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Alarmstufe Blond

Ein Landarzt zum Verlieben

von Johanna Marthens (Autor:in)
170 Seiten

Zusammenfassung

Der Landarzt ist definitiv der attraktivste Mann, der mir je begegnet ist. Und als ich nach einem Unfall mit blutender Kopfwunde vor ihm stehe, ahne ich bereits, dass er mein Untergang sein wird. Oder ist diese Begegnung der Anfang einer großen, romantischen Liebe? Stadtpflanze Pippa kommt in ein winziges Dorf, wo jeder jeden kennt. Als sie nach einem Unglück beim Dorfarzt landet, verliebt sie sich Hals über Kopf in ihn und versucht danach, einen guten Eindruck bei ihm zu hinterlassen - mit mäßigem Erfolg, um es freundlich zu formulieren. Ihr passiert ein Missgeschick nach dem anderen, und jedes Mal landet die Chaosbraut beim sexy Doktor. Doch dann macht Pippa einen katastrophalen Fehler, vor dessen Konsequenzen sie nicht einmal der attraktivste Arzt der Welt retten kann … LESERMEINUNGEN: *5,0 von 5 Sternen In gewisser Weise bin ich eine Leseanfängerin. Seit Jahrzehnten keine Bücher mehr gelesen ... Zu Weihnachten gönnte ich mir einen Kindle. Dies war das erste Buch, welches ich las. Direkt bei den ersten Seiten bekam ich mehrere Lachanfälle, so dass mein Sohn mich fragte, was denn los sei. Diese Geschichte war so herrlich zu lesen. Ich war immer gespannt, wie es weitergehen würde. Das haben viele Bücher vorher nicht geschafft ... Gefällt mir sehr gut. * Stadt - Land - Liebe Pippa ... möchte in ihrem Urlaub ein Haus, das ihre Freundin Carolin erworben hat, wohnlich herrichten. Wie sie im Örtchen Frankenstein ankommt und sich zurechtfindet. Warum es ihr leichter fällt als gedacht, auf einiges zu verzichten, und zu guter letzt, warum Unfälle manchmal Glücksfälle sind. Bitte bitte nehmt euch die Zeit und lest das Buch. * Sehr witzige, kurzweilige Unterhaltung Wer sich amüsieren will und nette Unterhaltung sucht, ist hier genau richtig. * Witzig und lesenswert * 5,0 von 5 Sternen Es ist so ein typisches Frauenbuch. Es hat Witz, Charme und ist einfach klasse. Kann ich nur weiterempfehlen. * schöner kurzweiliger Liebesroman ein wirklich schönes kurzweiliges Buch mit Happy End, eine typische Liebesgeschichte und somit eine super schöne Sommerlektüre für den Urlaub, empfehlenswert * Herrlich diese Vorurteile, die auch noch bestätigt werden. Könnte mir dieses Buch auch als Film vorstellen. Unterhaltsam und Angriff auf die Lachmuskeln ... * Ein angenehmer Zeitvertreib Die Geschichte ist niedlich und einfach nur herrlich unbekümmert, genau das richtige, um mal so richtig abzuschalten ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

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Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit real lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

©Johanna Marthens, 2021

 

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 

 

 

 

Den Reichtum eines Menschen misst man an den Dingen, die er entbehren kann, ohne seine gute Laune zu verlieren.

Henry David Thoreau

Inhaltsverzeichnis

 

TAG 1

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TAG 6

TAG 7

TAG 8

TAG 9

TAG 10, jedoch erst aufgeschrieben am TAG 11

TAG 11

TAG 12

TAG 13

TAG 14

TAG 15

TAG 16

TAG 17

TAG 18

TAG 19

TAG 20

TAG 1 IM NEUEN LEBEN

Über die Autorin

Impressum

TAG 1

3.Juli, noch 14 Tage bis zum Erstschlag

 

 

ES HÄTTE SCHLIMMER kommen können. Ehrlich.

Pippa, dachte ich, sei froh, dass sie überhaupt Straßen haben, auch wenn diese mehr Feldwegen gleichen und noch nie Teer oder Asphalt aus der Nähe gesehen haben. Freu dich, dass die Schlaglöcher nur bis zu den Knien reichen und man nicht gleich den Bergrettungsdienst rufen muss, falls man mal hineinfällt. Und genieße es, dass die Bewohner tatsächlich von diesem Planeten stammen, auch wenn sie mich anglotzen, als wäre ich eine Außerirdische.

Ich erinnerte mich dunkel daran, in einer Talkshow gehört zu haben, dass es gesund sei, positiv zu denken und in allem etwas Gutes zu sehen. In dem Moment, als ich in das Dorf mit dem wenig versprechenden Namen »Frankenstein« fuhr, fühlte ich mich unglaublich gesund. Denn was ich da zu sehen bekam, hätte mir fast Schreckenslaute ohne Ende entlockt, aber ich zwang mich weiterhin zum Optimismus. Langsam zuckelte ich, tiefe Schlaglöcher vermeidend, in meinem türkisfarbenen Kleinwagen (Türkis passt hervorragend zu meinem Teint und den blonden Haaren) die Hauptstraße hinunter, an der kleinen Kirche vorbei, und hielt nach dem Ziel meiner Reise Ausschau. Frankenstein 18 lautete die Adresse, es sollte ein leer stehendes Haus mitten im Ort sein – und mein Heim für die nächsten drei Wochen.

Ich seufzte leise bei dem Gedanken an diese kommenden Tage, die ich, fernab meiner geliebten Stadt und jeglicher Zivilisation, in diesem Kaff zubringen musste, und schielte vorsichtig auf die Bewohner, die beim Klang meines Wagens neugierig aus ihren Häusern gelaufen kamen. Sie sahen aus wie Menschen, hatten zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf. Als ein Mann seine Hand zum Gruß hob, erblickte ich sogar fünf schmutzige Finger. Eindeutig Homo sapiens. Immerhin befand ich mich wirklich noch auf der Erde.

Wieder wollte ich seufzen, doch zum Wohle meiner Gesundheit rief ich mich schnell zur Ordnung. Positiv denken, Pippa. Drei Wochen, in denen du dich nicht mit deiner neurotischen Chefin herumärgern musst. Drei Wochen, in denen du in Ruhe deine nicht vorhandene Karriere in Gang setzen kannst. Drei Wochen, in denen du dich voll und ganz um die Einrichtung eines Hauses für deine Freundin Caroline kümmern wirst …

Ich wollte gerade noch etwas Positives zu der Liste hinzufügen, als mein Fuß erschrocken vom Gaspedal rutschte, sodass der Motor mit einem hungrigen Ächzen erstarb und mein Auto ungehalten stehenblieb. Verwirrt drehte ich mich zur Seite und starrte zum Fenster hinaus. War das wirklich schon die richtige Adresse? Rechter Hand erblickte ich ein herrschaftliches Haus mit zwei Stockwerken. Außen blätterte etwas Farbe ab, an einer Wand rankte Efeu bis zum Dach. Der Garten war verwildert, aber ansonsten sah das Anwesen beeindruckend groß und imposant aus. Das konnte doch nicht sein! Ich hatte eine kleine Hütte erwartet, maximal ein Bauernhaus mit drei Zimmern, aber keine Villa. Doch die Hausnummer, die etwas ranzig neben dem Tor prangte, belehrte mich eines Besseren. Nummer 18. Falls ich mich tatsächlich im richtigen Dorf befand, war dieses Haus das Ziel meiner Reise. Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte zum Klingelschild, wo für sehbehinderte Besucher noch einmal die Hausnummer in Übergröße stand. Die besagte dasselbe. Ich war angekommen.

Langsam stieg ich aus und schnupperte in die Luft.

Es roch anders. Es roch … nach Sauerstoff. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob man Sauerstoff wirklich riechen konnte, aber falls man es konnte, musste er so riechen. Sauber. Als wäre die Luft frisch gewaschen. Hin und wieder huschte ein Hauch Kuhmistaroma durch den Duft, aber das kann dir bei frischer Wäsche auch passieren (Hände weg von Billig-Waschmitteln, ich weiß, wovon ich spreche!).

Ich holte tief Luft und verschluckte mich sofort. Nach sechsundzwanzig Jahren Stadtluft mit ihrer täglichen Dröhnung an Auspuffgasen, Staub, Essens- und anderen Lebensausdünstungen aus jedem Fenster und Türspalt, waren es meine Lungen einfach nicht gewohnt, soviel Sauerstoff zu bekommen. Wie, wenn man seine Zimmerpflanze im Frühling zu früh auf den Balkon stellt und sie Sonnenbrand bekommt. Hustend und prustend von meinem inneren Sonnenbrand beziehungsweise meiner Sauerstoffvergiftung torkelte ich zum Tor und stieß es auf. Es knarrte und quietschte und übertönte damit, Gott sei Dank, meinen Hustenanfall, sodass ich in der Stille des Dorfes nicht noch unangenehmer auffiel.

Langsam beruhigten sich meine Lungen und ich ging zu der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte. Dort angekommen musste ich mich erst einmal am Geländer abstützen. Mir war schwindelig. Offensichtlich blockierten die Sauerstoffatome wichtige Hirnwindungen und sorgten für ein Karussell in meinem Kopf. Schnell machte ich mir eine geistige Notiz, über Nacht den Motor meines Wagens vor dem Schlafzimmerfenster laufen zu lassen, um meinen Lungen ihr gewohntes Abgasgemisch zukommen zu lassen. Wie Caroline das in Zukunft aushalten wollte, war mir ein Rätsel, aber sie war auch aus einem anderen Holz geschnitzt als ich. Sie kam mit der Stadt nicht zurecht und wollte ihr den Rücken kehren.

Ich konnte ihre Entscheidung überhaupt nicht nachvollziehen. Was waren schon ein paar Hautprobleme gegen den Luxus, an jeder Ecke Schuhläden zu finden, Eisdielen, Waxing-Studios und Friseure und auch alle anderen Gelüste sofort befriedigen zu können? Seitdem Caroline von einem Arzt die Diagnose einer dubiosen Hautkrankheit aufgrund von schlechter Luft, Stress und permanenter Lärmbelastung erhalten hatte, war sie nicht wiederzuerkennen. Sie badete in Quark, ging mit den Hühnern schlafen und wusch ihre Haare mit einem Extrakt aus Eiern und Avocados. Wenn man sie zu Hause überraschte, traf man sie mit Honig im Gesicht an, vorzugsweise bekleidet mit einem Schlafanzug aus handgepflückter, ökologisch sauberer, fair gehandelter Baumwolle und mit Knöpfen aus Horn. Und kürzlich hatte sie verkündet, ihr erspartes Geld statt in schicke Kleider, Kinokarten und elegante Schuhe, in ein Haus auf dem Land in der Nähe eines Sees angelegt zu haben.

Und vor dem stand ich nun. Es war kein Schloss, aber von außen betrachtet wirklich mehr als annehmbar. Sie hatte einen guten Kauf getätigt.

Gemächlich stieg ich in meinen kurzen Hosen und den Absatzschuhen die Treppe hinauf und fummelte den Haustürschlüssel, den mir Caroline mitgegeben hatte, aus meiner Handtasche. Er passte perfekt ins Schloss.

Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet habe, vielleicht ein Wunder wie in einem Märchen, in dem das Haus voller schöner Möbel stand, die nur darauf warteten, dass jemand sie wieder zum Leben erweckte. Als die Tür aufschwang, empfing mich jedoch nur gähnende Leere. Die Räume strahlten Kühle aus, Tapeten hingen in Fetzen herunter, ein paar Bretter lagen herum, ebenso ein einzelner Stuhl. Es roch muffig, als sei jahrelang nicht gelüftet worden.

Ich schloss die Tür hinter mir und stöckelte die Treppe hinauf. Im Obergeschoss erwartete mich dasselbe Bild: leere Räume, renovierungsbedürftige Wände und schmutzige Böden. Ich seufzte leicht, obwohl sie mir genau diesen Anblick eigentlich angedroht hatte. Deshalb war ich hier. Ich sollte für Caroline das Haus in Ordnung bringen, damit sie am Ende des Monats einziehen konnte. Allerdings hatte es in meiner Vorstellung nicht ganz so trostlos ausgesehen.

Erneut an meine Gesundheit denkend, versuchte ich, etwas Positives an meiner Aufgabe zu finden, doch das fiel mir in dem Moment unglaublich schwer. Ich holte tief Luft, um einmal aus tiefstem Herzen zu stöhnen, doch ein weiterer Hustenanfall machte meinen Plan zunichte. Verdammt, war dieser Sauerstoff sogar ins Haus eingedrungen?

Schlurfend schlenderte ich über den alten Dielenboden, klopfte mit den Händen wie wild gegen die Wände und riss ein paar Tapetenfetzen ab, sodass bald der Staub in den Räumen tanzte. Vorsichtig holte ich wieder tief Luft. Kein Husten. So würde ich es aushalten können.

 

***

 

ZWEI STUNDEN SPÄTER hatte ich fünf Koffer und drei Taschen mühsam aus meinem Auto ausgeladen, wobei mich zwei neugierige Augenpaare die ganze Zeit verfolgten. Sie gehörten zu einem alten Mann in einer schmutzigen Hose und einem grauen Hemd, das aussah, als wäre es vor vielen Jahren einmal weiß gewesen, und einer Frau im mittleren Alter, die Jeans und T-Shirt trug. Sie wohnten direkt nebenan in einem kleinen, von Efeu überwucherten Haus und winkten hin und wieder zu mir herüber.

Ich tat so, als würde ich sie nicht sehen, um gar nicht erst in Verlegenheit zu geraten, mich mit ihnen unterhalten zu müssen. Ein Gespräch mit Einheimischen war das Letzte, worauf ich heute Lust hatte. Ich wollte einfach nur das Haus inspizieren, damit ich wusste, was auf mich zukam, dann essen gehen, ein paar SMS an Caroline schicken und den Rest des Tages mit meinem Computer im Internet verbringen, um noch ein paar Sommersachen zu shoppen. Einen neuen Badeanzug zum Beispiel, da es ja hier in der Nähe einen See geben sollte und mein alter nicht mehr der neuesten Mode entsprach.

Es begann zunächst alles ganz geschmeidig nach Plan zu laufen, bis auf einen kleinen Zwischenfall auf der Treppe, als sich plötzlich meine Matratze aufwickelte und der Länge lang auf der Treppe lag, wo sie langsam Stufe für Stufe hinunterrutschte. Ich setzte mich schnell darauf, in der Hoffnung, mein Gewicht würde sie aufhalten, doch mein Einsatz hatte nur den Effekt, dass ich mitgerissen wurde und gut durchgeschüttelt unten ankam. Vorsichtig blickte ich mich um. Wie es aussah, war diese Peinlichkeit von meinen Nachbarn unbemerkt geblieben.

Danach richtete ich mich stolz wieder auf und versuchte, die Matratze unter den Arm zu klemmen, doch sie war zu breit. Ich nahm sie auf den Rücken, aber erneut widersetzte sie sich. Schließlich zog ich sie an einer Ecke die Treppe nach oben, wodurch sie sehr viel Staub aufwirbelte, was mir wiederum beim Atmen half.

Schließlich war alles ausgeladen und ich saß schweißgebadet auf dem einzigen Stuhl im Wohnzimmer und sah zu, wie sich der Staub langsam setzte. Bevor ich wieder Atemnot bekam, sprang ich auf und begann, mit einem Besen die Räume auszufegen. Ich pfiff sogar ein Liedchen dabei, so sehr erinnerte mich die Luft in den Räumen nun an mein städtisches Zuhause an einer dichtbefahrenen Straße.

Als das erledigt war, warf ich den Dreck in einen mitgebrachten Eimer und stellte ihn für den Notfall in die Ecke. Bei einer drohenden Sauerstoffvergiftung konnte ich meinen Kopf hineinhalten.

Danach wollte ich eigentlich nach draußen gehen und mit dem Auto nach einem Restaurant Ausschau halten, weil mein Magen drohend zu knurren begonnen hatte, doch da entdeckte ich eine Treppe. Sie war mir vorher gar nicht aufgefallen, weil sie sich hinter einer Tapetentür versteckte. Aber da ich einige Tapetenbahnen heruntergerissen hatte, klaffte die Lücke zwischen Tür und Wand auffällig deutlich und lud förmlich zu einer Indiskretion ein.

Ich öffnete vorsichtig die Tür und stieg die Stufen hinauf. Es war dunkel, nur diffuses Licht von oben beleuchtete den Weg. Als ich die letzte Treppenstufe erreichte, sah ich mich um. Ich befand mich auf dem Dachboden. Die Sonne schien schräg durch das kleine Dachfenster und malte einen hellen Fleck auf den dunklen Dielenboden. Ein paar Bretter lagen herum, dahinter entdeckte ich einen alten Koffer und eine Kiste. Neugierig ging ich auf die Kiste und den Koffer zu, dabei darauf Acht gebend, mir nicht den Kopf an den schrägen Dachbalken zu stoßen.

In der Kiste lag Gerümpel: ein Pokal, eine CD mit Liedern von U2, eine Lederweste, ein paar leere Schulhefte, ein Teddybär ohne Ohren. Kein verborgener Schatz, keine Juwelen, nicht einmal eine Erstausgabe von »Robinson Crusoe«.

Auch im Koffer befand sich nichts Besonderes, nur ein paar alte Kleidungsstücke, ein Kerzenständer und ein paar Bücher über die Anatomie des menschlichen Körpers. Enttäuscht wollte ich den Koffer wieder zuklappen, als mir doch etwas ins Auge fiel. Es war die Ecke eines Holzrahmens, die zwischen den Sachen hervorlugte. Ich zog den Rahmen hervor und fühlte mich wie vom Donner gerührt. Von dem Foto blickte mir das Gesicht meines Traummannes entgegen. Der Typ sah umwerfend aus. Ende Zwanzig, dunkle, kurze Haare und rehbraune Augen. Durch sein Lächeln zeigte sich ein zartes Grübchen auf der linken Wange. Er war definitiv der attraktivste Mann, der mir je in meinem Leben begegnet war. Dabei waren mir schon viele gut aussehende Männer über den Weg gelaufen, in der Stadt traf man sie an jeder Ecke, aber, wie soll ich sagen, keiner hatte bisher einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Oder ich bei ihm. Nach zwei Jahren Beziehung zu einem Mann, den ich während des Studium kennengelernt hatte, Ralph, musste ich feststellen, dass er eigentlich die ganze Zeit in meine Freundin Josephine verliebt und mit mir nur zusammen war, um hin und wieder in ihrer Nähe sein zu können. Daraufhin hatte ich mich sowohl von ihm als auch von Josephine getrennt, obwohl die eigentlich nichts für das Dilemma konnte.

Seitdem war ich Single und ein gebranntes Kind, und ich würde es wohl auch bleiben, denn der Mann meiner Träume, der mir von diesem Foto entgegenlächelte, war offensichtlich vergeben. Neben ihm stand eine Frau, wie man sie sich nicht schöner vorstellen konnte. Sie hatte ein Lächeln wie von einer Zahnpasta-Werbung und lange braune Locken, die ihr perfektes Gesicht umspielten. Die beiden sahen aus wie das glücklichste Paar auf der ganzen Welt.

Mein Herz begann bei diesem Anblick zu schmerzen. Warum sah er mich nicht so an? Gut, er kannte mich nicht. Das war ein triftiger Grund. Aber selbst wenn ich ihm begegnen würde, würde er sich vermutlich niemals in mich verlieben. Mein strohblondes Haar machte immer, was es wollte, und die Männer dachten, es bedeckte ein leeres Köpfchen, sodass sie bitter enttäuscht waren, wenn ich ihnen von meinem Studienabschluss erzählte. Außerdem besaß ich eine viel zu helle Haut und grüne Augen, von denen mein Ex einmal gesagt hatte, dass sie wie Moos aussahen. Moos! Bei Moos musste ich immer an alte, faltige Baumstämme oder eine betagte Schildkröte denken, aber nicht an eine sexy Geliebte und Traumfrau. Er vermutlich auch nicht, deshalb war er mehr an Josephine mit ihren braunen Haaren und blauen Augen interessiert gewesen.

Ich seufzte leise und nahm das Bild noch einmal zur Hand, um auf der Rückseite zu sehen, wie die beiden hießen, aber da stand nichts. Vorsichtig strich ich mit dem Finger über sein Gesicht. Es hätte ja sein können, dass wie bei Aladdin und seinem Dschinn etwas passierte, nur dass es sich statt um eine alte Lampe um ein Foto handelte. Aber diese Geste erweckte ihn nicht zu Leben.

Als auch beim dritten Darüberstreichen nichts passierte, legte ich das Foto zurück in den Koffer. Was ich mit dem ganzen Krempel machen würde, wusste ich allerdings noch nicht. Er musste den vorherigen Besitzern gehört haben, aber wer das war, entzog sich meiner Kenntnis. Also würde ich vermutlich alles wegwerfen.

Ich stand auf und stakste zurück zur Treppe. Doch wie so oft in meinem Leben, klafften an diesem späten Nachmittag Absicht und Durchführung weit auseinander. Die Abendsonne machte mir leider einen Strich durch die Pläne, unbeschadet die Stufen hinunterzugelangen. Sie musste gemerkt haben, dass ich eine Stadtpflanze war, die die Sonne nur hin und wieder im Park antraf, sie aber sonst in den Häuserschluchten nie zu sehen bekam, und falls doch, nur durch mehrere Staubschichten hindurch. Durch das Dachfenster verpasste sie mir jedenfalls eine volle Ladung. Von den schräg stehenden Strahlen geblendet übersah ich die erste Stufe.

Ich weiß nicht mehr, was lauter war, mein Schrei oder das Poltern, das mein Fallen verursachte. Jedenfalls lag ich ein paar Sekunden später mehrere Treppenstufen tiefer eingequetscht neben der Tür und hielt mir alle Knochen, die ich in meiner Lage berühren konnte. Mir tat alles weh, von oben bis unten.

Sobald ich wieder einigermaßen klar denken konnte und wusste, dass ich Pippa Stoltz hieß, sechsundzwanzig Jahre alt war und als ewige Redaktionsassistentin bei einer bekannten Frauenzeitschrift arbeitete, machte ich den Schnellcheck. Ich versuchte, von unten nach oben jeden Knochen zu bewegen und auf seine Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Die Zehen schmerzten zwar, aber nicht über Gebühr. Nichts gebrochen. Auch die Beine schienen heil zu sein. Meine Hüfte war verdreht, aber auch nicht gebrochen, dasselbe mit den Armen und Händen. Was mein Schädel sagte, war eine andere Sache. Irgendetwas stach unheimlich schmerzhaft in meiner Schläfe. Ich griff mit der Hand, die weniger wehtat, an die Stelle. Etwas Rotes, Flüssiges klebte an meinen Fingern. Ich blutete.

Mühsam stand ich auf und hinkte durch die Tapetentür zurück ins Haus und dann vorsichtig hinunter ins Freie, bis ich auf der Straße stand. Wohin wollte ich eigentlich? Gab es in diesem Nest einen Arzt? Brauchte ich überhaupt einen oder half nicht vielleicht ein Pflaster weiter?

Vorsichtig tastete ich wieder meine Schläfe ab, doch die Wunde schien größer zu sein, als ich gehofft hatte. Das Blut rann über meine Finger und lief den Arm hinunter.

»Ich bringe Sie zum Arzt«, sagte plötzlich eine weibliche Stimme neben mir. Ich hatte keine Ahnung, woher sie gekommen war, vermutlich befanden sich wichtige Teile meines Gehirns im Schockzustand und versagten ihren Dienst. Ich nickte, was einen leichten Schwindel in meinem Kopf hervorrief. Dann wurde ich vorsichtig zu einem altersschwachen Trecker geführt, der ebenso plötzlich neben mir stand. Nur wenige Augenblicke später tuckerten wir die Straße hinunter, wobei mein Kopf durch das Poltern über die Schlaglöcher noch mehr dröhnte. Kurz danach hielten wir vor einem hellen, einstöckigen Gebäude an.

Die Frau, ich hatte sie inzwischen als meine Nachbarin identifiziert, half mir beim Runtersteigen und führte mich zu einer hellbraunen Tür, die sie aufstieß. Dahinter verbarg sich ein Wartezimmer ohne Patienten. Die Sprechstunde war längst vorüber.

»Leonard! Doktor Diercksen! Ein Notfall!«, rief die Frau und setzte mich auf einen Stuhl, bevor sie zu einer Theke am Ende des Raumes sprang, auf dem sich eine Klingel befand.

›Wie im Hotel‹, dachte ich und wollte noch etwas ähnlich Unsinniges dranhängen, als sich eine Tür öffnete und … mir klappte die Kinnlade herunter. Ich muss gestehen, für einen erschreckend langen Moment dachte ich, jetzt sei es gänzlich aus und vorbei mit mir. Ich befürchtete, mein Sturz hätte größere Schäden in meinem Kopf verursacht und ich halluzinierte nun. Denn vor mir stand der Mann von dem Foto auf dem Dachboden. Nur ein bisschen älter – und noch attraktiver.

Ich musste ihn angesehen haben wie eine Frau, die ihren toten Großvater aus dem Sarg auferstehen sieht, denn er kam sofort auf mich zugestürzt und führte mich in das Sprechzimmer, wo ich mich in einen bequemen Stuhl setzen musste, während er eifrig mit seltsamen Gerätschaften hantierte und dann eine Spritze aufzog.

Er redete dabei auf mich ein, aber, ehrlich gesagt, kann ich mich kaum daran erinnern, und ich will auch nichts Falsches wiedergeben. Dabei nähte er die Wunde. Oder tackerte sie, ich bin mir nicht mehr so sicher. Jedenfalls hörte sie auf zu bluten. Er röntgte auch meinen Kopf und stellte glücklicherweise keinen Schädelbruch fest. Danach stellte er mir ein paar Fragen zu meiner Person, die ich nur mit viel Mühe und mit schleppender Sprache beantworten konnte, weil die Spritze inzwischen nicht nur den Schmerz in meiner Schläfe, sondern auch meinen halben Gesichtsnerv lahmgelegt hatte. Daher denke ich, dass er mich für eine Vollidiotin gehalten haben muss, oder für jemanden mit einem schweren Hirnschaden, was in meinem Fall ja näher lag. Aber er ließ es sich nicht anmerken.

»Ich habe Sie schon gesehen«, murmelte ich und wurde dabei das Gefühl nicht los, die Betäubungsspritze habe nun auch meine Hemmschwelle für abgedroschene Anbaggersprüche runtergesetzt. Fehlte nur noch, dass ich ihn nach seiner Telefonnummer fragte.

»Ich bin der Arzt hier im Dorf, man sieht mich häufig«, lächelte er und klebte ein Pflaster auf meine Schläfe.

»Das meine ich nicht«, versuchte ich zu artikulieren, doch es kam nicht ganz so deutlich raus. »Ich renoviere das Haus meiner Freundin, dort war Ihr Foto auf dem Dachboden in einer Kiste.« Es klang wie eine Frage nach dem Wetter in irgendeinem, längst ausgestorbenen Eskimo-Dialekt. Ich verstand mich, ehrlich gesagt, selbst nicht.

Er antwortete auch nicht darauf. Vielleicht sollte ich mit meiner Eröffnungsrede für einen Flirt lieber warten, bis ich wieder Herrin über meine fünf Sinne und Gesichtsnerven war. Immerhin erhaschte ich einen Blick auf seine Hand und spürte wider Willen ein zartes Herzklopfen, als ich dort den obligatorischen Ehering vermisste. Doch das besagte gar nichts. Vermutlich trug er ihn nicht bei der Arbeit, um ihn bei dem häufigen desinfizierenden Händewaschen nicht zu verlieren. Ich befand mich zwar nicht in der Chirurgie, aber Ärzte mussten doch immer sterile Hände haben, oder etwa nicht?

Nachdem er mich noch mehrere Male durchgecheckt hatte und diagnostizierte, dass ich außer der Platzwunde am Kopf keine Schäden davongetragen hatte, durfte ich wieder gehen. Allerdings mit der Auflage, mich sofort hinzulegen und zu ruhen und in zwei Tagen wieder bei ihm vorbeizuschauen.

Ich nickte kurz, dann verabschiedete ich mich von ihm und ging.

»Und? Was sagt er?«, fragte meine Retterin mit dem Traktor, als ich zu ihr ins Wartezimmer zurückkam.

Ich zuckte leicht mit den Schultern. »Ich habe eine Platzwunde«, nuschelte ich und zeigte mit der Hand auf meine Schläfe, für den Fall, dass sie mich nicht verstand, was sehr wahrscheinlich war.

Sie nickte wissend. »Doktor Diercksen ist ein guter Arzt. Sie werden sehen, bald sind Sie wieder auf den Beinen und es bleibt nicht einmal eine Narbe.«

Ich wollte die gute Frau noch fragen, was denn Frau Diercksen so mache, aber da hatte sie schon den Motor ihres Treckers angeworfen und meine unverständlichen Worte wurden von seinem Tuckern verschluckt.

Wortlos ließ ich mich in das Haus zurückfahren, wo ich mich bei meiner Nachbarin für ihre Hilfe bedankte, was sie mit einem besorgten Kopfschütteln hinnahm. »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie Bescheid«, sagte sie. »Bei uns können Sie auch telefonieren.«

»Danke«, erwiderte ich. »Ich habe ein Handy.«

»Das nützt Ihnen hier nicht viel. Sie haben nur am Ortseingangsschild Empfang, im Ort nicht mehr.«

Verdutzt starrte ich sie an, doch sie zuckte mit den Achseln. »Seit Jahren kämpfen wir sowohl um einen Mobilfunkmast als auch um einen allgemeinen Internetanschluss, aber bisher hat sich noch niemand bei den Behörden darum gekümmert. Ich hoffe, Sie brauchen solch neumodisches Zeug nicht, so lange Sie hier sind. Es wäre jedenfalls die perfekte Gelegenheit zum Entschleunigen.«

»Naja, eigentlich …«, stammelte ich und spürte auf einmal, wie sich Entsetzen in mir ausbreitete. Drei lange Wochen ohne eigenes Telefon? Ohne Online-Shopping?? Ohne die täglichen Textnachrichten an Caroline???

Sie musste die Bestürzung in meinem Blick gesehen haben, denn sie legte einen mitleidigen Blick auf. »Wie gesagt, am Ortseingangsschild. Aber besser ist, es geht auch ohne.«

»Es muss irgendwie gehen«, sagte ich schließlich und verabschiedete mich von ihr.

Das machte meinen Aufenthalt wesentlich unangenehmer und vor allem meinen geheimen Plan viel schwieriger.

 

NUR WENIG SPÄTER lag ich auf meiner Matratze in einem Zimmer, das zur Straße hinausführte, und starrte fassungslos mein Handy an. Keine Balken, kein Empfang. Meine Nachbarin hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Also wirklich keine Textnachrichten an Caroline, dass alles in Ordnung war; kein Chat, kein Shoppen, kein neuer Badeanzug.

Auch mein Vorhaben, meine Lungen zu entlasten und über Nacht den Motor laufen zu lassen, entpuppte sich als undurchführbar, weil mein älterer Nachbar, der sich als Vater meiner Retterin entpuppte, zu mir kam und den Motor meines Autos ausstellte. Seine Begründung will ich an dieser Stelle lieber nicht wiedergeben, ich sage nur, dass sie erschreckend oft die Worte »Kopfverletzung« und »Hirnschaden« enthielt.

Schließlich legte ich mein nutzloses Handy zur Seite und lag bewegungslos da, doch ich konnte nicht schlafen. Das hatte allerdings nichts mit meiner Verletzung oder dem üppigen Sauerstoff zu tun, sondern mit dem Dröhnen in meinen Ohren. Zuerst dachte ich, es wäre irgendwo ein Kühlschrank an, der summte. Aber meine Suche im Haus ergab nichts. Dann vermutete ich ein Kraftwerk irgendwo in der Nähe oder einen Flughafen, aber auch das war ein Trugschluss. Als ich zutiefst erschrak, weil vor dem Fenster eine Grille anfing zu zirpen, wusste ich, dass ich das Rauschen in meinen Ohren deshalb hörte, weil es da draußen keine anderen Geräusche gab und ich lediglich meinen eigenen Blutkreislauf vernahm. Kein Straßenlärm, keine Polizeisirenen, keine U-Bahnen, kein Partylärm vom Nachbarn. Nichts. Nur absolute Stille. Es war unerträglich.

Ich überlegte zwar noch, den Motor meines Autos erneut einzuschalten, um der Stille zu entgehen, war jedoch zu träge, noch einmal aufzustehen. Irgendwann gewann schließlich die Müdigkeit Oberhand über die vielen Irritationen in meiner Umwelt, und ich schlief endlich ein.

TAG 2

4.Juli, noch 13 Tage bis zum Erstschlag

 

 

DER MORGEN BEGANN angenehm, wenn auch sehr spät. Normalerweise wurde ich zu Hause immer gegen sieben wach, wenn bei meiner Nachbarin der Wecker klingelte. Durch die dünnen Wände in meinem Haus bekam ich immer mit, was sie machte, wann sie Essen kochte, sich mit ihrem Freund stritt, mit ihrer Mutter telefonierte oder Sex hatte. Eigentlich begann mein Job in der Redaktion erst um neun, aber ich hatte es mir angewöhnt, mit ihr aufzustehen, weil ich so in Ruhe duschen und sogar noch die Zeitung nach Themen »flöhen« konnte. Jeden Morgen gab es in der Redaktion zuerst eine Themenkonferenz, bei der jeder, der unterwegs oder beim Lesen der Zeitung auf ein Thema gestoßen war, dies vortrug, sodass wir es weiterspinnen und für unsere Leserinnen aufarbeiten konnten. Normalerweise fand ich viele spannende Themen, die ich gern weiter bearbeitet und für die Zeitschrift geschrieben hätte, doch die wurden alle von meiner Chefin abgebügelt. Entweder hielt sie wirklich nichts von mir und meiner Schreibe, oder sie wollte mich ewig demütigen und als ihre Kaffeeköchin missbrauchen. Wenn ich positiv dachte, konnte ich es als Kompliment auffassen, dass sie dermaßen von meinem Kaffee und meinem Können als Kopiererin wichtiger Unterlagen begeistert war, dass sie mich nicht an die Redaktion und wirkliche Arbeit als Autorin verlieren wollte. Aber seit einiger Zeit fiel mir das immer schwerer. Ich wollte endlich eine richtige Redakteurin sein, dafür hatte ich schließlich viele Jahre studiert und die Praxis bei der Studentenzeitung erfolgreich erprobt und sogar einen Preis dafür gewonnen. Ich wollte etwas bewirken, jemand sein, der Menschen mit seinen Texten aufrüttelte und zum Nachdenken anregte, und dessen Meinung geschätzt wurde. Immer wieder versuchte ich es, hatte ihr großartige Themen vorgeschlagen, Anreißer geschrieben, sogar einen fertigen Artikel abgeliefert, doch es brachte alles nichts. Sie ignorierte meine Bemühungen.

Um mit der Wahrheit herauszurücken, war das ein weiterer Grund, warum ich hier in Frankenstein war. Ich hatte lange überlegt und die Archive gewälzt, welches Thema am geeignetsten für unsere Leserinnen sei, neu und unverbraucht, und war zu dem Schluss gekommen, dass wir viel zu wenig auf das Landleben eingingen. Die meisten beschrieben unser Stadtleben. Aber niemand kümmerte sich darum, was auf dem Land geschah. Und genau das hatte ich vor. Ich wollte die Zeit in dem Dorf, während ich Carolines Haus auf ihren Einzug vorbereitete, für gründliche Recherchen über das Landleben nutzen und darüber einen Artikel für die Frauenzeitschrift schreiben, der mir endlich meinen Traum erfüllte und meine Aufnahme in die Riege der richtigen Autorinnen garantierte. Aber das wusste außer mir niemand.

An diesem Morgen jedenfalls wachte ich erst nach zehn Uhr auf und streckte mich wohlig auf meiner Matratze. Ich hatte mir für mein Vorhaben Urlaub genommen, ich konnte so lange schlummern, wie ich wollte. Zumal ich eine schwere Kopfverletzung vorzuweisen hatte. Frisch und ausgeschlafen stand ich schließlich auf und sah zum Fenster hinaus auf die Landstraße, auf der eine einsame Radfahrerin rollte und sich eine Katze in der Sonne räkelte. Sonst war nichts los.

Ich streckte mich erneut und spürte dabei noch ein paar blaue Flecke, die mich erneut an meinen Sturz vom gestrigen Abend erinnerten. Und an meine Begegnung mit dem Mann meiner Träume, der mich wahrscheinlich für eine absolute Vollidiotin hielt. Ich jaulte innerlich auf bei dem Gedanken an seinen besorgten Blick aus den rehbraunen Augen, als ich ihm irgendetwas Unverständliches über sein Foto erzählt hatte. Als mir seine feinen, schlanken Hände einfielen, von denen er den Ehering entfernt hatte, zog sich mein Magen zusammen. Aber das konnte auch der Hunger sein. Ich hatte seit langer Zeit nichts mehr gegessen, denn als ich gestern gerade ein Restaurant auftreiben wollte, hatte ich den unsanften Abgang gemacht. Es wurde Zeit, dass ich etwas Essbares fand.

Ich zog mich an, machte mich in dem Provisorium eines Bades im ersten Stock, das ein Waschbecken, eine rostige Badewanne, einen fleckigen Spiegel und immerhin fließendes Wasser anbot, landfein, versuchte dabei, mein Pflaster an der Schläfe großräumig zu vermeiden, und ging aus dem Haus.

Es dauerte gerade mal zwei Minuten und einhundert Meter die Dorfstraße hinunter, da fand ich einen Bäcker, wo ich mir ein paar belegte Brötchen und ein Stück Kuchen genehmigte.

Der Bäcker war ein beleibter Mann mit Brille und wenig Haaren, die er eifrig zur Seite gekämmt hatte. An einem kleinen Tischchen in der Ecke stand ein kleiner, älterer, dünner Mann mit langen Koteletten und kleinen Augen, aus denen er mich anblinzelte.

»Na, wenn das nicht unsere neue Nachbarin ist«, sagte er mit freundlicher Stimme.

Ich hätte ihn ganz gerne übersehen, konnte es nun aber nicht, da er mich direkt ansprach.

»Nur für kurze Zeit, dann verschwinde ich wieder. Ich bin nur die Vorhut.«

»Vorhut wofür? Droht wieder ein Krieg?«

Ich hatte keine Ahnung, ob er das ernst meinte, weil sein Gesicht keinerlei Regung zeigte, deshalb verneinte ich lieber, um jeglichen Missverständnissen aus dem Wege zu gehen. »Meine Freundin hat das Haus gekauft, sie wird hier einziehen, ich bereite nur alles vor.«

»Wenn Ihre Freundin so hübsch ist wie Sie, darf sie gerne kommen«, sagte der Alte, wobei ich mir wieder nicht sicher war, wie ernst er seine Worte meinte.

»Ich denke, Sie werden sie mögen.« Dabei huschte zwar gerade das Bild einer Caroline mit Avocadocreme in den Haaren und honigverkleistertem Gesicht, an dem sich zwei Cornflakes festgeklebt hatten, vor meinem inneren Auge vorüber. Aber vielleicht mochten ihre Nachbarn außergewöhnliche Schönheitsmittel. Obwohl, wenn ich mir den Mann genauer ansah, vermutlich nicht. Ihm wuchsen die Haare büschelweise zu den Ohren hinaus, etwas Erde klebte an seinem Hals (wie die dorthin gekommen war, war mir ein Rätsel), und beim Zahnarzt war er vermutlich auch schon lange nicht mehr gewesen, nach dem Blick in seinen Mund zu schließen.

»Na, dann ist ja gut.« Er schmunzelte. »Konnten Sie denn noch schlafen gestern, auch ohne Motorengeheul?«

»Ja, alles war in Ordnung«, erwiderte ich. »Ich habe trotz Stille und guter Luft fest geschlafen.«

»Und was macht die Verletzung?«

Ich tippte mit dem Finger vorsichtig an meine Schläfe mit dem Pflaster. »Nur eine kleine Platzwunde, tut kaum noch weh«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Ich fühle mich fast schon, als wäre nie etwas passiert.«

»Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist«, sagte der Alte weise. »Lassen Sie sich nie etwas anderes einreden.«

Ich versuchte zu verstehen, was er damit meinte, aber als ich sah, dass neben seinem Kaffee eine kleine Pulle Schnaps stand, gab ich es auf.

»Vielen Dank für den Tipp«, erwiderte ich, dann drehte ich mich zur Tür und ging hinaus.

Als ich wieder auf der Hauptstraße stand, überlegte ich, in welche Richtung ich gehen musste, um einen Supermarkt zu finden. Ich ließ kurz meinen Blick schweifen, doch er kam nicht weit, denn er blieb an der Praxis hängen, in der ich gestern von Mr. Perfect alias Dr. Diercksen behandelt worden war.

Sofort begann mein Herz zu klopfen und Blut strömte in meinen Kopf. Verstohlen sah ich mich um, ob mich jemand beobachtete. Nachdem ich festgestellt hatte, dass die Luft rein war, schlenderte ich ganz unauffällig auf das Haus zu. Das Gebäude war relativ klein, es konnte nur die Praxis beherbergen, keine Wohnung. Es war weiß gestrichen, sauber und ordentlich. In einem der Fenster prangte ein rotes Kreuz, damit auch jemand, der die Treppe hinuntergefallen war, sehen konnte, wo er im Ernstfall Hilfe fand. Daneben eine Notfallnummer für den Fall der Fälle.

Wieder sah ich mich um, ob jemand beobachtete, dass ich das Haus anstarrte, dann holte ich mein Smartphone aus der Tasche und speicherte die Nummer ein. Man weiß ja nie, wofür man die nochmal braucht.

Danach hätte ich gerne Mutmaßungen darüber angestellt, ob Dr. Diercksen auch auf Notfälle mitten in der Nacht reagieren würde, als sich die Tür öffnete und er aus der Praxis heraustrat. Er sah selbst von weitem unglaublich sexy aus. Er war groß und schlank, seine langen Beine schritten kraftvoll voran. Das dunkle Haar fiel ein bisschen länger als auf dem Foto in die Stirn und wippte bei jedem Schritt keck auf und ab. Die Hände hatte er locker in die Taschen gesteckt, als würde er einen gemütlichen Spaziergang machen.

Schnell versteckte ich mich hinter einem Jasminstrauch. Es roch darin wie in einer Parfümfabrik, aber immerhin war ich vor seinen Blicken geschützt. Er ging die Straße hinunter und bog an einem kleinen Feldweg rechts ab. Kaum war er außer Sichtweite, schälte ich mich aus dem Strauch und lief hinterher. Als ich an der Biegung ankam, an der er die Hauptstraßen verlassen hatte, lugte ich vorsichtig um die Ecke, um gerade noch zu sehen, wie er durch ein Tor auf ein Anwesen trat.

Das musste sein Zuhause sein. Ob dort Frau und Kinder warteten?

Ich konnte meine Neugier nicht mehr zügeln und schlich hinterher. Es war weit und breit niemand zu sehen, der mich hätte beobachten können. Ich fühlte mich fast ein bisschen wie Mata Hari in geheimer Mission, als ich an einer mit Hecken bewachsenen Mauer entlangschlich und fast lautlos über eine Pfütze sprang, bis ich bei dem Haus ankam. Wieder sah ich mich um. Niemand in Sicht.

Unauffällig ging ich am Haus vorbei und bog am Ende des Zaunes in eine Einfahrt ein, die mich in den Garten führte. Hinter zwei Koniferen und irgendetwas anderem Grünen, das ich nicht identifizieren konnte (ich war nie gut in Biologie und Pflanzenkunde gewesen), schlich ich hinter das Haus. Zum Glück hatte er keinen Hund, der mich anfallen konnte.

Unbehelligt kam ich hinten an. Ein paar Obstbäume und Sträucher bildeten einen natürlichen Zaun zum Nachbargarten. Linker Hand befanden sich Beete mit Erdbeeren und anderen nützlichen Pflanzen. Leider waren die Fenster des Hauses zu hoch, um problemlos hineinsehen zu können. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf die Mülltonnen zu klettern, die an der Seite standen, um von diesem Standpunkt aus ins Innere zu lugen.

Ich gab mir Mühe, keinen Laut zu erzeugen, als ich auf die Tonne mit den Papierresten kletterte und meinen Kopf streckte. Und da sah ich ihn. Er saß am Tisch mit seiner perfekten Frau, die ihm Kartoffeln servierte. Daneben saßen zwei reizende Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Familienidylle pur.

In meinem Bauch machte sich ein unangenehmer Klumpen breit bei diesem Anblick.

Er strahlte seine Frau an, die ihm das Gemüse reichte, während die Kinder irgendetwas durcheinander plauderten. Ich konnte nur ihre Münder sehen, wie sie sich öffneten und schlossen. Aber vielleicht kauten sie auch nur. Bevor er sich dem Essen widmete, griff er in seine Jackentasche und holte ein Stethoskop heraus, das er dem Jungen reichte, das Mädchen erhielt eine Skeletthand. Sie quietschte kurz auf, doch dann riss sie die Hand an sich und sprang auf. Offenbar hatte das Geschenk einen Nerv getroffen.

Ich war auf perverse, selbstzerstörerische Weise so hingerissen von dem Anblick, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich die Mülltonne, auf der ich stand, gefährlich zur Seite neigte. Doch als ich es spürte, war es bereits zu spät. Ich rutschte von der Tonne, landete jedoch glücklicherweise nicht unsanft auf dem Boden, sondern auf der Nachbartonne. Doch damit endete mein Glück. Der Deckel der Tonne gab nach, und ich rutschte mitten in Essensreste, Gurkenschalen, halbleere Yoghurtbecher und Kaffeesatz.

»Oh mein Gott«, murmelte ich entsetzt, während ich versuchte, mich aus dem ganzen Müll herauszuschälen.

Für einen kurzen Moment hoffte ich, noch im Bett zu liegen und einem Albtraum zum Opfer gefallen zu sein, aber es war keiner. Dafür stank es in der Tonne viel zu realistisch. Und es war noch nicht einmal das Schlimmste, was mir an diesem Tag passierte. Denn zunächst konnte ich mich einigermaßen heil aus meinem Gefängnis retten. Glücklicherweise hatte mein Sturz keinen größeren Lärm verursacht, weil die schwankende Tonne, von der ich gerutscht war, sich wie ein Stehaufmännchen wieder aufgerichtet hatte, nachdem ich als unnützer Ballast von ihr gerutscht war. Und wer schon einmal in eine halbvolle Mülltonne gefallen ist, weiß, dass der Abfall wenig Lärm verursacht, wenn man solche Dinge wie krachende Plastikbecher und spröde Einwegverpackungen mied. Ich weiß, wovon ich rede.

Deshalb stand ich ein paar Minuten später wieder auf dem Rasen von Familie Traummann, klopfte mir den Kaffeesatz aus der Hosentasche und ein paar Gurkenschalen vom Ärmel, und schlich mich unauffällig zurück zum Weg und dann zur Straße. Doch ich kam nicht weit. Denn just als ich mir noch einen leeren Yoghurtbecher von der Schulter nehmen wollte, jaulte eine Sirene kurz auf und es versperrte mir ein Polizeiwagen den Weg zur Straße. Zuerst wollte ich so tun, als hätte ich den Wagen nicht bemerkt, und ging hoch erhobenen Hauptes daran vorbei, wobei eine alte Plastiktüte an meinen Schuhen klebte, die ein nervenaufreibendes Rascheln verursachte. Doch dann stieg der Polizist aus.

»He, junge Frau, bleiben Sie stehen!«

Ich drehte mich um, als würde ich nach der suchen, die er angesprochen haben könnte, dann sah ich ihn erstaunt an und deutete auf mich. »Haben Sie mich gemeint?«

»Ja, Sie habe ich gemeint. Woher kommen Sie?«

Ich machte eine allgemeine Handbewegung. »Ach, ich bin neu hier und nur ein bisschen spazieren gegangen. Ist das verboten hier? Das wusste ich nicht.«

»Nein. Es ist nur verboten, in fremde Gärten einzudringen. Jemand hat gemeldet, eine verdächtige Person sei in den Garten des Arztes eingedrungen. Waren Sie das?«

»Ich? Niemals? Ich weiß nicht einmal, wo der Arzt wohnt. Wie gesagt, ich bin neu hier.« Ich war gut, wenn es darum ging, die Unschuldige zu spielen. Es war zwar ein billiges Klischee, aber wenn man blond ist, nehmen einem die Leute diese Tour meistens ab. Meistens. Dieses Mal jedoch leider nicht. Aber es lag nicht an mir und meinen blonden Haaren, sondern an der vermaledeiten alten Wurstpelle, die unter meiner Jacke hervorlugte.

»Und was ist das?«, fragte der Polizist und deutete auf genau diese Pelle.

»Oh, die ist bestimmt noch von meinem Frühstück.« Ich versuchte ein keckes Lächeln. »Ich wollte sie wegwerfen, da hat sie sich unter meiner Jacke versteckt. Sie hasst es, einfach so entsorgt zu werden.«

Das war anscheinend zu dick aufgetragen.

»Sie kommen mit«, befahl der Polizist, der, falls ich es noch nicht erwähnt habe, um die fünfzig war und aussah wie E.T. mit einem viel zu großen kahlen Kopf mit ledriger, brauner Haut.

»Wohin?«

»Aufs Revier?«

»Aber ich habe nichts gemacht!«, wehrte ich mich, doch meine Proteste verhallten ungehört.

Ich musste mich fügen und einsteigen, und das auch noch hinten, hinter dem Gitter. Neben mir schnappte die Tür ins Schloss und ließ sich von innen nicht öffnen. Mir wurde mulmig zumute. Immerhin gönnte ich dem Polizisten die Freude, ein wenig Abfallgeruch abzubekommen. Abgestandener Kaffeesatz ist ein echter Kracher auf einem Sitz im Polizeiauto, genau wie eine fünf Tage alte Packung Hühnerfleisch, in der mein rechter Schuh gestanden hatte. Ich sah, wie der Mann die Nase rümpfte und wedelte ihm als Zugabe noch den Duft einer schimmeligen Orangeschale zu, die ich in meiner Jackentasche fand.

Leider währte die Fahrt nicht lange, schon nach wenigen Minuten fuhr der Wagen vor einer Polizeistation vor, die etwas außerhalb des Ortes lag und von der der Putz abblätterte.

Der Mann öffnete von außen die Tür und ließ mich aussteigen. Dann führte er mich an einem Pförtner vorbei in das Gebäude eine Treppe nach oben, wo er mich in einem Raum absetzte. Immerhin steckte er mich nicht sofort hinter Gitter.

Kaum waren wir angekommen, erschien ein weiterer Polizist im Raum. Er war wesentlich jünger als sein Kollege und wesentlich attraktiver. Er hatte vielleicht ein bisschen Ähnlichkeit mit dem elften Doctor von Doctor Who, um mal bei Außerirdischen zu bleiben.

»Ich bin Wachtmeister Carl Berger«, stellte er sich vor. »Und Sie sind …?«

War er der gute Polizist?

»Pippa Stoltz«, erwiderte ich. Die hartgesottene Verbrecherin, die kein Wort verraten würde, konnte ich später immer noch spielen.

»Was haben Sie im Garten von Doktor Diercksen gemacht?«

Zum Beispiel jetzt. »Nichts.«

»Aber Sie wurden beobachtet, wie Sie auf eine Mülltonne kletterten und in sein Wohnzimmer sahen.«

»Wer hat das gesagt? Der lügt.« Ich hatte mich doch gründlich umgeschaut, es war niemand zu sehen gewesen.

»Eine Nachbarin, die in dem Garten arbeitete, der direkt neben dem von Doktor Diercksen liegt.«

Mist. Sie musste heimlich durch die Sträucher geschaut haben. »Das kann immer noch jeder andere gewesen sein.«

»Sie beschrieb eine blonde Person, die der Kleidung nach zu urteilen aus der Stadt stammt und fremd hier ist.«

Ich sah an mir herunter. Ich trug eine enge, buntbedruckte Designer-Hose, dazu eine schicke Lederjacke und Plateauschuhe. Ich sah definitiv nicht aus wie eine Landpomeranze.

»Das könnte trotzdem jede sein. Die Stadt ist voller blonder Frauen, die in diesem Dorf fremd wären.«

»Aber es gibt nur Sie hier. In so einem kleinen Dorf wie diesem fällt jede Fremde sofort auf.«

Ich schwieg. Was sollte ich dazu sagen? Er hatte mir keine Frage gestellt.

Er fasste mein Schweigen als Zustimmung auf. »Also, was wollten Sie dort?«

»Nichts! Gar nichts. Ich hatte mich verlaufen.«

»In unserem Dorf? Es gibt nur eine Hauptstraße, da kann man sich nicht verlaufen.«

Er hatte mich schon wieder ertappt. Sahen so die knallharten Vernehmungen auf dieser Polizeistation aus? Kein Wunder, dass es auf dem Land kaum Verbrechen gab.

»Wenn jemand fremd irgendwo ist, reicht schon eine einzige Straße aus, um sich zu verlaufen.«

Er sah mich stirnrunzelnd an, als würde er überlegen, ob an meinen Worten tatsächlich etwas Wahres sein könnte. Oder er studierte das Pflaster auf meiner Schläfe, als ob das etwas über mich aussagen würde.

Da schaltete sich sein älterer Kollege ein.

»Wenn Sie uns belügen, bekommen Sie nicht nur fünf Jahre wegen Hausfriedensbruchs, sondern auch noch zwei Jahre wegen Irreführung der Justiz und eins wegen Meineids.«

Er war definitiv der böse Polizist.

»Ich lüge nicht. Ich war beim Bäcker und wollte mir nur den Ort ansehen, plötzlich lag ich in der Mülltonne. Ich hatte gestern einen schweren Sturz und leide noch heute an Blackouts, deshalb kann ich mich gar nicht daran erinnern, was passiert ist.«

Das war gut. Amnesie zog immer, das hatte ich im Fernsehen gesehen.

Tatsächlich verstummten die beiden Polizisten und sahen sich an, dann ging der jüngere aus dem Zimmer. Ich blieb mit E.T. allein zurück.

»Darf ich wenigstens nach Hause telefonieren?«, fragte ich. »Oder meinen Anwalt anrufen?«

»Wofür brauchen Sie denn einen Anwalt? Sind Sie schuldig? Nur Schuldige brauchen einen Rechtsverdreher.«

Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen Anwalt. Ich hätte gern meine Kollegin Anne angerufen, die mal mit einem Rechtsanwalt liiert gewesen war, ihn aber zum Teufel geschickt hatte, weil er im Bett zu viele unangenehme Körpergeräusche von sich gegeben hatte, wenn ihr versteht, was ich damit meine. Anne besaß einen heißen Draht zu meiner Vorgesetzten, und ich hoffte, dass diese die Rechtsabteilung der Firma damit beauftragen würde, mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Aber wahrscheinlich halluzinierte ich. Das würde meine Chefin niemals tun, sie gab mir ja nicht einmal einen richtigen Auftrag als Redakteurin, auch nicht nach zwei Jahren in ihrer Abteilung. Vermutlich war mein Hirnschaden doch ernster als vermutet.

»Bin ich denn angeklagt?«, fragte ich schüchtern. Es war an der Zeit, das naive, scheue Reh zu spielen.

»Noch nicht.« Seine Stimme klang schon nicht ganz mehr so garstig. »Dafür müsste Doktor Diercksen Anzeige gegen Sie erstatten.«

Wenn ich jetzt noch eine Träne kullern ließ, würde das meine Lage entscheidend verbessern.

Sie kam tatsächlich. Ich dachte daran, wie ich im Frühling vergangenen Jahres mit meinen neu erworbenen Pumps von Manolo Blahnik im Straßenpflaster steckengeblieben war und mir die Absätze völlig zerkratzt hatte. Ich hatte ein halbes Jahr für diese Schuhe gespart und sogar auf mehrere Friseurbesuche verzichtet, sodass ich aussah, als würden Störche auf meinem Kopf nisten wollen, und dann das. Die Schuhe waren für immer ruiniert. Wann immer ich an diese Situation dachte, traten Tränen in meine Augen. Was in diesem Moment in dieser Polizeistation sehr hilfreich war.

Doch mein Triumph währte nicht lange, denn nur zwei Tränen später erschien der jüngere Polizist wieder im Raum, und hinter ihm – mir verschlug es fast die Sprache – Doktor Diercksen. Wollte er etwa doch Anzeige gegen mich erstatten? Dann sah es schlecht für mich aus. Tränen hin oder her.

Ich starrte ihn entsetzt und mit offenem Mund an, die Tränen hatten vermutlich meinen Mascara verschmiert, der Kaffeesatz klebte noch überall, ich war ein Bild des Jammers. Warum erwischte er mich schon wieder in einer Situation, in der ich nicht gerade in Höchstform glänzen konnte?

Er nickte mir zur Begrüßung kurz zu.

»Sie können gehen«, sagte Wachtmeister Carl Berger auf einmal zu mir.

Verwirrt sah ich von einem Polizist zum anderen, dann zum Doktor.

»Wirklich?«, fragte ich zaghaft, aus Angst, die Männer erlaubten sich nur einen Scherz mit mir.

»Wirklich. Doktor Diercksen hat Ihre Geschichte bestätigt. Er sagt, Sie hätten gestern eine schwere Kopfverletzung erlitten, die er behandelt hat. Er wird Sie jetzt nach Hause bringen.«

»Das ist nett …« Ich versuchte ein dankbares Lächeln, bevor ich mich erhob. Eine verschrumpelte Kartoffelschale fiel dabei aus meinem Hosenbein. Dann stiefelte ich neben meinem Traummann hinaus in die Freiheit.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte ich, als ich schließlich neben ihm im Auto saß.

»Sie riechen nicht gut«, antwortete er unverblümt, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Tut mir leid. Ich bin … gestürzt. Irgendwie scheint das Dorf etwas gegen mich zu haben, ich komme mir fast vor wie in einem Horrorfilm.«

»Sie wohnen in der Achtzehn?«

Ich nahm an, er meinte die Hausnummer. Ich wollte etwas Witziges erwidern, was sich auf Kleidergrößen bezog, doch etwas in meinem Inneren hielt mich davon ab. Ich wollte nicht, dass er mich für eine völlige Irre hielt. Jedenfalls nicht noch mehr, als er vermutlich ohnehin schon dachte.

Ich hatte das Gefühl, ihm eine Erklärung zu schulden. Auch wenn es nicht besonders überzeugend klang, was ich zu sagen hatte. »Es tut mir leid, dass ich in Ihrem Garten war. Aber ich hatte gestern ein Foto von Ihnen auf dem Dachboden gefunden und irgendwie ging es mir nicht aus dem Kopf, daher bin ich Ihnen gefolgt. Ich bin eigentlich ganz harmlos.«

Ich konnte sehen, wie sich sein Mund zu einem halben Lächeln verzog, dann sah er mich von der Seite an. »Ich habe mal in dem Haus gewohnt, offenbar haben wir beim Auszug nicht alles gefunden und ausgeräumt.«

Wir. Das Lieblingswort aller verheirateten Männer.

»Wollen Sie die Dinge haben?«

»Was ist denn noch dabei?«

»Ach, ein Pokal, ein paar alte Sachen, eine Weste, ein paar leere Schulhefte. Mehr nicht.«

Wieder lächelte er das halbe Lächeln. Dabei kräuselten sich ein paar zarte Fältchen an seinem Auge. Er sah hinreißend aus.

»Ich denke, wir brauchen den Krempel nicht mehr«, riss er mich aus meinen schwärmerischen Betrachtungen. »Machen Sie damit, was Sie wollen.«

»Mal sehen, was mir so einfällt«, erwiderte ich. Und das war auch schon fast das Letzte, was ich an diesem Tag ihm gegenüber von mir geben konnte, denn wir waren an meinem, beziehungsweise ehemals seinem Haus angekommen.

»Da sind wir«, sagte ich leichthin und versuchte, locker und witzig zu klingen. »Ich werde mir Mühe geben, den Rest des Tages unfallfrei zu überstehen.«

Er runzelte die Stirn, während er mich ansah. »Schonen Sie sich noch ein bisschen. Keine Mülltonnen raufklettern, keine Dachbodenräumaktionen, keine Matratzenrutschpartie.«

Ich jaulte innerlich auf beim Gedanken an meinen ersten ungeschickten Unfall in diesem Dorf. Blieb hier denn wirklich nichts verborgen? Dann nickte ich. »Mach ich, Herr Doktor. Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.« Das klang nicht gut, gar nicht gut. »Ich meine, nicht in Ihrer Praxis als blutender Notfall oder auf der Polizeistation«, fügte ich schnell hinzu.

Er schmunzelte. »Das hoffe ich auch.«

Dann stieg ich aus. Er wendete und fuhr zurück, während ich ihm einen Moment hinterher sah. Nur mit Mühe konnte ich meine Hand daran hindern zu winken. Dann ging ich ins Haus und blieb kurz in der Diele stehen. Irgendwie wirkte das Haus auf einmal einladender, nachdem ich wusste, dass er hier mal gewohnt hatte. Und ein bisschen sexy. Ich spürte ein leichtes Kribbeln in meiner Magengegend bei dem Gedanken an ihn in diesen Räumen. Was hatte er hier gemacht? Geschlafen und gegessen wie alle anderen Menschen auch? Vermutlich.

Ich sog tief die Luft ein, um zu testen, ob ich vielleicht noch seinen Duft wahrnehmen konnte. Doch da war nichts. Es roch nur etwas muffig und auf jeden Fall staubig.

Schließlich löste ich mich von meinem Standort und ging mit zügigen Schritten hinauf auf den Dachboden, wo ich mir noch einmal das Bild ansah. Die beiden sahen so glücklich aus, ein Herz und eine Seele. Nicht nur, dass er bei einer so schönen Ehefrau niemals Gefallen an mir finden würde, ich durfte auch niemals eine so glückliche Ehe auseinanderbringen.

Schweren Herzens packte ich das Foto in den Karton, nahm sowohl Kiste als auch Koffer und brachte beides runter in den Müll.

TAG 3

5. Juli, noch 12 Tage bis zum Erstschlag

 

 

»DAS LANDLEBEN ERINNERT zeitweise an einen Gefängnisaufenthalt. Wer schon einmal eingesessen hat, weiß, wovon ich schreibe. Jeder Schritt wird überwacht, jede unüberlegte Bewegung hat schwerwiegende Konsequenzen. Der Nachbar, der mit Sicherheit selbst einige Leichen im Keller hat, wird zum obergenauen Aufseher, wenn man ihm nur die Möglichkeit gibt, jemanden anschwärzen zu können. ›Das Experiment‹ als gelebte Realität.«

Ich lehnte mich unsicher auf dem Stuhl zurück. Die ersten Sätze meines Artikels würden mit Sicherheit noch nicht für den Pulitzerpreis nominiert. Den Laptop hatte ich in Ermangelung eines Tisches auf die Fensterbank gestellt, vom Nordfenster der Küche wohlgemerkt, damit mich die Morgensonne nicht blendete. Den einzigen Stuhl schleppte ich von Zimmer zu Zimmer, je nachdem, wo ich ihn gerade brauchte.

Der Nachteil des Nordfensters bestand darin, dass ich direkten Blick auf die Straße vor dem Haus hatte. Das war extrem irritierend, weil nur sehr selten ein Auto vorübergefahren oder jemand geradelt kam, sodass ich jedes Mal aus meiner Konzentration gerissen wurde, wenn es doch passierte. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich fing sogar an zu glotzen und nach dem Nummernschild zu schauen, wenn ein Wagen vorüberbrauste. Vorher hatte es mich nie gestört, wenn kilometerlange Schlangen von Autos an meinem Fenster vorbeizogen, hupten und andere Geräusche verursachten. Doch nun brachte mich schon eine Katze, die plötzlich lautlos die Straße kreuzte, völlig aus dem Konzept. Für ein paar Minuten hatte ich das Westfenster als Arbeitsfenster in Erwägung gezogen, doch das besaß den direkten Blick zum Kuhstall, und ich hatte Bedenken, dass das Schwanzwedeln der Tiere und die ruhige Drehung der Melkanlage mich noch mehr ablenken würden als der nicht vorhandene Verkehr auf der Dorfstraße.

Erneute starrte ich auf meinen Text. Drei Stunden am Computer und nur vier Sätze geschafft. Das konnte so nicht weitergehen. Gestern hatte ich nur zwei Sätze zustande gebracht. Da gab es allerdings einen guten Grund für mein Versagen: Meine Gedanken waren ständig zu Dr. Diercksen gewandert, zu seinen charmanten Lachfältchen und dem besorgten Blick, bis sie an seinem harmonischen Mittagstisch hängenblieben und abbrachen. Die Pause nutzend schrieb ich ein paar Worte, doch dann begann alles von vorne. Es war eine Endlosschleife. Und am Ende des Tages löschte ich die beiden Sätze, die dabei herausgekommen waren.

Aber wenigstens hatte ich angefangen. Ich setzte mich auf dem Stuhl zurecht und wollte erneut die Tastatur bearbeiten, als ich aus dem Augenwinkel eine weitere verdächtige Bewegung auf der Straße wahrnahm. Es war kein Auto, und auch kein Fahrrad. Es war der Postbote, der etwas in meinen Briefkasten warf.

Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und lief hinunter zum Briefkasten. Wer schrieb mir etwas? Wer wusste überhaupt davon, dass ich hier war? Zuerst huschte sofort Dr. Diercksen durch meinen Kopf, doch den Gedanken schüttelte ich schnell ab. Wieso sollte er mir schreiben? Wenn, dann höchstens eine Rechnung. Bevor ich es verhindern konnte, sah ich vor meinem geistigen Auge eine horrende Forderung für eine aufwändige Behandlung nach Feierabend, für eine zerstörte Mülltonne, Belästigung und Hausfriedensbruch. Gequält stöhnte ich auf.

Oder war es Caroline? Die hatte vermutlich noch nie in ihrem Leben jemandem einen Brief geschrieben, sie würde eher ununterbrochen SMS schreiben und versuchen mich anzurufen. Da fiel mir ein, dass sie mich hier gar nicht erreichen konnte.

Bevor ich noch weitere Möglichkeiten durchspielte, von wem die Post stammen könnte, war ich am Briefkasten angelangt. Doch darin lag kein Brief, auch keine Karte. Nur eine kostenlose Regionalzeitung.

Enttäuscht knüllte ich sie zusammen und wollte sie in die Mülltonne werfen, als mein Blick auf eine Anzeige direkt auf der ersten Seite fiel. Dr. Diercksen verkündete seine Sommersprechzeiten. Montag bis Freitag von 8 bis 14 Uhr, und Dienstag und Donnerstag zusätzlich von 15 bis18 Uhr. Das musste ich mir merken, für den Fall, ich stürzte mal wieder eine Treppe hinunter.

Weil die Zeitung vielleicht doch ein paar interessante Hinweise enthalten konnte, strich ich sie wieder glatt und begann, darin zu blättern. Für jemanden, der wie ich von einem Hochglanzmagazin kam, schien sie außerordentlich schlecht gemacht. Einfache Texte, verwackelte Fotos, ungeschicktes Layout. Die Artikel handelten von einer Kaninchenausstellung im Nachbardorf, von den Bemühungen des Bürgermeisters, eine Ampel an die Dorfstraße zu stellen (wofür er die brauchte, war mir ein Rätsel. Jede Schnecke konnte es schaffen, unbehelligt von einer Seite der Straße auf die andere zu kommen, selbst wenn sie zwischendurch ein Nickerchen einlegte.) Der Taubenzüchterverein berichtete von seiner letzten Sitzung, und Doktor Diercksen erklärte die Gefahren eines Zeckenbisses.

Da war er wieder.

Interessiert las ich den Artikel von Anfang bis Ende. Er konnte sich wundervoll ausdrücken, selbst wenn der Artikel von einem gewissen PC stammte. Ich hoffte mal, die Abkürzung bedeutete nicht, dass der Text von einem Computerhirn zusammengewürfelt worden war. Und ich ging davon aus, dass PC meinem Dr. Diercksen keine Worte in den Mund gelegt hatte, sondern alles tatsächlich von dem Arzt selbst stammte.

Ich las den Text ein zweites Mal, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich alles verstanden hatte, und nahm mir vor, mich in Zukunft besser vor Zeckenbissen zu schützen, damit Dr. Diercksens Warnungen nicht ungehört verhallten. Dann legte ich die Zeitung auf den Treppensims, holte mein Handy und ging hinaus auf die Straße zum Ortseingangsschild, wo es angeblich Empfang haben sollte.

 

DIE NACHBARIN HATTE Recht gehabt. Zwei Meter vom Ortseingangsschild entfernt wurde ein schüchterner Balken sichtbar, einen Meter weiter schon der zweite. Und sobald ich aus Frankenstein raus war, konnte ich glatte fünf Balken sehen. Und schon piepste mein Telefon und vibrierte in meiner Hand, um mir anzuzeigen, dass mehrere Leute versucht hatten, mich anzurufen. Caroline dreimal, meine Mutter zweimal, meine Chefin sieben Mal!!! Auch mehrere Textnachrichten waren angekommen. Caroline wollte wissen, wie es um das Haus stand und ob ich damit klarkam, meine Mutter wünschte mir schöne Ferien und erkundigte sich, ob ich auch genügend warme Pullover und Strickjacken mitgenommen hätte, weil es auf dem Land abends kälter als in der Stadt sei. Und meine Chefin schrieb dreimal: RUF MICH AN!!!

Zuerst rief ich Caroline zurück.

»Hi, Pippa, wie ist die Lage? Steht mein Haus noch?«, zwitscherte sie sofort in den Hörer, bevor ich meinen Namen aussprechen konnte.

»Ja, alles bestens. Es steht, ist sauber und wartet darauf, dass die Handwerker kommen.«

»Hast du denn schon welche bestellt?«

»Ich?« Für einen Moment war ich sprachlos. »Ich dachte, du hättest das erledigt.«

»Nein, wie sollte ich, solange ich nicht wusste, wann du mit der Aufräumerei fertig bist.«

»Ich bin jetzt fertig.« Ich hatte tatsächlich den gestrigen Nachmittag genutzt, um die letzten verbliebenen Tapeten von den Wänden zu reißen. Danach hatte ich sie in den Müll geworfen und das Haus erneut gefegt. Dieses Mal jedoch verursachte der Staub Hustenanfälle bei mir. Es war erstaunlich, wie schnell sich eine Lunge umstellen konnte.

»Wieso hast du dich nicht früher gemeldet? Dann hätte ich das mit den Handwerkern längst geregelt.«

»Weil mein Handy hier keinen Empfang hat. Das solltest du übrigens in Erwägung ziehen, bevor du gänzlich hierher ziehst.«

»Das ist nicht schlimm!«, zwitscherte sie. »Und von wo telefonierst du jetzt?«

»Vom Ortseingangsschild.«

»Na, das reicht doch. Kannst du dann die Handwerker besorgen? Es gibt doch bestimmt genügend im Ort.«

»Hm«, knurrte ich, wenig begeistert von der neuen Aufgabe. Doch dann stimmte ich zu. Wer wusste schon, wann jemand aus der Stadt hier sein konnte, und je schneller das Haus bewohnbar war, desto besser auch für mich.

»Gut, danke für deine Mühe. Und viel Erfolg weiterhin. Wenn du mal wieder den Ort verlässt, ruf mich an.« Sie kicherte.

»Wieso sollte ich ihn denn verlassen? Kein Mensch braucht mehr als einen Arzt und einen Bäcker. Der Rest wird völlig überbewertet.« Das sollte eigentlich ein Witz sein, denn bisher hatte ich außer den beiden wirklich noch nichts weiter entdecken können, was zu einem normalen Leben dazugehörte. Doch sie schien es anders aufzufassen.

»Na, dann freue ich mich umso mehr, bald einzuziehen«, sagte sie fröhlich. »Es ist mit Sicherheit alles da, was ich benötige.«

Für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob ihr auch wirklich klar war, worauf sie sich einließ. Oder hatte ich das falsche Haus im falschen Ort erwischt?

»Nur nochmal zur Bestätigung: Du willst wirklich nach Frankenstein ziehen? Dem Dorf FRANKENSTEIN (ich buchstabierte den Dorfnamen vorsichtshalber). Du hast mich ins richtige Dorf geschickt? Und du hast es wirklich schon gesehen?«

»Ja, natürlich. Wieso fragst du?«

»Nur so. Du wirst schon wissen, was gut für dich ist. Dann bis bald!«

»Bis bald!«

Wir legten auf.

Danach rief ich meine Mutter an.

»Hi Mama, die Sonne scheint, es ist genauso warm wie in der Stadt und ich bin noch gar nicht dazu gekommen, abends draußen zu sitzen.«

»Wenn du es tust, zieh dir was Warmes über. Wie gefällt dir das Landleben? Hast du schon Sehnsucht nach der Stadt, nach Einkaufscentern und Supermärkten?«

»Es geht so. Ich habe mich bisher vom Bäcker verpflegen lassen, aber ich denke, demnächst werde ich mich mal auf die Suche nach einem Supermarkt begeben. Mein erster Versuch ist… äh … ich hatte es mir unterwegs anders überlegt.« Ich erzählte ihr lieber nichts von meiner Schwäche für den Dorfarzt und meiner Landung in seiner Mülltonne.

»Denk dran, dass es in den Kühlabteilungen der Supermärkte immer recht kalt ist, du weißt, du erkältest dich schnell.«

»Ja, Mama, ich weiß. Was machst du heute?«

»Ich bin mit einem Freund im Theater, danach wollen wir noch etwas trinken gehen. Und morgen besuche ich eine neue Ausstellung.«

Sie nannte den Namen des Meisters, der mir jedoch nicht viel sagte. »Und du?«, fragte sie.

Gute Frage. »Ich werde noch ein bisschen schreiben und dann früh ins Bett gehen. Morgen wird es ähnlich aussehen, übermorgen vermutlich auch. Ach ja und zwischendurch werde ich das Haus aufräumen und streichen lassen. Und spazieren gehen. Hier soll es einen See geben.« Mehr fiel mir nicht ein.

Die Gespräche mit meiner Mutter waren meistens recht kurz. Sie ließ ihre Ermahnungen vom Stapel, zwischendurch erzählte ich, was es Neues gab und sie berichtete von ihren Aktivitäten, dann legten wir auf. Sie war Politikerin, besaß einen riesigen Freundeskreis und war ständig unterwegs. Meistens hatte sie nicht einmal genügend Zeit, mir von all ihren Tätigkeiten und Unternehmungen ausführlich zu erzählen, sondern befand sich schon auf dem Weg zu einer weiteren Veranstaltung oder Tagung. Da musste ich sehen, dass ich mich mit meinen Ausführungen beeilte. Doch dieses Mal, aus Mangel an Freizeitmöglichkeiten meinerseits, war unser Gespräch noch kürzer als sonst. Von meinen Unfällen und unangenehmen Vorkommnissen zu erzählen, vermied ich, weil die nur wieder sinnlose Ermahnungen auslösen würden.

»Pass auf dich auf, Pippa«, sagte sie, dann war das Gespräch auch schon beendet.

Als letztes rief ich meine Chefin an. Ich konnte spüren, wie es in meinem Bauch unangenehm grummelte. Wieso schaffte sie es sogar in meinem Urlaub, dass ich mich schlecht und wie eine Versagerin fühlte?

»Pippa, wo hast du die Kopien vom Waldorf-Interview hingelegt?«, fragte sie mich ohne Begrüßung. »Und wieso weiß ich nichts davon, dass Sandra geheiratet hat? Und wer zum Teufel ist diese Fiona, die mir jetzt täglich den Kaffee bringt?«

Ich holte tief Luft, um ruhig zu werden und ihre Fragen eine nach der anderen zu beantworten. Die Kopien waren in ihrem Fach, in das sie nie selbst sah, sondern dies immer mir überließ. Sandra Weiss, eine Redakteurin für die Abteilung Wohnen und Kochen hatte vor zwei Wochen geheiratet, wobei die halbe Redaktion eingeladen war (meine Chefin allerdings nicht, weil niemand sie dabei haben wollte, was ich ihr aber nicht sagte. Ich war ja nicht lebensmüde!). Und Fiona war eine Praktikantin, die bereits seit vier Monaten in der Graphikabteilung arbeitete und die ich für eine fähige Urlaubsvertretung für mich gehalten hatte. Dass sie nicht in das Fach meiner Chefin sah, war allerdings ein echter Makel. Das hatte ich ihr zweimal gesagt. Oder war es nur einmal? Es konnte aber auch sein, dass ich es vor lauter Aufregung ganz vergessen hatte.

Jedenfalls schien sich meine Chefin nach meinen Erklärungen etwas zu beruhigen, und sie legte ohne Verabschiedung auf. Ich atmete tief durch. Das war besser gelaufen, als befürchtet. Trotzdem wurde es höchste Zeit, dass ich meinen Plan in die Tat umsetzte und den Verzweiflungsschlag landete. Es konnte so nicht weitergehen. Und dafür musste ich einen Artikel liefern, der nicht nur meine Chefin, sondern vor allem auch ihren Vorgesetzten, den Chefredakteur, vom Hocker riss.

Eiligst lief ich zurück zum Haus und setzte mich an den Computer, um noch ein paar Zeilen über das Landleben fertigzustellen.

 

***

 

MEIN FEUEREIFER DAUERTE bis zum Nachmittag, dann fiel mir siedend heiß ein, dass ich mich darum kümmern wollte, Maler für das Haus zu besorgen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Zu Hause in der Stadt schaltete ich einfach den Computer an und ging ins Internet. Sobald ich etwas Passendes fand, rief ich die dazugehörige Telefonnummer an und vereinbarte einen Termin. Oder ich machte dies direkt online.

Hier war ich schon froh, dass ich Strom und fließendes Wasser hatte. Wie erledigten eigentlich die Ureinwohner dieses Dorfes eine solche Aufgabe?

Um das Rätsel zu lösen, beschloss ich, meinen Nachbarn einen Besuch abzustatten.

Nach dem dritten Klingeln öffnete der alte Mann die Tür. Er sah noch genauso urig aus wie bei meiner Begegnung mit ihm beim Bäcker. Vielleicht war noch etwas mehr Dreck an seinem Hals hinzugekommen.

»Junge Frau, was kann ich für Sie tun?«, begrüßte er mich.

»Ich möchte gern Handwerker beauftragen, um das Haus neu vorzurichten, wissen Sie, an wen ich mich hier wenden kann?«

»Klar. An den Peter.«

»Peter?«

Er ließ mich mit meiner Ratlosigkeit nicht allein. »Kommen Sie rein, junge Frau. Ich ruf ihn an.«

Er öffnete die Tür so weit, dass ich sogar mit hundert Kilo Übergewicht hätte eintreten können. Danach stand ich in einer Diele, in der an einer hölzernen Garderobe mehrere Mäntel und Kittel hingen. Der Boden war gefliest, ein Paar Gummistiefel und Gartenschuhe standen herum. Es roch nach Gemüse und Wurst.

»Kommen Sie rein, worauf warten Sie?«

Er stand bereits in Wohnzimmer und winkte mich heran. Ich betrat ein großes, relativ dunkles Wohnzimmer, in dem eine schwere Couchgarnitur und zwei riesige Sessel standen. In der Ecke befand sich ein alter Fernseher. Am Fenster konnte ich sehen, warum der Raum so dunkel war: Eine schwere, orangefarbene Markise war heruntergelassen und sperrte die Sonne aus.

Der Alte ging zu einem kleinen Tischchen neben einer monströsen Schrankwand. Darauf stand ein Telefon, das aus einem Museum zu stammen schien. Es besaß sogar noch eine Wählscheibe.

»Setzen Sie sich«, forderte er mich auf, während er aus dem Kopf eine vierstellige Nummer wählte.

Ich ließ mich in einen der Sessel fallen und betrachtete die Bilder, die auf der Ablage der Schrankwand standen. Ein kleiner Junge war auf einem Schwarzweißbild zu sehen, daneben ein Porträtfoto aus dem 1980ern, das den alten Mann viele Jahre jünger und mit einer riesigen Brille und einem verwegenen Schnauzbart zeigte. Daneben ein Familienfoto mit einem fremden Mann, der Junge darauf war im Teenageralter.

»Es geht keiner ran«, riss mich der Alte aus meinen Betrachtungen. »Da wird er wohl gerade irgendwo unterwegs sein.« Er legte wieder auf.

»Schade«, erwiderte ich.

»Moment noch«, sagte er, dann ging er zur halboffenen Terrassentür, die nach draußen in den Garten führte.

»Emma-Louise!«, brüllte er in das Grün. »Wir haben Besuch! Komm mal rein!«

Dann zog er den Kopf wieder ein und wandte sich an mich. »Sie kommt gleich.«

Ich nickte.

Es dauerte tatsächlich keine zwei Minuten, dann tauchte Emma-Louise aus dem Grün auf. An der Terrassentür streifte sie die Gartenschuhe ab und trat ein.

»Unsere neue Nachbarin! Welch eine Überraschung!«, rief sie und reichte mir ihre schmutzige Hand. Ich ergriff sie und wünschte mich danach in Gedanken sofort ins Badezimmer. Aber diesen Wunsch äußerte ich nicht laut, sondern wischte stattdessen die Hand unauffällig an meiner kurzen Hose ab.

»Sie braucht einen Handwerker, aber Peter geht nicht an den Apparat. Weißt du, wo er ist?«

Apparat. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so eine Ausdrucksweise gehört hatte. Es passte zu dem alten Telefon, das definitiv aus einem anderen Jahrtausend stammte.

Emma-Louise schüttelte den Kopf. »Er ist unser einziger Maler und Tapezierer hier, er hat immer eine Menge Aufträge, auch im Nachbarort. Aber versuchen sollten Sie es trotzdem. Vielleicht kann er Sie dazwischenschieben.«

Das klang modern, aber leider nicht sehr optimistisch. Ich wollte etwas erwidern und mich dann verabschieden, doch sie kam mir zuvor.

»Sie wollen doch bestimmt etwas trinken. Ich habe eine leckere, selbstgemachte Himbeerlimonade im Kühlschrank.«

Bevor ich ablehnen konnte, lief sie zur Küche und brachte einen Krug mit einer roten Flüssigkeit, füllte sie in ein Glas und reichte es mir.

Ich nippte daran. Es schmeckte erstaunlich gut.

Sie sah, wie sich mein Gesichtsausdruck von skeptisch zu wohlwollend wandelte, und begann zu grinsen.

»Wir brauchen diese ganzen neumodischen Sachen nicht, die man immer in den Geschäften oder in der Werbung sieht. Wir machen das alles selber, auch Mineralwasser mit Zitronengeschmack. Aber vor allem Wurst, Kompott, Marmelade, Tomatensauce, Sauerkraut und saure Gurken. Wir brauchen eigentlich gar keine Supermärkte. Unsere Sachen sind viel besser.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134414
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Liebesroman Sommerlektüre Romantische Komödie Chick-Lit Frauenroman Liebe

Autor

  • Johanna Marthens (Autor:in)

Johanna Marthens entdeckte schon früh ihre Liebe zum Schreiben. Sie arbeitete zunächst als Ghostwriterin und Journalistin, bevor sie 2013 hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Krimis, Romantic Thriller und Erotik und kann inzwischen auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichungen zurückblicken. Zu ihren größten Erfolgen zählen mehrere Nr.1-Bestseller der Amazon-Kindle-Charts sowie BILD-Bestseller.
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Titel: Alarmstufe Blond