts weh, als sie aus dem Bett stieg, nicht die Hüfte, nicht das Handgelenk, nicht einmal die Zehen ihres rechten Fußes machten sich bemerkbar, die sie sonst vom ersten Schritt des Tages an plagten. Gereizte Nervenbahnen, hatte Toby gesagt, den sie schon Anfang des Jahres eines Morgens deswegen konsultiert hatte. Sie werde konsequent Einlagen tragen müssen. Sonst könne sich ein Knoten aus Nervengewebe bilden, das Morton Neurom, und eine Operation notwendig machen. Cortison-Spritzen würden vielleicht erst auch einmal helfen, aber eben nur in Kombination mit perfekt an ihren Fuß angepassten Einlagen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134049
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Liebesroman New York Meer Cornwall Neubeginn London England Reise Liebe

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Tausche Alltag gegen Horizont