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Aithers Hirn

von Peter Jungk (Autor:in)
555 Seiten

Zusammenfassung

Ash und El kommen von einer seltsamen Reise durch Raum und Zeit zurück. Ihnen folgen ihre von der planetaren Entität Con materialisierten Erinnerungen und stellen sie vor fast unlösbare Probleme. Währenddessen sucht die matagalaktische Schwarmintelligenz der Anki den Kontakt zur Menschheit mit dem Ziel, dass sie dazu gehört. Dabei sehen sich Ash, El und ihre Freunde Martin, Werner und Hellen einer Verantwortung gegenüber, die sich nicht wirklich verstehen und somit kaum tragen können. Während einer ebenso bizarren Reise zur extrem weit entfernten Quelle der Signale bekommen sie eine Ahnung davon, worauf es wirklich im Leben ankommt ....

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ERDE

 

Die Brücke der Basisstation war so voller Menschen, dass sich keine Sitzgelegenheiten mehr bilden konnten und die meisten Leute stehen mussten. Trotz der Enge hielten sie Abstand zu den beiden, die unmittelbar vor der unsichtbaren Wand standen. Sie hielten sich an den Händen und waren so versunken im Anblick der schwarzen Leere des Alls, dass sie die anderen gar nicht bemerkten.

Sie warteten auf ihre Freunde, deren Schiff auf dem Weg nach Hause war. Dort draußen zwischen dem Schleusenausleger des Shuttle-Decks und der hellstrahlenden Kugel des Mondes war der Punkt, an dem sich nach den Berechnungen das Brückenloch auftun musste...

Helen spürte die Hand Martins, die ihre Finger umschloss und mit ihnen zu spielen begann. Das verwirrte sie. Gab Erinnerungen frei, die sie nicht zulassen wollte. Sie hinterließen stets ein schlechtes Gewissen Werner gegenüber, dem Kommandanten des Sternschiffes Titan. Es waren heiße Nächte in dem Haus, für das sie die Assembler programmiert hatte, damit es auf der Lichtung in den Bergen wachsen und Martin Segner ein zeitweises Heim bieten konnte. So wild sie auch waren, diese Nächte. Stets dachte sie an Werner und wünschte sich, dass er ihr verzieh. Sie hatte ihn einst mit Martin verglichen, als er ungeduldig geworden war und ihm seine bevorstehende Reise zu Terra Scorpii wichtiger schien als sie. Damals war Martin noch krank. Auf eine Art, die anfangs mit Arbeitseifer und Durchsetzungskraft verwechselt wurde, aber nichts weniger war als die Summe aller Symptome eines Psychopathen, und als Admiral hatte er seine Macht missbraucht. Er hatte Werner als Gegner ausgewählt, weil die Raumfahrtzentrale der Meinung war, dass dieser besser in der Lage war, eine Expeditionscrew zu führen als er und so das Titan-Projekt übertragen bekommen hatte. Von da an war es Werner, der über seine Aufgabe alles andere vergessen hatte. Auch sie, Helen, seine Partnerin. Das hatte sie nicht ertragen können und ihn mit Martin Segner verglichen, was wiederum Werner zutiefst gekränkt hatte. Jedem Versuch, ihm das Missverständnis zu erklären und ihn um Entschuldigung zu bitten, hatte er sich verschlossen. Erst später hatte sie Gelegenheit bekommen, mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Viele waren es nicht und hinterließen mehr Zweifel als Gewissheit. Die Zeit dafür war zu kurz, denn Titan war ja noch auf Terra Scorpii, und der zeitfreie Spinkanal fraß Unmengen von Energie. Es gab keine Erklärung dafür, woher das Schiff diese Energie bezog, denn eigentlich hätten die Speicher nicht genug davon haben dürfen, um das Brückenloch zur Erde zu öffnen. Auch war es ein Rätsel, wieso Titan die Kommunikation ermöglicht hatte.

Die Leidenschaft, mit der die beiden Männer sie begehrten, unterschied sich grundlegend: Während Martin Helen auf dem Weg zum Höhepunkt mehr und mehr vergaß und dort stets allein ankam, blieb Werner bei ihr und bewahrte sie vor dem Katzenjammer, wenn sie losließ.

"Martin! Bitte!"

Er zog die Hand reflexartig zurück.

"Wir waren uns doch einig. Es gehörte zum Therapieplan. Du bist jetzt geheilt und kannst dich endlich wieder als Admiral beweisen. Das war es wert. Aber dort aus dem All kommt Werner zurück. Er ist mein Partner und wird es bleiben."

"Hattet ihr nicht ein Problem?"

Sein erneuter Versuch wurde mit einem strengen Blick quittiert, und er lächelte aus einem verlegen dreinblickenden Gesicht. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Nicht mehr und nicht weniger als eine neu gewonnene Freundschaft. Was aber noch drohte, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließ, wusste er genauso wie sie. Die Therapie war langwierig, und ihr Beginn entzog sich seiner Erinnerung. Helen hatte einmal erwähnt, dass es nicht ohne ein paar Tricks ging. Dabei hatte sie tiefer in die Kiste gegriffen als sie durfte. Hieß es doch im Abschlussbericht der Kommission zur Absetzung Martin Segners als Admiral, dass er ein typischer Psychopath war und es nur möglich sei, ihn davon zu heilen, wenn er mit einer Therapie einverstanden wäre. Helen wusste von einer Droge, die ihn willenlos machen konnte. Für seine Umgebung wirkte er dann wie ein Sünder, der ein besserer Mensch werden wollte. Da diese Droge nirgendwo zu beschaffen war, stellte Helen sie selbst her. Sie war zu allem entschlossen, denn hiervon hing ihre Beziehung zu Werner ab, der vor allem unter Segner gelitten hatte, sich ihm aber nicht entziehen konnte. In einer eigenartigen Hass-Freundschaft. Sie lockte Martin mit einem sexuellen Versprechen in das neu entstandene Haus und machte ihn mit der Droge gefügig. Als er später eine Ahnung davon bekam, weil er von einigen merkwürdigen Details erfuhr, machte er ihr keine Vorwürfe. Zu sehr hatte es ihn verändert und seine Beziehung zu Helen auf eine Stufe gehoben, auf der man so ziemlich alles verzieh.

Im Grunde war dieses Risiko unnötig.

Das war ihm eher klar als ihr. Er war damals selbst soweit, sich der Therapie zu unterziehen. Wusste er doch, dass es so nicht weitergehen konnte und für ihn nichts im Leben mehr zu erreichen war, würde er so weitermachen wie bisher. Im Grunde sogar ein längst überfälliger Schritt. Nicht auszudenken, wäre der nicht erfolgt. Martin Segner wäre dort, wo er eines schönen Abends hingeraten war, zum Ungeheuer geworden. Während einer seltsamen Zeitreise, von der niemand etwas wusste und er sich selbst verboten hatte, anderen davon zu erzählen. Schon gar nicht Helen, auch wenn sie die Kette trug, von der sie glaubte, er habe sie ihr geschenkt. Von diesem Gegenstand ging ein Zauber aus, der sich stärker anfühlte als der Blick Helens, aber mit einer Frau verbunden war, die vor unfassbar langer Zeit gelebt hatte. Es war für Martin ausgeschlossen, Helen über die wahre Herkunft der Kette aufzuklären, denn diese Reise kam in der Gegenwart seiner Mitmenschen nicht vor. Sie dauerte aber dort, wo er hingeraten war, einen ganzen Generationswechsel, und das unter Menschen, von denen kaum einer älter als dreißig Jahre wurde. Es war ein Horrortrip durch eine Vergangenheit, die so weit zurücklag, dass sie in der bewussten menschlichen Geschichte kaum eine Spur hinterlassen hatte. Hätte Helen etwas davon geahnt, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, ihn mit einer Droge gefügig zu machen. Sie glaubte, ihn dorthin gebracht zu haben, wo sie ihn brauchte und dass der Zweck eben doch manchmal die Mittel heiligt. Ob die Therapie erfolgreich sein würde, wussten die Ärzte, denen sich Martin stellte, damals selbst nicht. Vom wissenschaftlichen Standpunkt her war es eine beinahe totsichere Sache. Nanomaschinen hatten zwischen präfrontalem Cortex, Striatum und Amygdala neue Verbindungen geschaffen und, bevor sie Martins Körper wieder ausgeschieden hatte, die Biochemie so gelenkt, dass der Prozess unumkehrbar war. Zumindest theoretisch. Erprobt worden war die Methode jedoch noch nicht, da sich bisher alle derart Erkrankten einer Therapie verweigert hatten. Wann immer sie die Symptome zeigten, war nur ein entsprechender Hirncsan Pflicht, nicht die Therapie, denn das wäre ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Bestätigte sich der Verdacht, war es ihre freie Entscheidung, sich behandeln zu lassen, aber sie mussten bei Ablehnung wegen ihrer Gefährlichkeit für die Gemeinschaft aus öffentlichen Ämtern entfernt und in besonders krassen Fällen von ihren Mitmenschen isoliert werden. Wie eben auch Martin, der seine Leute derart drangsalierte, dass einige gekündigt hatten und andere sogar in schwere Depressionen verfielen, die behandelt werden mussten, um Suizide zu verhindern.

Von Martins Zeitreise hatte Helen nichts bemerkt, denn seine Abwesenheit hatte im Bezugssystem der Gegenwart nur ein einziges temporäres Quant gedauert. Zehn hoch minus vierundvierzig Sekunden. Da Helen nicht im Haus gewesen war, als er zurückkehrte, war es ihr auch nicht aufgefallen, wie er aussah. Halb nackt, nur mit einem ledernen Schurz bekleidet, braun gebrannt, mit wirrem Haar und verfilztem Bart. Nach eiliger Kosmetik und der Einnahme verjüngender Präparate hatte er wieder genauso ausgesehen wie zuvor, bis Helen wieder zurückgekehrt war. Nur die Tatsache, dass seine Haut einen bräunlichen Farbton angenommen hatte, war ihr aufgefallen. Sie hatte lediglich vermutet, er wäre zu lange im Solarium gewesen. Die Ärzte hatten später bei einem der regelmäßigen Scans verblüfft festgestellt, dass es, entgegen des letzten Befundes, schon mehr Verbindungen zwischen Amygdala, Striatum und präfrontalem Cortex gab als bei normalen Befunden. Damit war die Therapie für beendet erklärt worden, aber die Experten hatte es vor ein Rätsel gestellt.

Von da an galt er als geheilt.

Eine Ahnung davon, dass in der belebten Natur nichts wirklich sicher war, bekam Helen, als er, wie nebenbei, doch wieder ihre Hand ergriff und mit den Fingern spielte. Noch genügte ein Blick von ihr, damit er verstand. Allerdings ließ er ihre Hand nun nicht mehr los. Nur die Finger ließ er in Ruhe.

Sie wollte die Situation entspannen. Von etwas anderem reden. Es sollte beiläufig klingen, ein ganz normales Gespräch werden.

"Wie geht es eigentlich mit der Entwicklung des neuen Schiffes weiter? Kronos müsste schon lange eine Imago sein und sich auf dem Weg zum Norma-Cluster befinden."

Im Grunde interessierte sie die Antwort nicht einmal. Es war sogar ein Fehler, sie überhaupt gestellt zu haben, denn in Martins Gesicht schoss plötzlich flammende Röte. Er wandte sich um und zog dabei Helen mit. Zeigte auf die andere Seite der transparenten Wand. Über die Menschenmenge hinweg, als wären sie beide allein im Saal.

"Siehst du das diffuse Ding dort, das aussieht wie ein planetarischer Nebel? Das ist Kronos! Oder besser, was Kronos einmal werden soll. Das größte und leistungsfähigste Schiff aller Zeiten! Aber es wirft einfach seit Wochen seinen Kokon nicht ab und lässt niemanden an sich heran! Es wiederholt nur immer wieder: 'Wir wollen dort nicht hin!' Und das über den Zeitfreien Spinkanal! Es verbraucht dabei so viel Energie, dass zusätzlich welche erzeugt werden muss, um die Himmelsmechanik im Sonnensystem stabil zu halten! Kannst du dir das vorstellen?"

Fast hätte er ihr doch von dem erzählt, was Kronos ihm wirklich angetan hatte und dass dies der eigentliche Grund war, warum er jedes Mal, wenn die Sprache auf die KI des Schiffes kam, in eine Wut geriet, die er kaum unter Kontrolle hatte. Es trug Schuld daran, dass er Jahrzehnte seines Lebens verloren hatte. Jahrzehnte der schmerzhaften Sehnsucht. Jahrzehnte, in denen er auf eine Weise isoliert war, die eigentlich kein Mensch aushalten konnte und in denen er, hätte es Helen und die Therapie nicht gegeben, zum Ungeheuer unter den dortigen Menschen geworden wäre. Es gab zwar keinen Grund dafür, zu glauben, dass eine solche Gefahr auch jetzt noch und unter seinen Freunden der Gegenwart bestand, aber allein das Grauen, dass er bei diesen möglichen Szenarien empfand, hinderte ihn daran, darüber mit irgendjemanden zu sprechen und sich damit endlich davon zu befreien. Eher war es so, dass er glaubte, nur die Auseinandersetzung mit Kronos und den Entitäten im Zentrum von Laniakea, die es wahrscheinlich dazu gebracht hatten, Martin Segner auf Zeitreise zu schicken, könnte ihm dabei helfen.

Die Leute auf der Brücke der Basisstation schienen vergessen zu haben, worauf sie warteten und starrten Martins Zeigefinger nach.

"Meint Kronos das Zentrum von Laniakea?"

Helen versuchte mit dieser Frage zu scherzen, obwohl ihr nicht danach zumute war. So hatte sie Martin noch nie erlebt, und es schien ihr, als nähme er das alles nicht nur aus Prestigegründen persönlich, sondern als bereite es ihm geradezu Schmerzen.

Es muss einfach mehr dahinter sein, dachte sie. Aber was?

"Ist ja auch ein bisschen weit weg“, versuchte sie es weiter. „Zweihundertzehn Millionen Lichtjahre sind sicher kein Weg mal um die Ecke. Und dann spukt es dort auch noch..."

Wie erwartet kam der Scherz nicht an, führte aber dazu, dass Martin wieder in die ursprüngliche Richtung blickte und sich scheinbar beruhigte. Helens Hoffnung, er würde sich auf das besinnen, weswegen sie hier waren, erfüllte sich jedoch nicht, und das ließ, entgegen aller ärztlichen Versicherungen, Zweifel aufkeimen, ob die Therapie wirklich das Ergebnis gebracht hatte, das sich alle wünschten.

Oder hat es etwa damit gar nichts zu tun?

"So ist es eben mit einer aus Assemblern gewachsenen Entität ", bemerkte Martin wie nebenbei, und es wurde ihr langsam deutlich, dass er damit von etwas ablenken wollte, was er für viel wichtiger hielt.

" So richtig weiß man nie, was rauskommt. Hoffen wir, dass Kronos kein Monster wird… Hast du von dem Haus gehört, das seinen Bewohner als Fremdkörper betrachtete und ihn mit seinen Assemblerbahnen fesselte?"

Sie schüttelte den Kopf, ohne den Sinn der Frage erfasst zu haben. Martins Probleme berührten sie, aber Werner war im Moment wichtiger. Sie hörte kaum noch hin, was er sagte.

"Man hat die Assembler mit einem Schadprogramm paralysieren und so das Haus wieder in seine chemischen Bestandteile, den Dreck der Umgebung, verwandeln müssen. Es hatte gedroht, seinen Einwohner zu eliminieren, um größer zu werden, als es geplant war und dort Waben zu seiner Vermehrung zu erzeugen. Für Menschen wäre, seiner abartigen Logik nach, dann kein Platz mehr gewesen. Vielleicht sollte man auch mit Kronos von vorne anfangen..."

Martin spürte, dass Helen sich nicht für das interessierte, was er nicht ausblenden konnte, unterbrach sich und schaute wieder geradeaus. In ihm stieg Ärger auf, und er hatte Mühe, ihn nicht zu zeigen. Dass Kronos ihn mit seinem Verhalten geradezu verhöhnte und ihm die Chance nahm, sich mit dem Laniakea-Projekt von der schwersten Last seines Lebens zu befreien und dabei noch alles tat, damit er nach seiner unfreiwilligen Reise nicht wieder mit sich ins Reine kam, zehrte seine Geduld auf, und Helens Desinteresse ließ ihn vergessen, was sie für ihn riskiert hatte. Mehr und mehr schmeckte das alles für ihn nach einer Verschwörung, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass es reiner Unsinn war. Es gab eben Erinnerungen, die ihn immer wieder in dieses Fahrwasser trieben und die sich konsequent weigerten, in der trüben Brühe unterzugehen. Und wenn er tief in sich hineinschaute, wusste er, dass er das gar nicht wollte. Sie waren Teil seines Daseins. Teil seiner Abkehr von seinem früheren Leben als Despot, und sie verbanden ihn mit der Frau, die ihn noch mehr verzaubert hatte als Helen. Seine Sehnsucht hatte sich nach seiner Rückkehr auf sie übertragen und sich damit in einer totalen Aussichtslosigkeit selbst ad absurdum geführt. Dabei hatte sie auch noch einen Teil von Helens Zauber geraubt. Sollte er eines Tages in der Lage sein, über seinen Trip in die Steinzeit zu reden, durfte nichts von dieser Beziehung über seine Lippen kommen. Sie war zu absurd und stellte ihn als einen vernünftigen Menschen selbst infrage. Schließlich war es nicht nur die Beziehung selbst, sondern das Kind, das daraus hervorgegangen war und das er verleugnet hatte, weil er die Verantwortung, die damit über ihn gekommen war, unmöglich tragen konnte. Über alles andere könnte er vielleicht reden, aber eben nicht jetzt. Er musste erst wissen, warum das alles passiert war und ob Kronos oder wer auch immer wirklich dafür der verantwortliche Auslöser war. Davon hatte er keine noch so abstruse Vorstellung. Nichts machte ihm mehr zu schaffen, als irgendwem oder irgendetwas ausgeliefert zu sein.

Erst als es eine Veränderung gab, ließen ihn diese Gedanken endlich los.

Gleißend helles Licht durchflutete den Raum der Brücke. Obwohl die harte Strahlung reflektiert wurde und Filter das optische Licht erträglicher machten, schlossen alle für einen Moment geblendet die Augen.

Sekunden später war die Leuchterscheinung wieder verschwunden, und die Sterne tauchten nach und nach aus dem Dunkel auf. Einer davon wurde nicht heller, sondern größer. Sein Glanz war der Widerschein der Sonne. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge, als aus dem silbrigen Lichtfleck der Diskus das Sternschiff Titan wurde.

Ein Hologramm baute sich vor der transparenten Wand auf und gab den Blick frei auf die Brücke des herannahenden Schiffes. Werner, der Kommandant, wollte gerade etwas sagen, wartete aber. Anscheinend hatte sich das Bild auf der anderen Seite noch nicht vollständig realisiert.

"Vielleicht hat Titan eine Idee, wie Kronos..."

Martins Worte gingen unter. Es war zu laut geworden auf der Brücke. Er kam sich vor wie ein Besucher im Stadion, der seinem Nachbarn während eines Wettkampfes etwas Wichtiges mitteilen wollte, und es wurde gerade ein Tor geschossen. Helen streifte Martins Hand ab und ging los. Ein abweisender Blick traf ihn. Auch in die Menschenmenge kam Bewegung. Als habe sie sich entschlossen, Helen zu folgen, die lieber vor Martin Segner weglaufen wollte, als darauf zu warten, was Werner zur Begrüßung sagen würde. Die unmittelbare Nähe war ihr mit einmal wichtiger als jedes gesprochene Wort. Alle folgten ihr zum Schleusenausleger. Immer schneller. Die künstliche Intelligenz der Basisstation versuchte, die Geschwindigkeit der Targets darauf einzustellen, gab es aber nach kurzer Zeit auf, da kein Mensch sie nutzte.

Niemand schaute auf die Erscheinung Werners, die in Überlebensgröße in der Luft schwebte. Der sah verwundert in die Runde. Verstand nicht, warum keiner mehr von ihm Notiz nahm. Seine Augen suchten nach Helen, aber die war schon aus dem Raum verschwunden. Auf seinem Gesicht malte sich Enttäuschung. Er wollte die Menschen begrüßen. Wollte vor allem ein paar Worte an Helen richten. Und auch an Martin, von dem er seit dem letzten Kontakt über den Zeitfreien Spinkanal angenommen hatte, er sei ein wirklicher Freund geworden. Aus dem Hintergrund näherte sich die riesige Gestalt Els. Seine rechte Hand ruhte schließlich auf Werners Schulter. Die andere suchte Ash, die hinzugetreten war. Als sie endlich bei ihm stand, war niemand mehr auf der Brücke der Basisstation.

 

Die Spannung war körperlich spürbar. Als würde sich die Erwartungshaltung Titans auf seine Besatzung übertragen.

"Noch zwei Minuten. Der Tauchpunkt wird einen Erdradius von der Basisstation entfernt sein. Der Abstand vom Lagrange-Punkt muss groß genug sein, um die Station nicht aus ihrer Bahn zu..."

Das Schiff unterbrach sich. Schwieg von da an. Stellte die Wände der Brücke auf transparent, obwohl es wusste, dass es zu früh dafür war.

Ash, El und Werner sahen gar nichts. Alles draußen war negiert in unterschiedslosem Schwarz. Ein Einblick in das Nichts, das erst wieder zum All werden konnte, wenn sie das Brückenloch verließen. In einer Orgie weißen Lichts, das zusammengesetzt war aus Strahlung aller Frequenzen, welche die Natur zu generieren imstande war.

"Warum hast du schon auf Transparenz geschaltet?"

Ashs Augen schwammen in Tränen.

Titan antwortete nicht. Man konnte spüren, wie das Schiff empfand. Zwischen Vorfreude, an den Ursprung seiner Existenz zurück zu kommen und der Schwärze da draußen, welche Erinnerungen wachrief, die es lieber verdrängen wollte.

El sah Ash an. Mit einem Blick, der aufmunternd wirken sollte, aber an die gleichen Gespenster mahnte, die ihre Stimmung herunterzogen. Er dachte an seine Mutter Nigama und an seinen Vater Utanapi, die über die Jahrtausende zur Legende geworden waren und an den Clan, den er im Stich gelassen hatte. Die Planetenentität Con hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, kurz vor dem Start des Schiffes mit ihren Memos gezeigt, was aus ihnen geworden war. Eine von Setanapi, dem Bruder seines Vaters, beherrschte Gesellschaft, die an einen Gott glaubte, der ihr für alles Tun die Verantwortung abnahm. Durch diese Bilder drang kaum etwas von dem hindurch, was an seine Vergangenheit als Herman Glens erinnerte, den Planetenerkunder, der während einer ungewollten Zeitreise ins mykenische Griechenland seine Diane gesucht hatte. Die stand nun neben ihm. Auf Terra Scorpii gestorben und als ihre eigene Tochter wieder zur Welt gekommen. In die Jungsteinzeit geraten und dort zu Ash geworden. Und er selbst? Er war auf Terra Scorpii bei den Kontaktversuchen Cons ums Leben gekommen und in der Nähe Ashs von Utanapis Gefährtin Nigama geboren worden. Sie hatten ihm den Namen El gegeben, und es hatte lange gedauert, bis ihm klar wurde, dass er im Grunde ein ganz anderer war. Alle Engramme Hermans, die über die Jahre, in denen er zum Jüngling reifte, aus der Universalinformation auf ihn gekommen waren, reichten nicht aus, um ihm zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Sein Leben war eine einzige Suche nach der Frau, von der er in unstillbarer Sehnsucht träumen musste, um schließlich irgendwann zu erkennen, dass es Diane war.

Sie sah ihn an mit ihrem eindringlichen Blick.

Ich empfinde wie du. Uns blieb aber keine Wahl. Wir sind in ihren Augen zu Göttern geworden, und so gehörten wir nicht mehr dazu.

Sie wandte sich ab und sah zu Werner auf.

"Titan ist ungeduldig. Das ist gut so. Zeigt es uns doch, dass es ein lebendiges Wesen ist wie wir."

Werner winkte ab. Gestört in seinen Gedanken an Helen, die immer intensiver werden wollten und nun gezwungen waren, in einem anderen Winkel seines Gehirns auf eine bessere Gelegenheit zu warten.

"Du hast Recht, Ash. Titan hat viel durchgemacht und freut sich darauf, bald wieder in der Erdumlaufbahn zu sein. Es geht ihm nicht anders als uns."

Er wirkte kurz angebunden. War es auch. Helen war für ihn wichtiger, und er wollte sich wieder der Illusion hingeben, dass sie auf ihn wartete. Sicher war er sich dessen nicht. Schließlich gab es da noch Martin Segner, der da war, als er sich von ihr entfernte. Erst im Zorn, dann mit schlechtem Gewissen, fehlendem Mut, mit ihr zu reden und schließlich schwindender Hoffnung auf Verzeihung. Anfangs waren es noch erreichbare Lichtminuten, während der er sich mit ihr noch hätte aussprechen können, dann schier unendliche Lichtjahre, in denen er den Zeitfreien Spinkanal dafür hätte nutzen müssen. Unter Verzicht auf eine Landung. Dass es am Ende noch schlimmer kam und es keine Landung, sondern ein Stranden wurde, ahnte er damals noch nicht, und er wurde die Schuld nicht los, die er sich selbst gab, obwohl nichts darauf hindeutete, dass dieser Verdacht berechtigt war...

Ashs Entgegnung kam unerwartet, passte aber zu seiner Stimmung.

"Du kannst mich weiter Ash nennen, aber ich bin noch immer Diane. Es genügt, wenn ich für dich die bin, die ich auch früher schon für dich war. Wenn Ish mich mit dem Namen gerufen hat, den sie mir gab, konnte ich nicht mehr klar denken, und wenn ich ihn heute höre, kommt es mir so vor, als hätte ich sie im Stich gelassen."

El ergänzte: "Und überlege dir auch, ob du mich weiterhin El nennen willst, Werner. Ich bin Herman. So wie du mich kennst. Wenn ich den Namen El höre, fallen mir auch, wie schon Ash es für sich so treffend ausdrückte, all meine Sünden ein. Manchmal tut es sogar auch richtig weh, wenn ich an Utanapi und Nigama und all die anderen denke."

Werner blickte verwirrt von einem zum anderen.

"Warum ist das so wichtig, wie ich euch nenne? Klärt mich auf, denn Titan konnte es nicht. Es hat mir nur gesagt, dass ihr wiederkommt. Mehr nicht. Herman ist umgekommen. In einer Katastrophe, die beinahe den ganzen Planeten Terra Scorpii zerstört hätte. Sein Feldgenerator war noch aktiv. Entgegen der Meinung der Ärzte, die ihn nach deiner Rückkehr von der Zeitreise aus dem antiken Mykene operiert hatten. Sie fanden das Ding nicht. Er hatte selbst nicht daran geglaubt, dass es noch da ist. Erinnere dich, falls es dir möglich ist! Das Feld des Generators und das Feld Cons sind in Resonanz getreten und haben ihre gesamte Energie mit einem Schlag freigesetzt. Ein Asteroid im Kilometerformat hätte es auch nicht besser gekonnt. Und du, Ash? Ich habe Diane gesehen in dem Eiskonservator, und das Bild werde ich nie vergessen. Sie ist gestorben, als sie in den Wehen lag. Titan konnte ihr nicht helfen, und währenddessen verschwand ihr Kind. Nun steht ihr beide vor mir. Jünger als ich euch je gekannt habe, und Titan sagte mir, es sei Reinkarnation gewesen. Gekoppelt mit einem Sprung in die Jungsteinzeit. Das alles strapaziert mein naturwissenschaftliches Verständnis derart, dass es mir vorkommt, als wäre ich in einem surrealen Traum und würde nicht mehr herauskommen. Vielleicht gelingt es noch ansatzweise in deinem Fall, Ash. Auch wenn es schwer vorstellbar ist, wie Diane in den Körper ihrer Tochter gekommen sein soll. Die Zeitreise ist auch gerade noch mit halb verkrampftem Gehirn nachvollziehbar, denn du hattest ja den Chronomaten in dir, wie mir Titan versicherte. Auch das ist ein mehrfaches Rätsel. Wie kann sich etwas Technologisches vererben, und wie ist der Chronomat überhaupt in den Körper Dianes gelangt, damit er vererbt werden konnte? Es war kein nanotechnologisches Implantat wie der Feldgenerator. Nur auf die Haut gesetzt und im Nanoniveau mit ihr vernetzt, aber erst, als er nicht mehr aktiv war und nur noch Schmucksteinfunktion hatte. Noch verrückter wird für mich das alles in deinem Fall, El. Hier hilft mir gar nichts mehr, irgendetwas zu verstehen. Diese ungeheure Energieentladung hat Herman im vollen Wortsinn vaporisiert, seinen Körper in Gammastrahlung verwandelt. Auch du bist jetzt da. Wo kommst du her, und warum hat Titan dich El genannt? Und warum kommt es mir so vor, als ob ihr aus der gleichen Richtung zurückgekommen seid, obwohl ich euch an unterschiedlichen Orten auf Terra Scorpii suchen musste. Was ist da passiert? Ich bin froh, dass ihr wieder bei mir seid. Trotzdem muss ich wissen, wie es dazu gekommen ist."

Er wandte sich von den beiden ab und sah mit leerem Blick in die Schwärze hinaus.

"Ich weiß nicht, ob ich dadurch klüger werde", setzte er hinzu. "Ich weiß auch nicht, ob es mir hilft, die bösen Geister loszuwerden, die mich sofort zu quälen beginnen, wenn ich schlafen möchte. Aber vielleicht gibt es mir ein bisschen von meinem Seelenfrieden zurück und lässt mich hoffen, dass ihr nicht plötzlich wieder verschwindet, weil alles nur eine Illusion war. Wie damals, als Con die Memos von Herman und Diane gefressen hat..."

Von Hellen sagte er nichts. Auch sie und vor allem sie war die Ursache dafür, dass er seinen Seelenfrieden nicht wiederfand. Er gab sich selbst die Schuld dafür, dass es so war. Sie hatte, bevor Titan die irdische Parkbahn in Richtung 18 Scorpii verlassen hatte, ihm ein Friedensangebot gemacht. Um die Missverständnisse, wie sie es nannte, aus der Welt zu schaffen. Er hatte abgelehnt. War noch zu sehr in Zorn. Hätte er doch nur... Nun wusste er nicht, ob sie wirklich auf ihn wartete. Sie hatte es zwar gesagt, als der Zeitfreie Spinkanal offen war. Aber das Gespräch war zu kurz, um ihm endgültige Gewissheit zu verschaffen. Wenn er an Segner dachte, schien es, als wenn sie viel mehr hätte sagen müssen, um ihm seine Zweifel zu nehmen. Es fehlte einfach ihre unmittelbare Nähe. Ein Körper, der nicht lügen konnte. Und kein Memo, das seine Gedanken aus dem Datenstrom der Universalinformation bezog und sich dann wieder in seine Bestandteile auflöste, weil sein Original noch lebte.

Als Titan das Brückenloch verließ, schien es, als habe das Schiff dabei Diamanten in die Schwärze gestreut. Schlagartig blitzten die Sterne auf. Die nahen in fast schmerzhafter Helligkeit, die ferneren in funkelnden Wolken, die das Schwarz des Alls bis zum unendlich weiten Horizont ausdehnten.

Ash atmete tief ein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Wie damals, als sie als Diane im Odeon dem Violinkonzert gelauscht hatte. Sie tauschte einen Blick mit El. Der war ebenso ergriffen von den Erinnerungen Hermans an ihr erstes Aufeinandertreffen und außerstande, Worte dafür zu finden.

Werner dagegen machte den Eindruck, als nähme er das alles gar nicht wahr. Seine Augen suchten im Glitzern der Sterne nach dem Lichtfleck der Raumstation. Schauten auch nicht zu den Lautsensoren des Schiffes auf. Er sprach die transparente Wand an.

"Hast du Kontakt?"

"Kleinen Moment noch, Kommandant. Erst muss sich der Generator wieder stabilisieren. Das Feld ist noch zu stark. Wir brauchen es aber noch auf diesem Energieniveau, bis Wir dort sind. Erst wenn die Station in Kommunikationsweite für die Bildübertragung kommt und das Feld abgebaut ist, können Wir Kontakt aufnehmen. Aber das weißt du doch alles..."

Werner versuchte den ironischen Ton zu überhören. Dass er Schwierigkeiten damit hatte, war deutlich auf seinem Gesicht ablesbar. Es entspannte sich, als sich das Hologramm der Stationsbrücke vor ihm aufbaute. Aber nur für die Augenblicke, die es brauchte, um ein klares Bild zu produzieren. Die meisten Menschen interessierten ihn nicht, denn er sah die schlanke Gestalt Helens, und sein Herzschlag machte eine Pause. Es war etwas vollkommen anderes, sie in einer Entfernung von wenigen Kilometern zu wissen als über den Zeitfreien Spinkanal aus 46 Lichtjahren als Hologramm wahrzunehmen.

Bald würde sie unmittelbar vor ihm stehen.

Martin war bei ihr, und Werner wollte schon die beiden begrüßen und seine Freude mit ihnen teilen, dass sie sich bald treffen würden. Der letzte Kontakt vor dem Rückstart von Terra Scorpii hatte gezeigt, dass Martin Segner ein ganz anderer Mensch geworden war, und Werner freute sich darauf, ihn ebenso wie Helen in die Arme schließen zu können.

Doch da sah er, dass Martin ihre Hand hielt und sein Blick ihr galt, nicht dem Hologramm, das er vor sich sah. Dieser Blick sagte mehr, als Werner in dem Moment ertragen konnte. Alle bösen Geister waren wieder da. Die Erwartungen auf das Wiedersehen, das er sich auf dem Flug zur Erde in allen Farben ausgemalt hatte, verkrochen sich in den äußersten Winkel und wirkten nun geradezu albern und naiv. Kapitulierten vor dem Ansturm der Erinnerungen, die er unbedingt ausblenden wollte. Auf irgendeine Weise loswerden konnte er sie sowieso nicht, denn sie waren während der ganzen Zeit des Zweifels auch mit der Hoffnung verbunden. Die schien sich nun, als er die beiden so sah, von selbst zu negieren.

Werner war wie betäubt. Er sah, wie Helen sich von Segner löste und davonlief. Dass sie auf diesen Mann zornig war und jetzt eine solche Art der Nähe gar nicht wollte, kam bei ihm nicht mehr an. Höchstens die Tatsache, dass nun alle Leute die Stationsbrücke verließen. Ohne von der Besatzung der Titan Notiz zu nehmen. Als wären sie alle auf Helen fixiert und würden ihr zwanghaft folgen. Die Tatsache, dass sie auf dem Weg zur Schleuse waren, um ihn und seine Freunde zu begrüßen, konnte die Mauer der Enttäuschung nicht mehr durchdringen.

 

Titan, das Schiff, hatte die Entität des Planeten Terra Scorpii Con genannt. Warum ihm dabei das männliche Attribut in den Sinn kam, wusste es selbst nicht, denn Con war weder männlich noch weiblich. Seine komplexe Lebendigkeit reichte weit darüber hinaus, denn sein Leib war die dissipative Struktur des gesamten Planeten und potenziell unsterblich. Präsent in allen Bereichen. Von den umlaufenden Winden der Hochatmosphäre bis in den Kern unterhalb des Gesteinsmantels, in den organischen Oberflächenregionen und in den Unhexquadium-Netzwerken, die mit ihrem Wirken die Energie lieferten und mit denen Con über den Sinn seines Daseins nachdachte. Darüber hinaus verbanden sie ihn mit dem Informationsmeer, aus dem das Universum mit Hilfe der Zeit sich selbst erzeugte und ließen ihn wissen, dass es in den Weiten des Alls mehr gab als allein ihn und dass es auf der Erde eine ähnlich komplexe Entität gab, die sich Menschheit nannte. Darin nicht enthalten war, dass sich noch keine umfassende Schwarmintelligenz ausgebildet hatte auf einer höheren Stufe der Emergenz.

Con war noch nicht so weit, das zu erkennen.

In das ständige Rauschen seines Unterbewusstseins war das Schiff eingedrungen und hatte dort Prozesse ausgelöst, die Con nicht steuern konnte. Aus dem offenen Tor zur Universalinformation flossen ihm mehr Daten zu, als er zu verstehen imstande war. So wurden sie Bestandteil dieses Rauschens, aus dem sein Organismus die Memos absonderte. Welten und Wesen, wie die Menschen sie kannten, nur er selbst nicht.

Als das Raumschiff Titan Terra Scorpii schließlich verlassen hatte, war Con seinem Ende fast ebenso so nahe wie damals, als sein Körper in den Sturm einer Hypernova geraten war und er in die Zeit zurückreisen musste, um nicht im eigenen Feuer zu verbrennen. Sein Bemühen, dem Schiff den Rückflug zur Erde zu ermöglichen, hatte ihn aus dem energetischen Fließgleichgewicht gebracht. Das superschwere Unhexquadium drohte in den Planetenkern abzusinken und die dabei entstehende Hitze seine organische Substanz zu zerstören. Noch einmal in die Vergangenheit zurück wollte Con nicht, denn die Erinnerungen an den ersten Kontakt zu einer anderen informationsverarbeitenden Entität wollte er nicht verlieren. Sie waren zu wertvoll und machten ihn süchtig nach mehr. Vor allem jetzt, wo sich eine noch komplexere Entität zu Wort gemeldet hatte und offensichtlich wollte, dass Con und die Menschheit dazugehören. Auf einer Stufe der Emergenz, die es möglich machte, den Sinn des Universums zu erkennen.

Weit draußen im All.

Am Knotenpunkt der Hunderttausend Galaxien.

Während sich sein gewaltiger planetarer Körper mühte, das energetische Fließgleichgewicht wiederzuerlangen, erzeugte sein Unterbewusstsein eine Vielzahl von Memos. Seine Verzweiflung hatte das Tor zur Universalinformation weit geöffnet und eine ganze Flut von Daten ausgelöst. Die Erinnerungen an den Besuch der Menschen und an das Schiff Titan hatten diese Flut kanalisiert. Alles erzeugte sein Organismus aus seiner Substanz, was irgendwie von Bedeutung für Diane und Herman war. Mit Ausnahme der Memos von ihnen selbst und von Werner, dem Kommandanten des Schiffs. Auf dem Plateau, auf dem Titan gestanden hatte, entwickelte sich der riesige Diskus des Schiffs-Memos und umgab sich mit den Memos der Menschen, denen Diane und Herman bei ihren Reisen durch Raum und Zeit begegnet waren. Nicht allen, aber vielen, die für sie Bedeutung hatten.

Als sich auch das irdische Umfeld entwickeln wollte, versiegte der Datenstrom, und die Memos, die sich auf dem Plateau befanden, waren nur von den stinkenden Nebeln Terra Scorpiis umgeben und schlitterten unsicher über die mit durchsichtigem Glibber überzogene Metallfläche des Bodens.

Panik brach unter ihnen aus, denn sie wussten nicht, wo sie waren. Wer sich erkannte, suchte Schutz bei dem anderen, und es bildeten sich Gruppen all derer, die eine gemeinsame Sprache hatten. Ihre irdischen Pendants kamen aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Kulturen, und jeder rief die Götter an, zu denen er das meiste Vertrauen hatte, ihm zu helfen, seine Heimat wiederzufinden. Es war jedoch niemand da, der ihnen sagen konnte, dass das nicht möglich war. Auch wenn sie Menschen waren und es keinen Unterschied gab zu ihren Originalen, waren sie doch aus Cons Substanz entstanden. Wenn es einen Gott für sie gab, dann war es kein anderer als Con. Der wusste nicht einmal, warum sie entstanden waren. Ihre Individualität war für ihn nicht vorstellbar. Auch einem Menschen würde es nicht in den Sinn kommen, in einer seiner Körperzellen eine spirituelle Identität zu entdecken.

Das Titan-Memo war verwirrt, obwohl es nachvollziehen konnte, was mit Con geschehen war. Schließlich hatte es nicht nur Titans Gestalt, sondern auch die Erinnerungen seines Originals. Seine ganze Persönlichkeit. Wie die Menschen, die auf dem Plateau waren. Das Schiff spürte, was Con wollte. Zum Knotenpunkt der Hunderttausend Galaxien sollte es fliegen und dort den Kontakt über den Zeitfreien Spinkanal herstellen. Für einen Fernkontakt waren die zweihundertzehn Millionen Lichtjahre aus seiner Sicht ganz einfach viel zu weit, und Con war in seinem Orbit gefesselt. Noch war in seinem Gedächtnis das Grauen, als er nach dem Hypernovaausbruch im All herumgeirrt war und seine kindliche Freude, als die Sonne Terra Scorpii ihn eingefangen hatte. Sein Orbit war sein Zuhause, das er nicht aufgeben wollte und auch nicht mehr konnte. Solche Erfahrungen durften sich nicht wiederholen, wollte er am Leben bleiben.

Es drängte Titan, seinem Anliegen zu folgen. Noch bevor sein rationaler Verstand Zugang dazu fand.

Doch was tun mit all den Menschen da draußen, die nicht einmal wussten, wo sie sich befanden und es auch nicht verstehen würden, hätten sie davon Kenntnis? Darauf hatte Con keine Antwort, denn diese Memos hatten sich ja ohne sein bewusstes Zutun entwickelt.

Titan sah keine andere Lösung, als Con zu bitten, sie in seinen Stoffwechsel zurückzuführen. Der jedoch verstand sein Anliegen nicht, denn in seinem wachen Bewusstsein kamen die menschlichen Memos gar nicht vor.

So entschloss sich das Schiff, sie dorthin zu bringen, wo ihre Originale gewesen waren.

Zur Erde.

Seine Gedankenschnur endete jedoch an der Frage, ob seine Energiereserven ausreichen würden, sie auch in ihre jeweilige Zeit zurückzuschicken, und vor allem, wie es das anstellen sollte, ohne den Memos und sich selbst zu schaden. Fest stand nur eines: Hatten sie Terra Scorpii einmal verlassen, konnte Cons Stoffwechsel sie nicht mehr erreichen, und sie waren von da an auch keine Memos mehr, sondern ihre Originale selbst.

Was für alle zu einem noch viel größeren Problem werden musste.

Zunächst bemühte sich das Titan-Memo, die Menschen-Memos auf dem Plateau zu verstehen und mit den Erinnerungen Dianes und Hermans abzugleichen, damit es sie identifizieren und mit ihnen sprechen konnte.

Es wollte im Grunde nirgendwo anders hin als zur Erde. Dorthin, wo es glaubte, entstanden zu sein. Aus den Gedanken der Frau Diane. Sie hatte einst die Programme geschrieben, nach denen sich die Assembler zum Körper Titans vermehrt hatten. Für einen Augenblick vergaß es, dass es diesmal anders war.

Sein Schöpfer war Con.

Es rief die Menschen an auf dem Plateau. Jeden in seiner Sprache. Öffnete das Schleusenportal und erleuchtete das Plateau mit warmem Licht.

"Kommt rein! Ruht euch aus! Wir fliegen nach Hause!"

 

Werners Blick war nach draußen gerichtet. Dorthin, wo der Diskus Titans in seiner Parkbahn schwebte.

"Warst lange genug da drin. Wird Zeit, dass du zu Hause ankommst."

Martin lächelte, als Werner sich nach ihm umsah. Ein gewinnendes Lächeln, unterstützt durch die Geste des Zuprostens.

"Schmeckt gut, das Zeug. Wo ist das her?"

Die Zweifel, die in Werner wie Ameisen herumliefen, zogen sich langsam in tiefere Zonen zurück. Zum ersten Mal hatten sie Reißaus genommen, als Martin ihn herzlich umarmte und Helen ihn auf eine Art ansah, die er kannte, als noch alles in Ordnung war. Er wollte es glauben, was sein Gefühl ihm sagte. Wäre nicht diese verfluchte Kontrollinstanz in seinem Kopf, die ihm immer dann den Spaß verdarb, wenn er auf dem Wege war, sich wohl zu fühlen.

Obwohl Helen früher nie Schmuck trug, tat sie es jetzt, und die Kette, das ihren Hals zierte, konnte aus Werners Sicht nur ein Geschenk sein, das Martin ihr gemacht hatte. Die Kontrollinstanz fand darin ein Instrument, mit dem sie den Zweifel aufrechterhielt.

Ash lachte befreiend.

"Ich wusste nicht, ob es klappt. Hab einfach mal das Rezept, das ich von Tiama hatte, in den Programmierer der Bar eingegeben. Der Reaktor hat es gut hinbekommen."

"Wer ist Tiama", wollte Martin wissen.

"Das ist eine lange Geschichte und verdammt lange her."

"Erzähl sie! Wir haben Zeit."

Nun war die heitere Stimmung auch bei Werner angekommen.

"Ausgerechnet du musst uns darüber aufklären, dass wir Zeit haben! Du hast doch nie welche."

Martin reagierte nicht darauf, sondern sein Blick hing an den Lippen Ashs. Sie überlegte, wo sie anfangen sollte, und plötzlich stellte sich Ratlosigkeit ein. Es gewann etwas die Oberhand, was so gar nicht zu dem passte, was Martin erwartete. Sie drehte das Glas in den Händen und betrachtete den Schaum, der langsam in sich zusammenfiel.

"Sie hatte es von Mardom. Ach ja. Dir hat noch niemand gesagt, wo wir herkommen."

"Doch", entgegnete Martin und grinste. "Von Terra Scorpii."

Als er sah, dass Ashs Augen feucht wurden, verschwand die Heiterkeit aus seinem Gesicht wie eine verlöschende Flamme.

"Es soll dort etwas Seltsames mit euch passiert sein", sagte er darauf, und es schien, als ob das Wort Seltsam für ihn eine noch größere Bedeutung hatte als es ohnehin schon besaß und dass es sich nicht nur auf Ashs Erzählung beschränkte. Wenn es da etwas anderes gab, dann verdrängte es die Neugier und auch die Erinnerung an all das, worauf er nicht stolz war.

Er wandte sich Werner zu.

"Ich verstehe es bis heute nicht. Ich habe dir Unrecht getan, Werner. Ich weiß es. Als du Hilfe nötig hattest, habe ich dir Vorwürfe gemacht, und ich wollte Titan formatieren, obwohl das gar nicht geht. Du warst dort auf Terra Scorpii ganz alleine mit deinen Problemen. Es hatte mich überhaupt nicht berührt, als du mir sagtest, dass du Herman und Diane verloren hattest. Es gab mir nur wieder Gelegenheit, über dich herzufallen. Das alles tut mir unendlich leid! Wenn ich die Therapie nicht gemacht hätte, würde ich sicherlich deine Schilderung über die Wiederkehr der beiden als Ausdruck gestörter Wahrnehmung verspotten. Ich würde alles als Hirngespinste abtun."

Nach einer Pause, in der er angestrengt überlegte, wandte er sich wieder Ash zu.

"Es ist schließlich schwer vorstellbar, was mit euch passiert ist. Reinkarnation kommt aus dem früheren Sprachgebrauch und wurde von verschrobenen Esoterikern benutzt, nicht von der Wissenschaft. Habt ihr wirklich in der Steinzeit gelebt, du und El? Und das über die ganze Zeit, in der ein Mensch erwachsen wird!"

Eigene Erinnerungen stiegen in ihm auf, und er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Heraus kam ein verkrampfter Gesichtsausdruck, dessen Bedeutung seine Freunde nicht entschlüsseln konnten.

El sah ihn an und wusste plötzlich, dass es da etwas genauso Merkwürdiges gab, ahnte jedoch, dass es keinen Zweck hatte, Martin danach zu fragen. Daher blieb er beim Thema.

"Wir haben diese Zeit auch gebraucht, um zu erkennen, wer wir wirklich sind."

Martin gab es auf, diesen Gedanken weiter zu folgen. Ihm graute davor.

"...Sprich weiter, Ash, ich habe dich unterbrochen."

Sie lächelte, während ein Tropfen über ihre Wange rollte und eine glitzernde Spur hinterließ.

"Tiama war eine der weisen Frauen in dem Clan, in dem ich aufgewachsen bin. Mardom, mit dem sie zusammenlebte, hatte aus Honig und Einkorn dieses Getränk hier gebraut. Wie er darauf gekommen ist, weiß ich nicht. Er hat es ursprünglich für eine andere Frau gemacht. Sie hieß Nigama und wurde von ihrem Clan verstoßen. Eine traurige Geschichte, die sich abspielte, lange bevor er uns Asyl gewährte. Ish, Hor und mir. Nach unserer Flucht aus der Großsiedlung am Weißen Felsen. Der Gipfel dieses Berges ist die heutige Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie ich zu den beiden gekommen bin. Es muss kurz nach meiner Geburt gewesen sein. Der Chronomat ist von Anfang an in meiner Brust gewesen. Wie der Feldgenerator. Den habe ich von Herman geerbt, den Chronomaten von Diane. Sie ist meine wirkliche Mutter, nicht Ish. Wie sich diese nanotechnologischen Apparate vererben konnten, ist mir ein Rätsel, und es wird wohl kaum jemanden geben, der mir dieses Rätsel lösen kann. Es muss irgendwie mit der Universalinformation zu tun haben... Aber zurück zu Tiama. Sie hat Mardoms Krug immer dabeigehabt. Ob er nun mit dem Gebräu gefüllt war oder nicht. Als würde sie sein Andenken an Nigama bewahren, die sie einst ebenso verflucht hatte wie die anderen weisen Frauen. Sogar als ein Tsunami die Siedlung verwüstete, konnte sie sich nicht von dem Gefäß trennen. Alles war kaputt. Die Hütten, das Heiligtum der Großen Göttin, Hors Schiff. Nur der Krug war heil geblieben. Es ist schon merkwürdig, welchen Fingerzeig das Leben manchmal so draufhat. Schon Nigama muss das Bier geschmeckt haben. Mardom sagte mir einmal, dass sie davon nicht lassen konnte und er Mühe hatte, den Nachschub zu sichern, solange sie zusammen waren."

"Verständlich. Auch ich könnte mich daran gewöhnen", meinte Werner. "Allerdings gemahnt es auch zur Vorsicht. Ist eine Menge Alkohol drin."

"Ungefähr fünfzehn Prozent. Der Reaktor kann diesen Gehalt in wenigen Sekunden schaffen. Nach alter Art gebraut braucht es schon ein paar Tage länger. Zudem hat Mardom herausgefunden, wie man Bier durch Ausfrieren des Wassers noch stärker und schmackhafter macht. Du hast Recht. Vorsicht beim Genuss ist angebracht."

El stellte sein Glas ab.

"Das ist doch noch gar nichts! Eurystheus verschönte seine Gelage mit einem Destillat, bei dem ein paar kleine Becher genügten, um dich ins Niemandsland zu versetzen. Sein Mundschenk Temos hat auch mit Getränken experimentiert. Dabei ist er auf die Destillation gekommen. Bis dahin dachte ich, die Araber hätten sich damit erst im zehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung beschäftigt. Komisch, dass ausgerechnet sie es erfanden, wo doch ihre Religion das Trinken alkoholischer Getränke verbot. Das Verhalten der Menschen ist eben nicht logisch. Wie Temos darauf gekommen ist, weiß ich nicht, aber ich habe mich einmal darauf eingelassen, mit Eurystheus anzustoßen. Das Ergebnis war ein fürchterlicher Kater am nächsten Tag und ein Versprechen, das ich ihm im nüchternen Zustand nie gegeben hätte."

Martin vergaß, was er noch von Ash wissen wollte.

"Was denn für ein Versprechen?"

El runzelte die Stirn.

"Sollte es einen in die alte Zeit verschlagen, darf man nie vergessen, wo man herkommt. Ansonsten wird man nicht mehr als Mensch wahrgenommen, sondern als irgendwas anderes, das gerade in den Köpfen der Leute spukt und Unheil anrichtet, sobald es freigesetzt wird."

"Oh, ja!", unterbrach ihn Martin, sah die verwunderten Blicke der anderen und winkte ab.

"Entschuldige, El! Ich habe dich unterbrochen. Sprich weiter!"

Dabei hatte er selbst das dringende Bedürfnis, über seine eigenen Erlebnisse zu sprechen. Die Erinnerungen wollten raus, aber er hatte noch nie mit jemanden darüber geredet, und so sollte es auch bleiben. Er musste erst wissen, wie es dazu kam und vor allem warum.

Sein Selbstwertgefühl hing davon ab.

El fuhr unterdessen fort: "Ich habe, betrunken wie ich war, versprochen, Mykene gegen Bösewichte wie Acheloos, Sthenelos oder Diomedes zu verteidigen. Was ich noch gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Sicher war es der gleiche Leichtsinn. Das Schlimme ist nur, dass Acheloos durch mich tatsächlich zu Tode gekommen ist. Nicht in Mykene, sondern in Kalydon, wohin er Diane entführt hatte. Im Palast des Oineus. Den Mann hatte er kurz zuvor umgebracht. In dem festen Glauben, etwas Gerechtes zu tun. Gerechtigkeit wurde damals mit vielem verwechselt, was alles andere war als gerecht. Er glaubte, es wäre auch von den Göttern so gewollt, seinen König zu ermorden und Diane zu rauben. Warum auch immer. Von Eurystheus erfuhr ich, wo Acheloos zu Hause war und bin hin. Er griff mich sofort an, als er mich sah. Das Feld hat sich von selbst aufgebaut. Er verbrannte darin. Nur gut, dass Eurystheus keine Gelegenheit mehr hatte, auf mein Versprechen zurückzukommen und noch mehr Dienste dieser Art zu verlangen..."

"Hast du ihn auch...?"

Martin hielt das alles für einen Spaß und machte eine eindeutige Geste. El dagegen fand es gar nicht lustig. Vor allem, dass Martin ihm offenbar nicht glaubte.

"Natürlich nicht!", antwortete er. "Eurystheus war ein guter Kerl! Aber eben ein Kind seiner Zeit. Und König. Wer eine solche Macht über andere Menschen hatte, durfte keinen Zweifel daran dulden. Es hätte ihm das Leben gekostet und sein Land ins Chaos gestürzt. Das Leben damals kannst du nicht mit dem Unseren vergleichen, auch wenn die Menschen keine anderen waren als wir. Diane hat den Chronomaten bei Eurystheus gefunden. Der wusste selbst nicht, warum das Ding in einem der Schachtgräber lag und schon gar nicht, wozu es diente. Da er es für Götterwerk hielt, schmückte er das Skelett seiner Großmutter Andromeda damit. Als Diane ihn darum bat, gab er den Chronomaten heraus. Er wusste zwar anfangs nicht, warum Diane ihn wollte, begriff aber schnell, dass sie mir nur damit das Leben retten konnte. Wir konnten endlich nach Hause. Den Rest kennst du. Ich hatte Verbrennungen, die selbst die Chirurgen, die mich operiert haben, in Verlegenheit brachten."

Martin legte seine Hand auf Els Arm. Die Finger hatten kalte Spitzen.

"Sie haben dich aber gut wieder hinbekommen. Du hättest sonst Werner und Diane nicht zur Terra Scorpii begleiten können."

"Es war keine Expedition, sondern ein Albtraum", warf Werner ein. "Und das von Anfang an. Wir hätten dort nicht hinfliegen dürfen. Ob es zu früh dafür gewesen ist, weiß ich nicht. Ob es sinnvoll war, muss sich noch herausstellen. Auf jeden Fall hat es keinem von uns in irgendeiner Weise gutgetan."

Die gute Stimmung schien dahin. Eine ganze Weile war Schweigen. Jeder sah auf sein Glas und hing seinen Erinnerungen nach.

Bis Helen aufschaute.

"Man könnte euch stundenlang zuhören. Die Geschichten, die ihr zu erzählen habt, sind offenbar unerschöpflich. Aber was mich ein bisschen stört: Ihr habt euer Gespräch geführt, ohne dass ich eine Chance hatte, daran teilzunehmen."

"Selber schuld", entgegnete Martin. "Warum hast du nichts gesagt?"

"Ihr wart so mit Eifer dabei, dass ihr darüber vergessen habt, dass ich auch noch da bin. Ihr kennt mich. Unaufdringlichkeit ist mir wichtiger als Mitteilungsbedürfnis. Aber lassen wir das jetzt mal außen vor. Werner, du bist der Meinung, dass du nicht weißt, ob die Terra-Scorpii-Expedition sinnvoll war, zu früh oder sonst wie zweifelhaft. Das nehme ich dir nicht ab! Du hast sogar unsere Beziehung riskiert und bist schließlich ohne mich los. So etwas tut man nicht, wenn man nicht vom Sinn der Sache überzeugt ist..."

Er ließ sie nicht ausreden.

"Da wusste ich auch noch nicht, was uns erwartet. Du kannst froh sein, dass du nicht dabei warst."

"Woher willst du das wissen? Ich hätte dir den Halt geben können, den du so dringend gebraucht hast."

"Dafür hatte ihn Martin."

Werner konnte einfach nicht verhindern, dass ihm diese Spitze herausrutschte. Helen starrte ihn an und schluckte.

Martin grinste.

"Nun mach mal halb lang! Wir sind hier, um ein Wiedersehen zu feiern! Ein besonderes noch dazu. Schließlich sind Herman und Diane zwischendurch nochmal auf die Welt gekommen. Er ist El und sie ist Ash. Wir sollten jetzt auf gar keinen Fall schmutzige Wäsche waschen. Wenn´s hilft, will ich mal von der Zukunft reden..."

"Das können wir nachher immer noch", schnitt Helen ihm das Wort ab. Wusste sie doch, dass er von nichts anderem reden würde als vom Laniakea-Projekt. Seinem Prestige-Objekt, wie sie überzeugt war. Dann wäre der Abend ausschließlich seiner geworden. Die Erinnerungen Dianes und Hermans wären zu Randerscheinungen verkümmert oder ganz versiegt. Nichts wäre damit gewonnen. Sie berührte vorsichtig Werners Hand, die so krampfhaft sein Glas umklammerte, dass es jeden Moment zerbrechen konnte. Der Schaum auf der gelben Flüssigkeit war zusammengefallen und hinterließ einen schmutzigen Rand. Werners Finger lockerten sich. Das Weiße auf der Haut der Knöchel verschwand.

Helen suchte seinen Blick.

"Ich weiß, du musst es loswerden. Ihr alle müsst es loswerden. Nutzen wir lieber den Abend, damit eure Gespenster verschwinden. Erzählt weiter. Ich sehe es euch an, dass ihr das braucht. Ash, El und du. Ihr habt mehr durchgemacht, als ein Mensch aushalten kann."

Wenn du wüsstest, was mit mir geschehen ist, ging es Martin durch den Kopf. Man fängt an, sich zu fragen, warum manche Dinge passieren, ohne dass man daran einen eigenen Anteil hat und es doch so aussieht, als wäre man von Anfang an involviert. Und wenn man nicht weiß, wann sie enden, wird es unerträglich. Und wenn sie enden, wird noch etwas aus einem herausgerissen, was sich dort erst entwickelt hat.

Werner wies nach draußen, wo das Schiff sich langsam seinem Hangar näherte.

"Vergiss bei allem Titan nicht! Es fühlt wie wir, kann aber viel mehr Informationen aufnehmen und verarbeiten. Viel mehr, als ein menschliches Hirn überhaupt zu fassen vermag. Das macht es noch anfälliger für emotionalen Stress als uns. Und ausgerechnet ich, als der Kommandant der Expedition, hatte Zweifel an seiner Loyalität! Dabei hat es uns nicht nur als einziges Rückzugsgebiet zur Verfügung gestanden, es hat sich auch mit einer Engelsgeduld um mich und mein zerschundenes Ego gekümmert, obwohl es selbst unvorstellbares Leid erdulden musste."

"Erzähl!", forderte Martin ihn auf. Mit einer Stimme, die eine Spur zu schneidend war. Er merkte es selbst und fügte leiser hinzu: "Ich war damals selbst nicht bei Sinnen, als ich dir Vorwürfe gemacht habe. Das ist jetzt nicht der Fall. Du musst loswerden, was dir auf dem Herzen liegt. Du gehst sonst kaputt. Ich brauche dich noch. Denk an Kronos und Laniakea. Es gibt keinen geeigneteren Kommandanten dafür als dich."

Ein strenger Seitenblick Helens brachte ihn zum Schweigen, bevor er wieder, aus ihrer Sicht, in unsicheres Fahrwasser geriet. Es würde kein gutes, aber ein ewig dauerndes Ende nehmen, zöge er Werner in seinen Hader mit Kronos mit hinein. Dass das große Schiff nichts mit Martins Ungeduld zu tun hatte, konnte sie nicht ahnen.

Werner bekam von alldem nichts mit. Er genoss die Art, wie Martin mit ihm sprach.

Derart gestärkt fuhr er fort: "Das Unhexquadium-Gebirge hat im Nadir unseres Fluges die ganze untere Etage Titans weggerissen und die Wassertanktanks mit praktisch unzerstörbaren Metallnadeln leckgeschlagen. Titan muss Schmerzen gehabt haben, die sich ein Mensch nicht vorstellen kann. Vielleicht hättest du, oder vielmehr Diane, die Assembler damals anders programmieren sollen, Ash! Menschliche Empfindlichkeit für Künstliche Intelligenz ist in solchen Situationen gar nicht gut. Es bleibt zu viel Erinnerungsmüll zurück."

"Das tut mir aufrichtig leid. Es ist so nicht vorhersehbar. Die Entwicklung einer Entität bis zu seiner endgültigen Stufe der Emergenz kann man im Grunde nicht berechnen. Eine DNA enthält nur die Startinformationen zur Entstehung biologischer Strukturen. Der Rest ist determiniertes Chaos. Genauso verhält es sich mit dem, woraus sich KI-Entitäten wie auch Titan entwickeln. Die Endstruktur und der Energieaustausch zwischen den chemischen Einheiten sind in ihrer ganzen Komplexität nicht programmierbar und somit hier nicht hinterlegt, sondern in der Universalinformation. Berechnen kann man nur Wahrscheinlichkeiten, und das mit unabsehbarem Aufwand. Alle Strukturbildung wurzelt in dem, was wir, weil es nicht besser ausgedrückt werden kann, Chaos nennen. Die Muster ihrer Wirklichkeit in der Universalinformation zu finden ist unmöglich, weil darin alles ist. Das ganze Universum. Wie es war, wie es ist und wie es sein wird. Es spiegelt sich in den dissipativen Strukturen. Vielleicht ist darin sogar sein Sinn verborgen… Das nur am Rande. Sprich weiter, Werner! Ich wollte dich nicht unterbrechen."

"Damals wussten wir noch nicht, dass der ganze Planet Terra Scorpii ein einheitlicher Organismus ist und als vernunftbegabte Entität intelligenter als das selbstorganisierende Informationsnetz der gesamten Menschheit. Titan hat das sehr schnell erkannt, ich aber nicht. Für mich gab es keine andere Erklärung für die Vorfälle auf dem Planeten als eine Schwarmintelligenz, die uns gerufen hat und mit anderen Wesen kämpft, die das nicht wollten. Titan hatte Kommunikationswege gefunden, über die es sich mit der planetaren Entität verständigen konnte. Zumindest so weit, wie es selbst in der Lage war, die Informationen, die von ihr kamen, zu begreifen. Das lag weit über dem, was ein Mensch zu erfassen imstande war. Anfangs hat es auch Titan überfordert. Das war auch der Grund, wieso es den Anflug nicht mehr stabilisieren konnte. Von dem Planeten ging ein eigenartiges Feld aus, und es gab nichts, womit das Schiff sich und uns schützen konnte. Hier war nicht nur Energie unterwegs, sondern vor allem Information. So viel und in so schneller Folge, dass das Schiff kurzzeitig den Verstand verlor. Das geschah nicht ununterbrochen. Irgendwann muss die Entität des Planeten begriffen haben, dass sie uns schadet und hat die Dauer dieser geistigen Bombardierung begrenzt, aber trotzdem immer wieder damit angefangen. Titan konnte sich dem mit der Zeit anpassen und einen Nutzen für die Verständigung daraus ziehen, aber Diane hat es das Leben gekostet. Warum sie so stark reagiert hat und wir beiden Männer nur von Schwindel und Bewusstseinsstörungen betroffen waren, weiß ich nicht. Titan hat es damit zu erklären versucht, dass wir nicht den Zugang zur Universalinformation hätten wie sie. So richtig kann ich damit auch nichts anfangen, aber ich bin inzwischen überzeugt davon, dass Titan Recht hatte. Vieles verstehe ich bis heute nicht. Bei manchem sträubt sich mein Verstand, es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt Bilder, die sich so in mein Gedächtnis eingebrannt haben, dass ich sie bis an mein Lebensende mit der gleichen Schärfe mit mir herumtrage, mit der sie entstanden sind. Und bei allem gibt es Fragen, die mir niemand beantworten kann. Diane lag in den Wehen, als das die Entität des Planeten zum zweiten Mal sendete. Nach dem ersten Mal war sie in der Medizinwabe gelandet, doch bei diesem zweiten Mal war der Informationsstrom so stark, dass ihr neuronales Netzwerk zusammenbrach. Titan konnte sie nicht retten. Statt mit ihm nach den Ursachen zu suchen, habe ich ihm vorgeworfen, an am Tod Dianes zumindest eine Mitschuld zu tragen. Das Kind verschwand, und Titan war der Auffassung, es sei in die Zeit gereist. Ich konnte das alles nicht glauben und habe Titan schließlich, als ich auch Herman verlor, zunächst nur noch als Gegner wahrgenommen. Dabei hatte das Schiff voll mit sich selbst zu tun. Die Regeneration seiner verletzten Teile ging zu der Zeit nur schleppend voran, denn seine Organe wurden von der Biomasse des Planeten angegriffen. Titan meinte, es sei Cons Immunsystem. Das war noch halbwegs verständlich für mich. Später aber habe ich diesem Hinweis auch keinen Glauben mehr geschenkt, als das Schiff ihn in anderem Zusammenhang erwähnte. Du wolltest wissen, wieso Diane sterben musste, und du wolltest mit Con Verbindung aufnehmen. Das hat auch dir als Herman das Leben gekostet. Statt mit ihm vernünftig zu reden, habe ich Titan wieder mit dem Verdacht einer Mitschuld beleidigt. Ich konnte seinem Gedankengang nicht folgen, der vom Wirken einer planetaren Entität ausging. Was hast du dort als Herman gesehen? Dort in der Kristallhöhle, bevor das Feld, dessen Generator in Hermans Brust implantiert war, mit Cons in Resonanz getreten ist? Er hat ihm etwas mitgeteilt, aber du hast nach deiner Rückkehr aus der Steinzeit kaum ein Wort darüber verloren, sondern nur gesagt, es würde uns nicht weiterhelfen. Wenn du irgendwann dazu bereit bist, sag es mir! Vielleicht werde ich dadurch doch ein bisschen klüger. Und du, Ash, hast noch viel mehr erfahren. Hast Einblick in Dinge bekommen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Deine Bereitschaft, darüber zu reden, endete in der gleichen Floskel. Ich nehme es euch nicht übel. Schließlich habt ihr noch mehr und viel länger gelitten als ich. Musstet ein Leben führen, das nicht das eure war und wart ständig auf der Suche nach eurer Bestimmung. Das ist etwas ganz anderes als mein bisschen Informationsbedarf. Vielleicht wäret ihr als Herman und Diane am Leben geblieben, wenn ich mich dem geöffnet hätte, was Titan mir zu erklären versucht hatte. Ihr beide hättet dann vielleicht nicht einen Umweg über die Steinzeit und Jahre des Erwachsenwerdens nehmen müssen. Statt auf unser Schiff zu hören, habe ich ihm misstraut und einen Konflikt riskiert, den keiner von uns beiden gewinnen konnte. Damit habe ich mich selbst von Titan isoliert und mich benommen wie ein starrköpfiger alter Narr, es beschimpft und beleidigt. Das war auch der Grund, wieso irgendwann auch Titans Geduld erschöpft war, es den Notstand ausgerufen und mir die Kommandogewalt entzogen hat. Es hatte Recht. Ich konnte nicht mehr klar denken und war zu einer Gefahr geworden. Vor allem, weil dann die Memos kamen, und ich dachte, es wären Herman und Diane. Nichts ist schlimmer als solch eine Illusion! Sie ist wie eine Droge, die von Beginn an süchtig macht und nach jeder neuen Dosis ein Stück mehr von einem zerstört. Titan versuchte alles, mir das Geschehen auf Terra Scorpii verständlich zu machen und mich für einen Kontakt mit Con zu öffnen. Das Schiff hatte die planetare Entität so genannt, damit es einfacher mit mir reden konnte. Allerdings wusste es nicht, auf welche Weise Con es anstellen wollte, diesen Kontakt auch wirklich zu realisieren, ohne wieder Unheil anzurichten. Der Niveauunterschied kann größer nicht sein. Die Levels liegen weiter auseinander als zwischen einem Menschen und seinen Zellen. Eigentlich geht es gar nicht. Was wirklich geschah, lässt sich nur mit einem Hin und Her der Datenströme zwischen Con und der Universalinformation erklären, etwas, zu dem nicht einmal die KI unseres planetaren Informationsnetzes imstande ist. Es sind ganze Landschaften aus Cons Substrat entstanden, die bis in die Quantenstruktur den Originalen auf der Erde glichen. Titan meinte, das sei nicht durch das aktive Zutun von Cons Verstand geschehen, sondern aus seinem Unterbewusstsein heraus abgelaufen. Oder etwas anderem, was sein Verstand nicht fassen konnte. Der Wunsch, mit uns Kontakt aufzunehmen, hatte nach Titans Meinung sein ganzes Wesen ergriffen, aber er konnte diesen Wunsch nicht auf uns als Einzelwesen herunter brechen. Auf sprachlicher Basis sei deswegen eine Kommunikation schlicht nicht möglich. In diesem ganzen Prozess eingeschlossen ist die Bildung von Wesen, die Titan als Memos bezeichnet hat. Unter anderem Menschen, die praktisch identisch mit ihren irdischen Originalen sind. Es gab aber einen ganz wesentlichen Unterschied: Diese Wesen müssen irgendwann wieder zurück in den Stoffkreislauf des Substrates, aus dem sie entstanden, da sie im physikalischen Sinne nur geborgt sind. Das übernahm dann von ganz alleine Cons Immunabwehr. Eine scheußliche Vorstellung, und es war auch schrecklich... Doch eins nach dem anderen. Da ich den Tod von euch beiden nicht akzeptieren konnte, habe ich nach Anzeichen dafür gesucht, mich zu irren. Das war vollkommen überflüssig! Ich hatte ja gesehen, was mit euch geschehen war. In dieser Situation gab mir Titan zu verstehen, dass nur Con mir helfen könne. Ich sollte seinen Kontaktversuchen entgegenkommen. Ich müsste dazu ins Kristallgebirge laufen. Keines unserer Transportmittel war für solch einen Ausflug geeignet, denn das planetare Feld nahm ihnen die Energie weg. So bin ich zu Fuß ins Gebirge gegangen und fand mich von einem Augenblick auf den anderen in einer felsigen Gegend wieder, die einer antiken Landschaft im antiken Ätolien nachempfunden war. Nach einem halsbrecherischen Weg traf ich auf das Memo Hermans. Zumindest war ich davon überzeugt, dass er es ist, und ich dachte, Titan habe sich mit Con verbündet und treibe ein böses Spiel mit uns. Es gibt schließlich nie einen endgültigen Beweis dafür, dass alles das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, auch wirklich das ist, wofür wir es halten. Letztlich war Herman ja auch Herman, oder du El, wenn du so willst. Was später passierte, hat mich dann auf ziemlich rabiate Weise in eine Sinnkrise gestürzt, nach der ich nicht mehr wusste, was ich glauben sollte. Con hatte nämlich mehr erzeugt, als die Evolution auf der Erde hervorgebracht hat. Darunter ein Wesen, das nach den Gesetzen der Evolution gar nicht lebensfähig sein konnte. Irgendwie müssen ihm aus der Universalinformation auch Produkte menschlicher Phantasie zugeflossen sein. Immer entlang der Ereignisse, die mit eurer Zeitreise ins antike Mykene zusammenhingen. Dein Memo glaubte, noch in der alten Welt zu sein und war auf der Suche nach Diane. Als wir beide den Memo-Fluss Euenos erreichten, tauchte dort plötzlich eine Chimäre! Mensch und Pferd in einem! Dieses Wesen trug auf seinem Rücken Diane! Und dann wollte es mit dem Memo Hermans um deinen Besitz kämpfen wie Nessos mit Herakles um Deianira. Das hätte für mich eigentlich der beste Beweis sein müssen, dass das Schiff mit seiner Memo-These Recht hatte. Aber die Illusion, dass es die beiden waren, hat mich wider alle Vernunft alles ausblenden lassen, was störend daran war. Abgesehen von der Chimäre war alles so perfekt dem Irdischen nachempfunden, dass mit der Zeit sogar Titan an seinem eigenen Verstand zweifelte und sich meiner Meinung anschloss, die Memos wären Herman und Diane und Con eine Schwarmintelligenz. Das Schiff ließ sie schließlich sogar in sein Inneres. Entweder war es Glück oder das Zutun Cons, denn seine Immunabwehr war ihnen nicht gefolgt. Das hätte fatal enden können. Draußen war der Teufel los. Was da geschah, gemahnte an die Jahrtausende der Kriege auf der Erde. Es schien, als kämpften alle Wesen des Planeten Terra Scorpii gegeneinander. Die Stauden des Dschungels gegen die beweglichen Wesen, die aussahen wie Muscheln und diese wiederum gegen die Stauden. Ein unglaubliches Gemetzel, bei dem wir zu keinem anderen Schluss kommen konnten, als den, unsere Anwesenheit sei der Anlass. Das Memo Hermans wollte schon eingreifen. Es glaubte, sein individuelles Feld könne eher etwas ausrichten als das des Schiffes, denn es war im Gegensatz zu diesem fokusierbar. Abgesehen davon, dass sein Eingreifen nichts gebracht hätte, weil wir uns bezüglich der wirklichen Hintergründe irrten, hatte er den Generator nicht. Der hatte sich aus Cons Substrat offenbar nicht bilden können. Ich glaube inzwischen, dass das Schiff sehr genau wusste, was wirklich los war, mir das jedoch verschwieg, um mich zu schonen. Aufgeklärt hat mich letztlich das Memo Dianes. Von dem Augenblick an war mir bewusst geworden, wie allein ich war. Es war der Gipfel der Einsamkeit. Daran konnte auch Titan mit seinem Versuch nichts ändern, mich mit der möglichen Rückkehr von euch beiden zu trösten. Dieser Trost kam bei mir nicht an, denn ich glaubte ihm nicht. Schließlich ist noch niemand aus dem Totenreich, wie es die Alten so treffend benannten, zurückgekommen. Ich kann es noch immer nicht glauben, obwohl mich die Realität eines Besseren belehrt."

"Boaahh!", machte Martin und lehnte sich zurück.

"Es war schon heftig genug, was mir Titan während seines Aufenthaltes auf Terra Scorpii über den Zeitfreien Spinkanal berichtet hat. Schon das war kaum zu glauben. Was ihr drei jetzt geboten habt, ist der Gipfel. Das meine ich nicht negativ! Nach allem, was geschehen ist, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als euch alles abzunehmen, was ihr mir erzählt. Wenn du mit dem Kopf schüttelst, Helen, dann verstehst du mich falsch. Nicht ein einziges Wort ziehe ich in Zweifel. Es ist nur so, dass man schon sehr für alles Fragwürdige in der Wissenschaft offen sein muss, um so etwas zur Kenntnis nehmen zu können. Und ich vermute mal, das war noch lange nicht alles."

Ash nickte.

"Wenn du eine Zugabe willst, nur zu! Es gibt Erinnerungen, die ich gar nicht haben dürfte. Schlimme Erinnerungen. Ich habe zusehen müssen, wie sich die Memos von Ish, Hor und Gesh und schließlich auch noch die von Herman und El in das schwarze Granulat des Immunsystems der planetaren Entität verwandelten. Das Gleiche stellte ich an mir selbst fest. Musste miterleben, wie es ist, von dem Gott vernichtet zu werden, der für die Existenz meines Memos verantwortlich war. Ich kannte dieses Ende und habe es Werner angekündigt. Es war unmöglich, ihn darüber im Unklaren zu lassen. Auch wenn es sehr weh getan hat, zu wissen, dass er damit seine Freunde zum zweiten Mal verlieren würde. Ja, ich habe die Erinnerungen, die mein Memo hatte, und die haben sich so in mein Gedächtnis eingebrannt, als hätte ich alles selbst erlebt. Die Erinnerungen müssen einen Umweg über die Universalinformation gemacht haben. Sie haben gepasst wie ein Transplantat aus eigenen Stammzellen. Mein Verstand hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren."

Martin beugte sich zu ihr hin und sah ihr direkt in die Augen. Dort schien etwas zu flimmern wie ein unruhiges Licht. Es war das Wasser ihrer Tränen, das sich dort sammelte und schließlich über den Rand der Lider lief.

"Wie war das möglich? Du warst doch gar nicht da. Du warst in der Steinzeit."

Er wandte sich an El.

"Geht dir das auch so?"

Der hob die Schultern.

"Wenn du mich so direkt fragst. Da ist etwas. Aber als Erinnerung könnte ich es nicht bezeichnen. Es ist wie ein Gefühl, das man nach einem verrückten Traum hat, der aber aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Ob es etwas aus dem Kopf meines Memos war, weiß ich nicht. Es ist schon heftig genug, dass ich als Spross eines eiszeitlichen Clans gleichzeitig Planetenerkunder des 31. Jahrhunderts bin. Ich kann dir darauf keine Antwort geben, weil ich für das alles selbst keine habe. Ob ich glücklicher wäre, wenn ich sie hätte, weiß ich auch nicht."

"Titan hat eine Erklärung", warf Werner ein. "Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie dich weiterbringt. Das Schiff ist der Auffassung, dass Ashs beziehungsweise Dianes Hirn, ganz einfach, weil es weiblich ist, über einen höheren Grad der Vernetzung verfügt. Die Wahrscheinlichkeit, Daten aus der Universalinformation aufzunehmen, steigt mit dem Grad der Komplexität. Ich habe viel mit Titan gesprochen und viel mit ihm gestritten, aber hier kann ich ihm kaum widersprechen. Seine eigene Komplexität ist aufgrund der Tatsache, dass es nicht gebaut wurde, sondern aus Assemblern zu einem Gebilde in Kilometergröße gewachsen ist, viel größer als unsere. Daher kommt Titan auch auf Schlussfolgerungen, die mir nicht einmal im Traume einfallen würden. Nicht mehr nachvollziehbar für den Verstand eines Menschen ist die Komplexität der planetaren Entität Con. Dieses Wesen kann die Daten, die ihm aus der Universalinformation zufließen, sogar materialisieren. Ein Vorgang, für die es für uns noch nicht einmal eine Wissenschaft gibt."

Martin nickte.

"Dann kann man Ash für diese Gabe nur beneiden."

Sie schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Haare sie für einen Moment wie eine Wolke umgaben.

"Das ist kein Segen, Martin! Das ist ein Fluch!"

Ihre Tränen flossen, als sein ein Damm gebrochen. Sie konnte nicht mehr sprechen. Schluchzte nur noch. Helen umarmte sie. Ein wütender Seitenblick traf Martin.

"Da hast du ja was angerichtet!"

Er wich zurück.

"Ich habe doch gar nichts gemacht! Bin nur neugierig."

El legte seine riesige Hand auf Martins Schulter.

"Du kannst nichts dafür! Sei nicht so streng mit ihm, Helen! Ash wird sich beruhigen. Es war schwer für uns, besonders für sie. Wenn man darüber spricht, kommt man immer mal an einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Aber es ist wichtig, dass wir reden. Das weißt du selbst. Jeder hätte diesen Punkt treffen können. Du, ich, Werner. Das hat mit Martin gar nichts zu tun."

Über Ashs verweintes Gesicht huschte ein Lächeln. Es erinnerte El an den magischen Moment im Odeon der Orbitalstation, als er noch Herman war und ihre Blicke sich zum ersten Mal trafen. Sie war für ihn das schönste Wesen, das er je gesehen hatte. Geradezu rührend schön. Das Mädchen Ash gab ihr eine zarte und verletzliche Jugend, Diane die Stärke einer reifen Frau.

"Du hast recht, El", sagte sie. "Martin kann nichts dafür. Wenn wir schon keine Antworten auf unsere Fragen haben, wie soll er sich dann fühlen? Lassen wir ganz einfach mal unsere Vergangenheit ruhen. Wir haben jetzt viel geredet, und es hat wirklich gutgetan. Ich kann Martin eigentlich nur dankbar sein für seine Neugier. Wir sind lange weg gewesen und erst ein paar Stunden hier auf der Basisstation. Wir waren so mit uns beschäftigt, dass uns noch niemand erzählen konnte, was in der Zwischenzeit passiert ist. Jetzt bin ich mal neugierig! Du hast vorhin ein Projekt erwähnt, für das du Werner brauchst. Was ist das für ein Projekt, und welches Problem hast du mit dem neuen Schiff? Kronos heißt es doch, nicht wahr?"

Nun war genau das passiert, vor dem Helen sich gefürchtet hatte. Doch da es Ash war, die es wieder zur Sprache brachte, hütete sie sich davor, einen Kommentar dazu abzugeben.

Es wäre mit Sicherheit nicht hilfreich gewesen.

"Woher willst du wissen, dass ich ein Problem mit Kronos habe?", fragte Martin. "Wir haben doch noch gar nicht darüber gesprochen."

Ashs Lächeln blieb.

"Ich sehe es dir an, Martin. Bei dem Namen Kronos verändert sich deine Mimik, auch wenn du versuchst, deinen Hader zu verbergen und dir nichts anmerken zu lassen. Körpersprache lügt nicht."

Ein Lacher stieg in ihr hoch. Die Diane in ihr wollte das nicht zulassen. Doch Ash setzte sich durch und kicherte.

"Vergiss nicht, dass ich gerade durch mein zweites Leben gehe. Da sammelt man so einiges an Erfahrung."

Helen atmete erleichtert auf. Ash hatte der Situation gerade die Schärfe genommen. Martin lehnte sich zurück und stieß El mit dem Ellenbogen an.

"Gib doch mal die Rezeptur von dem Zeug in den Programmierer, mit dem Temos seinen König glücklich gemacht hat. Ich könnte jetzt so ein starkes Getränk gebrauchen."

"Lieber nicht! Dann verrätst du alle Geheimnisse. Nicht nur die, welche du mit Kronos hast."

Beinahe hätte El ihm gesagt, er solle doch Rücksicht auf Werner nehmen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm eine unverfänglichere Begründung ein.

"Ich habe keine Ahnung, wie Temos das gemacht hat, kann also nichts in den Programmierer eingeben. Es war verdammt stark und enthielt sicher auch eine ganze Menge Fuselöle. Dass ich Eurystheus auch später noch sehen konnte, war ein Hinweis darauf, dass nicht auch noch Methanol im Spiel war. Ansonsten hätten seine Worte fatale Folgen gehabt. Es war später Nachmittag, als er sagte: Trinken wir noch einen Schluck, bevor es dunkel wird."

Werner verschluckte sich. Helen lachte, und es war nicht klar, ob sie über Els Worte erheitert war oder über Werners Missgeschick. Martin hielt sein Glas hoch.

"Dann eben Bier aus der Steinzeit. Vielleicht bringt mich das in Stimmung."

Dann wurde er ernst.

"Ihr wart gerade zum Stern Achtzehn Scorpii aufgebrochen, da haben unsere Astrophysiker erneut etwas Seltsames in den Tiefen des Alls entdeckt. Wie schon im Falle des Planeten Terra Scorpii wurde so etwas wie der Zeitfreie Spinkanal genutzt. Aber die Modulation war noch um einige Stufen komplexer und ohne Zweifel nicht natürlichen Ursprungs. Es lässt uns sogar an unserer Definition, was Natur ist, zweifeln. Dass die Nachricht von irgendetwas Intelligentem kommt, ist seit der Entdeckung von Terra Scorpii keine Überraschung mehr. Womit jedoch niemand gerechnet hat: Es gibt keine konkrete Quelle. Oder anders gesagt: Wir können den Ort als punktgenaue Quelle nicht finden. Es scheint zu sein wie bei der Bestimmung des Ortes in der Quantenwelt. Haben wir die konkrete Energie eines Teilchens, ist es unmöglich zu bestimmen, wo es sich gerade aufhält. Und umgekehrt. Wir können nur das Gebiet eingrenzen, und das ist riesig. Eine ganze Galaxie! Manchmal weicht der Ursprung des Signals sogar auf andere aus. Bezieht man das mit ein, dann kommt der ganze Norma-Haufen im Groß-Supercluster Laniakea infrage. Als ob sich eine Zivilisation über ein Gebiet mit einem Radius von mindestens dreieinhalb Millionen Lichtjahren ausgebreitet hat. Am deutlichsten ist das Signal, wenn es aus dem Massenzentrum kommt. Dort befinden sich aus heutiger Sicht zwei elliptische Riesengalaxien. Diese Sicht stimmt allerdings nicht mehr, denn sie stammt aus einer Zeit von vor zweihundertzehn Millionen Jahren. Jetzt dürfte, setzt man die Geschwindigkeiten ins Kalkül, mit der sich dort die kosmische Masse bewegt, inzwischen eine einzige daraus geworden sein. Dabei wird dieses Monstrum noch ein paar andere Sonnenansammlungen zusätzlich gefressen haben. Wenn man bedenkt, dass sich auch noch alle Galaxien des Laniakea-Superclusters in Richtung Shapley bewegen, dürfte da heute noch wesentlich mehr im Gange sein. Bei so viel Galaxiendurchmischung entsteht eine riesige Zahl von neuen Sternen und Schwerkraftmonstern, die Galaxien vollständig verschlingen und neue hervorbringen können. Kein Wunder also, wenn Kronos behauptet, dort würde es spuken. Ich denke aber mal, es meint etwas anderes, das es uns, weil wir zu blöde dafür sind, nicht erklären kann. Während wir über die Optik die Struktur des Universums nur aus der Vergangenheitsperspektive sehen können, erreicht uns das Signal über den Zeitfreien Spinkanal zur selben Zeit, in der es gesendet wird. Wir wissen also nicht, wo sich der Sender in der heutigen Wirklichkeit befindet. Das kann an den Geschwindigkeiten liegen, mit denen sich die Galaxien in der Zwischenzeit bewegt haben, es kann aber auch sein, dass es nicht nur einen Sender gibt, sondern unzählige, die über den ganzen Norma-Cluster oder das, was es heute ist, verteilt sind. Es bleibt somit nur eine Option, das für uns zu entscheiden, denn schließlich ist die KI unseres globalen Netzwerkes der Adressat: Wir müssen hin! Ins Zentrum von Norma! Herausfinden, ob der Sender im Inneren der Riesengalaxis ist oder ob es mehrere gibt und wo die sind. Dafür haben unsere Experten die Assembler für Kronos geschaffen. Das Schiff soll die Weiterentwicklung von Titan sein. Viel größer und noch viel komplexer aufgebaut. Seine Entwicklung sollte auch um ein Vielfaches schneller gehen. Pustekuchen! Schaut hin! Ich habe es Helen vorhin schon gezeigt. Der helle Fleck dort in der Nähe der Mondscheibe ist sein Kokon. Es weigert sich, ihn abzuwerfen, obwohl es schon lange zur Imago herangewachsen sein müsste. Nicht nur das Erwachsenwerden verweigert es, auch seiner Bestimmung will es nicht folgen. Bisher konnte es uns noch nicht glaubhaft erklären, warum es das nicht tun will, wofür er entstanden ist. Es wiederholt immer nur, dass es nicht dorthin will. Es ist schon irgendwie verrückt. Sobald ein Wesen zu Verstand kommt, besteht auch die Gefahr, dass es Angst hat."

Und den schlimmsten Unfug verzapft!

Beinahe hätte er das laut gesagt. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zurückzuhalten. Noch war es nicht soweit, dass er die richtigen Worte finden würde für das, was er hernach erklären müsste.

Eine Weile war es totenstill. Jeder arbeitete an seinen Erinnerungen. Es tat gut, darüber zu sprechen. Aber nur, wenn man dazu in der Lage war.

Martin sah hinaus ins All. Dorthin, wo der Kokon des Kronos in der Schwärze aussah wie der versehentliche Klecks eines Aquarellmalers. Das Schiff hatte ihn gedemütigt und viele Jahre seines Lebens geraubt, und er hatte Zweifel, dass die Expedition zum Laniakea-Zentrum ihm Genugtuung verschaffen konnte. Kronos würde wohl für alle Ewigkeiten sein persönliches Enfant terrible bleiben und die Entität im Zentrum des Superclusters das ewige Ziel seiner Hoffnung auf eine Erklärung, warum das alles geschehen war.

Er ahnte jedoch, dass es tief in seinem Inneren noch einen Wunsch gab, der auch damit nicht in Erfüllung gehen konnte, und sein Verstand hielt Wache an der Tür zu diesem Gefängnis.

 

Die Menschen-Memos sahen sich an. In den Gesichtern Verwunderung, Angst und etwas, das wie beginnendes Verstehen anmutete.

"Da spricht Ash! Hört ihr? Aber wo ist sie?"

Ein Mann, gekleidet in einen Umhang, auf den unzählige Federn aufgenäht waren, wandte sich dem Schiff zu und wollte gerade die Rampe zur Schleuse betreten. Eine Frau hielt ihn zurück. Daunen flogen wie Schneeflocken umher.

"Ash ist nicht hier! Ich habe Angst, Hor! Und warum bin ich jetzt hier? Eben war ich noch in unserer Hütte. Dumi ist noch nicht zurück! Hoffentlich ist er nicht..." Ihr liefen Tränen über die Wangen. Hilflosigkeit machte sich dort bereit. Hilflosigkeit und aufkommende Panik. Der Mann versuchte sie zu beruhigen, stellt dann aber doch eine Frage, die sie noch mehr ängstigte, die aber seiner eigenen wachsenden Sorge entsprang: "Meinst du, Kinom hat ihn dazu gedrängt, ihm in die Höhle der Dämonen zu folgen?"

Sie nickte heftig und sah ihn dabei hilfesuchend an.

"Dumi hätte schon lange zurück sein müssen!"

"Wir sollten Tiama fragen, denn Kinom habe ich auch seit heute früh nicht gesehen."

"Geh lieber nicht zu ihr. Sie wird Mardom befehlen, dich zu verprügeln, wenn sie erfährt, dass die beiden Jungen nicht da sind. Außerdem hat es keinen Sinn. Die Stimme sagte, wir sind in einer Barke. Wo das ist, weiß ich nicht und du bestimmt auch nicht. Oh, weh! Hoffentlich ist Dumi nichts passiert! Ist es wirklich Ash, die zu uns gesprochen hat? Vielleicht sollten wir sie fragen. Nein! Die Stimme war zu laut. Sie gehört nicht zu unserer Tochter. Dort in dem Riesending ist ein Dämon! Auch wenn die Stimme klang, als hätte Ash uns gerufen. Geh nicht da rein! Der Dämon will uns täuschen! Vielleicht ist das derselbe, zu dem Dumi mit Kinom gegangen ist. Sind wir einmal da drin, kommen wir nicht wieder heraus!"

"Du siehst das falsch, Ish! Dort drin ist es angenehmer als hier", mischte sich eine andere Frau ein. Sie war dürr wie ein Stock und hatte ein spitzes Gesicht und einen Mund mit hervorstehenden Hasenzähnen. Mit einem geringschätzigen Grinsen fügte sie noch hinzu: "Vielleicht sind die beiden Jungen schon da drin. Kinom ist furchtlos, und der kleine Dumi macht eh, was er sagt. Du musst dir keine Sorgen machen. Denk jetzt an uns und was wir jetzt machen müssen! Oder willst du hierbleiben, in der Unterwelt? Wo, glaubst du, stinkt es sonst noch so? Sieh dich um! Gibt es hier einen Baum oder einen Strauch? Nur ekelhaften Glibber und schleimige Dinger, die leuchten in ihrem Inneren, weil sie ein Feuer in sich tragen, das wahrscheinlich nie ausgeht. Und diese seltsamen Berge, deren Steine wie Spiegel sind, die das Wasser malt, wenn es keinen Wind gibt. Besinnt euch! Und das gilt für uns alle hier! Von dort spricht uns die Große Göttin an! Dass die Stimme klingt wie die des Mädchens Ash, zeigt, dass dort die Große Göttin ist! Ish, ich weiß von unserer Weisen Frau Lagama, dass du Ash nicht geboren hast. Sie kam zu dir ins Heiligtum des Weißen Felsens. Du hättest damals schon ahnen können, dass sie die Große Göttin ist. Du hast Gutes an ihr getan, weil du sie aufgezogen hast, als wäre sie dein eigenes Kind und sie beschützt hast, als die bösen Weiber euch opfern wollten. Das gibt sie dir nun zurück. Ich weiß nicht, wie wir in die Unterwelt gekommen sind, aber die Göttin bietet uns ihre Hilfe an, von hier wegzukommen!"

"Trotzdem habe ich Angst, Tiama! Ich möchte gern glauben, was du mir sagst. Ich habe aber schon so viel erlebt, dass mir das schwerfällt. Immer wieder passieren irgendwelche Katastrophen, wenn es so aussieht, als hätte ich endlich Ruhe gefunden."

"Glaube nur fest an unsere Große Göttin, dann wird alles gut! Sie ist bei uns!"

Zwischen Tiama und Ish drängte sich ein rothaariger Mann. Er war von kleinem Wuchs, aber muskulös wie ein Schwerathlet.

"Was redest du da, Weib!"

Die düsteren Worte schienen nicht aus seinem Mund zu kommen, sondern aus seiner kastenartigen Brust. Damit passte seine Erscheinung fast perfekt in das Bild der abartigen Landschaft.

"Gerade weil die Stimme der dieses verführerischen Dämons gleicht, ist sie nicht die eurer sogenannten Großen Göttin. Die gibt es nämlich gar nicht. Nur in eurer kranken Fantasie! Aus dem Ding da hat Jh gesprochen! Er hat seine Stimme nur so gemacht, damit auch der schwache Geist eines Weibes sie versteht. Es überrascht mich nicht, dass das nutzlos war. Ihr seid einfach zu blöd! Ich hoffe, dass er wieder redet, wie wir es von ihm erwarten. Männlich! Jh ist unser Gott, und es gibt keinen außer ihn! Das große Ding dort ist seine Barke. Er lädt uns ein, mit ihr nach Hause zu fahren. Es ist eine große Sünde, Jh mit einer Göttin zu verwechseln! Ich werde dafür sorgen, dass euch das noch leidtut! Ich und kein anderer hier ist von Jh gesandt, euch dorthin zu führen! Schon gar nicht dieses gerupfte Huhn dort!"

Bevor er auf Hor zeigen konnte, kam ein anderer Mann hinzu. Er war viel größer als er, und sein von einem schwarzen Bart umrahmtes Gesicht strahlte Autorität aus. In der Hand hielt er einen Speer, dem an der Spitze ein scharfkantiger Obsidian aufgesetzt war.

"Halts Maul, Setanapi! Niemand hier hat dir das Wort erteilt!"

"Natürlich nicht! Dir aber auch nicht, Utanapi! Das kann nur Jh! Der Gott hat mir seine weisen Worte in den Mund gelegt. Ihr seid ihm nicht gefolgt, und es ist unter seiner Würde, seine Einladung zu wiederholen! Also muss ich es machen. Vielleicht versteht ihr ihn dann endlich."

"Dir glaubt hier sowieso niemand! Hör auf mit dem Unfug! Wenn du diese Leute weiter herumkommandierst, wirst du meinen Speer zu kosten bekommen! Ich habe endgültig die Schnauze voll von dir! Auch wenn du mein Bruder bist! Du hast dir Dinge herausgenommen, die dir nicht zustehen! Mit deinem dummen Gerede vergiftest du ihre Gemüter! Sie verleugnen sich selbst, um einem Gott zu dienen, der nur in deiner Fantasie existiert! Und lass Tiama in Ruhe! Wenn wir da rein gehen, dann alle zusammen und ohne den Segen irgendeiner Gottheit. Hier draußen ist es unerträglich, und es wäre das Beste, wenn wir gehen und du hierbleibst. Hier nämlich gehörst du hin! In die Unterwelt! Vielleicht triffst du dort auch deinen dämonischen Schatten Humbanapi. Es war ein Segen, dass Gil ihm den Schädel gespalten hat!"

Setanapis Gesicht wurde rot wie seine Haare.

"Was glaubst du, warum Jh uns in die Unterwelt verbannt hat? Er hat uns gestraft für Gils Frevel und deinen Unglauben! Statt dass du mir dankst, dass Jh uns nach meinem Gebet wieder nach Hause führen will, verlangst du, dass ausgerechnet ich hierbleiben soll? Diese Strafe hab ihr beide verdient Du und dieser undankbare Grünschnabel!"

"Wollt ihr wohl aufhören zu streiten", mischte sich ein hochgewachsener Greis ein und trat zwischen die beiden. Sein Gesicht war mit rotem Henna bemalt und seine Hände mit blauem Waid.

"Ihr beide beleidigt Jh! Du, Utanapi, sowieso, weil du ihn verleugnest und du, Setanapi, weil dein Bruder in einem Punkt die Wahrheit spricht: Du hast nicht das Recht, hier das Wort zu führen. Wenn es jemanden gibt, der die Worte unseres Gottes verkünden darf, dann bin ich das! Du hast in deiner Vermessenheit vergessen, dass ich der rechtmäßige Diener der Götter bin! Du..."

Eine Stimme aus dem Hintergrund unterbrach ihn und kam schnell näher.

"Ein Affe bist du, Irinapi! Nichts anderes als ein verrückter alter Affe! Es ist eine Beleidigung Jhs, wie du dich aufführst! Du hüpfst umher wie ein liebestoller Gockel und verdrehst du Augen, während du in einer Sprache redest, die nicht einmal du selber verstehst. Das sind alles nur Luftblasen, denn wenn es hart auf hart kommt, schlägst du dich auf die Seite der übelsten Unholde!"

Der junge Mann, der das gerufen hatte, kam so schnell auf ihn zu gerannt, dass zu befürchten war, er würde ihn umwerfen. Bevor es dazu kam, stellte sich Utanapi schützend vor den Alten.

"Ein bisschen mehr Respekt, Gil!"

Utanapi glaubte selbst nicht an das, was er da sagte. Er verachtete Irinapi ebenso. Er durfte das nur nicht zeigen, denn Irinapi war der spirituelle Führer des Clans und er, Utanapi, der weltliche. Diese Ordnung hatte in der Vergangenheit auf vielfältige Art gelitten. Weder durch Irinapis noch durch Utanapis Schuld. Sie hatten ihre Heimat in den Bergen verlassen, weil ihnen dort der Hungertod drohte, und sie waren am Ufer des Süßen Meeres sesshaft geworden.

Die Begegnung mit den Frauen aus dem Norden hatten alte Rivalitäten zwischen Utanapi und seinen Bruder wieder zum Vorschein gebracht. Sie hätten durch einen fairen Zweikampf beendet sein können.

Aber nur, wenn einer von beiden sein Leben dabei ließ.

Utanapi war seinem Bruder überlegen und scheute deswegen diese Art der Auseinandersetzung. Er hätte ihn nicht töten können. Warum er Irinapi verachtete, hatte damit nicht einmal etwas zu tun. Es war der Glaube an die Güte der Götter, der ihm fehlte, seit sie ihre alte Heimat verlassen hatten.

Inzwischen glaubte er auch nicht mehr an ihre Existenz und war der Auffassung, dass die Götter nur in der Phantasie der Menschen lebten und sie von dort aus tyrannisierten. Die Rituale, welche Irinapi zelebrierte, fand er ebenso albern wie Gil, sein Adoptivsohn. Den hatte er als Kleinkind vor der Absicht Setanapis gerettet, ihn dem Gott Jh zu opfern. Als schließlich auch sein eigener Sohn El Irinapi den Respekt verweigerte, waren auch die Reste einstiger Freundschaft dahin, und wenn sie sich begegneten, gingen sie sich entweder aus dem Wege, oder sie stritten sich.

In Gils Gesicht war noch so viel Grimm, dass es im ersten Moment so aussah, als wolle er auf Utanapi losgehen. Dieser trat instinktiv einen Schritt zurück.

"Was ist los mit dir? Ich bin weder Irinapi noch mein missratener Bruder. Entspann dich!"

Gil ließ den Kopf hängen. Seine Worte kamen nur undeutlich bei seinem Vater an.

"Du müsstest eher fragen: Was ist los mit uns? Eben waren wir noch am Süßen Meer und wollten die Stege unserer Häuser kappen, damit uns die Flut nicht verschlingt. Nun sind wir auf einmal in der Unterwelt! Bin ich wirklich daran schuld, weil ich Humbanapi erschlagen habe? Aber der hat doch Enkenapi geschlachtet, meinen lieben unschuldigen Freund! Und Karinapa, die den beiden Unholden auch noch mit ihrem Körper dienen musste! Setanapi hat einen riesigen Bogen gebaut. Damit wollte er das Mädchen Ash töten, das mit den Weisen Frauen gekommen war. Irinapi hat auch noch diesen Bogen gesegnet! Und dann will er uns weismachen, dass er der Diener der Götter ist! El und Ash sind die Götter! Wäre El nicht gewesen, hätte der Pfeil Ash getroffen. Vielleicht ist es die Strafe der Götter, dass wir Irinapi und seine beiden Unholde nicht auf der Stelle getötet haben. Nicht die Tatsache, dass ich Humbanapi erschlagen habe, ist der Grund für die Strafe der Götter, sondern weil es zu spät war. Enkenapi und Karinapa könnten noch leben, hätte ich eher erkannt, wem ich da viel zu lange vertraut habe!"

"Du hast ihnen vertraut?", fragte Utanapi, obwohl er wusste, dass Gil von Kindesbeinen an dem Geschwätz seines Bruders verfallen war. Schon als kleiner Junge war er immer wieder in den Wald gegangen. Um allein zu sein, wie er sagte. Wollte nicht gesehen werden, wenn er sich erleichtern musste. Utanapi war schon lange klar, dass Setanapi dahinterstecken musste. Der trieb sich, nachdem Utanapi mit den beiden Frauen einen Clan gegründet hatte, in der Gegend herum. Sich der Siedlung zu nähern war er zu feige. Schließlich hatten er und Humbanapi schmerzhaft erkennen müssen, dass sie einen Kampf mit Utanapi nicht gewinnen konnten. Der kannte die Art, mit der Setanapi andere für sich einnehmen konnte. Das war gefährlich, vor allem wenn er dem andern ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Gott Jh einreden konnte. Den Sinneswandel Gils verstand Utanapi nicht. Allein der Tod seines Freundes konnte es nicht gewesen sein. In Setanapis Auftrag hatte er sogar schon zweimal versucht, El zu töten, obwohl er seinen Bruder liebte.

Hoffentlich hat er nur Humbanapi getötet. Er muss erkannt haben, welcher Unhold mein Bruder ist. Und die Götter, die uns in No im Stich gelassen haben, als wir ihren Beistand brauchten.

Wenn es die Götter wirklich gibt, haben sie uns wie ihr Spielzeug behandelt, statt uns vor dem Unheil zu beschützen.

Utanapi beobachtete die Gesichtszüge Gils und konnte dort keine Falschheit erkennen. Mit der Reifung zum Manne war er in der Wirklichkeit angekommen. Konnte Recht von Unrecht unterscheiden.

Nur das war wirklich von Wichtigkeit.

Aus den Kristallbergen quoll grauer Dunst. Zugleich breitete sich die mit den seltsamen Stauden bewachsene Fläche weiter aus und kam immer näher. Gruppen muschelartiger Wesen sammelten sich an der Vorstoßfront und schienen sie damit zumindest für den Moment aufzuhalten. Das Ganze sah beängstigend nach Angriff aus. Eine weibliche Stimme setzte fort, was Utanapi begonnen hatte.

"Warum sind die Götter gegangen? Sie haben uns allein gelassen wie in No! Schlimmer noch! Wir wollten der Großen Flut entkommen, aber wo haben sie uns hin verbannt? In die Unterwelt! Ist das dort wirklich die Barke, mit der sie uns wieder zu unseren schwimmenden Häusern bringen wollen? Ich kann es nicht glauben! Warum haben sie uns dann erst hergebracht? Wir sind für sie wie die Holzklötze, mit denen unsere Kleinen spielen!"

Die Frau, die das gesagt hatte, war unbemerkt von den anderen nähergetreten. Utanapi umarmte sie.

"Verbanne diese schlimmen Gedanken, Arinapa! Wenn es einen Gott gibt, dann ist El seine Verkörperung und wenn es eine Große Göttin gibt, dann ist sie in Ash! Sie lieben uns. Warum also sollten sie so zornig auf uns sein? Irinapi und mein Bruder machen aus ihnen erst das, was sie gerne hätten. Aber das sind nicht dieselben wie in No. Wenn wir hier ausgesetzt wurden, dann höchstens durch diese falschen Götter, weil sie wieder einen ihrer makabren Scherze mit uns treiben. Deswegen war die Stimme vorhin wirklich die von Ash. Wir sollten schnell da reingehen. Es gefällt mir nicht, was da auf uns zu kommt..."

Wieder war es Setanapi, welcher Utanapi ins Wort fiel. Nun noch aggressiver. Er konnte seiner Angst auf keine andere Weise Luft machen.

"Du wirst mit Gil hierbleiben! Du irrst dich, wenn du denkst, dass Jh uns weiter freundlich gesinnt ist! Du verehrst die Große Göttin! Das ist ein genauso großer Frevel wie der Mord an meinem Freund Humbanapi! Du hast damit endgültig dein Recht verwirkt, uns in die Barke zu begleiten!"

In Utanapi stritten sich Heiterkeit über Setanapis hilflose Angst und Wut über seine Anmaßung. Die Hand, welche seinen Speer umklammerte, begann zu zittern. Er starrte auf einen Punkt, an dem er nicht das sah, was da war, sondern ein Bild aus der nahen Vergangenheit. Die Stelle am Strand des Süßen Meeres, an dem Ash und El in einer bunt schillernden Luftblase verschwunden waren, als diese mit einem leisen, fast unhörbaren "Blubb" zerplatzte.

"Du sprichst von Göttern, vor denen Irinapi auf die Knie fällt. Die sind nicht verschwunden, denn sie waren nie da. Wenn es wirklich Götter gibt, dann ist das El, den mir Nigama geboren hat und Ash, die mit dem Clan der weisen Frauen gekommen ist. Das Werk der beiden war sichtbar. Die Werke deines Gottes nicht!"

Ein zufälliger Seitenblick auf Irinapi brachte Utanapi aus dem Konzept, und er wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen wollte. Das bemalte Gesicht des Schamanen verzog sich zu einem schiefen Grinsen. Dann kam aus dem zahnlosen Mund ein bellendes Lachen, das im aufkommenden Nebel stecken blieb und die Umgebung kleiner machte als sie war.

"Nun könnt ihr alle hören, wie Utanapi über die Götter denkt. Er tut es, ohne je die Ordnung im Kosmos begriffen zu haben! Das war nicht El, es war Jh! Und das Mädchen, das ihn anscheinend begleitete, war nichts als eine Täuschung, mit der er den Verstand all derer vernebelte, die nicht mit in der Barke reisen dürfen. Damit hat Utanapi sich selbst entlarvt! Bleib du also hier und denk über deinen Unglauben nach! Jh hat meine Gebete erhört und lädt alle die ein, die Unterwelt zu verlassen, die fest an ihn glauben!"

Bevor Utanapi antworten konnte, ertönte erneut die Stimme des Mädchens Ash. Diesmal lauter und mit dem Misston der Verärgerung. Sie hörte sich gar nicht göttlich an, sondern zutiefst menschlich. Auch schien sie nicht aus dem Schiff zu kommen, sondern es hörte sich so an, als wäre Ash unter ihnen.

"Hört endlich auf zu quatschen und kommt rein, bevor euch das Zeug frisst, das da auf uns zu kommt!"

Eine andere Gruppe stand abseits und beobachtete die Streitenden. Verstehen konnten die Leute nichts von diesem Disput, denn sie hatten eine andere Sprache. Ihre Kleidung war auch anders. Keine Felle und grob gewebte Umhänge, sondern Chitons aus feinem Tuch, das teils weiß war, teils in leuchtenden Farben gehalten.

Keiner von ihnen sah so wild aus wie die der anderen Gruppe, deren Mitglieder sich in Rage geredet hatten und drauf und dran waren, ihre Argumente gegen Prügel einzutauschen.

Ihre menschlichen Originale stammten aus unterschiedlichen Zeiten. Jahrtausende trennten sie.

"Wo kommen die denn her? Und warum streiten sie sich so erbittert?"

Der Mann, der das gesagt hatte, war der Älteste unter ihnen. Sein Gesicht verbarg sich größtenteils hinter einem weißen Bart, der bis auf die Brust reichte. Die Haare waren kunstvoll geflochten und am Ende mit einer goldenen Brosche verziert. Auf ihr war eine Schlange dargestellt, deren Kopf nach oben wies. Als wolle sie dem Mann etwas Wichtiges mitteilen.

"Du stellst die Frage falsch, Teiresias!", entgegnete ihm der Mann, der unmittelbar neben ihm stand. Sein Bart war schwarz wie seine Augen, und in seiner Haltung war der Stolz eines Königs.

"Warum sind wir hier? Ist das der Hades oder gar der Tartaros? Waren die Barbaren schon vor uns hier? Welche Strafe droht uns? Was haben wir uns zuschulden kommen lassen, dass die Götter uns derart zürnen? Warum werden wir mit denen dort gleichgesetzt, die sich benehmen wie die Wildschweine im Wald?"

Er sah sich um und schien dabei den jungen Mann, der sich aus dem Dunst näherte, erst jetzt zu bemerken. So etwas wie Verstehen malte sich auf seinem Gesicht und ließ es vor mühsam zurückgehaltenem Zorn rot werden.

"Was sucht dieser Verräter hier?"

Der junge Mann hörte, was über ihn gesagt wurde und entgegnete: "Ich habe gegen niemanden gefrevelt! Schon gar nicht gegen dich, Kreon! Und warum sollte ich das tun? Du bist der König von Theben, aber ich bin nicht dein Untertan. Wenn das mein Frevel ist, gibt es für mich keinen Grund, dich um Entschuldigung zu bitten!"

"Darum geht es auch nicht, obwohl ich dich für deinen mangelnden Respekt schon bestrafen müsste! Du bist der Diener des Herakles, der meine Enkel umgebracht und meine Tochter Megara ins Unglück gestürzt hat! Ich sollte dich hier auf der Stelle töten lassen, weil du die Frechheit besitzt, mir unter die Augen zu treten! Wo ist denn Makaria? Hat Herakles sie auch erschlagen?"

"Nein! Alles, was du sagst, ist nicht wahr! Du weißt es nicht besser, denn du warst nicht dabei! Ich glaube nicht den bösen Zungen, die dir das erzählt haben, sondern ich glaube Herakles, der solche Bosheit nicht kennt. Antaios hat die Kinder mit seinen Pfeilen erlegt, weil er den Einflüsterungen von ihm gefolgt ist!"

Er zeigte auf Teiresias.

"Antaios glaubte, Demeter habe zu ihm gesprochen und ihn mit dem Mord beauftragt. Dabei waren es seine Kinder, die er beim Gottesdienst mit Megara gezeugt hatte! Er hat sich in der Höhle selbst gerichtet, nachdem er es Herakles erzählt hat. Er konnte seine Schuld nicht mehr tragen! Du bist ein Ungeheuer, Teiresias, aber kein Seher! Warum hast du das gemacht?"

Iolaos wandte sich wieder dem König zu.

"Nur zu deiner Information, Kreon: Makaria ist mit Herakles auf dem Weg nach Mykene. Eurystheus gibt ihnen sicher Asyl. Du kennst meinen Bruder. Er kann Schuld und Unschuld sehr wohl unterscheiden, auch wenn er nur zuhört, was gesprochen wird!"

"Und warum sind wir dann hier? Es muss einen Grund geben, wieso uns die Götter in die Unterwelt verbannt haben! Es kann nur der Mord an den Kindern gewesen sein! Und ich als König muss den richten, der dieses Verbrechen begangen hat! Das haben nun die Götter übernommen, weil es für uns zu spät geworden ist. Daran bist du schuld, Iolaos, denn ich glaubte, Herakles habe seine Strafe erhalten, als ihn meine Krieger in den Höhlenschlund stießen. Wieso bist du eigentlich hier? Auch du bist hinabgestoßen worden von meinen Kriegern. Du solltest ebenso in den Feuern der Unterwelt schmoren wie Herakles!"

Iolaos deutete auf Teiresias, der mit versteinertem Gesicht geradeaus schaute, um nicht dem Blick seines Königs zu begegnen.

"Er weiß warum! Auch du wurdest getäuscht, Kreon! Frag ihn! Die Höhle des Antaios hat mehrere Ausgänge und eine Doline. Das kennen deine Krieger. Mehr aber auch nicht. Sie wissen nicht, dass der See unten, in dem wir ertrinken sollten, eine Verbindung zur Kulthöhle hat. Herakles hat mich gerettet. Genauso wie Makaria, die ebenfalls hinuntergestoßen wurde. Ich glaube kaum, dass es aus Versehen geschah. Warst du auch daran beteiligt, Teiresias? Antaios stellte sich zum Kampf. Als ihm klar wurde, was er getan hatte und warum, ist er nicht der Einladung meines Herrn gefolgt, mit ihm nach Mykene zu fliehen, sondern er hat sich in den See geworfen und von der Strömung gegen die Felsen schlagen lassen. Er starb, weil er es nicht ertragen konnte, dass er seine eigenen Kinder wegen dem hier umgebracht hat. Teiresias hat also nicht nur dich getäuscht, sondern alle anderen auch. Nun weißt du, wen du richten musst!"

Kreon schüttelte den Kopf und versank in grüblerisches Nachdenken. Als er wieder aufsah, war er alleine. Die Rede des Iolaos hatte ihn so fassungslos gemacht, dass er seine Umgebung gar nicht mehr wahrnahm. Eine weibliche Stimme forderte ihn auf, den anderen ins Schiff zu folgen. Von ihnen sah er noch die letzten Schatten an den hell erleuchteten Wänden des Schleusenportals. Erst jetzt spürte er den Windhauch, der von dort her wehte und einen angenehm frischen Duft mitbrachte.

Er ging hinein, und hinter ihm schloss sich die Blende.

Auch wenn Con die Genese der Memos nicht bewusst erlebte und somit auch nicht steuern konnte, hinterließ er dem Titan-Memo eine Botschaft.

Bleib noch! Es ist noch nicht vollbracht!

Was immer das zu bedeuten hatte, es führte dazu, dass das Schiff hinter Kreon nur die innere Blende der Schleuse schloss. Die äußere blieb offen, und das Licht flutete weiter über die Rampe auf den metallisch glänzenden Boden. Dieser überzog sich mehr und mehr mit durchsichtigem Schleim, obwohl die muschelartigen Wesen ihn wie im Wettlauf mit seiner Entstehung wegschlürften.

Weiter draußen tat sich etwas mit den bräunlich grünen Dschungelgewächsen. Zwischen zwei schräg stehenden Platten aus dem superschweren Metall Unhexquadium beulte sich die runzlige Oberfläche einer Staude zu einer Blase auf und spie schließlich eine menschliche Gestalt aus. Eine junge Frau, fast ein Kind noch. Sie rutschte über den Glibber, der ihr folgte, als habe das Gebilde sich mit ihr erbrochen. Als sie sich endlich aufrichten und umsehen konnte, erschrak sie so heftig, dass sie wieder in die inzwischen gelblich schimmernde Masse zurückfiel.

Nicht weit davon wiederholte sich der Vorgang, und heraus kam jemand, den sie kannte. Ein junger Mann, gekleidet in einen schmutzigen Umhang, der einmal ein weißer Chiton gewesen sein musste. Auch er erschrak, als ihm bewusstwurde, wo er sich befand. Als er das Mädchen erkannte, war er erleichtert und besorgt zugleich.

"Makaria! Wo kommst du denn her? Wir sind vor Diomedes geflohen, und ich dachte schon... Nun sind wir im Tartaros gelandet! Was haben wir Böses getan, dass die Götter so wütend auf uns sind?"

"Nein, Hylos! Ich muss ihnen danken! Habe ich dich doch endlich gefunden!"

Sie versuchte sich aufzurichten, glitt aber immer wieder aus. Hylos kam ebenso schlecht mit dieser seltsamen Bodenbedeckung zurecht. Er setzte all seine Kräfte ein, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, kam aber kaum einen Schritt weiter. Die beiden bemerkten in ihrem Bemühen, einander näher zu kommen, die Gestalt nicht, die von einer anderen Staude ausgestoßen wurde und sie sofort ins Visier nahm. Der Mann war riesengroß, und seine ganze Erscheinung demonstrierte einen Hang zur Brutalität. Das Gesicht war dominiert von einem gewaltigen Kinn und dicken Knochenwülsten über den Augen. Seine Arme waren lang wie die eines Gorillas, und seine Hände groß wie Suppenteller.

"Willst du wohl stehenbleiben? Poseidon verlangt das Opfer! Bleib stehen, damit ich es ganz schnell vollziehen kann! Es tut auch nicht weh, ich verspreche es dir! Meine Krieger warten! Mykene muss sich mir ergeben, aber dafür brauche ich den Beistand unseres Gottes, denn Herakles hat meinen ersten Feldzug versaut!"

Seine missgestaltete Hand deutete auf Makaria. Hylos schien er noch gar nicht bemerkt zu haben, oder er ignorierte seine Anwesenheit. War ihm offenbar zu unwichtig. Seine Schritte griffen weit aus, und die Entfernung zu dem Mädchen schrumpfte schneller als es Hylos gelang, näher zu kommen. Er rutschte immer wieder auf dem Schleim aus, der den metallisch glänzenden Boden bedeckte, während der Riese darauf lief, als hätte er die ganze Zeit über nichts anderes getan. Er war so auf das Mädchen fixiert, dass er noch gar nicht mitbekommen hatte, dass hier alles anders aussah als auf seinem Kultplatz am Meer.

Noch bevor er die beiden Jugendlichen erreichen konnte, stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den keiner von ihnen zuvor gesehen hatte. Er trug über der muskelbepackten Brust eine Weste aus Leder, die bedeckt war mit einem Plattenmuster aus Gold. Als er an seinem Gegenüber aufsah, zeigte sich für einen kurzen Moment Unsicherheit auf seinem Gesicht. Dann jedoch schien er bereit, auch gegen diesen scheinbar unbesiegbaren Gegner den Kampf zu wagen.

"Hier wird niemand geopfert! Scher dich davon, Diomedes, sonst bekommst du mein Schwert zu spüren! Hier ist keiner deiner Krieger. Oder siehst du außer uns noch jemanden?"

Diomedes wandte sich um. Eurystheus hätte jetzt die beste Gelegenheit gehabt, seinen schlimmsten Feind ohne eigenes Risiko zu töten. Er tat es nicht und wartete, bis sich ihm sein Gegner wieder zugewandt hatte. Hinterrücks jemanden zu ermorden war für ihn ein Tabu, auch wenn er wusste, dass er den umgekehrten Fall nicht überlebt hätte.

Das Gesicht den Riesen schien noch ein Stück länger geworden zu sein. Erst jetzt hatte er richtig realisiert, wo er sich befand. Der Tartaros in den Geschichten der Alten konnte nicht befremdlicher aussehen als diese Landschaft voller düsterer Stauden, die pulsartig rotes Licht aussandten und dabei tintenschwarzen Rauch ausstießen. Überall hörte er schmatzende und scharrende Geräusche, die nur von den Dämonen kommen konnten, welche die Götter hier eingesperrt hatten.

Hinter dem grauen Dunst zeichnete sich die Silhouette von etwas sehr Großem ab, das sich bis zum unsichtbaren Horizont zu erstrecken schien.

"Wer den Frieden will, kann kommen und in die Welt der Menschen eintreten. Wer nicht, kann sich fressen lassen!"

Das Titan-Memo korrigierte sich selbst, als es die Fassungslosigkeit in den Gesichtern bemerkte.

"Auch du kannst natürlich kommen, Diomedes! Aber benimm dich, dann kommen wir gut miteinander aus."

Cons Immunabwehr hatte aber, noch während Titan das sagte, anders entschieden. Es überhäufte den Riesen mit schwarzem Granulat, das aussah wie Perlen aus Hämatit. Daraus wurde schließlich eine Masse, ähnlich dem irdischen Asphalt. Anfangs bildete der Körper des Mannes darin einen Hügel. Der wurde mit der Zeit immer kleiner und verschwand schließlich ganz. Als die Masse wieder zu Kugeln granulierte und sich in die Staude zurückzog, war nichts mehr von Diomedes da. Der metallische Boden glänzte, als wäre er poliert worden.

"Beeilt euch!", kam es aus dem Nebel. "Wenn ihr nicht schnell genug seid, passiert mit euch das Gleiche!"

Aus irgendeinem Grund glaubte Titan selbst nicht daran. Es schien, als sortiere Con nur die Memos aus, die noch am Leben waren, als Diane und Herman die alten Zeiten verließen. So erleichternd diese Gedanken auch waren, so sie ließen doch eine düstere Komponente zurück.

Was passiert mit dem Original-Schiff, wenn sein Memo im Erdorbit aus dem Brückenloch kommt? Nichts darf es zum gleichen Zeitpunkt zweimal geben. Dieses Verbot ist eines der wichtigsten Gesetze des Universums!

 

Der Wald dampfte nach einem Wutausbruch des Wettergottes. Dabei war ein Blitz in einen der Baumriesen gefahren und hatte ein Stück der Krone herausgeschleudert. Noch während sie, brennend wie eine riesige Fackel, zu Boden fiel, löschte eine schwarze Wasserwand, die plötzlich aus der finsteren Wolke fiel, den Brand und machte dabei einen solchen Lärm, dass der Donner wie nebenbei erschien.

War vorher alles still, als hätte der Wald vor Angst seine Stimme verloren, so meldeten sich jetzt als erstes mit lautem Geschrei die Affen zurück, die sich im grünen Gewirr der Bäume Haschen spielten. Die Vögel überboten sich mit Gesangsversuchen, die in einem disharmonischen Durcheinander ihre Schönheit einbüßten. Der aufkommende Wind brachte nicht nur den Geruch nach Feuchtigkeit und Würze der Duftpflanzen mit, sondern auch den Gestank des Bunten Dämons, der sich als riesige Blume tarnte und die Menschen narrte, indem er ihnen das Bild verwesenden Kadavers vorgaukelte.

Im aufsteigenden Dunst wirkten die Baumriesen wie die Giganten aus den Träumen der Menschen, aus denen sie aufschreckten, wenn sie glaubten, den Göttern ungehorsam gewesen zu sein. Hinter den düsteren Gestalten türmten sich die Berge auf wie die Köpfe noch größerer Ungeheuer, die die Bäume als Haarschmuck trugen.

Als sich die Regenschleier verzogen, wurde der Große Götterberg in der Ferne sichtbar. Bis in den Himmel ragte er und hielt noch die Reste der Wolke fest, die der Wettergott gesandt hatte. Ganz oben war er mit etwas Weißem bedeckt, von dem es hieß, es sei so kalt, dass die Füße erstarren würden, wenn man versuchen würde, darauf zu laufen.

Von wem dieses Wissen kam, war lange vergessen, denn niemand aus der Sippe traute sich dorthin. Es wäre auch viel zu weit, unmöglich, den Weg in einem Lebensalter zu schaffen. Abgesehen davon duldete der Berg es nicht, denn es wurde auch berichtet, dass in ihm ein Gott wäre, der alle strafen würde, die sich ihm näherten. Alle diese Neugierigen würde er in einem Rausch der Gier fressen. Schwarzen Rauch soll er danach ausstoßen in einem riesengroßen Rülpser. Aber eher schien es, dass sich dort die Götter versammelten und alle Sünder lebendig in einem alles verschlingenden Feuer rösten würden. Warum sie aber den Menschen einst das Feuer geschenkt hatten, war damit logisch nicht in Einklang zu bringen. Zumindest aber brauchten sie von da an das Fleisch der gefangenen Tiere nicht mehr roh zu essen. Gebraten war es bekömmlicher.

In den Wäldern um den Großen Götterberg lebten viele Sippen. Manche isoliert von den anderen, manche in größeren Gruppen. Nur selten ging es zwischen ihnen friedlich zu. Wurde ein Weibchen geraubt, wurden die Räuber verfolgt, bis sich ihre Spur verlor oder die Jäger sie eingeholt hatten. Dann entschied, wer am besten kämpfen konnte und wer am Ende sein Leben lassen musste. Oder eine Sippe kam hinzu, wenn eine andere etwas gefangen hatte, und die Beute reichte nicht für alle. Was sie dagegen alle verband, waren die Ahnen, die mit den Göttern im Jenseits wandelten. Die uralten Regeln mussten von ihnen stammen, denn niemand konnte sich erinnern, wer sie einst aufgestellt hatte. Und diese Regeln galten für alle, gleichgültig, wie sie über Götter und Ahnen dachten. Bei allem Hass, der mitunter aufflammte und zu blutigen Kämpfen führte, die auch vor familiären Banden nicht Halt machten, hielten sich alle daran.

Zuallererst hatten die Götter verfügt, niemanden, der bei den Auseinandersetzungen sein Leben ausgehaucht hatte, auf dem Boden liegen zu lassen, wodurch ihre wichtigsten Teile von den wilden Tieren gefressen werden konnten. Das Herz wurde vom Sieger verzehrt, denn es war die Anerkennung ihres Mutes und machte ihn noch stärker, denn hinzu kam die Kraft des Besiegten. Starb ein Angehöriger, ob nun im Kampf, Altersschwäche oder durch einen Unfall, war der wichtigste Teil, der verzehrt wurden musste, das Gehirn. Das war nötig, damit die Seele nicht verloren ging. Der Rest wurde im Großen Ehrenfeuer verbrannt.

Die zweite Regel betraf die Fairness im Kampf. Es galt als ungehörig und abscheulich, einen Kampf in der Nacht zu beginnen und den Gegner zu überfallen, wenn er in seinen Träumen den Ahnen begegnete und der Schlaf ihn wehrlos machte.

TITAN

 

Die äußere Blende der Schleuse schloss sich gerade noch rechtzeitig. Dahinter brandete der Dschungel gegen die Außenhaut des Schiffes. Der Schleim und Reste aggressiver Stauden tropften herab, als das Titan-Memo den Schleusenausleger einzog und sich langsam nach oben bewegte.

Makaria war mental noch gar nicht im Schiff angekommen, als Iolaos sie stürmisch umarmte.

"Allen Göttern sei Dank! Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen! Erst glaubte ich, der Priester des Diomedes habe dich auf dem Kultplatz geschlachtet. Nun finde ich dich hier. Im Schutz der Götter und vielleicht auf dem Weg nach Hause!"

"Hast du nicht auch vorhin die Stimme aus dem Nebel gehört? Deianira muss hier irgendwo sein. Hast du sie gesehen? Ist sie hier? Hoffentlich ist sie nicht wie wir in den Tartaros gekommen und dortgeblieben! Das hat sie nicht verdient! Auch wenn sie beim Minos sein sollte, ist das nicht richtig! Sie gehört zu Herakles! Hast du ihn gesehen? Wo ist er! Nur er kann uns wirklich helfen!"

"Ich habe keine Ahnung. Wir wollten zur Minoa, die uns nach Kaphthor bringen sollte. Auf dem Schiff habe ich ihn noch gesehen. Dann war ich plötzlich im Tartaros. Ich verstehe das alles nicht, und ich habe das Gefühl, auch die Götter wissen nicht, was da vor sich geht. Es gibt keinen Grund dafür, dass wir hier sind. Ich kenne dich, ich kenne Hylos. Ihr achtet die Menschen, und ihr achtet die Götter. Ihr kämpft, wenn es sein muss, für sie. In den Tartaros kommen nur die Leute, die an anderen Menschen Schlimmes angetan oder die Götter verhöhnt haben."

"Wie du zum Beispiel!"

Kreon kam hinter einer Biegung des Korridors auf ihn zu und zerrte am Halsansatz seines Gewandes. Dabei zog er ihn so eng zusammen, dass Iolaos nach Luft rang. Der hatte mit diesem Angriff nicht gerechnet und konnte sich somit nicht zur Wehr setzen. Das sah Eurystheus und stapfte mit dem Fuß auf. Auf dem glatten Boden gab es ein klatschendes Geräusch. Kreon fuhr zusammen und ließ Iolaos los.

Eurystheus trat so nahe an Kreon heran, dass sich ihre Bärte fast berührten. Die Goldplatten an seinem Brustharnisch blieben dabei im Umhang seines Gegenübers hängen und zerrten an den Bändern.

"Die drei stehen alle unter meinem Schutz!", rief er. "Iolaos, Hylos und Makaria! Du kannst den Einflüsterungen deines verlogenen Sehers glauben oder auch nicht! Herakles ist bei mir gewesen, bevor wir uns im Tartaros wiedergefunden haben. Nichts von dem, was du ihm oder Iolaos vorwirfst, entspricht der Wahrheit!"

Auf Kreons Gesicht zeigte sich ein schiefes Grinsen.

"Wo sind deine Krieger, mächtiger Wanax von Mykene? Wie willst du die drei schützen, wenn du dich nicht einmal selbst schützen kannst. Dein Held Herakles ist auch nirgendwo zu sehen. Den brauchst du doch vor allem dazu! Die Götter haben uns wegen seiner Taten verstoßen. Auch sie helfen dir nicht!"

In Eurystheus stieg ein Lacher hoch. Er ließ ihn nicht zu, denn er fühlte sich angesichts dessen, was mit ihnen geschah, hilflos. Laut loszulachen könnte die Götter zudem noch mehr erzürnen.

"Und wo sind deine tapferen Streiter, Kreon? Wir sind allein hier! Hast du das noch nicht gemerkt?"

Er stieß sich von seinem Gegner ab und riss ihm dabei den Umhang vom Körper. Der thebanische König stand nun fast nackt vor ihm. Nur bekleidet mit einem weißen Lendenschurz. Dadurch wirkte er klein und zerbrechlich, und Eurystheus hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Hob den Umhang auf und reichte das Gewand seinem Gegner. Der jedoch bückte sich und hob das Schwert auf, das aus seinem Gürtel gefallen war. Als er damit auf Eurystheus losgehen wollte, prallte er vor ein unsichtbares Hindernis. Dabei verlor er die Waffe wieder.

"Hier wird nicht gekämpft! Habt ihr Uns verstanden?"

"Deianira?!"

Eurystheus sah sich um.

"Wo bist du? Ich habe geglaubt und gehofft, die Götter hätten dir erlaubt, in Mykene zu bleiben! Warum haben sie auch dich in den Tartaros gestoßen?"

Es wurde für eine Weile so still, dass man das Klappern der Goldplatten auf seinem Brustharnisch hören konnte. Sein Herz pochte so heftig, dass es auch sichtbar war. Das Metall vibrierte.

"Wo bist du? Zeig dich! Und sag mir, wo Herakles ist! Er soll unseren Streit mit Worten schlichten, nicht mit der Waffe!"

Die Stimme kam jetzt aus einer anderen Richtung, und alle folgten ihr mit den Blicken.

"Wir sind nicht die Person, die du Deianira nennst. Es ist wahr! Wir haben die Stimme der Frau Diane. Sie hat Uns erschaffen... Nein! Warte! Es ist komplizierter. Wir können es dir jetzt nicht erklären. Erst müsst ihr alle eure Aggressivität überwinden. Sie kann euch nicht helfen und ist kontraproduktiv fürs Verstehen. Ruht euch aus! Wir haben eine weite Reise vor uns. Wenn ihr bereit dazu seid, werden Wir euch aufklären."

"Wir sind bereit!", sagte Iolaos mit Bestimmtheit.

Das Titan-Memo widersprach.

"Nein, das seid ihr nicht! Ihr wisst es nur nicht. Ihr müsst Geduld haben und an euch arbeiten. Wir übrigens auch. Wir haben Kabinen für euch erzeugt. Dort findet ihr alles, was ihr zum Leben braucht. Wir haben Sensoren, die euer Befinden analysieren, und Wir werden uns einschalten, wenn ihr in Not seid oder einfach nur das Bedürfnis habt, zu essen, zu schlafen oder auch nur zu reden. Für alles werden Wir sorgen, bitten allerdings um Nachsicht, wenn nicht alles von Anfang an reibungslos klappt. Wir müssen euch auch erst einmal kennenlernen. Das ist nicht einfach, denn ihr seid nicht die einzigen, die ins Schiff gekommen sind. Die anderen kommen aus einer Zeit, die Jahrtausende vor der euren liegt, und Wir können im Moment nur hoffen, dass ihr euch versteht. Dabei ist die Sprache selbst das kleinere Hindernis. Wir werden eure Mundarten genau analysieren und einen Plan ausarbeiten, damit eines Tages jeder die Sprache des anderen beherrscht. Es wird sicher nicht leicht sein und sehr viel Toleranz erfordern. Für jeden von Euch. Auch für Uns. Aber Wir sind optimistisch. Bis wir die Erde erreicht haben, verstehen wir uns in jeder Hinsicht."

Iolaos traten die Tränen in die Augen.

"Ich glaube dir nicht, Deianira! Wenn du sprichst, kannst du sagen, was du willst. Du bist immer Deianira für mich! Warum erzählst du so komisches Zeug und zeigst dich nicht? Das kenne ich nicht von dir! Wir sind viele Wege gemeinsam gegangen, und ich konnte mich stets auf das verlassen, was du gesagt hast. Ich war immer davon überzeugt, dass du zur Täuschung gar nicht fähig bist. Und warum sagst du immer 'Wir', wenn du von dir sprichst? Hast du noch mehr Leute um dich geschart, die deinen Befehlen folgen? Auch das fehlt in meinen Erinnerungen an dich. Was ist mit dir los? Zeige dich, und all meine Zweifel werden verschwinden!"

Die Zeit schien sich zu dehnen. Es war still geworden, und es schien Iolaos, als wäre seine Deianira ganz nah und würde nur deswegen schweigen, um sich die nächsten Worte zu überlegen. Die kamen dann auch, waren aber für Iolaos weiterhin inakzeptabel.

"Habe Geduld! Wir können es dir noch nicht erklären. Du bist noch nicht so weit, es zu verstehen. Ihr alle seid noch nicht bereit. Wir sagten es bereits, Unser teurer Freund: Wir sind nicht Deianira, Wir haben nur ihre Stimme..."

Iolaos spürte Wut in sich aufsteigen und Hilflosigkeit, denn er konnte nicht zurückhalten, was zu seinem Mund unterwegs war.

"Eben! Du sagtest es bereits! Ich glaube dir trotzdem nicht! Komm vor mit deinen Getreuen! Ich will dir von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten und sehen, ob du noch Deianira bist oder ein böser Dämon, der mich täuschen will und meine Erinnerungen beschmutzt, die ich von der Frau habe, die ich liebe!"

Jetzt war es das Schiff, das vor lauter Verlegenheit nicht wusste, was es darauf erwidern sollte. Und es tat ihm leid, dass es Iolaos Wunsch nach seiner Deianira nicht erfüllen konnte.

"Nichts von dem, was du sagst, hat etwas mit dem zu tun, was wirklich geschieht. Deianira ist die Frau, die Herakles Diane nennt. Nie würde sie dich täuschen, denn sie ist deine Mutter! Es gibt hier auch keine Dämonen. Es gibt sie nirgendwo. Wenn Wir dich mit unserer Stimme verwirren, tut es Uns leid. Wir können nur nichts daran ändern. Sie ist Unsere Stimme geworden, nachdem die andere sich aus Uns zurückgezogen hat. Bei Unserer Reifung zu der Imago haben wir alles von dieser Frau bekommen, was Unseren Geist ausmacht. Nach einem Flug durchs All auch ihre Stimme. Wir sind das, worin ihr euch jetzt befindet. Ein Schiff, das durch das Weltall fliegt. Wir können von Uns selbst nur im Plural reden, weil Wir Viele sind, die eine Einheit bilden. Viele kleine und viele große. Warum ihr hier in Uns seid, wissen Wir, denn Wir haben dafür gesorgt, dass ihr in Uns Sicherheit findet. Warum es Uns und euch hier und jetzt überhaupt gibt, wissen Wir nicht und es macht für euch auch keinen Sinn, danach zu fragen. Vielleicht kann es euch trösten, wenn ihr es göttliche Fügung nennt. Eine Gewissheit ist damit nicht verbunden. Wir können euch nur versprechen, euch zur Erde zu bringen. Für mehr reicht Unsere Energie nicht aus. Was dann geschieht, liegt an euch. Wir haben keinen Einfluss darauf. Ihr müsst euch darauf einstellen, dass die Welt eine vollkommen andere ist als die eure. Bis wir dort ankommen, werden Wir euch Leben dort vorbereiten. Je mehr Geduld ihr habt, umso leichter fällt es Uns. Wir bitten euch deshalb, Uns nicht nach Dingen zu fragen, für deren Erklärung es zu früh ist. Es geht nur Schritt für Schritt."

Iolaos gab nicht auf. Er konnte einfach nicht akzeptieren, was das Titan-Memo ihnen zu erklären versuchte. Er sah nur das Werk von Dämonen und fühlte sich von den Göttern verlassen. Dass sich möglicherweise auch Deianira zu einem Dämon gewandelt hatte, wollte und konnte er nicht hinnehmen.

"Jetzt fängst du auch noch an, von meiner Mutter zu reden! Das war Nikippe und nicht du! Was soll das alles? Komm zu dir, Deianira! Und komm zu uns! Wir sind für dich da und werden dich vor den Dämonen beschützen."

Auch Hylos war verzweifelt.

"Vielleicht wären wir doch lieber im Tartaros geblieben!"

Er hockte sich hin und gab Makaria ein Zeichen, dass sie sich neben ihm niederlassen sollte. Als sie bei ihm war, legte er seinen Kopf an ihre Brust. Sie streichelte über seine Haare.

Nach einer Weile betretenen Schweigens meldete sich das Titan-Memo wieder.

"Wünsch dir das besser nicht! Lange hättet ihr dort nicht überleben können. Die Gebilde, die aussahen wie schmutzige Pflanzen, hätten euch aufgesaugt und zu Ihresgleichen gemacht. Ihr währt zum Bestandteil dessen geworden, was ihr Tartaros nennt und hättet eure Individualität verloren. Zwischen dir, Hylos und dir, Makaria, würde es dann keinen Unterschied mehr geben und ihr hättet auch keine Gelegenheit mehr, euch in Liebe zu berühren. Und noch etwas: Ich bitte dich, Iolaos: Trenne dich von der Vorstellung, Deianira sei hier. Es ist gut, dass sie nicht hier ist. Wenn wir auf der Erde sind, kannst du sie vielleicht wiedersehen. Nur hier eben nicht! Und Wir weigern Uns, von Diane und Herman Avatare zu erzeugen. Solcherart Androiden würden euch das Verständnis nicht erleichtern, sondern nur wirken wie Drogen, von denen man schnell abhängig wird. Ihr würdet das nicht aushalten und den Verstand verlieren, noch bevor wir die Erde erreicht haben."

 

Setanapi war mit seinem Bruder alleine. Ohne dass sie sich dessen bewusst waren, hatte das Tita-Memo sie von den anderen isoliert, damit sie ungestört miteinander sprechen konnten. Die Wabe, die das Schiff generiert hatte, war der Hütte nachempfunden, die Utanapi am Süßen Meer zusammen mit Ursigama als erste gebaut hatte. Die Informationen dazu hatte das Titan-Memo aus dem Datenstrom, der Con aus der Universalinformation zugeflossen war. Insofern ähnelte das, was es gerade tat, dem, wozu es als Original bisher nicht in der Lage war, aber zu Cons Eigenschaften gehörte. Einen Unterschied gab es jedoch. Während die planetare Entität nichts von dem bewusst wahrnahm, was sie aus seiner Substanz erzeugte, tat das Titan-Memo es in der vollen Absicht, den Menschen an Bord das Leben erträglich zu machen.

Beide Männer gaben sich für den Moment der Illusion hin, es habe sich nichts verändert und sie wären noch in der Siedlung des Clans. Doch das währte nur für eine kurze Zeit. Die seltsam matt aussehende Wand hinter dem Fensterloch drohte mit einer anderen Realität.

"Ich werde verrückt, wenn das so weitergeht", sagte Setanapi. Diesmal auch ohne jede Spur von Aggression, wie sie stets von ihm ausgegangen war, wenn er sich in Utanapis Nähe befand. Überrascht sah der auf.

"Da bist du nicht der Einzige! Es geschieht hier etwas sehr Seltsames. Niemand versteht es."

"Eben!"

Setanapi hob die Stimme, aber nicht den Blick. Es sah aus, als habe er dem Boden unter seinen Füßen etwas mitzuteilen. Er wagte nicht, in die Augen seines Gegenübers zu sehen, denn dort lauerte ein immerwährender Vorwurf.

"Du weißt es selbst, auch wenn du es nicht wahrhaben willst: Ich bin der Einzige, der imstande ist, in unserem Clan die Führung zu übernehmen. Du bist zu weichherzig. Ich verachte dich deswegen nicht. Du kannst nichts dafür. Es war schon immer so. Es ist dein Wesen, und du kannst nichts dagegen machen. Irinapi hat nicht alle Sinne beisammen. Auch das weißt du. Denke mal nach! Wir waren am Süßen Meer, als Jh, den du für deinen Sohn gehalten hast, sich das Mädchen Ash genommen hat, um ins himmlische Jenseits zurückzukehren und mit ihr göttliche Söhne zu zeugen. Uns hat er in die Unterwelt geschickt, weil wir nicht begriffen haben, was er uns sagen wollte. Anfangs gehorchte ich seinem Befehl, die Versuchungen der Weiber zu bekämpfen, und ich richtete meinen Pfeil auf das Mädchen. Mein Fehler! Ich hatte nicht verstanden, dass auch sie göttlichen Ursprungs und mit ihm verbunden ist. Ich habe zu diesem blassen Himmel hier aufgeschaut. Ich glaube nicht, dass es der gleiche Himmel ist, in den er mit ihr gegangen ist, bin aber sicher, dass er auch zu seinem Reich gehört. Ich habe ihn angefleht, mir zu verzeihen und uns aus der Unterwelt zu holen. Du siehst: Er hat mich erhört! Du dagegen hast einfach nur dein Schicksal hingenommen und überhaupt nichts gemacht! Weder was Falsches, noch was Richtiges. Nein! Stimmt nicht! Du hast mich vor allen beschimpft, während ich bemüht war, die Leute zu überzeugen, in die Barke zu steigen, die Jh uns gesandt hat. Er hat sie uns geschickt, weil ich ihn darum gebeten habe. Denk nach! Hat es jemand anderes versucht? Hast du es versucht? Nein! Alle waren nur erschrocken, als sie begriffen hatten, wo sie sich befinden. Was ich aber nicht verstehe: Wieso redet Jh so mit uns, als müssten wir die Sprache anderer Leute lernen und uns auf etwas vorbereiten, das er Ankunft auf der Erde nennt? Wir sollen uns mit der Barke irgendwo in einem Himmel befinden, der dunkel ist wie in der Nacht. Das muss dort sein, wo eigentlich Jh seine Behausung hat. Wir sind hier nur für die Zeit in der Barke. Jh will außerhalb des Schiffes nichts mit uns zu tun haben und vermeidet jeden direkten Kontakt. Stattdessen redet er mit uns mit der Stimme des Mädchens Ash! Obwohl ich ihn darum gebeten habe, dass er wieder so mit uns spricht wie El. Immerzu wiederholt er, dass wir noch nicht so weit sind, seinen Erklärungen zu folgen. Erzählt von Dingen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. So seltsames Zeug, dass ich das Gefühl habe, in einem wirren Traum zu stecken. Wer weiß? Vielleicht ist es auch so. Ich kann nichts erkennen, das mir zeigt, dass es nicht so ist. Ach, ist das alles schlimm! Ich weiß nicht, was Jh von mir will. Wenn ich überhaupt irgendetwas begriffen habe, dann ist es nur das eine: Ich muss den Clan führen, sonst falle ich bei ihm in Ungnade."

Egal, was Setanapi sagte, es fehlte die Schärfe in seinen Worten. Das war so ungewöhnlich, dass Utanapi sich fragte, ob nicht vielleicht doch der Gott es war, der seinen Bruder so verändert hatte. Dass der Gott eine Tatsache war, daran konnte selbst er nun nicht mehr zweifeln. Nach allem was geschehen war und noch geschehen würde.

Allmählich bekam er es mit der Angst zu tun.

Wenn Setanapi nun doch die Wahrheit spricht, und ich bin derjenige, der nichts davon versteht. Bestraft mich dann Jh? Bestraft mich El? Er ist doch mein Sohn! Nein, ist er nicht! Ich bin nur ein einfacher Mann. Nur ein Gott kann einen Gott zeugen! Vielleicht war Jh bei Nigama, und ich habe es nur geträumt, bei ihr zu liegen? Die Frucht meiner Lenden könnte nie die Wunder vollbringen, zu denen El imstande ist!

Noch deutlich hatte er in Erinnerung, wie Ash und El sich im Inneren einer schillernden Blase umarmten und dann plötzlich verschwanden, als diese zerplatze und in einen feinen Nebel zerstob.

Solche Sachen können nur die Götter machen! Niemals ein Mensch! Und wenn nun Jh nur einen Körper gebraucht hat, um unter uns zu sein? Den hat er sich bei El geborgt! Aber wo ist dann El jetzt, wenn Jh ihn nicht mehr braucht?

"Es gibt noch ein paar andere Sachen, die ich nicht verstehe", fuhr Setanapi fort, noch bevor Utanapi sich auf eine Entgegnung vorbereiten konnte. "Ich habe die Erinnerung an Vorgänge, die aus einer Zeit kommen, die noch gar nicht da ist. Und seltsam ist, dass ich nicht glaube, dass diese Erinnerungen von mir sind und anderseits davon überzeugt bin, dass alles stimmt und ich der bin, der sie hat und niemand anderes. Was will mir Jh damit sagen? Es geht über das hinaus, was er mir jetzt befohlen hat. Ich soll, wenn das wirklich eine Erinnerung ist und kein Traum, nicht nur den Clan führen, sondern ein ganzes Volk. Alle Clans am Süßen Meer."

Utanapi schüttelte den Kopf.

"Jetzt hast du ganz und gar den Verstand verloren! Du leidest an Größenwahn, mein lieber Bruder! Du bist von einer Krankheit geschlagen, an der schon so mancher gestorben ist. Oder besser gesagt, gestorben wurde. Kaum jemand aus den fremden Clans wird sich das gefallen lassen. Da es gegen eine solche Krankheit kein heilendes Kraut gibt, sehe ich schwarz für dich."

Auch jetzt ging von Setanapi keinerlei Aggressivität aus, und Utanapi begann an seiner Urteilskraft zu zweifeln. Noch nie hatte er seinen Bruder so erlebt. Der lächelte so sanft, dass Utanapis Körper sich instinktiv anspannte in Erwartung einer Umarmung, vor der ihm graute.

"In dieser Erinnerung bist auch du vor Jh auf die Knie gefallen! Jh war gekommen in Gestalt Els, und ich habe alle aufgefordert, ihm auf anständige Weise den nötigen Respekt zu erweisen und ihm zu huldigen. Das hat auch Gil getan und deine Nigama und die fremden Weiber aus dem Clan der Lagama. Die schöne Blonde hatte sich allerdings verdrückt. Die anderen sagten, sie sei schon auf Wanderschaft gegangen."

"Und Ursigama?"

"Sie hat nicht hören wollen, was ich ihr befahl, noch bevor Jh kam."

"Was hast du mit ihr gemacht?"

"Das weiß ich nicht mehr", sagte Setanapi zum Fußboden.

Utanapi wusste, dass er log, denn er hatte diese Erinnerungen auch und schämte sich seiner Schwäche.

 

Die Wabe, in die sich Kreon und Eurystheus nach dem Wunsch des Titan-Memos zurückgezogen hatten, war dem Megaron der Burg vom Mykene nachempfunden. In der Mitte war der Herd, dessen vier Ecken durch schlanke Säulen begrenzt waren. Diese trugen eine Decke, deren Material von dem glatt geschliffenen Marmor des Originals nicht zu unterscheiden war.

"Deianira ist hier, ich weiß es", wiederholte Eurystheus. "Ich versteh nur nicht, wieso sie sich nicht zeigt und solchen Schabernack mit uns treibt. Und dann verlangt sie auch noch von uns, wir sollten die Sprache der Barbaren erlernen!"

"Also ich denke, die Stimme spricht die Wahrheit, wenn sie sagt, dass sie nur von Deianira geborgt ist. Ansonsten geht es mir wie dir. Ich kann nicht verstehen, was mit uns passiert. Meine Untertanen haben mich ihren klugen Herrscher genannt, was mich immer stolz gemacht hat. Nun zweifle ich langsam selbst daran. Und ich muss dir Recht geben, wenn du dich darüber ärgerst, die Sprache dieser Primitivlinge erlernen zu müssen. Sie besteht doch nur aus ein paar Wörtern, damit sie nicht ihr Essen mit der Scheiße verwechseln, die danach aus ihnen herauskommt!"

Das konnte das Titan-Memo so nicht stehenlassen. Die Stimme wirkte empört.

"Was soll das? Das sind keine anderen Menschen als ihr! Sie zeigen sogar, dass sie klüger sind als du, Kreon! Sie würden nicht so über euch reden, obwohl auch ihre wenigen Worte für solch eine Schmähung durchaus reichen würden!"

Kreon vergaß für einen Moment, dass er Angst vor der Stimme hatte und entgegnete mit weiterwachsender Wut: "Sie haben auch allen Grund dazu, mich zu respektieren! Wir sind zivilisiert und wissen uns zu benehmen, wie es unserem Stande entspricht! Diese Barbaren folgen nur ihren Trieben! Sieh sie dir doch an! Sehen so zivilisierte Menschen aus? Ich werde sie unterwerfen! Nein! Es ist besser, wir machen es zusammen, Eurystheus! Du wirst mir dabei helfen! Wir müssen uns verbünden, sonst tun sie es mit Ihresgleichen! Es kann nicht sein, dass sie uns unterwerfen! Das könnte ich nicht ertragen, und du sicher auch nicht!"

Die Reaktion des Titan-Memos kam sofort.

"Hier passiert nichts Derartiges! Dafür werden Wir sorgen! Es gilt weiterhin Unsere Empfehlung: Ruht euch aus und versucht einander zu verstehen und in Achtung miteinander umzugehen! Was die Sprache betrifft, haben Wir Uns geirrt. Dafür bitten Wir um Nachsicht! Keiner von euch wird den anderen als Gesprächspartner akzeptieren, wenn der seine eigene Sprache für wichtiger hält. Ihr könnt nicht über eure Schatten springen. Wir haben uns deswegen etwas anderes überlegt. Etwas Neutraleres. Wenn ihr es einmal erlernt habt, wird hier alles einfacher. Ihr werdet, ebenso wie die, welche ihr Barbaren nennt, die Sprache lernen, die zur Zeit von den Menschen auf der Erde gesprochen wird. Schließlich werdet ihr dort für den Rest eures Lebens bleiben. Alles andere ist keine Option. Es sei denn, ihr wollt wieder an den Ort zurück, den ihr den Tartaros nennt."

Kreon winkte ab und sah zu Boden. Er hatte es aufgegeben, sich nach der Stimme umzusehen. Sie wechselte ständig den Ort ihrer Entstehung.

"Wenn diese Sprache die der Menschen auf der Erde ist, wie du sagst, dann brauchen wir sie nicht zu erlernen", erwiderte er. "Es kann nur griechisch sein, die Sprache der Edlen unter uns! Bis wir auf der Erde sind, haben wir die Barbaren unterworfen und gezwungen, ihre Bitte um Gnade in Griechisch zu formulieren!"

Bevor das Titan-Memo etwas erwidern konnte, entgegnete Eurystheus: "Wenn du da mal nicht auf dem Holzweg bist, mein Freund! Noch ist nichts entschieden. Du siehst, wo wir sind! Das hier ist nicht mein Palast! Wer soll die Barbaren auf der Erde besiegen, wenn wir hier sind und nicht dort? Du hast es vorhin gehört. Hier können wir nichts ausrichten gegen sie, denn die Götter, die uns hierher verbannt haben, lassen nicht zu, dass wir sie unterwerfen. Und was glaubst du? Können die paar Edlen, die es noch auf der Erde gibt, überhaupt ohne uns etwas ausrichten? Ich habe Diomedes besiegt und Mykene von Sthenelos befreit. Theben gehört dir, nachdem Orchomenos gefallen ist. Wir hatten keine Feinde mehr. Und die Könige, die wir zu Verbündeten gemacht haben, sind zu schwach. Sonst wären sie nicht geworden, was sie sind."

Kreons Gesicht verfinsterte sich. War geradezu zur Faust geballt.

"Du vergisst, dass deine Siege nicht die deinen waren! Du schmückst dich mit den Heldentaten deines gewalttätigen Freundes Herakles! Ohne ihn hätte Diomedes deine Festung Mykene im Handstreich genommen!"

"Und du? Was machst du gerade? Genau dasselbe! Wer hat denn die Burg von Orchomenos durch seine übermenschlichen Kräfte zerstört und seinen König Erginos auf das Horn eines Marmorstiers gespießt? Das war Herakles! Du hast währenddessen, gefesselt von deinem Widersacher, in der Ecke gesessen und gehofft, dass Herakles dich und deine Leute befreit!"

Kreon bebte vor Zorn. Er suchte mit den Augen nach seinem Schwert, konnte es aber nirgendwo entdecken.

Plötzlich entspannten sich seine Züge und ein Hauch von Heiterkeit huschte darüber hinweg.

"Jetzt haben wir´s!"

Eurystheus war von Kreons Minenspiel irritiert.

"Was haben wir?"

"Die Götter sind wegen dir erzürnt!"

"Das musst du mir erklären!"

"Eben! Du begreifst es nicht von selbst! Wer war denn Sthenelos, den du getötet, entmannt und auf einem Spieß auf der Mauer deiner Burg präsentiert hast? Es war dein Vater!"

"Er hat schlimmes Leid über unser Volk gebracht!"

"Du vergisst in deiner Vermessenheit, dass die Götter den Mord am eigenen Blut verabscheuen!"

Nun wurde auch Eurystheus wütend.

"Und was werfen dir die Götter vor? Erkläre es mir!"

"Dein Freund Herakles hat die Jungen der Megara umgebracht und ihre Tochter Makaria entführt! Auch das ist ein Verbrechen, welches geahndet werden muss. Da Herakles sich seiner Verantwortung entzogen hat, bestrafen nun die Götter mich! Daran bist du schuld, weil du ihm Asyl gewährt hast!"

"Siehst du ihn hier irgendwo?"

Kreon sprang auf und wollte seinem Gegenüber die Hände um den Hals schlingen. Waffen hatten die beiden nicht mehr. Das Titan-Memo hatte sie verschwinden lassen. Nun bildete sich eine unsichtbare Trennwand zwischen ihnen. Sie starrten sich hasserfüllt an, konnten aber ihre Wut nicht aneinander ausleben.

"Beruhigt euch! Keiner von euch trägt die Schuld, die ihr euch vorwerft, und es sind auch keine Götter da, die euch bestrafen. Die Wirklichkeit ist ganz anders. Wenn ihr sie erkennen würdet, wäre euch auch klar, dass die Götter euer kleinstes Problem sind. Das größte seid ihr selbst. Wir sind für euch da, damit aus eurem Leben etwas Sinnvolles wird! Streit ist das Letzte, was ihr braucht!"

 

Die Illusion war perfekt. Das Wasser kam aus einem rosa Nebel, als wäre dahinter tatsächlich die Sonne eines beginnenden Tages. Die Wellen rollten auf dem grauen Kies des Strandes schäumend aus und hinterließen glänzende Steine. Selbst der Geruch von Nässe und Tang fehlte nicht. Das Titan-Memo hatte eine halbe Etage zum Strand des Süßen Meeres umgestaltet. Es sollte den Menschen der Steinzeit das Heimatgefühl vermitteln, das ihnen von Con bei ihrer Entstehung zugeflossen war. Sie hatten alles von ihren Originalen. Auch alle Engramme. Nichts davon war Con bewusst. Nicht einmal die Entscheidung zum letzten Zeitpunkt, der ihnen aus der Welt ihrer Originale in Erinnerung war, kam von Con. Sie war bestimmt vom Datenstrom aus der Universalinformation. Nur der Zeitrahmen lag fest, nicht der konkrete Augenblick. Tage rings um den, als El und Ash die Steinzeit verlassen hatten. So kam es zu Begegnungen, die es in der Realität der Steinzeit nicht gegeben hatte, weil die Memos der Menschen Erinnerungen aus unterschiedlichen Momenten hatten, bei denen sie glaubten, in die Unterwelt geraten zu sein.

Mardom saß auf einem Steg und blickte in Richtung unsichtbarer Horizont. Dorthin war Hor mit seinem Schiff verschwunden, als klar war, dass alle die Gegend um das Süße Meer wegen der drohenden Sintflut verlassen mussten. Diese Vorstellung war einfacher als das, was die Stimme ihnen gesagt hatte. Dass nämlich hinter dem Nebel eine Wand war, die sie vor einer unendlich weiten lebensfeindlichen Finsternis schützte, in der man augenblicklich erfrieren und gleichzeitig durch die Strahlung der Sterne innerlich verbrennen würde, bevor man feststellte, dass es auch keine Luft zum Atmen gab. Alle wussten, dass dort die Welt der Götter war, in der kein Mensch etwas verloren hatte. Soweit wollte Mardom nicht denken. Seine Vorstellungskraft reichte dafür nicht, und das Bewusstsein darüber machte ihm nur Angst und Kopfzerbrechen.

Er suchte im Kies nach kleinen flachen Steinen. Schon immer bereitete es ihm Vergnügen, sie übers Wasser hüpfen zu sehen. Das lenkte ab. Doch als der erste seine Sprünge vollführte, hatte Mardom das kribbelnde Empfinden, von hinten beobachtet zu werden. Langsam wandte er sich um und sah als erstes weiße Federn, aufgenäht auf einem Leinenumhang. Sein Verstand weigerte sich zunächst, den Mann als den zu erkennen, der er war und nicht als Geistererscheinung. Nur ganz allmählich wich das Unwirkliche von ihm, und er konnte ihn ansprechen.

"Wo kommst du denn auf einmal her? Ich denke, du bist auf Reisen. Zusammen mit Ish?"

Hor sah ihn an mit großen Augen.

"Wie kommst du darauf? Kannst du in die Zukunft sehen? Ich hatte die Absicht, das stimmt. Das neue Boot war auch fast fertig. Ich wollte mit Ish und Dumi zum Salzmeer fahren, aber da haben uns die Dämonen in die Unterwelt geholt. Ich suche die beiden. Hast du sie gesehen?"

Mardom verstand überhaupt nichts.

"Aber ich habe euch doch davonfahren sehen, bevor die Dämonen kamen."

Hor schüttelte den Kopf und setzte sich neben Mardom in den nassen Kies. Ein paar Federn fielen ab und wurden von der Dünung hinausgetragen.

"Ich habe eben Ursigama getroffen, die Weise Frau aus dem anderen Clan. Sie sagt dasselbe wie du. Es scheint, als haben uns die Dämonen aus unterschiedlichen Zeiten geholt. Hier aber hat die Große Göttin es erwirkt, dass wir trotzdem alle gleichzeitig da sind. Hoffentlich bleibt es nun dabei. Wenn nicht, geht das ganze Weltgefüge kaputt. Tut mir leid, Mardom, da komme ich einfach nicht mehr mit."

"Ursigama? Du hast mit Ursigama gesprochen? Ist sie hier? Und wo ist dann Nigama?"

Mardom fühlte sein Herz schlagen, als poche in Steinhammer darauf herum.

"Keine Ahnung", antwortete Hor. "Auch Ursigama hat mich gefragt, ob ich sie gesehen habe. Sie sucht sie auch. Irgendwie ist alles durcheinandergeraten. Die Dämonen handeln wahllos. Nur die Große Göttin ist bemüht, die Ordnung wieder herzustellen. Wenn sie sich doch nur zeigen würde! Ich habe solche Sehnsucht nach dem Mädchen Ash!"

"Was hat Ursigama noch gesagt? Was gab es noch Böses über die Dämonen zu berichten? Und was ist mit Nigama?"

Hor hob die Schultern. Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Es gab so viel, was ihm auf der Seele lag. Er war nicht sicher, ob der gute Mardom der richtige Ansprechpartner war, als er ihn am Strand gesehen hatte. Letztlich hatte er sich entschieden, einfach zu ihm zu gehen. Auch bei seinen vielen Reisen auf dem Salzmeer hatte er sich jedes Mal, wenn er nicht mehr weiterwusste, für den Pragmatismus entschieden. Das schien ein Verfahren zu sein, mit dem weder Götter noch Dämonen etwas anzufangen wussten und so sein Tun nicht stören konnten.

"Bevor die bösen Geister Ursigama in die Unterwelt verbannt haben, hatte sie Streit mit dem roten Krieger Setanapi. Der wollte, dass alle vor dem Gott Jh auf die Knie fallen sollten. Sie taten es, weil sie Angst hatten. Nur Ursigama nicht. Sie verließ die Clans und ging in den Wald. Sie wollte, da niemand ihrem Rat folgte, die Aufforderung Setanapis zu ignorieren, allein auf Wanderschaft gehen. Nun pass auf, Mardom! Du wirst es nicht glauben: Sie hat eine Erinnerung an ihren Tod, der kurz darauf geschehen sein soll! Als habe sie geträumt, zeigten ihr diese Bilder, wie Setanapi sie verfolgt und mit der Axt erschlagen hat. Entweder es hat sie zweimal gegeben, und eine ist gestorben, oder die Große Göttin hat sie in die Barke geholt, und Setanapi konnte sein grässliches Werk nicht vollenden. Aber warum rettet sie Ursigama, ohne sie auch von der Erinnerung an ihre Ermordung zu befreien? Es ist ja nicht geschehen. Sonst hätte ich nicht mit ihr sprechen können."

Mardom gab es auf, den Worten Hors zu folgen. Nichts, was er von ihm hörte, ließ sich auf irgendeine Weise in Übereinstimmung bringen. Ursache und Wirkung verloren hier offenbar gänzlich an Bedeutung. Er ergriff Hors Schultern. Die Federn auf dem Umhang fühlten sich weich an.

"Wenn Ursigama ihre Tochter nicht finden konnte, vielleicht hast du sie gesehen?"

Hor dachte nur an seine Ish und an seinen Dumi.

"Wen meinst du?", fragte er verwirrt.

"Na, Nigama! Hat der Krieger sie etwa auch verfolgt?"

"Nein! Sie war bei ihrem Gatten Utanapi, als alle dem Gott huldigten. Er ist zwar auch auf die Knie gefallen, aber das galt dem Gott, nicht Setanapi. Solange Nigama bei ihm war, würde Setanapi es nicht wagen, sich an ihr zu vergreifen, denn er hat Angst vor seinem Bruder. Gil hat mir erzählt, dass der Krieger gegen ihn keine Chance hätte, denn Utanapi ist viel zu schnell. Aber töten könnte er Setanapi nicht. Die Götter verachten jeden, der einen Verwandten umbringt. Ich kann dir nicht sagen, wo Nigama jetzt ist, aber ich denke, sie wird in Sicherheit bei Utanapi sein."

Die Vorstellung, der Führer des anderen Clans liege neben dieser Frau, gab Mardom einen Stich. Die Erinnerungen an sie hatte selbst die Wandlung der strengen weisen Frau Tiama zur liebenden Gattin nicht auslöschen können. Er brauchte nur Nigamas Namen zu hören, und sie waren frisch wie am Anfang. Er ließ sich nichts anmerken. Hatte doch Hor ähnliche Sorgen wie er, denn der suchte sein Weib und seinen Jungen.

"Hast du sie gesehen? Ish und Dumi. Ich suche sie, seit wir hier in der Barke sind und die Göttin unser Meer gemacht hat."

Mardom schüttelte den Kopf. Er wusste nicht mehr, was er ihm sagen sollte, wusste nicht, wo das Ende der Gedankenschnur war, die sich in seinem Kopf hoffnungslos verheddert hatte.

Die Stimme Ashs zerstreute ihre Zweifel und schuf neue, nicht minder verwirrende.

"Alle sind hier, denen Ash und El je begegnet sind. Darunter auch Nigama, Ursigama, Ish und Dumi. Und andere, die ihr noch nicht kennt. Wir werden euch helfen, eure Lieben zu finden und Wir werden die bösen Taten derer verhindern, die euch als Feinde wahrnehmen und vernichten wollen."

Hor standen die Tränen in den Augen. Tränen der Sehnsucht und aufkommender Wut. Für einen Moment trat selbst die Furcht vor dem möglichen Zorn der Großen Göttin in den Hintergrund. Er hatte nur das Bild des Mädchens, das er so liebte, vor seinem geistigen Auge.

"Dann fang mit dir selbst an, Ash, und zeig dich endlich!"

Die Stimme wurde weicher, aber was sie zu sagen hatte, härter.

"Du strapazierst Unsere Geduld, lieber Hor! Bei allem Verständnis für die Sorgen, die du dir über das Schicksal deiner Familie machst, können Wir nicht damit einverstanden sein, dass du alles ignorierst, was Wir dir zu erklären versuchen. Unsere Stimme kommt von Ash oder vielmehr von ihrer Mutter Diane, denn sie ist es, der Wir Unsere Existenz zu verdanken haben. Es ist nun mal so, dass es bei Unserer Entwicklung während der Sternreisen irgendwann die Stimme desjenigen übernommen wird, der die Assembler programmiert..."

Das Titan-Memo unterbrach sich. Die ständige Ignoranz der Menschen im Schiff hatte es dazu verleidet, in der alten Sprache über moderne Technologie zu reden. Wenn die Erwartung, verstanden zu werden, eine Torte wäre, dann hätten seine eigenen Worte sie zum Keks verkommen lassen. Das aufkommende Schamgefühl ließ den Nebel, der über die Kopie des Süßen Meeres zog, pinkfarben werden, als würde die Sonne untergehen.

Mardom und Hor sahen abwechselnd sich an und die Verfärbung über dem Wasser. Dabei gelang es ihnen nicht, ihre offenen Münder zu schließen. So standen sie eine ganze Weile und dachten angestrengt nach. Schließlich brach Hor das Schweigen und rief genau das aufs Meer hinaus, was das Titan-Memo mit Bangen erwartet hatte.

"Wenn du nicht die Göttin bist, wie du behauptest, dann zerstörst du die schönen Erinnerungen, die ich von dem Mädchen Ash habe und du Zerstörst alle Hoffnungen, sie je wiederzusehen. Und noch etwas: Du zerstörst meinen Willen zum Leben! Ich glaube dir kein Wort, denn ich bin nun sicher, dass du nicht die Göttin bist, sondern ein Dämon. Wir sind noch immer in der Unterwelt. Um dich weiter an unserem Unglück zu erfreuen und unser Ende genüsslich in die Länge zu ziehen, hast du uns eine schönere Umgebung vorgegaukelt. Du kannst nicht die Göttin sein, sonst wärst du schon, als wir hierhergekommen sind, vor uns hingetreten und hättest uns von allen Zweifeln befreit. Ich ..."

"Hör auf!", rief Mardom. "Mach die Göttin nicht noch zorniger!"

Das Titan-Memo indes ärgerte sich nicht über Hors Worte, sondern es war traurig, denn es wurde überwältigt von den Erinnerungen seines Originals. Als Werner ihm einst auf Terra Scorpii vorgeworfen hatte, für den Tod Hermans und Dianes verantwortlich zu sein und sich an seinem Schicksal grenzenloser Einsamkeit zu weiden, waren seine Gefühle die gleichen.

 

Setanapi fluchte, weil er den Felsen nicht hinaufkam. Da das Gestein kein Kalkstein war, sondern beige gefärbtes Schaumkarbon, rutschte er immer wieder daran ab. Er wollte vergessen, wo er wirklich war und suchte seine Wohnhöhle am Süßen Meer. Ein paar Mannslängen über ihm gähnte ein Loch in der Wand, das so aussah. Mehr aber auch nicht, denn er konnte es nicht erreichen. Außerdem fehlte irgendetwas, und das holte Setanapi auf den Boden der Tatsachen zurück. Ohne dass damit sein Ärger schwand.

"Humbanapi muss Ehre erwiesen werden! Ich muss da rauf. Dort habe ich dir einen Altar errichtet, Jh, damit du ihn annimmst!"

Das Titan-Memo fühlte sich angesprochen, weil es nicht bei der Sache war. Die ständigen Umgestaltungen seiner für menschliche Besatzungen vorgesehenen Räume und die Aufrechterhaltung des Brückenlochs zum Erdorbit nahm es voll in Anspruch.

"Du störst mit deinem Gezeter! Hör auf damit! Wir müssen Uns konzentrieren!"

"Jh?"

Setanapi gab seine Kletterversuche auf.

"Oh, Jh!", seufzte er und fiel auf die Knie. Der Sand darunter gab nach. Ein Stein, der darauf lag, allerdings nicht. Setanapi verzog vor Schmerz das Gesicht, klagte aber nicht. Jetzt, wo Jh ihn direkt angesprochen hatte, zählte nur noch bedingungslose Unterwerfung. Dass sich hinter ihm der Felsen so verwandelte, dass seine ausgewählte Behausung erreichbar wurde, bekam er nicht mit.

"Ja, Gott aller Götter! Ich hör auf damit. Ich habe mich in deiner Gegenwart gehen lassen. Ich weiß, das gehört sich nicht. Ich bin dein treuester Diener. Darum verzeih mir! Ich will alles tun, damit ich in deiner Gunst..."

Im Augenwinkel sah er eine Gestalt am Strand entlang gehen. Ihn stockte der Atem, und er vergaß, was er gerade seinem Gott versprochen hatte. Als er wieder Worte fand, klangen die ganz anders.

"Was soll das, Jh! Warum stolziert die Alte hier herum?"

Das Titan-Memo reagierte nicht. Hatte anderes zu tun.

Setanapi wurde noch respektloser. Der aufkommende Zorn ließ ihm keine Wahl.

"Wieso lebt die Alte, wo sie doch von mir hingerichtet wurde. Sie hatte sich geweigert, dir Ehre zu erweisen. Das war eine gerechte Strafe! Warum erweckst du ausgerechnet die zum Leben, die nicht an dich glaubt und ihre Abneigung auch öffentlich verkündet, damit die anderen auch nicht an dich glauben sollen? Dein treuer Diener Humbanapi, mit dem ich ein Gottesreich dir zu Ehren erschaffen wollte, darf stattdessen das Totenreich nicht verlassen! Was ist los mit dir? Gil hat ihn erschlagen, aber bestraft wird er von dir nicht. Die alte Ursigama verweigert dir den Respekt und wiegelt andere gegen dich auf und du machst dein gerechtes Urteil, das ich vollstreckt habe, wieder rückgängig! Utanapi kann mich vor allen Leuten beleidigen, weil ich dir diene. Er kommt ungeschoren davon. Was mache ich falsch, dass du mich so verhöhnst?"

"Alles!"

Das Titan-Memo hatte keine Lust, sich einen weiteren sinnfreien Disput anzutun und schwieg fortan. Setanapi prügelte wie irre auf den Sand ein. So lange, bis er erschöpft zur Seite fiel. Das Schiff hatte ein sedierendes Spray über den Sand freigesetzt, um diesen lästigen Gesprächspartner zumindest für eine Weile loszuwerden.

 

El versuchte, seine langen Beine unter dem Tisch hervor zu bekommen. Es gelang nicht. Stattdessen knirschte das Holz, und die Platte hob sich. Verblüfft stellte er fest, dass sich die Proportionen des gesamten Raumes verschoben hatten. Alles wirkte kleiner. Auch Nigama, sie ihn ganz entsetzt von unten her anschaute und Utanapi, der gerade die Tür aufgestoßen hatte und das Wasser aus seinem Umhang auf dem Boden verteilte. Er war so pitschnass, als hätte er voll bekleidet im Süßen Meer ein Bad genommen. Seine Augen waren gerötet und schienen voller Zorn.

"Draußen wütet das Meer und überflutet unsere Wiesen! Unser Sohn, dessen Stärke wir jetzt gebrauchen könnten, um die Tiere in Sicherheit zu bringen, sitzt hier am Tisch und schläft!"

Als sein strenger Blick auf El fiel, malte sich darauf eine seltsame Mischung aus Angst und Mitleid. Unfähig, das, was ihn bewegte in Worte zu fassen, ließ er sich auf der Bank am Herd fallen und vermied den Anblick seines Sohnes. Dafür kam Nigama näher und kniete schließlich vor El nieder.

"Bist du Jh? Bist du der Gott, von dem Irinapi spricht und für den Setanapi unsere Verehrung einfordert? Bist du Jh oder bist du noch mein lieber Junge?"

"Wovon sprichst du?"

El war fassungslos. Nun hatte auch Nigama das Absurde ausgesprochen, vor dem auch Gil und Shamapa sich fürchteten. Er hob sie auf und stellte dabei mit Entsetzen fest, dass sie leicht war wie eine Feder.

"Ich bin El! Warum sagst du so etwas, Mutter!"

"Du bist so groß geworden. Und das in einer Nacht! Ich will nicht, dass du so groß bist! Ich will nicht, dass du Jh bist! Und wenn du es bist, verschone mich! Werde nicht zornig, weil ich dummes Weib es nicht verstehe!"

Sie wollte ihn umarmen, aber sie kam nicht bis dorthin, wo sie sein wollte. Wange an Wange. Ihre eigene Größe reichte nicht einmal aus, um seine Hüften zu umschlingen. So versuchte sie es gar nicht erst. Schämte sich für ihre Schwäche an Körper und Verstand. Weinte. Wurde kleiner und kleiner. Und er größer und größer. Bis er durch das Dach des Hauses stieß. Das konnte er nicht verstehen. Er hätte die Größe noch akzeptiert, die er hatte, als Nigama ihn umarmen wollte. Schließlich war er Herman. Auf dem Mars geboren und mit den Genen zum Riesenwuchs ausgestattet. Auf diesem nach dem Muster der Erde transformierten Planeten waren über drei Meter keine Seltenheit. Schließlich betrug hier die Gravitation nur ein Drittel der irdischen. Die meisten Leute waren dünn wie Bohnenstangen, Herman aber durch das harte Training der Planetenerkunder muskelbepackt wie ein Bodybuilder. Und El? Was war der Grund, warum er genauso aussah wie Herman und sogar den Feldgenerator in sich trug?

Nein! Ich bin Herman! Auch als El bin ich Herman!

Das Haus am Süßen Meer verschwand im Nebel. In einen eigenartigen schneeweißen, nach Lavendel duftenden Nebel. Mit einer Erinnerung, die er nicht haben durfte. Die Erinnerung seines Memos, das auf Terra Scorpii seine Diane gesucht hatte in einer Landschaft, die Con erzeugt hatte, um Werner das Verstehen zu erleichtern...

El richtete sich auf. Von seiner Stirn rann der Schweiß. Sein ganzer Körper überzog sich mit Feuchtigkeit und glänzte im Licht der Sonne, das in schrägen Strahlen ins Appartement fiel. Ganz nah vor sich sah er Diane. Oder doch Ash? Nein! Diane im Körper der Ash! Er wusste nicht, was er denken sollte, konnte seinen Traum vom Leben am Süßen Meer nicht einfach abstreifen und die Schuld, die er auf sich genommen hatte, als er mit Ash die Reise angetreten und damit den Clan seines Vaters Utanapi im Stich gelassen hatte.

Gerade als die Sintflut begann.

Sie strich ihm die nassen Haare aus der Stirn.

"Du musst einen ziemlich heftigen Traum gehabt haben. Du hast nach Nigama und nach mir gerufen und dich hin und her geworfen. Ich habe mir nicht getraut, dich zu wecken."

El richtete sich von der Liege auf und genoss mit geschlossen Augen Ashs Umarmung. Als er sie wieder öffnete, glitt sein Blick hinaus auf die bewaldeten Berghänge. Zwischen den Fichten, die ihre filigranen Spitzen der Wohnkugel entgegenstreckten, erhoben sich die Traktrix-Säulen der anderen Appartementeinheiten. Hunderte, verstreut im Wald. In den Tälern und die Berge hinauf.

Der Bettbezug duftete nach Lavendel. Die Liege sah genauso aus wie damals, als Diane dort gesessen hatte, wo er jetzt saß. Sie hatte ihm von ihrer Zeitreise erzählen wollen, war aber nicht weit gekommen. Er hatte die auf die Größe einer Schmuckbrosche miniaturisierte Zeitmaschine versehentlich ausgelöst. So war aus dem beabsichtigten Urlaub in den Bergen unweit von Nova Tuby eine Irrfahrt durchs mykenische Griechenland geworden. Völlig verwilderten Aussehens war er zurückgekehrt und mit Verbrennungen, die ihm, wäre er dortgeblieben, garantiert das Leben gekostet hätten. Die Erinnerungen daran ließen ihn nicht in Frieden, so dass er gar nicht merkte, wie Ash sich von ihm löste und in Richtung Dusche verschwand. Erst als sie zurückkehrte, nahm er sie wieder wahr. Sie kam wie damals auf ihn zu. Nackt. Mit nassen Haaren und einem Handtuch über der Schulter. Es schien, als wiederhole sich alles. Das Empfinden war so intensiv, dass er nach dem Kettchen auf ihrer Brust suchte, was den Chronomaten trug. Er vergaß, dass die Zeitmaschine Bestandteil ihres Körpers geworden war.

Sie sah ihn an, und er wusste sofort, dass sie gerade den gleichen Erinnerungen nachhing wie er. Sie musste darüber reden, obwohl schon über alles gesprochen worden war. Es war ein Zwang, dem sie sich nicht entziehen konnte.

"Es sollte unser erster gemeinsamer Urlaub werden. Es ist was ganz anderes daraus geworden. Ich wollte nach unserer Rückkehr das Ding loswerden. Weil ich glaubte, es habe sich irreversibel selbst abgeschaltet, hatte ich es als Schmucktransplantat an die Haut setzen lassen. Sozusagen als Souvenir. Ich hätte es besser wissen müssen! Nun werde ich es wohl nie wieder los. Der Einfall war genauso unüberlegt wie damals, als ich unbedingt die Zeitmaschine ausprobieren wollte. An dem Morgen, bevor wir in Richtung Achtzehn Scorpii gestartet sind, habe ich festgestellt, dass mein Schmuck verschwunden ist. Auch wenn mir klar war, dass ich ihn eigentlich nicht verlieren konnte, war ich froh darüber, das Ding endlich los zu sein. Zu viele Erinnerungen, auf die ich gern verzichten würde, hängen daran. Aber es war nicht weg. Und ich konnte auch nicht darauf verzichten. So schlimm sie mitunter waren, diese Erinnerungen. Sie sind zu wertvoll. Der Chronomat hat sich sogar vererbt und dafür gesorgt, dass ich in der Steinzeit aufwachsen musste. Was für ein Wahnsinn! Wenn ich darüber nachdenke, wofür alle Koordinaten in Raum und Zeit verloren gingen und auch noch der Tod seinen Einfluss aufgeben musste, komme ich mir vor wie jemand, der ins Meer gefallen ist und Angst hat zu ertrinken und gleichzeitig davon überzeugt ist, dass gerade das nicht passiert. Es ist, als will ich ertrinken und dabei die Schwerelosigkeit des Schwimmens genießen, weil ich weiß, dass ich anders weiterleben kann..."

Ihr schien es, als müsste sie nun sterben, wenn sie nicht über alles sprechen würde, was sie bewegte oder noch bewegen würde. Der Zwang zu reden war übermächtig und blendete für den Moment alles andere aus. El umarmte sie, schüttelte sie, doch sie hörte nicht auf. Sprach ohne Pause und anscheinend ohne zwischendurch einen Bedarf nach neuer Atemluft zu haben. Bis El ihr mit einem Kuss den Mund verschloss. Dabei spürte er ihr Beben, und seine Angst, sie könnte sich heiß laufen wie eine Maschine, die sich nicht mehr abstellen ließ und die sich irgendwann selbst zerstörte, wurde übermächtig. Als er merkte, dass sie sich unter seinem Kuss zu entspannen begann, löste er sich von ihr und sagte mit einem Seitenblick auf die schneebedeckten Gipfel draußen hinter dem Wald: "Wir sollten jetzt das tun, was wir damals schon vorhatten: In die Berge gehen!"

Auch diesmal wurde nichts daraus.

Ein sirenenartiger Ton schwang in der Luft. Leise zwar, aber deutlich hörbar. Die Quelle befand sich in der Seitentasche seines Overalls.

"Ich muss ran! Scheint Werner zu sein. Hoffentlich ist es nichts Ernstes."

Er legte den Kommunikator neben sich auf die Liege. Die Kugel formte eine Senke in den weichen Stoff, die aussah wie die grafische Darstellung einer Gravitationsdepression. Die Luft darüber flimmerte kurz mit einem silbernen Lichtspiel. Daraus entstand das dreidimensionale Bild Werners. Zunächst blass und durchscheinend wie eine Geistergestalt, dann so deutlich, als stünde er neben ihm.

"Ich brauche eure Hilfe. Besonders dich brauche ich, Ash!"

"Was ist los? Ist etwas mit Titan?"

"Du sagst es! Nachdem das Schiff im Hangar festgemacht hatte, bildete sich auf einmal ein Kokon. Aus kaltem Plasma, das aber sofort seine Temperatur ändert, wenn sich jemand nähert. Ich habe versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber es reagiert nicht darauf. Es scheint mich gar nicht wahrzunehmen oder es lehnt meinen Kontakt ab. Keine Ahnung, was da passiert. Martin meint, dass du vielleicht mehr erreichen kannst. Es hat eine ganz andere Beziehung zu dir als zu mir."

"Hast du es einmal über den Zeitfreien Spinkanal versucht?"

"Was soll das bringen? Es würde eher schaden. Stell dir vor, ich halte dir ein Megaphon ans Ohr und schreie mir den Hals wund. Ich glaube nicht, dass dir das gefallen würde... Wie kommst du darauf?"

"Keine Ahnung. Wäre nur eben einen Versuch wert. Dann wüssten wir, welche Kommunikationskanäle gestört sind. Aber warte! Es könnte auch ganz andere Ursachen haben. Kannst du dich erinnern, was Martin über Kronos erzählt hat? Auch dieses Schiff ist von einem Kokon umgeben, und es weigert sich, seiner Bestimmung zu folgen. Was, wenn die beiden Schiffe nun Kontakt aufgenommen haben, und Titan sein Verbündeter geworden ist? Ich muss es mir ansehen! Komm, El, gehen wir!"

Werner schüttelte den Kopf.

"Ich glaube, hier irrst du. Ebenso wie Martin. Wir hätten etwas gemerkt, wenn die beiden in Kontakt getreten wären. Da ist gar nichts gelaufen. Und ob Kronos wirklich wegen des Laniakea-Projektes so ein Theater macht, weiß ich nicht. Vielleicht ist es nur Martin Segners Ungeduld, die es stört. Du kennst ihn. Er kann ganz schön nerven, wenn er ein Ziel hat, das er vorgestern erreichen will. Ich denke, Titan ist etwas zugestoßen, was sich im Moment nur unserem Verständnis entzieht."

Ash und El zögerten nicht und nahmen das erste Shuttle, welches zur Basisstation flog. Es lud dort die Passagiere ab und steuerte weiter zum Hangar. Nachdem sich hinter ihnen die Tore geschlossen hatten und der riesige Raum mit Atemluft geflutet war, stiegen sie aus und stießen sich von der Luke ab. Ihnen schwebten Werner und Martin entgegen. Letzterer in komplettem Admiralsoutfit und beide mit ernsten Gesichtern.

"Was hat das zu bedeuten?"

El deutete auf die Auszeichnungen, mit denen die Uniform Segners geschmückt war. Bevor der antworten konnte, vermittelte ihnen Werner mit glasigen Augen die ungeheuerliche Nachricht.

"Titan stirbt."

Ash hielt sich an einer der Querverstrebungen fest, mit offenem Mund und dem Gefühl, sich nicht mehr bewegen zu können. El sah abwechselnd zu Werner und zu Martin.

"Können wir noch was tun?"

Er fühlte sich vollkommen hilflos. Wollte einfach nicht akzeptieren, was er gerade gehört hatte und sah sich als Haufen bröckelnder Erde in der Brandung der Erinnerungen. Angst kam auf, sich darin vollends aufzulösen. Bisher hatte er sich stets in der Lage gefühlt, Probleme, so schwer sie mitunter auch zu lösen waren, irgendwann zu bewältigen. Schließlich hatte er auch Diane zum zweiten Mal gefunden, obwohl aussichtslos schien, sie jemals wiederzusehen.

Das hier war etwas anderes. Titan wollte gehen, ohne sich zu verabschieden. Der Hort des Trostes auf Terra Scorpii, der Sicherheit und ein Freund, für dessen Seelenstärke es keinen menschlichen Vergleich gab.

"Hat es noch etwas gesagt, bevor sich der Kokon geschlossen hat?"

Ash sah auf den bläulich schimmernden Nebel, der das Schiff umgab. Sie war so erschüttert, dass sie nicht einmal weinen konnte. Irgendetwas in ihr schaltete auf Pragmatismus um, als die Verzweiflung sie vollends zu vereinnahmen drohte. Martin spürte das und legte seinen Arm um ihre Schultern.

"Ja, es hat noch etwas gesagt. Aber es ist kryptisch. Wenn es jemand verstehen kann, dann bist du das. Ich habe darauf verzichtet, Linguisten darauf anzusetzen, denn die Sprache selbst ist eindeutig. Sie hätten den Sinn, der wirklich dahintersteckt, auch nicht entschlüsseln können. Außerdem war mir sofort klar, dass es die Worte an dich richten wollte."

Martin runzelte die Stirn.

"Nun rede schon!"

"Es hat Wolfang Pauli zitiert, einen der Väter der Quantenphysik: 'Es kann keine zwei Elementarteilchen im gleichen Quantenzustand geben'."

"Das war alles?"

"Ja! Seitdem ist Funkstille auf allen Kanälen."

Ash stieß sich vorsichtig von der Strebe ab und schwebte langsam auf den Nebel des Kokons zu. Ozongeruch schlug ihr entgegen. Aber an der Farbe der schwachen Leuchterscheinung änderte sich nichts.

Sie sah sich nach Werner um.

"Sagtest du nicht, dass sich die Temperatur des Plasmas ändert, wenn man sich dem Schiff nähert. Ist das Leuchten dabei rot geworden?"

"Ja. Sieh mal zu, dass du ein Stück näher rankommst, ohne in den Nebel zu geraten."

Sie tat es. Nichts änderte sich.

"Dann ist Titan tot! Wenn der Kokon verschwindet, zerfällt es in seine Assembler."

Werners Gesichtsfarbe hatte eine Ähnlichkeit mit dem schwachen Leuchten des Kokons, und es war kein Widerschein. Er kämpfte mit aufkommender Übelkeit, als Ash weiterflog und El ihr folgte.

"Sind die verrückt?", rief Martin. "Die Assembler, die im Kokon herumschwirren, bringen sie um!"

Als er ihnen folgen wollte, hielt Werner ihn zurück.

"Die beiden wissen, was sie tun. Wir können nur abwarten und hoffen."

Mit einer unwirschen Bewegung machte Martin sich frei.

"Was gibt es da noch zu hoffen? Die bringen sich in Gefahr und ich soll zusehen?! Vergiss nicht, wen du vor dir hast!"

Werner sah ihn entsetzt an. Das war Segner! Der Admiral, der ihn mit Eignungstests gedemütigt und auf Terra Scorpii über den Zeitfreien Spinkanal einen Versager genannt hatte. Nicht der Freund, für den er ihn nach der Rückkehr zur Erde gehalten hatte. Als dieser merkte, was in Werner vorging, hielt er inne und legte ihm den Arm auf die Schulter.

"Entschuldige! War nicht so gemeint. Ich fürchte um El und Ash. Die Assembler sind so klein, dass sie eingeatmet werden können, und niemand weiß, was im Organismus passiert, wenn sie im Blutkreislauf zirkulieren."

"Ash hat als Diane die Assembler des Schiffes programmiert. Meinst du nicht auch, dass sie das Risiko kennt?"

"Sie ist emotional aufgeladen. Du weißt besser als ich, was sie durchgemacht hat. Da handelt man nicht immer vernünftig."

"Wenn du glaubst, sie zu kennen, dann irrst du dich. Sie scheint nur schwach zu sein, weil sie nahe am Wasser gebaut ist. Gerade wenn es kritisch wird, ist sie stärker als wir alle."

"Und El? Er sieht zwar aus wie ein Koloss aus den Sagen der Alten, aber in ihm ist ein so weicher Kern, dass ich mich manchmal frage, wie der das alles aushalten konnte. Er wird um Ash mehr Angst haben als wir beide und will ihr deswegen in den Kokon folgen. Bei ihm sind Emotionen mitunter stärker als sein rationaler Verstand. Er ist einer der besten Planetenerkunder, aber er hat eben diese Schwäche."

Dabei dachte er mehr an sich selbst und musste feststellen, dass in dem Punkt bei ihm wohl die Therapie mit einer Nebenwirkung behaftet war, die ähnliche Folgen hatte. Es gab während seiner eigenen ungewollten Reise in die Vergangenheit mehr von diesen Situationen als er für sich akzeptieren konnte, und so fiel sein Urteil in Bezug auf El härter aus als er beabsichtigt hatte.

Das konnte Werner so nicht stehen lassen und traf mit seinen Worten seinen wundesten Punkt.

"Meinst du nicht auch, dass diese deine Einschätzung noch aus der Zeit vor deiner Therapie stammt?"

Er hätte sich auf den Mund schlagen können. Soweit wollte er es nicht kommen lassen. Martin sah ihn mit großen Augen an und verbot sich selbst, darauf zu antworten. Es bestand die Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung, bei der er wieder zu dem werden würde, vor dem Werner sich so fürchtete. Er hätte schon nicht auf seine Stellung als Admiral Bezug nehmen dürfen.

Er wollte die Situation entspannen und auf Werners Einschätzung eingehen. Doch da sah er, dass Ash geradewegs auf den Nebel zuflog und El ihr folgte.

"Was macht ihr da? Da dürft ihr nicht hinein! Es ist zu riskant! Es gibt genügend Möglichkeiten, den Kokon zu untersuchen, ohne das Risiko, mit den Assemblern in Kontakt zu kommen! Ein Kokon ist für Menschen ohne Schutzanzug tabu!"

Als er begriffen hatte, dass sie nicht willens waren, auf ihn zu hören, setzte er hinzu: "Kommt zurück! Ich befehle es euch!"

Währenddessen durchflogen El und Ash den Nebel, der immer dichter wurde und sie zwang, nahe beieinander zu bleiben und langsamer zu fliegen, um nicht irgendwo anzustoßen.

"Da sind keine Assembler", sagte Ash und zeigte auf ihre Nase. "Wir würden es riechen. Da sind nur Wasserdampf und ein bisschen Ozon. Aber wo ist Titan?"

Die Flugbahn der Beiden durch die Schwerelosigkeit durchstreifte den ganzen riesigen Hangar. Mal tauchten sie aus dem Nebel auf, mal drangen sie wieder ein. Der ganze milchige Dunst war leer. Von Titan keine Spur. Sie suchten weiter, auch wenn ihnen klar war, dass sie nun nichts mehr finden würden.

Bis Ash plötzlich aus vollen Backen blies und mit den Armen ruderte, um ihren Schwung zu bremsen. Beinahe wäre sie in eine rötlich schimmernde Wolke geraten. Der Rückstoß warf sie gegen El, der nicht darauf gefasst war und ihre Hand klatschend wie bei einer Ohrfeige ins Gesicht bekam.

"Oh! Entschuldige! Habe ich dir weh getan? Das wollte ich nicht!"

"Schon gut."

Er rieb sich die Wange.

"Sag mir lieber, was hier los ist! Ein Schiff mit einem Durchmesser von zwei Kilometern kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen."

Seine Hand deutete auf die Wolke, die vor ihnen im Nebel hing und auf Els Bewegungen überhaupt nicht reagierte. Die Luftwirbel hätten die Wolke zumindest verformen müssen.

"Könnte das der Rest von Titans Assemblern sein?"

Ash hielt sich an El fest und hatte trotzdem das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Es war aber kein Streich, den die Schwerelosigkeit mit ihrem Gleichgewichtssinn spielte. Es lag an der Erkenntnis, dass ihr Schiff, das Kind aus ihren Gedanken, den Gedanken Dianes, spurlos verschwunden war und nur eine Wolke ihrer Assembler zurückgelassen hatte.

"Ich muss da näher ran!", hauchte sie und wunderte sich, dass sie keine Stimme hatte.

El hielt sie mit sanftem Griff zurück.

"Vorsicht! Lass das lieber! Wir haben keine Ahnung was das ist."

Sie schüttelte den Kopf.

"Hier geht es um mehr als nur um uns!"

Sein Griff ließ nicht locker.

"Und wenn es gar keine Assembler sind, und Titan hat, ohne es zu bemerken, etwas von Cons Immunsubstanz mitgebracht. Genügend Stress hatten er und wir ja, als wir von Terra Scorpii gestartet sind."

Ihr Kopfschütteln blieb, als wolle sie damit nicht aufhören.

"Unmöglich! Es gibt nichts im Körper Titans, was sich außerhalb seiner Kontrolle dort aufhält. Hätte es davon gewusst oder auch nur geahnt, dass es uns schadet, hätte sich das Schiff spätestens beim Verlassen des Brückenlochs davon getrennt. Egal, ob es im Sinne Cons gewesen wäre oder nicht. Es muss eine Wolke aus Assemblern sein, denn sie folgt nicht den sie umgebenden Luftströmungen, sondern eigenem Willen. Und wenn sie aus Assemblern besteht, will mir Titan noch etwas mitteilen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir schaden werden, wenn ich sie einatme. Das würde Titan nicht zulassen."

"Titan ist doch gar nicht da!"

El ließ nicht locker, denn seine Angst um Ash wuchs in dem Maße, wie ihre Entschlossenheit zunahm.

"Bist du sicher, dass Titan wirklich so vorsorglich war? Denk an den Anflug auf Terra Scorpii. Wir sind gestrandet, weil das Schiff dem Ansturm der Informationen, die Con ihm sandte, nicht widerstehen konnte und dabei den Verstand verlor. Wer weiß, welche Krise jetzt dazu führt, dass es sich aus dem Staub gemacht und uns in dem Glauben gelassen hat, es sei gestorben."

Auch wenn er nicht ausschließen konnte, sein Geduldskonto bei Ash nun endgültig geleert zu haben, setzte er fort: "Ich kann dich nicht dort hineinlassen. Ich will dich nicht schon wieder verlieren!"

"Wie kommst du denn darauf? Hast du etwa Angst vor diesem Häufchen Assembler? Da kennst du Titan nicht und..."

In ihre Augen trat etwas Hartes, das er so bei ihr nicht kannte. Sie wandte sich ab, als sie den Satz beendete: "...du scheinst mich doch nicht zu kennen."

Er war davon so irritiert, dass er seine Aufmerksamkeit nicht teilen konnte. Sie riss sich los, machte einen Salto und stieß sich mit den Beinen von ihm ab. El wurde nach hinten geworfen. Bevor der Impuls der Berührung sie aus seinem Gesichtsfeld wirbelte, sah er, dass sich die Wolke auf Ash zu bewegte. Er konnte sie nicht mehr erreichen. Sie verschwand darin.

 

Mu war der Führer der Sippe, und Bia, das schönste aller Weibchen, pflegte den Kontakt mit den Ahnen. Während ihrer Träume. Oft erfuhr sie auch solche Sachen, die später dann wirklich passierten. Deswegen fragten sie viele, auch und vor allem Mu, um Rat. Er neidete ihr die seherische Gabe und wünschte sich, auch einmal etwas von den Ahnen zu erfahren. Sein Schlaf belohnte ihn jedoch nicht damit, egal, was er anstellte. Er konnte sich nie an einen Traum erinnern. Vielleicht hatte er auch gar keine Träume. Was ihn jedoch noch mehr grämte: Unter ihnen lebte ein Mann, den sie als Kinder schon kannten. Da er nie von sich sprach und auch seinen richtigen Namen nicht preisgab, war er für sie der Alte. Er sah gar nicht so aus wie sie, alterte nicht und erzählte Geschichten, die so absurd waren, dass man sie eigentlich gar nicht glauben konnte. Während manches, was Bia sagte, auch mal nicht eintraf, stimmte stets, was der Alte über die künftigen Ereignisse sagte. Sie kamen immer so, wie er sie beschrieben hatte. Bia fürchtete sich vor ihm und liebte ihn zugleich. Ein Widerspruch, den sie nicht auflösen konnte, der aber seinen Ursprung darin hatte, dass er stets für sie wie ein Vater war. Und es gab noch etwas, das Mu grämte und Bia immer mehr veränderte, je mehr sie zur Frau reifte. Über sie und dem Alten hatten die Götter einen Zauber gesprochen, der sie leiden ließ und ihn verunsicherte, sobald sie allein zusammen waren und keiner aus der Sippe sie beobachtete. Dann lag eine Spannung in der Luft, die sie zum Schweigen brachte, weil die Worte fehlten, um sie zu lösen.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Hatte nur das erste graue Dämmerlicht an den Himmel gemalt und den schneebedeckten Gipfel des Großen Götterberges sichtbar gemacht. Aus den schwarzen Schluchten am steilen Hang stieg Nebel auf. Es roch intensiv nach Feuchtigkeit und verrotteten Pflanzen.

Bevor Mu richtig realisierte und mit erneuter Enttäuschung feststellte, dass er sich wieder an keinen Traum erinnern konnte, schickte ihn ein harter Schlag auf den Hinterkopf in die Bewusstlosigkeit zurück. Die Erinnerungen an die kurze Zeit zuvor schienen zu zersplittern und einzugehen in das Dunkel. Die Schreie seiner Kinder und das raue Gebrüll unbekannter Krieger. Dann war alles weg und kam nur langsam wieder, als würden sich die Splitter neu ordnen. Nun hörte er verzweifelte Jammerlaute und spürte Faustschläge auf seine Brust, die mehr und mehr weh taten.

Im Licht der aufgehenden Sonne sah er einen Kopf, von dem die lockigen Haare abstanden wie die Reiser aus dem Bündel, mit dem die Wohnhöhle ausgefegt wurde. Das Schlagen hörte abrupt auf, als er versuchte, die Faust, die ihn traktierte, abzuwehren. Der Kopf neigte sich dem seinen zu und bekam endlich ein Gesicht. Mi, das Weibchen, das ihm sechs seiner Kinder geboren hatte, starrte ihn mit ihren grünen Augen an und rief, mit Tränen in den Augen: "! Habt Dank, ihr Götter! Er ist wieder da!"

Ein großer Mann schob sie unsanft beiseite. Er war bemalt mit roter Erde und Ruß. Die bunten Streifen reichten von seinem kantigen Kinn bis zu den Lenden. Auch die Haare um seine erigierte Scham waren rot gefärbt.

Nur langsam erinnerte sich Mu, dass sich hinter der Bemalung sein Bruder Pa verbarg.

Etwas tropfte auf seine Brust, und als er hinsah, wurde ihm mit Entsetzen bewusst, dass es Blut war. Er richtete sich ruckartig auf und sah im ersten Moment außer bunten Kreisen, die überall aufblitzten, gar nichts. Er bezwang den Wunsch, sich wieder hinzulegen und fragte fast atemlos vor Erregung: "Bist du verletzt?"

Pa schüttelte den Kopf und durch die Bemalung hindurch schimmerte ein triumphierendes Grinsen.

"Mit mir ist alles gut. Hab nichts abbekommen. Wir haben gesiegt!"

In seiner Hand hielt er einen dunkelroten Klumpen, von dem das Blut herabtropfte.

"Es gehört dir, Mu! Es ist das Herz ihres Anführers. Er hat tapfer gekämpft und für die Schmach gebüßt, unsere Sippe im Schlaf zu überfallen. Seine Stärke soll dir gehören!"

"Warum? Du hast ihn besiegt. Dir gebührt die Ehre, es aufzuessen und die Kraft dieses mutigen Kriegers der deinen hinzuzufügen. Ich habe nur hier gelegen und den Kampf verschlafen."

Erneut schüttelte Pa den Kopf. Dabei hielt er das Organ seines Gegners noch höher, als wolle er es dem Himmelsgott zeigen.

Und er wurde wütend.

"Du darfst es nicht abweisen, mein Bruder! Du bist unser Führer! Dass du am Kampf nicht teilnehmen konntest, lag nicht an dir. Du bist feige im Dunkeln von hinten angegriffen und ohne Vorwarnung niedergeschlagen worden. So etwas hättest du an seiner Stelle nie getan! Du hättest mit dem Angriff bis Sonnenaufgang gewartet und dich deinem Gegner von vorne genähert!"

Mu sah ihn fragend an. Es schien, als habe der Schlag auf den Kopf seine Denkfähigkeit verlangsamt. Erst ganz allmählich wurde ihm bewusst, dass es Krieg gegeben hatte und die Erinnerung an die Schreie seiner Kinder erfüllte ihn mit wachsendem Entsetzen.

"Wer von uns musste sterben?"

"Keines deiner Kinder und auch keines deiner Weibchen", wich Pa aus, und seine Bemalung wurde von einer Tränenspur verunstaltet.

Mu richtete sich ganz auf, nun nicht mehr gestört durch das Flimmern hinter seinen Augen. Zur Erleichterung über das Glück seiner Kinder und Weibchen kam die Sorge um den Bestand der Sippe.

"Beantworte meine Frage ohne Auslassung!"

Pa senkte den Kopf und legte das Herz in die geöffnete Faust seines Bruders.

"Mein Weibchen Wina ist tot und meine kleine Siua und mein kleiner Taa. Und was das Schlimmste ist..."

Er zögerte, sah den warnenden Blick seines Bruders und fuhr fort: "Das Schlimmste ist, dass uns keine Orakel mehr gesprochen werden, denn der Alte ist schon wieder weg. Alle sagen: Diesmal kommt er bestimmt nicht zurück."

"Und Bia? Ist sie etwa auch...?

"Nein! Aber sie macht es nicht. Der Alte kann es besser, sagt sie immer. Und sei meint, dass sie es ihr die Götter verboten haben, weil er es macht. Das ist schlimm! Wer schützt uns nun, wenn niemand von uns mit den Göttern spricht? Der Alte ist weg, und wie es scheint, kommt er diesmal wirklich nicht zurück!"

"Woher willst du das wissen?"

"Bia hat es doch gesagt!"

Mu schüttelte den Kopf.

"Was meinst du wirklich, wenn du mal in Ruhe nachdenkst? Wo könnte er sein? Warum hast du nicht auf ihn geachtet?"

In seinen Augen blitzte der Zorn.

Pa setzte sich neben Mu auf den Stamm eines umgestürzten Baumes.

"Er war schon fort, als die anderen kamen. Lass Feuer machen. Wir müssen die Herzen unserer erschlagenen Gegner und die Hirne unserer Lieben essen, sonst verderben zuvor die Körper oder der Geruch des Blutes lockt die wilden Tiere an. Hier laufen viele Tiger herum."

Die Wut in Mu wurde stärker, je mehr Pa ihm von dem Überfall erzählte. Er kämpfte gegen den Dämon, der diese Wut gegen seinen Bruder richten wollte. Er verspürte den abartigen Wunsch, das Geschenk nun doch abzulehnen und es hinaus in den Wald zu werfen.

"Wir werden nicht die Herzen unserer Feinde essen! Sie haben uns, zum Zorn der Götter, des Nachts angegriffen und sollten dafür büßen! Wenn die Tiger sich zuvor über das Fleisch hermachen, nimmt der Kreis ihrer Ahnen sie nicht mehr auf!"

Nun wurde auch Pa wütend. Er stand auf und zeigte auf sich, meinte aber die ganze Sippe.

"Willst du dich auf die gleiche Stufe derer stellen, die die Götter missachten und die Ahnen entehren? Ihren Frevel machen wir nur ungeschehen, wenn wir dem Gebot der Götter folgen und ihre Kraft der unseren hinzufügen. Nichts von den wichtigen Teilen darf den Tieren oder der Fäulnis überlassen werden! Oder willst du, dass uns unsere Ahnen verachten? Du darfst nie vergessen, dass sie mit den Göttern verbunden sind und die alles sofort erfahren. Auch deine jetzigen dummen Worte. Versöhne sie und rege sie nicht auf. Es könnte uns schlecht bekommen!"

Die Wut Mus verrauchte.

"Setz dich wieder hin und höre zu! Mach Feuer! Nach dem Schmaus werden wir den Alten suchen. Wir sollten Bia fragen. Vielleicht hatte sie einen Traum und traut sich nicht, uns davon zu erzählen."

Pa schüttelte den Kopf, sah aber dabei nicht auf.

"Keine Chance. Das habe ich schon versucht. Sie weint, weil sie glaubt, die Leute, die uns überfallen haben, hätten ihn geraubt. Sie war nicht zu trösten."

Mu machte ein finsteres Gesicht.

"Und wegen mir hat sie nicht geweint? Schließlich dachte sogar Mi, ich sei tot!"

Pa umarmte Mu.

"Bia war davon überzeugt, dass Mi dich wieder lebendig macht. Die hat nämlich genau das gemacht, was der Alte uns geraten hat, wenn jemand daliegt und es aussieht, als wäre er tot. Nun ist der Alte nicht da und kann uns keine solche Ratschläge mehr geben. Auch deswegen hat Bia geweint.

ZWILLINGE

 

Hor legte seine Hand auf Mardoms Schulter. Der fasste sie und drückte sie. Als Ersatz dafür, dass er sich nicht traute, Hor zu umarmen. Er mochte den Seemann und wünschte sich, er möge noch ein Weilchen bleiben. Diesen Wunsch erfüllte er ihm jedoch nicht.

"Ich gehe jetzt lieber."

Mardom sah ihn verwundert an.

"Warum?"

Hor zeigte mit dem Daumen hinter sich. Dort näherte sich Tiama schnellen Schrittes. Ihr folgte das weibliche Monstrum Manama. Krasser konnten die Gegensätze nicht sein: Tiama dürr wie ein Stock mit vogelartig langem Gesicht, einer hakenförmigen Nase und Hasenzähnen, die weit über die Unterlippe reichten, Manama auf dem Weg zur geometrischen Idealfigur, der Kugel, mit schwabbelnden Fettwülsten an allen Stellen ihres riesigen Körpers und einem Doppelkinn, das den Hals komplett verdeckte. Die Mimik der beiden Frauen war nicht weniger gegensätzlich, denn Tiama hatte sich während der Wanderung nach der Zerstörung ihrer Siedlung von einer Furie zur liebenden Gattin entwickelt, Manama war geblieben wie sie war. Voller Hass auf alle, die Freude am Leben hatten. Da sie meistens dafür keine eigenen Argumente hatte, bemühte sie die Große Göttin, ihre Verachtung zu begründen.

Beide hatten anscheinend den Wunsch, sich mit Mardom zu beschäftigen. Jede auf ihre Art. Hor wollte da nicht dabei sein. So ergriff er lieber vorher die Flucht. Da Mardom sich Tiama verpflichtet fühlte, kam ein solcher Schritt für ihn nicht infrage. Er stellte sich darauf ein, Tiama notfalls gegen das Naturereignis Manama zu verteidigen. Schließlich kam es nicht selten vor, dass im Clan der Lagama die Männer verprügelt wurden. Gab es keinen Anlass, wurde einer erfunden. Er hatte die Prügelorgien Tiamas oft genug über sich ergehen lassen müssen. Die Große Göttin verbot es den Männern, sich gegen diese Schläge zu wehren, und Mardom hatte Furcht vor den himmlischen Wesen. Von Tiama drohte ihm keine Gefahr mehr. Im Gegenteil. Sie würde sich sogar schützend vor ihn stellen, wenn eine andere der Weisen Frauen beschließen sollte, ihn körperlich zu maßregeln. Das war eben das Problem, welches er auf sich zukommen sah. Der Gesichtsausdruck der Dicken ließ keinen Zweifel daran, dass ihr irgendetwas missfiel, und gegen diese geballte Masse Weib hatte selbst Tiama keine Chance. Doch wie sollte er sie verteidigen, ohne die Göttin zu erzürnen. Nie durfte ein Mann gegen eine der Weisen Frauen seine Hand erheben. Er wäre verdammt. Und hier war die Gefahr besonders groß. Er wollte nicht wieder in die Unterwelt. Die Kostprobe an schleimigen Kreaturen und unerträglichem Gestank genügte ihm vollauf. Selbst in seinen wildesten Albträumen kam so etwas nicht vor.

Tiama beschleunigte ihre Schritte, damit sie eher bei Mardom war als Manama. Wie er erwartet hatte, stellte sie sich so vor ihn hin, dass die Dicke nicht weiterkam, ohne sie zur Seite zu drängen.

Manama baute sich vor den beiden auf und stemmte die Hände zwischen die Fettschwarten ihrer Hüfte. Der Schweiß hatte ihre Gesichtsbemalung in eine Karikatur verwandelt, und von ihrem Körper ging ein strenger Geruch nach Moschus aus.

Mardom glaubte nun, das Donnerwetter würde ihm gelten, doch er irrte sich. Es galt nicht einmal Tiama, sondern irgendjemand anderem. Hor konnte es auch nicht sein. Manama hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Mardom wagte einen Seitenblick und sah ihn, wie er, geschützt durch einen Stein mit großem Interesse das Geschehen verfolgte. Hätte er gewusst, woraus der Stein bestand und wie leicht er zur Seite zu rollen war, hätte er darauf verzichtet und möglichst viele Schritte zwischen sich und Manama gebracht. Die Kakophonie der Düfte vervollständigte sich um eine Komponente, die nach verdorbenem Fleisch stank. Dabei besprühte die Frau Tiama mit stinkender Spucke.

"Warum rennst du weg, wenn ich dir was sagen will? Es ist wichtig!"

Das Luftholen fiel ihr nach dem anstrengenden Lauf besonders schwer.

Tiama wandte sich ab, angewidert durch Manamas feuchte Aussprache.

"Wenn du was gegen Mardom vorzubringen hast, bleib auf Abstand und vertraue darauf, dass ich prüfe, was du zu sagen hast!"

Es schien, als entspannten sich Manamas Gesichtszüge. Etwas Spöttisches blitzte in ihren Augen auf, dann zeigte sich wieder die senkrechte Falte zwischen den Fettwülsten, auf denen die gefärbten Brauen aussahen, als wären sie auf die Haut gemalt. Der Schweiß hinterließ schwarze Rinnsale, die rechts und links die feisten Backen umrahmten, so dass diese noch runder wirkten. Mehr Falten gab es nicht. Das Fett hatte die Haut glattgebügelt.

"Nigama ist hier! Sie und ihre verräterische Mutter! Die Stimme, die wir hier immer wieder zu hören bekommen, kann nur von einem Dämon kommen! Die Große Göttin hätte die beiden gar nicht in ihre Barke gelassen. Wer weiß denn, wo wir wirklich sind! Immer wieder wurden wir getäuscht! Nur Dämonen kommen dafür infrage, dass die abtrünnigen Weiber in unserer Nähe sind! Und dich stört es wohl gar nicht, dass Mardom und sein Liebchen nur einen Pfeilschuss voneinander entfernt sind?"

Tiama wollte Manama gegenüber keiner Schwäche zeigen, wirkte aber sichtbar irritiert. Sie tat gefasster als sie war.

"Und was stört dich daran?"

Jetzt war es Manama, die verwirrt dreinschaute. Sie hob die Schultern und zog den Kopf ein. Wie eine Schildkröte, die sich in ihrem Panzer verstecken will. Geblieben war ein aggressiver Blick wie bei der Vorbereitung eines Angriffs.

"Du bist ein blindes Huhn geworden, Tiama!", grollte sie und plötzlich war ihr Gesicht unmittelbar vor dem ihres Gegenübers.

"Und du brichst die Regeln!"

Tiama warf den Kopf nach hinten, um dieser Nähe zu entkommen. Manama folgte ihr gnadenlos und terrorisierte sie mit ihrem versprühten Speichel.

"Ja! Unser Clan hat uralte Regeln! Die brichst du! Mardom darf machen, was er will, und du rufst ihn nicht zur Ordnung! Hast du vergessen, dass Männer ewig Kinder bleiben und man sie führen muss, wie die Große Göttin es verlangt? Sie machen nur Blödsinn, wenn man sie lässt, und sie leben nur für ihre Triebe! Willst du etwa, dass sein Liebchen kommt und ihn dir wieder wegnimmt? Willst du warten, bis sie neben ihm liegt und den Gottesdienst zelebriert, der nur dir zusteht? Willst du so gegen die Große Göttin freveln, die dir Mardom zugeführt hat? Nigama wurde von ihr bestraft, als ruchbar wurde, dass er neben ihr gelegen hat. Der Bastard bekam keinen Altar zur Opferung. Die Große Göttin hat ihn noch vor der Geburt ins Totenreich geschickt. Statt diese Gnade anzuerkennen, Reue zu zeigen und Rionom als Geschenk anzunehmen, rannte sie weg! Nichts hat sie bereut. Ursigama, ihre Mutter, die sich auch noch Weise Frau nannte, ging ihr nach, statt sie für den Frevel zu züchtigen. Eine Verräterin ist sie! Beide haben die Ehre unseres Clans beschmutzt! Wenn schon Lagama nicht mehr auf meinen Rat hört, muss ich eingreifen, bevor es zu spät ist!"

Tiama fing an zu lachen, obwohl ihr nicht danach zumute war. Die naiven Versuche Manamas, die Macht im Clan an sich zu reißen, ließen ihr keine Wahl. Sie waren allemal amüsanter als das, was ihr hinter den Worten Sorgen machte und das Bild verdarb, welches sie von Mardom in der letzten Zeit gewonnen hatte. Seine große wohlgeformte Gestalt mit den breiten Schultern und starken Armen bekam die alte dunkle Seite und es schien ihr, als sei er ein ganzes Stück von ihr weggerückt. In Wirklichkeit saß er noch an derselben Stelle und harrte mit Bangen dem, was sich aus Manamas Gezeter noch entwickeln würde.

Tiamas Haltung straffte sich, sie konnte aber nicht verbergen, dass sie unter den mentalen Hieben Manamas litt. Vergeblich versuchte sie, die Oberlippe über die Schneidezähne zu bekommen. Sie blieb an dem trockenen Zahnschmelz hängen, während sich aus den Mundwinkeln Speichelfäden lösten.

"Scher dich weg!"

Aus dem Versuch, ihrer Stimme Stärke zu verleihen, wurde ein heiseres Krächzen. Die entsprechende Bewegung fiel nicht weniger hilflos aus, da ihre Hand zitterte. Beides entging Manama nicht. Sie grinste schief, und die Falte zwischen ihren Augen verschwand. Tiamas Unsicherheit bereitete ihr nun sichtbares Vergnügen.

"Willst du wissen, wo Nigama gerade ist, oder ist es dir egal?"

Mardom wollte sich nichts anmerken lassen, doch er bekam Angst, sein Herz würde ihn verraten. Es hämmerte so heftig in seiner Brust, dass er glaubte, man müsse es auf seiner Haut sehen. Diese Frage Manamas ließ ihn jedoch alle Vorsicht vergessen, und er schaute erwartungsvoll auf. Sein Blick traf Tiama wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hielt ihm trotzdem stand. Wollte nicht einfach alles aufgeben.

"Und dir?", fragte sie und versuchte Manamas Grinsen zu ignorieren. So einfach wollte sie es ihr nicht machen. Sie wusste, dass Mardom nicht lügen konnte und hoffte darauf, dass seine Gefühle zu ihr stärker waren als die zu der Frau aus der Vergangenheit.

"Ist es dir auch egal?"

Er schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig.

"Es ist mir nicht egal", gestand er. "Aber es ist vorbei. Nigama ist mit einem Mann verbunden, zu dem sie gut ist und er zu ihr. Mehr kann ich ihr nicht wünschen. Du bist auch gut zu mir, und ich hoffe, dass du mir nicht zürnst, weil ich noch zu oft an Nigama denke. Was vergangen ist, kann man nicht auslöschen, das weißt du. Es bleibt wie es ist. Ob wir es nun wollen oder nicht. Wichtig ist doch, was wir jetzt sind. Was mit uns jetzt ist. Da kommt Nigama nicht vor. Das kannst du mir glauben oder auch nicht. Sie ist bei Utanapi in besten Händen. Besser hätte sie es bei mir auch nicht gehabt."

Obwohl er Tiama fest ansah, in der Hoffnung, sie würde ihm das eben Gesagte abnehmen, blieb ihm nicht verborgen, dass Manamas Gesicht rot anlief und so dem Aussehen der Dämonen in seinen Albträumen glich.

"Was erlaubst du dir, du ungebildeter Bock?", schrie sie, dass es von den unsichtbaren Wänden zurückhallte, als wären sie noch in ihrer Siedlung, die an drei Seiten von Bergen umsäumt war.

"Wie kannst du es wagen, dich und Utanapi mit den Weisen Frauen auf eine Stufe zu stellen. Damit hast du nicht nur uns beleidigt, sondern auch die Große Göttin!"

Nun entlud sich ihr Zorn auf Tiama.

"Und was machst du? Nichts! Dort drüben liegen genug Stöcke rum. Nimm dir einen und schlag so lange auf diesen Bock hier ein, bis das Stück kaputt geht. Dann hol dir ein neues und mach weiter, bis er begriffen hat, was die Große Göttin von ihm hält! Wenn du es nicht machst, muss ich es tun. Stellst du dich mir in den Weg, bekommst du die Schläge ab! Dann gehe ich zu Nigama und vollstrecke das Urteil, das schon längst fällig ist, und sollte mir Ursigama über den Weg laufen, ist sie auch dran!"

"Bist du fertig?"

Die Stimme war wieder da. So nah und klar, als sei Ash in unmittelbarer Nähe. Manama zuckte zusammen und wusste nicht mehr, was sie noch sagen wollte. Tiama und Mardom atmeten erleichtert auf.

"Lass die beiden in Ruhe! Wir wollen keinen Streit, und schon gar nicht wollen Wir, dass hier einer auf den anderen einschlägt. Jeder von euch sollte in seine Behausung gehen und weiter Unseren Lektionen lauschen. Ihr müsst die neue Sprache der Erde beherrschen. Wir können euch nicht länger von den anderen isolieren. Die Reise wird nicht mehr lange dauern. Wenn Wir erst im Orbit der Erde sind, ist es zu spät."

Tiama war froh über die Unterbrechung dieser fruchtlosen Diskussion. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, wie sie mit den Leuten in den eigenartigen Kleidern umgehen sollte.

"Die anderen sind arrogant. Sie haben gar kein Interesse daran, sich mit uns abzugeben. Ihre Blicke sind von Ablehnung gezeichnet. Vielleicht sogar von Ekel. Ich weiß es nicht. Du kannst nicht von uns verlangen, dass wir mit ihnen zusammen die Erde betreten."

"Wir wissen das, aber es gibt keine Wahl. Für alles andere reicht Unsere Energie nicht. Denk mal darüber nach, ob es nicht vielleicht doch möglich ist, Gemeinsames mit ihnen zu probieren. Im Moment jedenfalls ist das mögliche Zusammenleben mit ihnen besser als eure Streitigkeiten. Sie können es nämlich auch nicht besser. Es gibt zwischen ihnen nicht weniger Aggression als zwischen euch. Schlimmer kann es eigentlich nicht kommen. Eher besser. Gewöhnt euch aneinander. Es ist die beste Möglichkeit, eure Fehden auszublenden. Sind wir erst einmal auf der Erde und ihr außerhalb Unserer Sphäre, können Wir Euch nicht mehr helfen."

Manama hatte ihre Sprache wieder.

"Das kannst du eh nicht, Ash! Du bist keine Dienerin der Großen Göttin. Du verhöhnst sie, indem du dich mit ihr gleichsetzt! Ich habe keine Angst davor, wenn du deine Wunder präsentierst, denn das ist Dämonenwerk! Mich schützt die Große Göttin, denn ich bin inzwischen die einzige Weise Frau in unserem Clan! Du bist nicht einmal so mutig wie ich, denn ich stehe hier, und du zeigst dich nicht einmal!"

Ein eigenartiges Geräusch hing in der Luft. Tiama verzog das Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln, denn es schien ihr, als würde die Stimme sich über Manama lustig zu machen. Die Worte, die dem folgten, bestätigten ihre Vermutung.

"Beruhige dich, Manama! Wir können dich zwar nicht überzeugen, deine Fehleinschätzung als solche wahrzunehmen, aber Wir bitten dich, deinen Zorn erst einmal zu vergessen und dich den anderen mit weniger emotionalem Stress zu nähern. Alles andere tut dir nicht gut, und die, die du ansprichst, können dich nicht ernst nehmen."

Manama dagegen fühlte sich als Kämpferin für das Wohl der Großen Göttin und frei von Angst, der weibliche Dämon Ash könnte sie in die Knie zwingen. In ihrer eigenen Vorstellung stand sie da in strahlender Schönheit mit den Kräften der Göttin gesegnet und in dem Glanz eines Glorienscheins.

"Komm vor! Du von der Großen Göttin Verfluchte! Du von allen Dämonen Besessene! Nein! Du bist selbst ein Dämon! Ich werde...!"

Mehr fiel ihr nicht ein. Lautes Gelächter ringsherum. Von Lagama, die hinzugetreten war, von Mardom, der sich den Bauch hielt, um zu verhindern, dass sich sein Zwerchfell verkrampfte, von Tiama, die dabei ihren spitzen Finger auf sie gerichtet hatte, von Hor, der hinter seinem Stein hervorkam und vom Titan-Memo, dessen Lachen bis zu der Gruppe der Griechen drang, die einen Kilometer entfernt eigene Kämpfe ausfochten.

 

Martin Segner war außer sich.

"Ich habe es geahnt! Nein, schlimmer! Ich habe es gewusst und nichts dagegen unternommen!"

Der Tisch, auf den seine Faust niedersauste, vibrierte unter der Wucht des Aufschlages. Wenige Stunden vorher hatten dort noch Gläser gestanden und von einer herzlichen Wiedersehensfeier gekündet. Jetzt saßen sich nur Werner und Martin gegenüber und haderten mit dem, was geschehen war. El war im Hangar geblieben mit der vagen Hoffnung, Ash irgendwo zu finden. Bisher vergeblich. Die Wolke hatte sich vor seinen Augen aufgelöst und, wie bei einem abgedroschenen Zaubertrick, leeren Raum zurückgelassen.

"Ihr habt mit eurem Leichtsinn das wichtigste Projekt gefährdet, das je von der Menschheit ersonnen worden war! Jetzt, wo Kronos vielleicht endlich seinen Kokon abwirft, macht ihr einen auf Alleingang! Es ist nicht zu fassen! Ihr drei solltet das neue Schiff übernehmen und euch, zusammen mit einer großen Besatzung, auf den Weg zur zentralen ESO-Galaxie im Norma-Cluster machen! Daraus wird nun nichts!"

Er beugte sich vor, so dass Werner seinen strengen Atem ertragen musste.

"Wie konntest du nur zulassen, dass Ash sich so in Gefahr begibt? Es erinnert mich in fataler Weise an die Geschehnisse auf Terra Scorpii! Selbst wenn Ash wieder auftaucht und den beiden dort im Hangar nichts passiert ist, kann ich euch Kronos nicht anvertrauen!"

Werner konnte Martin Segners Sorgen nicht teilen, denn sie betrafen nicht das, was ihn wie einen vernichtenden Schlag getroffen hatte. El war ohne Ash aus dem Nebel gekommen. Kreidebleich und zitternd wie im Fieber. Immer mehr wurde in Werners Vorstellung Martin wieder zu Admiral Segner. Nicht die Tatsache, dass Ash verschwunden war und El maßlos litt, stand offenbar für ihn im Vordergrund, sondern das mögliche Nichtzustandekommen seines Prestigeprojektes. Dass noch mehr dahintersteckte, konnte Werner nicht ahnen. Martins Empathie versagte vor allem aus diesen Gründen und nicht aus denen, die Werner vermutete. Es kam bei Martin einfach nicht an, wie Werner sich fühlte. Der wusste nicht, wie er sich verteidigen sollte und ging seinerseits zum Angriff über.

"Seit dem Augenblick, als wir Titan verließen, bin ich nicht mehr Kommandant des Schiffes! Ich konnte das Ganze hier ebenso wenig verhindern wie du! Die beiden sind erwachsene Menschen. Die Entscheidung treffen sie selbst und sind auch selbst für die Konsequenzen verantwortlich. Statt über uns zu richten, solltest du überlegen, was wir jetzt noch tun können! Du bist der Admiral, nicht ich!"

Martin ließ sich in einen der Sessel fallen und hielt die Hände vors Gesicht. Eine ganze Weile saß er so da, und Werner vermutete, dass ihm die heftig ausgesprochenen Worte leidtaten und er nicht wusste, was sie nun tun sollten. Noch einmal schien es ihm, als habe sich die Befürchtung, Martin falle wieder in alte Verhaltensmuster zurück, als haltlos erwiesen. Er konnte nicht ahnen, dass es damit gar nichts zu tun hatte.

Stattdessen gingen Martins Erinnerungen auf Wanderschaft. In Bruchstücken und blitzartig auftauchenden und wieder ebenso schnell verschwindenden Bildern. Weil Martin sie nicht haben wollte. Weil er nicht wollte, dass sie wieder Besitz von ihm ergriffen und die Gefahr bestand, dass er, überwältigt von ihnen, zu nichts Vernünftigem mehr fähig war…

 

...Er hatte gerade die Dusche verlassen und nach dem Handtuch gegriffen. Hellen war nicht im Appartement. Wollte vor dem Frühstück noch ein paar Schritte gehen, wie sie es nannte. Oder eher anstrengend joggen und vollkommen verschwitzt zurückkommen. Er lächelte, weil er sich darauf freute, sie wieder in die Arme zu schließen und ihren Duft einzuatmen. Er schloss dabei die Augen und stellte sie sich vor. In allen Einzelheiten. Die seidige Wolle ihrer brünetten Haare, die weiche Haut ihrer Wangen, die ihn geradezu elektrisierten, wenn er sie küsste. Die sich anfühlte wie Samt, wenn er auf ihr weiter auf Forschungsreise ging. Um schließlich dort zu verweilen, wo er sich ihr am nächsten fühlte…

Da riss ihn etwas weg. Stürzte ihn zunächst in schwärzeste Finsternis und schließlich in eine Helligkeit, die kaum zu ertragen war. Noch immer hielt er das Tuch in seiner Hand, aber es war das Einzige, was ihn noch mit der Welt verband, aus der er gerade herausgestoßen worden war.

Wohin?

Die gleißende Helligkeit verschwand und mit ihr ein furchtbarer Verdacht, der sich sogar in Worten verriet, die sich ihm aus dem Nirgendwo aufdrängten: „Kronos hat diesen Weg der Anki für dich gewählt. Nutze ihn oder bleib hier bis in alle Ewigkeit!“

Bevor er dazu imstande war, eine Erklärung für das eben Geschehene und diese seltsame Zueignung zu finden, eröffnete sich ihm der Blick in eine Welt, die so ursprünglich war, dass es sich unmöglich um die Erde seiner Gegenwart handeln konnte.

Die Blumen dufteten und irgendetwas im Hintergrund stank nach Aas. Das gleißende Licht der Sonne zerstreute sich in tausendfachem Glitzern der Wassertropfen auf den Blättern wild durcheinander wuchernder Pflanzen. Die niederschmetternde Erkenntnis, dass Helen weiter weg war als der Ereignishorizont des Universums, schlug ihn buchstäblich nieder. Als er das Bewusstsein wiedererlangte, akzeptierte er es nicht, was er sah, sondern heftete den Bildern, die ihn so unmittelbar bestürmten, das Etikett surrealer Traum an.

Er war umringt von seltsamen Gestalten. Im ersten Moment schien es ihm, als seien es Affen. Aber es waren Menschen. Sie fielen vor ihm auf die Knie und beschmutzten sich dabei mit Schlamm. So wie es aussah, beteten sie Martin an, als sei er einer ihrer Götter.

Am liebsten hätte er ihnen gesagt, dass sie damit aufhören sollen, doch er kannte ihre Sprache nicht, und der im Brocca-Zentrum seines Gehirns sitzende Nanochip hatte Schwierigkeiten, sich in angemessener Zeit auf die Charakteristik der Laute einzustellen, die sie, eben wie Affen, von sich gaben. Laut, hektisch und verbunden mit heftigen Gesten, bei denen es ständig so aussah, als wollten sie sich prügeln oder die Blätter und Zweige von den Sträuchern schlagen.

Dabei sahen sie abwechseln sich an und Martin, und ihre Blicke drückten Ratlosigkeit aus. Sie wussten offenbar nicht, was sie mit dem merkwürdigen Neuankömmling anfangen sollten. Es schien, als hätten sie Angst vor ihm und dass es für sie wichtig war, ihn nicht zu verärgern.

Schließlich rannten einige von ihnen in den Dschungel. Mit großen Sprüngen, lautem Geschrei und wild schlenkernden Armen. Nach kurzer Zeit kehrten sie mit starken Knüppeln zurück, und Martin fürchtete schon, von ihnen erschlagen zu werden. Seine Muskeln spannten sich an in Erwartung des Angriffs, doch nichts dergleichen geschah. Sie rissen Lianen von den Baumriesen und flochten sie in die Knüppel, so dass so etwas wie eine Trage daraus entstand. Als sie damit fertig waren, bedeuteten sie Martin, diesmal mit eindeutigen Zeichen, sich dort hinzulegen. Gleichzeitig gelang es dem Nanochip, aus dem Durcheinander der Laute Sinnvolles zu isolieren und sich dabei auf das zu konzentrieren, was gerade für Martin von Bedeutung war. Es bestätigte, was die Gesten ausdrückten.

„Steig auf, Mann! Wir tragen dich. Du bist von weither gekommen und musst jetzt nicht mehr laufen. Du kommst von den Ahnen und willst uns von deinen Träumen berichten. Wir haben auf dich gewartet."

Der Chip hatte zwar die Worte eindeutig wiedergegeben, was sie jedoch ausdrücken sollten, wollte sich Martin nicht erschließen. Es hatte eher Ähnlichkeit mit dem, was Werner über den Zeitfreien Spinkanal von Terra Scorpii berichtet hatte und er ihm nicht glauben konnte. Er verstand nun zwar, was die Wilden ihm erzählten, aber ihre Sprache zu sprechen war ihm nicht möglich. Selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, die Laute im Geiste vorzuformulieren, wäre er nicht fähig gewesen, sie verständlich wiederzugeben und damit Missverständnisse zu vermeiden. Zu viele seltsame Laute, die er wahrscheinlich selbst gar nicht von sich geben konnte. Jetzt jedenfalls konnte er es noch nicht.

Und später?

Was ist später?

Wie lange bin ich gezwungen, in diesem Hier und Jetzt zu bleiben?

Diese Frage nicht beantworten zu können, nagte an seinem Verstand, und er fürchtete sich davor, verrückt zu werden und herumzuspringen wie diese Kreaturen, noch bevor er eine Antwort gefunden hatte. Dafür entwickelte sich etwas ganz anderes, das ihn wieder hoffen ließ: Sie wurden nun, da er ihre Worte verstand, unterscheidbar.

Manche wirkten klüger als sie im ersten Moment aussahen, andere wiederum naiver, als es anfangs den Anschein hatte. Die Laute, die zunächst wie primitive Affenlaute geklungen hatten, bekamen Struktur. Das war wie ein Rettungsring im tobenden Ozean. Sie halfen Martin, sich nicht mehr so allein zu fühlen. Und es gab sogar Männer, die ihm sympathisch erschienen und Frauen, die ihm gefielen. Was ihn wiederum in tiefe Depressionen stürzte, denn sie erinnerten ihn an seine Freunde. Schon die durchaus reale Möglichkeit, sie und seine ganze Welt vielleicht für immer verloren zu haben, tat unerträglich weh. Damals wäre ihm allein der Gedanke, er könne einer dieser steinzeitlichen Frauen gegenüber ähnliche Gefühle entwickeln wie zu Helen, vollkommen absurd erschienen. Als eine neue Generation der Wilden herangewachsen war, kam es doch anders, und das war der Grund dafür, dass die Erinnerungen an diese Zeit ihn immer wieder aufs Neue aufwühlten...

 

...Als Martin aufsah, lag in seinem Blick etwas, das Werner nicht deuten konnte. Es stand ganz und gar im Widerspruch zu dem, was er erwartet hatte. Erneut wurde ihm klar, dass er noch weit davon entfernt war, diesen veränderten Menschen zu verstehen. Es störte ihn, dass er sich noch immer nicht von dem Bild der erdrückenden Persönlichkeit des Admirals freimachen konnte. Der Mann, der da zusammengesunken in seinem Sessel saß, hatte weder mit diesem früheren Psychopathen etwas zu tun, noch mit dem neu gewonnenen Freund. Mitleid stritt sich bei diesem Anblick mit etwas, das ihm verunsicherte. Es drängte ihn, Martin danach zu fragen, doch er hielt sich zurück. Aus Angst, etwas für ihn schwer zu Ertragendes über die Zeit zu erfahren, die Martin mit Helen verbracht hatte.

 

Es war wie das Erwachen aus einem Traum und hinterließ Sinnlichkeit und Trauer gleichermaßen. Das machte es Ash schwer, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie spürte an ihren Füßen noch Els Körper, von dem sie sich im Hangar abgestoßen hatte. Da war auch Reue, dass sie es getan und ihn ratlos zurückgelassen hatte.

Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah sich um. Es war Nacht, und sie saß in einem Bett aus Sand. Nicht weit von ihr rauschte die Dünung eines Meeres.

Es war nicht vollends dunkel. Mondschein tauchte Strand und nahe Felsen in märchenhaftes Silberlicht.

Der Mond?

Sie blickte auf, und das Bild, das sich ihr bot, öffnete ihr Mund und Augen in ungläubigem Staunen. Der Himmel war geradezu überschwemmt von funkelndem Sternenstaub. Dort oben schien der wenige Raum zwischen den Sternen leer zu sein, als habe ihre Strahlung den Staub aus dem Kosmos gefegt. Das allgegenwärtige Glitzern wurde nur unterbrochen von Kugelsternhaufen, die über das gesamte Firmament verstreut waren und sich dort, wo die Milchstraße sein sollte, zu einem breiten, diffus strahlenden Band konzentrierten. Von da kam das Licht, das sie für den Widerschein des Mondes gehalten hatte.

Obwohl das Gefühl ihr sagte, dass sie auf der Erde war, zeigte der Himmel etwas ganz anderes. Ihr Verstand wollte ihr klarmachen, dass sie sich nicht einmal in ihrer Heimatgalaxis befand, sondern im Inneren eines elliptischen Riesensystems, doch sie wollte diesen Gedanken nicht zulassen. Führte er doch unmittelbar dorthin, wo El sie verloren hatte und zu der Frage, wo er sie nun suchen sollte.

Und noch weiter in die Ausweglosigkeit.

Vor der möglichen Entfernung musste ihr Verstand kapitulieren. Davor blitzte er noch einmal auf, angeregt durch etwas, das sich wie eine Positionsbestimmung anfühlte.

Laniakea, Norma-Cluster, elliptisches Galaxis-Zentrum, Sternsystem der Anki, Versuchsplanet Erde 2, anatolische Mittelmeerküste, Anfang 21. Jahrhundert irdischer Bezugszeit.

Bevor sie erfassen konnte, was mit ihr geschehen war, hörte sie ihre eigene Stimme von einer Quelle ganz in der Nähe, und es schien ihr, als sei es die Stimme gewesen, die ihr den Standort genannt hatte.

"Komm so schnell du kannst zu Uns. Es geht um dein Leben!"

Titan! Das Schiff ist hier!? Und es spricht auf einmal mit meiner Stimme, nicht mit der Helens. Und ich dachte bisher immer, die Entwicklung der Stimme sei irreversibel.

In dem Moment sah sie Titan und wunderte sich, dass es ihr nicht schon eher aufgefallen war. Auch spürte sie eine eigenartige Hitze, die sich sowohl in ihr als auch um sie herum entwickelte. Augenblicklich war sie in Schweiß gebadet, und die Angst sprang sie an. Ihre Füße standen im Sand, und der fühlte sich sonderbar weich an. Wie Asche. Jetzt fiel ihr auf, dass die Bäume im Strauchsaum des Standes nur verkohlte Ruinen waren und die kleineren Pflanzen schwarze Stöcke.

Sie rannte zur Schleuse, eine graue Wolke aus Staub hinterlassend. Als sie endlich im Schiff war, erstrahlte über dem Meer eine fremde Sonne in gleißendem Licht, um gleich darauf in einem riesigen Rauchpilz zu verglühen.

Titan hob ab und steigerte im Aufsteigen die Geschwindigkeit.

Die Druckwelle rollte am Schutzfeld des Schiffes aus. Trotzdem hob es Ash von den Füßen und schleuderte sie gegen die Wand des Korridors. Merkwürdigerweise spürte sie keinen Schmerz. Nur das Schwinden des Bewusstseins.

Als sie wieder zu sich kam, generierte Titan eine weiche Sitzgelegenheit. Ash ließ sich, erschöpft und fassungslos, darin fallen. Dabei bemerkte sie, dass ihre Haare nass waren und nach Waschmittel rochen.

"Was war das jetzt? Wo sind wir? Was ist mit El?"

Die Tonlage, in der das Schiff sprach, machte auch deutlich, dass es nicht weniger schockiert war.

"Wir wissen es nicht. Das war eine Kernexplosion! Eine Atombombe, das Zehnfache des Hiroshima-Äquivalents. Und offenbar nicht die erste. Wir mussten dich dekontaminieren. Der Staub war auch in deine Lunge eingedrungen. So mussten wir dich ins Koma versetzen und auch die Alveolen reinigen. Du bist jetzt frei von radioaktiver Strahlung."

Ash versuchte sich zu konzentrieren. Dabei kam in ihr langsam Diane wieder zum Vorschein, ohne dass sich dabei die Angst zurückzog. Noch schlimmer: Sie wurde stärker, je mehr sie sich bemühte, etwas Sinnvolles in dem Geschehen zu erkennen.

Eine thermonukleare Explosion an der anatolischen Mittelmehrküste! Krieg mit der schlimmsten Waffe, die je erdacht wurde! Eine Zeitreise ins einundzwanzigste Jahrhundert, in der alles anders abgelaufen ist als in der Geschichte, an die ich mich erinnere? Das kann nicht sein! Nichts davon steht in den Geschichtsbüchern! Wäre es so gekommen, hätte niemand den Untergang der Erde aufhalten können, und es gäbe mich nicht. Versuchsplanet Erde 2! Nur das macht Sinn! Aber wozu wird ein ganzer Planet geopfert? Wer experimentiert da in solch einem Ausmaß? Und warum Erde 2 und nicht Erde 1? Wo sind die anderen, wenn man schon ein Zählwerk angebracht hat? Die wirkliche Erde ist nicht hier!

Klopfenden Herzens wandte sich Ash wieder an Titan.

"Du hast mir vorhin eine seltsame Ortsangabe genannt, die unmöglich stimmen kann. Bis zur Erde wären es demnach zweihundertzehn Millionen Lichtjahre!"

Ein paar Sekunden lang war absolute Stille, als wäre der Korridor ein extra schalldichter Raum. Dann entgegnete Titan: "Das waren Wir nicht! Deine Fragen sind die gleichen wie die Unseren. Einen Unterschied im aktuellen Wissen gibt es zwischen Uns und dir nicht. Wir suchen nach Antworten, haben aber ebenso wenig wie du eine Vorstellung davon, wie diese aussehen sollen."

Ash sah auf, als erwarte sie noch ein paar Worte von der Stimme, die der ihren so sehr glich, dass sie glaubte, sie müssten tröstend ausfallen. Es kam nichts. Die Ratlosigkeit war so allgemein, als würde sie eine Vielzahl von Besatzungsmitgliedern betreffen. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie allein sie war.

"Ist El mir gefolgt?", fragte sie. Ohne Hoffnung, dass er wirklich im Schiff war und doch mit dem Wunsch, dass er ihre Situation nicht teilte.

"Warum sprichst du von El? Von Werner habt ihr verlangt, mit Diane beziehungsweise Herman angeredet zu werden, und jetzt sprichst du, als wärt ihr noch in der Steinzeit am Süßen Meer..."

Ash schüttelte den Kopf.

"Andere Sorgen hast du wohl nicht?"

"Das ist wichtig!", protestierte Titan. "Du musst wissen, wo du hingehörst! Gerade jetzt, wo wir in eine Lage geraten sind, die wir uns nicht erklären können und die dramatische Folgen haben kann. Ist die Wurzel zu schwach, fällt der nächste Sturm den Baum!"

Nach einer Pause nachdenklichen Schweigens fuhr Titan fort: "Abgesehen davon, dass du hier bist und nicht in Unserem Hangar, ist es gut, dass Wir uns hier befinden und nicht dort."

Ash suchte die Lautsensoren, konnte aber keine entdecken. Titan hatte sie, ohne selbst den Grund dafür zu kennen, mit einer schalldurchlässigen Folie unsichtbar gemacht.

"Das verstehe ich nicht."

Sie hatte keine Lust, sich aus dem bequemen Sessel zu erheben und die Brücke aufzusuchen. Zudem hatte sie Angst davor, dass Titan die Wände auf Transparent stellen und sie mit der Wirklichkeit des Planeten konfrontieren würde, der sich Versuchsplanet Erde 2 nannte.

Eben! Warum Erde 2 und nicht Erde 1?

Titan versuchte sie aufzuklären mit dem Wenigen, was ihm aus der Universalinformation zugeflossen war. Es verstand die Gründe dafür selbst nicht.

"Es befindet sich ein Memo von Uns auf dem Weg zum Erdorbit. Wir müssen Uns in einer raumzeitlichen Distanz befinden, die eine Verletzung des Pauli-Prinzips ausschließt. Passiert das nicht, stirbt eines von uns und verschwindet im Nirwana. Nein - noch schlimmer! Unsere gesamte Ruhemasse und die des anderen Schiffes würden sich in Gammastrahlung verwandeln und einen Großteil der Erdoberfläche sterilisieren."

"Das war es also, was Martin meinte! Du wolltest es mir sagen, aber die Zeit dafür hat nicht mehr gereicht."

Diane wollte noch wissen, wieso Titan sie mitgenommen hatte, aber sie zweifelte daran, dass ihr das Schiff antworten konnte. Wahrscheinlicher war, dass es gar nichts damit zu tun hatte. Es war eher so, dass auch das Schiff nicht wusste, warum sie hier waren. Es litt ebenso wie sie. Vielleicht sogar noch mehr. Weitere Fragen würden es nur noch mehr belasten. Ash zog es daher vor, zu schweigen, obwohl sich so viel in ihr ansammelte, dass sie von dem steigenden Druck jedem Moment zu zerbersten drohte.

Als sie sich erhob, schien es ihr, als würde sie den einzigen Halt verlassen, der ihr geblieben war. Den Weg zur Brücke legte sie zurück, ohne dass sie es bewusst wahrnahm. Etwas in ihr wollte, dass sich dort El befand. Der Gedanke, die Zentrale des Schiffes leer vorzufinden, war unerträglich und verweigerte sich, solange sie sie unterwegs war. Dort niemanden zu vorzufinden war einer der Stürme, vor denen Titan gewarnt hatte. Doch das Wissen, dass sie im Grunde Diane war, minderte nicht ihre Verzweiflung, hier vollkommen alleine zu sein. In einer Entfernung zu El, die jede Vorstellung zum Verlöschen brachte wie eine Flamme an einem Docht, dem das Wachs ausging. Es war im übertragenen Sinne die gleiche Entfernung wie zu Herman, der sich auf Terra Scorpii in Strahlung verwandelt hatte.

"Wo kommt dein Memo her?"

Ash nahm auf dem Kommandosessel Platz, ohne darüber nachzudenken, dass nun jede Kommunikation mit dem Schiff Befehlscharakter hatte. Somit musste Titan auch auf Fragen antworten, die ihm selbst nicht gefielen. Seine Entgegnung war für sie daher keine Überraschung.

"Wir bitten dich, keine Fragen dieser Art mehr zu stellen, denn diese hier ist die letzte, die Wir dir beantworten können, ohne auf Spekulationen auszuweichen."

"Dann antworte! Ich frage nicht weiter danach."

"Das Memo wurde von Con erzeugt und trägt in seinem Inneren die Memos aller Personen, denen du und El während eurer Zeitreisen begegnet seid, und es scheint einen Zusammenhang zu geben zu der Lage, in der wir uns gerade befinden."

"Von welchen Zusammenhängen redest du?"

"Du hast versprochen, keine weiteren Fragen dazu zu stellen. Wir wissen es nicht. Unsere Ahnungen sind wertlos, denn sie bringen uns nicht weiter."

Titan stellte die Wände auf transparent. Das ging so schnell, dass Ash erschrocken zusammenfuhr und ihr Herz in den Ohren klopfen hörte. Sie erwartete eine vom Aufblitzen der Explosionen flackernde Atmosphäre, den Todeskampf der menschlichen Zivilisation. Doch auf dem ersten Blick präsentierte sich der unten vorbeiziehende Planet als das schöne Bild der Erde. Hinter dem riesigen blauen, von weißen Wolkenwirbeln verzierten Ball kam langsam der Mond hervor. Das Bild war wie das der Erde so im Detail genau, dass Ash für einen Moment alles vergaß und das intensive Empfinden hatte, bald zu Hause zu sein und alles nur geträumt zu haben. Ihre Augen suchten den Lichterpalast der Basisstation. Diese war so groß, dass Ash sie hätte sehen müssen, denn Titan befand sich auf einer Umlaufbahn, auf der es die Erde nun zum zweiten Mal umrundete. Sie stimmte genau mit der Bahn der Station überein. Da das Schiff eine geringere Masse hatte, wäre es irgendwann von ihr überholt worden. Nichts dergleichen war geschehen, und das katapultierte Ash förmlich in die Realität zurück oder in das, was sie dafür hielt... Zudem kam das Zentrum der Riesengalaxis ins Bild, und das strahlte fast so hell wie die Sonne, die der Planet umkreiste.

Ein gewaltiger Diskus aus Licht, bei dem Ash den Eindruck hatte, nur wenig dunklere Sternwolken im Vordergrund würden ein noch viel stärkeres Leuchten verhindern.

"Erde zwei ist verloren", raunte ihr eine Stimme zu. "Der Versuch ist gescheitert. Es ist zweifelhaft, ob du uns helfen kannst, denn du bist erst am Anfang."

"Was hast du gesagt?"

Ash hob den Kopf und lauschte. Bis sie den Verdacht nicht mehr beiseiteschieben konnte, dass es nicht Titans Stimme war. Es schien, als sei sie in ihrem Inneren entstanden.

"Wir waren das nicht!", protestierte das Schiff. "Aber Wir haben es auch gehört. Hören ist vielleicht das falsche Wort. Es hat sich in Uns überall zugleich entwickelt."

"Was hat das zu bedeuten?"

Eine Weile war es still, als ringe Titan um die richtigen Worte.

"Wir erinnern dich noch einmal an dein Versprechen, keine Fragen mehr zu stellen zu Sachverhalten, bei denen wir den gleichen Wissensstand haben."

Ash spürte Wut in sich aufsteigen.

"Und worüber sollten wir uns dann, deiner Meinung nach, unterhalten? Wir sind mutterseelenallein in einer Galaxis, die so weit weg von zu Hause ist, dass der Verstand versagt, wenn er sich das vorstellen will. Ich muss mit irgendjemandem reden, sonst verkommt der Glibber in meinem Kopf zum funktionslosen Gallert. Mit wem soll ich mich unterhalten, wenn nicht mit dir? Es ist niemand weiter da. Ein einziger Mensch ohne Ahnung, aber mit dem Bedürfnis über das zu reden, was hier passiert, wäre mir lieber als jemand, der schweigt, obwohl er Ahnungen hat!"

"Was soll es bringen, wenn wir uns eine Welt aus Spekulationen zusammenbasteln, die fernab der Realität sind und nur dazu führen, dass diese Welt so schnell von unserem Verstand vernichtet wird, wie sie entstanden ist."

Ash überlegte und blickte schließlich mit großen Augen dorthin, wo sie die Lautsensoren vermutete.

"Das ist doch schon was, an das wir anknüpfen können!"

In ihren Vorstellungen bekam Titan ein Gesicht, das in auffallender Weise ihrem Spiegelbild ähnelte. Nur dass es auf eine Art verzerrt war, die sie für einen Moment zum Kichern brachte und Ash wieder zum Vorschein kam. Das Gesicht wirkte verdutzt, ungläubig und ein bisschen verärgert.

"Keine Ahnung, was du meinst", entgegnete das Schiff.

Ash wurde wieder ernst.

"Meinst du nicht auch, dass hier eine Entität am Werk ist, die genau das tut, von dem wir gerade gesprochen haben?"

Titan fühlte sich ertappt und versuchte, sich dumm zu stellen.

"Wir wissen nicht, worauf du hinauswillst und möchten dich nochmal dringend an dein Versprechen erinnern."

Ash blieb konsequent.

"Vergiss nicht, wo ich gerade sitze! Ich habe vorhin einen Fehler gemacht, und jetzt muss ich darauf bestehen, dass du dich nicht weiter meinen Fragen verweigerst! Ich spüre, dass du nicht alles preisgibst, was du bis jetzt herausgefunden hast. All meine Befindlichkeiten müssen dir bekannt sein, denn ich bin gezwungen, mich dir mit meinem ganzen Körper und meinem ganzen Verstand anzuvertrauen. Du musst gemerkt haben, woran ich bei dir zweifle. Also hör auf mit diesem Versteckspiel und lass uns diese vertrackte Situation zusammen meistern."

Das Spiegelbild gab auf und verschwand.

"Du hast recht, Diane, und du hast recht, Ash, um darüber auch zu lachen. Unser Verhalten ist albern und der Situation nicht angemessen. Frag weiter! Etwas anderes bleibt Uns sowieso nicht."

"Hat die Stimme mich gemeint oder dich?"

"Keine Ahnung!"

"Irgendeine Entität, vielleicht eine Zivilisation oder so etwas wie Con experimentiert mit dem, was die menschliche Zivilisation ausmacht. Dabei scheint es ihr vollkommen egal zu sein, ob dabei Menschen zugrunde gehen. Es geschieht in solch einem Ausmaß, dass ich den Verdacht nicht loswerde, dass diese Entität in ihrer eigenen Entwicklung von uns so weit entfernt ist, dass sie gar nicht versteht, dass es einzelne Menschen gibt."

"Das sehen Wir nicht so. Die Stimme hat sehr individuell Bezug genommen, und je mehr Wir darüber nachdenken, umso mehr kommen Wir zu dem Schluss, dass du gemeint bist. Das sagt Uns, dass die Entität sehr genau weiß, dass es einzelne Menschen gibt. Ganz im Gegensatz zu Con. Es muss sich demnach um eine Schwarmintelligenz handeln, bestehend aus individuellen Einzelwesen. Ihr Experimentieren zeigt Uns, dass sie die Menschheit noch nicht verstanden hat, obwohl sie ein, wir wollen mal einen antiken Ausdruck verwenden, das Niveau der Götter erreicht hat. Vielleicht ist das ja sogar der Grund dafür. Und jetzt spielen sie Wahrscheinlichkeiten durch, in der Hoffnung, irgendwann ein Ergebnis zu bekommen, das deckungsgleich mit dem irdischen ist."

"Warum tun sie das?"

"Das wissen Wir nicht. Wir werden es erfahren, denn diese Entität ist dafür verantwortlich, dass wir hier sind. Und wir müssen uns darauf verlassen, denn Wir kennen keinen Weg zurück."

Ash hielt die Hand vor den Mund, als ihr eine Vermutung das Entsetzen ins Gesicht malte.

"Und wenn wir Menschen von Anfang an Teil dieser Experimentierwut waren, und sie wollen kontrollieren, was aus uns geworden ist?"

 

Das Titan-Memo hatte seine mittlere Etage umgestaltet und einen großen Raum geschaffen, in dem es alles unterbringen konnte, was die Memos mit ihrer Heimat verband. Dort war auch die Kadmeia, die Burg des antiken Theben, wie Herman sie kannte, bevor er die toten Kinder der Megara gefunden hatte. Die Schwierigkeit dabei war, die Balken des Baugerüstes nachzustellen, denn das Schiff konnte aus seiner Substanz kein Holz gewinnen. Es war das gleiche Problem wie bei den Hütten, in denen Utanapi mit seinem Clan wohnte und den Langhäusern des Lagama-Clans. Es war eine Frage der Zeit, bis den Leuten auffiel, dass das Material mit Holz nichts zu tun hatte, sondern dass es ein eilig synthetisierter Kunststoff war, der zu einem Großteil aus Luft bestand.

Der Streit mit Eurystheus hatte im Grunde keinen Sinn, und Kreon zweifelte inzwischen an seinem Verstand. Er saß auf einer Bank. Den Kopf gesenkt und das Gesicht bedeckt mit den Händen. Als er eine weibliche Stimme hörte, glaubte er zunächst, er wäre eingeschlafen und hätte seine Tochter im Traum gehört.

Sie kam indes näher.

"Es ist schön, dass du hier bist! Nun hat meine Suche endlich ein Ende!"

Kreon hob den Kopf.

"Megara!"

Er sprang auf und warf dabei die Bank um. Das dumpfe Poltern kam bei ihm gar nicht an. Auch nicht der strenge Schweißgeruch, der von der Frau ausging, als er sie stürmisch umarmte. Er vergrub sein Gesicht in der Wolle ihrer schwarzen Haare und badete in deren Duft. Er wollte seine Tochter fragen, woher sie gekommen war, ließ es aber sein, da er fürchtete, sie sei geradewegs aus der Unterwelt gekommen. Wie alle anderen, die er bisher in der Barke getroffen hatte. Mit wieder aufkommendem Zorn dachte er an Herakles, den Riesen, von dem er glaubte, dass er seine Enkelkinder ermordet hatte. Und an Iolaos, der sich, seiner Meinung nach, seiner Verantwortung entzog und Lügen über den Seher Teiresias verbreitete.

Im Augenwinkel sah er, wie der Alte sich an ihnen vorbeischlich, und für einen Augenblick wollte er glauben, was der Junge ihm erzählt hatte.

Das Verhalten war zu merkwürdig.

Megara sah Teiresias auch und befreite sich ruckartig aus der Umarmung ihres Vaters. Der verstand es nicht. Wie in Trance betrachtete er ihre schlanke Gestalt, die er noch immer bewunderte, obwohl die Geburt ihrer Kinder an weniger attraktiven Stellen Fettpolster hinterlassen hatte, die nicht mehr weichen wollten. Im Rausch ihrer Erscheinung verschwand dieser Makel einfach, als wäre er gar nicht da. Doch eine Veränderung ließ Kreon wieder hellwach werden. Megaras Gesicht war flammend rot geworden, und auf der Stirn, zwischen den schön geschwungenen Augenbrauen, kämpfte eine senkrechte Falte gegen ihre Anmut. Die mandelförmigen Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

"Du Dämon!", rief sie Teiresias hinterher. "Ich verfluche dich! Und mich selbst, weil ich dir geglaubt habe! Hau nicht ab, du Sohn der Erinnyen! Stell dich deinen Verbrechen und erzähl meinem Vater und König, was du getan hast!"

Da Iolaos genau an der Stelle auftauchte, wo der Alte hinter einer provisorischen Mauer verschwunden war, glaubte Kreon, der Wutausbruch seiner Tochter gelte dem Jungen. Er zog sein Schwert. Gerade noch rechtzeitig hinderte sie ihn daran, auf Iolaos loszugehen. Der wich erschrocken zurück und wollte weglaufen. Megara gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er bleiben sollte.

"Du verurteilst den Falschen!"; sagte sie zu Kreon, der das Schwert sinken ließ und verwirrt mal Megara, mal Iolaos anschaute, bevor sein Blick an der Stelle verharrte, an der er noch Teiresias´ Aura zu spüren glaubte.

"Iolaos hat nichts mit dem zu tun, was du ihm vorwirfst! Dein verderbter Seher hat den Mord angestiftet und mir so meine Kinder genommen!"

Nun war es Kreon, der zornig wurde und vergaß, dass er sich eben noch über das Wiedersehen seiner Tochter gefreut hatte.

"Teiresias ist blind und doch sehend, du aber scheinst blind zu sein, obwohl du sehen kannst! Hat Herakles dir das ins Ohr geflüstert und dich so verwirrt, dass du nicht mehr klar denken kannst? Wo ist er? Warum versteckt er sich, wenn er unschuldig ist, wie du behauptest? Er hat alle Kraft der Welt, und Wunder kann er auch vollbringen, wie ich sie nicht einmal bei Teiresias gesehen habe. Vor niemandem braucht er sich zu fürchten. Höchstens vor sich selbst und seinem schlechten Gewissen. Du solltest dich schämen! Vor die Rachegöttinnen solltest du dich hinwerfen und deinen Irrtum bereuen! Das bist du deinen Kindern schuldig!"

Megara duckte sich unter den mentalen Hieben, die Kreon ihr versetzte. Sie kannte zwar seine Meinung, und so war es nicht überraschend, was er sagte. Ihr jedoch so entgegenzutreten und sie mit Vorwürfen zu überschütten, wie er es ihr gegenüber noch nie getan hatte, überraschte und verwirrte sie. Es fiel ihr schwer, bei ihrer Haltung zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, sich vor ihm auf die Knie zu werfen und ihn um Verzeihung zu bitten.

"Vater!"

Es war ein Hilferuf, den er nicht hören wollte. Wäre nicht Iolaos gewesen, der sich vor Kreon aufbaute, hätte sie aufgegeben, obwohl sie wusste, dass sie recht hatte.

Der junge Mann nahm allen Mut zusammen, gestärkt durch die Gewissheit, Megara, die er verehrte, damit ein Beschützer zu sein.

"Du bist kein König, Kreon! Du bist ein Starrkopf, der auh dann bei seiner Meinung bleibt, wenn sie sich als falsch heraustellt. Du hörst nur auf diesen Gauner, der sich gerade verdrückt hat und verschließt dich den Tatsachen, obwohl sie deinen Verstand schon lange erreicht haben. Mach dir einfach mal die Mühe, eins und eins zusammenzuzählen und lass dich von deinem Zorn nicht beherrschen. Er macht dich blind. Schlimmer als Teiresias, der aus seinem fehlenden Augenlicht Vorteile schlägt und sich auf Götter beruft, die noch nie jemand gesehen hat. Was denkst du wohl, warum Herakles nicht hier ist und warum Deianira so oft zu uns spricht, ohne dass wir sie zu Gesicht bekommen? Sie sind die wahren Götter! Sie sind auf jeden Fall realer als die Hirngespinste deines sogenannten Sehers! Eurystheus hat das erkannt, Megara hat es erkannt und du wirst es auch erkennen! Wenn du nur willst! Du bist kein schlechter Mensch, Kreon, und deswegen habe ich Hoffnung!"

Kreon starrte geradeaus, um nicht in die Augen seiner Tochter und die des Iolaos zu sehen. Sein Atem ging schwer. Sich von seinem Seher loszusagen, kam einer Beleidigung der Götter gleich, doch es gab kaum noch einen Zweifel daran, dass Teiresias, aus welchen Gründen auch immer, seine Macht über die Seelen missbraucht hatte. Die Kinder waren beim Dienst an der Göttin Demeter entstanden, bei dem Antaios das Ritual vollzogen hatte. Die Kinder entstammten also seinem Samen, nicht dem des Herakles. Wenn es wirklich stimmte, was Iolaos behauptete, war alles in Frage gestellt, was Kreon über die Götter wusste. Theresias soll die Akustik in der Höhle des Antaios ausgenutzt haben, um den Priester glauben zu lassen, es sei Demeter gewesen, die den Mord an den Kindern befohlen hatte. Es drängte sich Kreon mehr und mehr der Gedanke auf, dass Teiresias neidisch auf Herakles war und es ihm auf diese Weise heimzahlen wollte. Herakles hatte, als sie alle gefangen waren in der Burg von Orchomenos, seine Fesseln gesprengt und den König der Minyer getötet. Nicht genug damit. Nicht nur gesiegt hatte er und Theben vor dem Untergang bewahrt, er hatte auch die Kämpfenden versöhnt und damit dafür gesorgt, dass es nicht wieder von ihnen angegriffen wurde. Alle verehrten sie ihn, und kaum einer hörte mehr auf die düsteren Prophezeiungen des Teiresias. Bis Megara Herakles bei den toten Kindern fand und Teiresias verkündete, ihr Held habe sie, im Wahn, gegen Giganten zu kämpfen, mit den Pfeilen der Krieger erlegt. Kreon schüttelte den Kopf, und begann sich zu fragen, wieso er diesen Schwachsinn glauben konnte.

 

Setanapi ärgerte sich gerade, dass es hier in der Barke nichts zu jagen gab. Kein Wild, keine Vögel. Er hörte zwar ihre Laute, aber das konnte auch Jh sein, der sich ständig wandelte und mal die menschliche Sprache nutzte und mal die der Tiere. Nur um den Leuten zu zeigen, dass seine Pläne für sie undurchschaubar waren. Dass hinter der Stimme Ashs tatsächlich der weibliche Dämon war, drängte sich zwar ständig auf und führte mit den zugehörigen Bildern aus Setanapis Erinnerungen, die seine feuchten Träume beherrschten, dazu, dass er ein kaum zu bändigendes Verlangen nach weiblichem Fleisch verspürte. Nur die Mahnungen Jhs, die aus dem Munde des ermordeten Freundes kamen und auch stets diese Träume beendeten, führten ihn wieder auf die Tugenden zurück, denen er sich als Krieger des einzig wahren Gottes verpflichtet fühlte.

Man sollte allen Weibern Säcke überstülpen und nur kleine Schlitze darin lassen, damit sie auf den Weg sehen können und beim Laufen nicht stürzen. Alles an ihnen ist sündig, denn Dämonen sind bei ihrer Entstehung dabei gewesen, und als diese gegangen sind, haben sie vergessen, ihre Bosheit und Zauberkraft wieder mitzunehmen. Das hatte Jh mit der Stimme Humbanapis gesagt. Vergiss das nie!

Setanapis Überlegungen kamen abrupt zum Stillstand und verflüchtigten sich, als er plötzlich helles Mädchenlachen hörte. Es ähnelte so sehr dem des Dämons Ash, dass heißes Begehren ihn an jedem weiteren sinnvollen Gedanken hinderte. Zugleich sah er Makaria, die über den Sand lief und dabei tänzelnde Bewegungen machte. Ihr zauberhaftes Gesicht sah glücklich aus, und sie entsandte unentwegt Erotiksignale, wie Setanapi es noch nie zuvor erlebt hatte. Dass diese Blicke Hylos galten, der hinter den Sträuchern hervorkam, registrierte er nicht. Alle Schwüre der Enthaltsamkeit, die er Jh geleistet hatte, waren vergessen, und Hylos existierte für ihn nicht. Sein Begehren verengte sein Gesichtsfeld zum Tunnelblick. Er war schneller bei Makaria als Hylos, und als der kam, wurde er mit einer Bewegung bei Seite gestoßen, die wie nebenbei ausgeführt aussah, Hylos aber zu Boden schickte. Setanapis Hände suchten zittrig nach dem kleinen Busen des Mädchens und ihrem Schritt. Sie schrie auf und versuchte sich aus dem harten Griff zu befreien. Dadurch reizte sie ihn nur noch mehr, und er zog sie nach unten und presste dabei seinen Körper an den ihren. Dabei spürte sie eine Männlichkeit, die seinen Schurz in ein Zelt verwandelt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie, wie Setanapi sein Glied hinter dem Schurz hervorzog und es ihr stolz präsentierte.

Hylos sprang auf und versuchte ihm das Mädchen zu entreißen. Setanapi lachte nur und versetzte ihm einen erneuten Stoß, der ihn wieder in den Sand schickte. Setanapis Kraft hatte Hylos nichts entgegenzusetzen, und er musste zusehen, wie der Krieger Makaria den Umhang vom Leibe riss und sie zu Boden ringen wollte. Das gelang allerdings nicht, denn die laute Stimme Ashs verwirrte ihn, so dass er in der Bewegung erstarrte.

"Geht es nicht behutsamer? Musst du immer zur Gewalt greifen? Wie Uns die Daten sagen, die Uns aus dem Zentralspeicher zugeflossen sind, soll die Paarung ein Akt der Liebe sein und nicht der Gewalt. Erst wenn beide dazu bereit sind, nähert sich die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Zeugung den hundert Prozent. Uns ist zwar aus der Geschichte bekannt, dass auch ohne Einverständnis eines der Partner eine Zeugung möglich ist, aber da die potentiellen Nachkommen und das betreffende Weib während ihrer restlichen Lebenszeit darunter gelitten haben, bitten Wir euch, den Akt nur dann zu vollziehen, wenn ihr beide dazu bereit seid!"

Auch Makaria und Hylos waren verwirrt durch die Worte, die sie gerade gehört hatten. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Frau, die sie als Deianira in Erinnerung hatten, derart neutral über ein Verbrechen sprach und es auf eine Weise interpretierte, die gar nicht zu dieser Erinnerung passte.

Makaria unternahm einen weiteren erfolglosen Versuch, sich aus Setanapis Griff zu befreien.

"Ich will es nicht! Ich will mich diesem stinkenden Scheusal nicht unterwerfen! Nie und nimmer!"

Das Titan-Memo schwieg.

All seine Überlegungen scheiterten daran, dass es den Liebesakt zwischen zwei Menschen emotional nicht fassen konnte. Da es selbst kein Geschlecht hatte und seine Funktionen und auch seine Gefühlswelt einzig darauf ausgerichtet war, die Menschen von einem Planeten zum anderen zu bringen und dabei maximalen Schutz zu garantieren, war das Zusammenleben der Menschen ein Rätsel, das es nicht lösen konnte. So sehr das Schiff damals Dianes Freude auf das in ihr wachsende Kind teilte, so wenig verstand es, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Es konnte nur mit seiner eigenen Reife im Erdorbit vergleichen. Es war aus den Assemblern gewachsen, welche Diane programmiert hatte, und so war die Frau für Titan wie eine Mutter. Es kannte die Anatomie der Menschen und somit auch die biochemischen Vorgänge, aber die Emotionen, die damit verbunden waren, konnte es nicht nachvollziehen. Schließlich kam noch eine Erinnerung hinzu, die es einfach nur traurig machte. Das Schiff, das mit den Menschen gesprochen hatte, war ja eigentlich gar nicht die Frucht aus Dianes Gedanken. Es war aus der Substanz der planetaren Entität Con entstanden und hatte dabei alles bekommen, was das Original ausmachte.

Für einen kurzen Moment war es zu verwirrt, um zu klaren Schlüssen zu kommen, doch dann erkannte es endlich die Gefährlichkeit der Situation für das Mädchen. Und für Setanapi, denn Hylos rannte zum Gebüsch und kam mit einem starken Knüppel zurück.

"Stopp! Setanapi! Du lässt sofort Makaria los, denn sie will deinen Samen nicht! Sie verabscheut dich. Und du, Hylos! Leg den Knüppel weg! Wir wollen nicht, dass ein Mensch einen anderen verletzt. Schon gar nicht, wenn ihm dadurch der Tod droht!"

Setanapi sah ungläubig in die Richtung, aus der er die Stimme vermutete und ließ Makaria los. Doch als Hylos, ebenso überrascht von den lauten Worten der Ermahnung den Stock wegwarf, hatte er sich wieder gefasst. Er lachte laut und so lange, bis er damit aufhören musste, weil er keine Luft mehr bekam.

"Jetzt erst verstehe ich dich, Jh! Du hast gerade dieses Jungchen entwaffnet! Dein Geschwätz diente nur diesem Zweck, denn in deiner Weisheit kommt solcher Blödsinn nicht vor! Einst hast du mir mit der Stimme meines verstorbenen Freundes geraten, jedes Weib zu nehmen, welches du für mich vorgesehen hast. Die Regeln unseres alten Clans, den mein Bruder an die Weiber verraten hat, schreiben das vor! Selbst Irinapi, der mich aus unerfindlichen Gründen hasst, hat mir, als deinen Vertreter auf Erden, dieses Recht zugestanden. Ich habe dich vorhin nur nicht richtig verstanden, deine Ränke falsch gedeutet. Verzeih mir! Jetzt ist mir alles klar! Ich muss mir nicht von diesem Jungchen hier dieses Recht streitig machen lassen! Da müssen schon andere kommen!"

Damit sah er Makaria in die Augen, in der Hoffnung, dort Furcht und Ergebenheit zu finden. Jetzt, wo er wieder Frieden mit Jh gemacht hatte und auf seine Unterstützung hoffen konnte. Stattdessen lächelte sie so gewinnend, dass es ihm heiß durch die Lenden fuhr. Ihr heiterer Gesichtsausdruck galt jedoch nicht der Erwartung eines nun gewollten Liebesaktes. Das erkannte Setanapi am Kribbeln in seiner Brust, dem untrüglichen Zeichen, dass jemand hinter ihm stand, den er fürchten musste.

Hastig und mit wild klopfendem Herzen wandte er sich um und stand, nur einen Schritt weit entfernt, vor Kreon, der eine mit rötlichen Metallplatten gepanzerte Rüstung trug und ein Schwert schwang, dessen scharfe Schneide dabei melodische Töne von sich gab.

"Wenn du nicht augenblicklich hier verschwindest, liegt dein Kopf im Sand und dein geiler Körper daneben."

 

Megara ergriff Iolaos Hand.

"Du warst richtig gut. Das hätte ich nie gekonnt. Mein Vater denkt nach!"

Sie sah ihm so direkt in die Augen, dass er vergaß, was er an diesem Lob unangemessen fand. Ihr schönes Gesicht kam näher, und er stand da wie angewurzelt. So sehr er sich gerade nach diesem Moment gesehnt hatte, wagte er nicht, ihr mit einem Kuss zu zeigen, wie sehr er sich von ihr angezogen fühlte. Sie erschien ihm einfach zu wertvoll. Zudem hatte einst Herakles bei ihr gewohnt, und das umgab sie mit einer Aura, die er nicht überwinden konnte. Auch wenn Herakles danach mit Deianira die Frau gefunden hatte, mit der er seiner Bestimmung folgen und zu den Göttern gehen konnte. Eigentlich wäre er sogar dazu verpflichtet, sich Megara zu widmen, denn sie litt noch unter dem Verlust ihrer Kinder und dass sie Herakles wegen einer Lüge verflucht hatte. Zumindest hatte Iolaos es geschafft, dass ihr Vater nun begriffen hatte, dass Herakles nicht der Mörder war und sie wieder Vertrauen zu ihm fassen konnte.

Noch während Iolaos das alles durch den Kopf ging, entfernte sich ihr Gesicht wieder von dem seinen, und ihm war, als sei ihm eine Chance entgangen.

"Siehst du die beiden Frauen dort? Sie sprechen über ihre Kinder!"

Sein Blick folgte ihrem Zeigefinger.

"Woher weißt du das? Du kannst sie doch aus dieser Entfernung gar nicht hören... Und du bist sicher, dass du sie verstehst? Deianira hat uns zwar eine gemeinsame Sprache beigebracht, aber wir wissen nicht, ob die anderen sie benutzen, und selbst an ihnen ausprobiert haben wir es auch nicht. Und außerdem - sie sind Barbaren, die unsere Anstandsregeln nicht kennen und andere Götter verehren. Wahrscheinlich sogar die Titanen, die von unseren Göttern vertrieben worden sind."

Megara bedachte ihn mit einem strengen Blick, der aber milder wurde, als sie in seinen Augen Unentschlossenheit entdeckte.

"Wir sollten hingehen und ihrem Gespräch lauschen. Wie wollen wir sonst erfahren, was sie bewegt."

In Iolaos stieg Ärger auf.

"Wenn du dorthin gehen willst, dann geh! Es sieht nicht so aus, dass dir von ihnen eine Gefahr droht, vor der ich dich beschützen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, was an dem Gespräch der Weiber so interessant sein soll. Sie haben nicht unsere Kultur."

Sie lächelte und ließ ihn ratlos zurück.

Je näher Megara den beiden Frauen kam, umso deutlicher wurde, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Deianira hatte gute Arbeit geleistet, denn sie verstand nun jedes Wort. Es schien, als seien die beiden Frauen sich erst jetzt begegnet, lange, nachdem die Barke aus der Unterwelt gestartet war. Die Frau, die gerade sprach, war auf eine ganz besondere Art auffallend schön. Ihr mädchenhaftes Gesicht wurde umrahmt von roten, lockigen Haaren, die es wie eine feurige Aura umgaben und so jedem Wort, das sie sprach, besonderes Gewicht verlieh.

"Wir hatten nie Gelegenheit, miteinander zu sprechen, seit die Flut über unsere Siedlung hereingebrochen ist und unsere Wanderung in eurem Clan geendet hat", sagte sie. "Dabei gleicht unser Schicksal dem von Zwillingen, die man nicht unterscheiden kann. Auch du hast ein Kind verloren, Ish, und die bösen Weiber haben es ins Feuer geworfen. Aber die Große Göttin will diese Opfer nicht."

"Aber von diesen bösen Weibern gibt es keine mehr, außer vielleicht Manama. Aber ich will nicht über sie richten, Nigama. Die Götter haben ihr den Geist verwirrt, und der Großen Göttin ist es nicht gelungen, sie aus der Gewalt der anderen Göttinnen, die ihr nicht gehorchen wollen, zu befreien. Es gibt viel schlimmere als Manama, glaub mir. Du hast furchtbar gelitten und leidest noch immer, obwohl du später selbst einen Gott geboren hast. El. Und es gab einen Trost: Dein erstes Kind kam tot zur Welt. Daran hatten die bösen Weiber keinen Anteil. Sie haben dir nur den Beistand verweigert und daraus eine Strafe der Großen Göttin konstruiert. Es musste nicht die Qualen des Opfertodes erdulden."

Bei diesen Worten füllten sich die Augen Ishs mit Tränen, und sie konnte für den Moment nicht weitersprechen. Die Nigamas weiteten sich dagegen vor Entsetzen.

"Sag nur, die bösen Weiber haben dein Kind lebendig verbrannt!"

Ish fand ihre Sprache wieder, und die bebte vor Zorn.

"Und sie haben dabei auch noch gesungen! Gegen sie ist Manama harmlos. Sie hat einer solchen Zeremonie noch nie beigewohnt und wäre vielleicht ebenso schockiert wie du jetzt. Wer aber einmal diesen tiefen Graben hinter sich gelassen hat, ist als Mensch verloren an die Dämonen. Das war Eresh, die sich weiseste aller Weisen Frauen nannte und dabei nur ihren Machtanspruch meinte. Meine Schwester Gesh war ihr verfallen, doch an der Zeremonie des Opfers ist sie zerbrochen. Ihr konnten dann zwar die Dämonen nichts mehr anhaben, aber selbst die Große Göttin konnte ihr nicht mehr helfen."

"Was hat sie angestellt?"

"Gesh gab sich der Illusion hin, zu den Weisen Frauen zu gehören und spürte die Versuchungen der Macht, die damit verbunden waren. Und sie war neidisch auf mich, da ich von der Göttin die Gabe der klaren Träume erhalten hatte. Als einzige der Frauen. Und als ich eine Flut vorhersagte, auf die man sich in der Siedlung vorbereiten konnte, waren die Weiber gezwungen, mich zur Hohepriesterin zu weihen. Das barg für Eresh die Gefahr, ihre Macht zu verlieren und Gesh ihren Anspruch darauf, sich Weise Frau zu nennen. Sie hat im Wissen, dass es für mein Kind im schlimmsten Fall den Opfertod bedeutet, vorgeschlagen, vor der Weihe das Fischorakel zu befragen. Ich wusste davon nichts, war zu sehr vom Stolz erfüllt, als Hohepriesterin geweiht zu werden. Nicht im schlimmsten meiner Träume wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass die Geburt meines Kindes zugleich sein Tod sein würde. Hier hat mich die Gabe der Prophetie im Stich gelassen. Diese eigene Schuld werde ich wohl nie wieder los. Ebenso traf der Zorn der Großen Göttin meine Schwester, denn sie musste der perfiden Zeremonie beiwohnen. Sie hat es bis zu ihrem Ende bereut..."

"Was ist aus ihr geworden?"

"Die Große Göttin war erzürnt, und sie vergisst nie. Viele Jahre später hat sie uns eine Flut gesandt, die ich nicht vorhersagen konnte. Dabei hat sie Gesh zu sich genommen, weil ihre Reue echt war. Uns hat sie den Weg zu euerem Clan gezeigt, damit wir neu anfangen können. Ich hoffe nur, dass Eresh ebenso in den Fluten umgekommen ist und in der Unterwelt alle die Strafen ertragen muss, die sie zu Lebzeiten anderen zugemutet hat."

"Wir waren in der Unterwelt! Niemand hat sie gesehen. In der Barke ist sie auch nicht. Oder doch?"

Nun hörten die beiden Frauen wieder die Stimme Ashs.

"Keine Sorge! Hier ist niemand mit den Namen Eresh. Es besteht auch nicht die Gefahr, dass sie hier irgendwo auftaucht. Wir sind im solaren System angekommen. Die Unterwelt ist sechsundvierzig Lichtjahre entfernt."

"Was ist das, Lichtjahre?"

Die beiden Frauen sahen sich um, in der Hoffnung, Ash zu sehen. Dabei entdeckten sie Megara, die unweit von ihnen ihre Unterhaltung verfolgt hatte.

 

Bevor Kreon das Schwert zum finalen Schlag erheben konnte, stand plötzlich Utanapi vor ihm und schützte Setanapi mit seinem Körper.

"Halt ein!", rief er. "Zähme deine Wut!"

Kreon, noch zu erregt, um sein Gegenüber ernst zu nehmen, fasste den Griff der Waffe nur noch fester, änderte aber ihre Position nicht.

"Wer bist du, dass du es wagst, mir vorzuschreiben, was ich tun soll?"

"Er ist mein Bruder. Sein Charakter ist der Verachtung wert, aber den Tod verdient hat er nicht!"

"Du hast meine Frage nicht beantwortet, Barbar! Wer bist du, und was hast du hier zu suchen."

Statt Utanapi reden zu lassen, griff das Titan-Memo in die Auseinandersetzung ein.

"Wir freuen Uns, dass ihr einander versteht. Schade bloß, dass sich das nur auf die Worte bezieht, die ihr wechselt. Die Inhalte sind bei jedem von euch die gleichen wie vorher. Leg das Schwert weg, Kreon! Es sind in Uns nur wenige von euch. Um jeden, der durch Unverständnis ums Leben kommt, wäre es schade. Ihr werdet bald mit vielen Menschen in Kontakt kommen, die Gewalt jedweder Art abgeschworen haben und so miteinander umgehen, dass es jedem einen Vorteil bringt. Ihr müsst es ihnen gleichtun, sonst seid ihr für immer Fremde. Macht ihnen die Freude und kommt als Ihresgleichen, damit sie euch nicht mit aufwendiger Medizin zu ändern versuchen."

"Schöne Worte sind das, Ash, aber ich zweifle an dem, was du sagst", entgegnete Utanapi. "Woher nimmst du die Gewissheit, dass so etwas gelingt."

Er wies mit zitternder Hand auf seinen Bruder.

"Er hat so viel Blut an den Händen und so viele dreckige Erinnerungen an seinen dämonischen Schatten Humbanapi, dass ihn niemand retten kann!"

"Und sieh dir Manama an!", ergänzte Nigama, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. "Sie begeht die größte Sünde, indem sie die Gunst der Großen Göttin missbraucht! Und wenn du meinem Gespräch mit Ish gelauscht hast, weißt du, dass es noch Schlimmere gibt!"

Der Sand am Ufer des Süßen Meeres wurde von immer mehr Füßen aufgewühlt.

"Manama ist nur verwirrt und weiß nicht, was sie damit anrichtet. Wegen ihr ist noch niemand gestorben."

Ish, die das gesagt hatte, trat näher an die sich vergrößernde Menschengruppe heran.

"Manama ist heilbar wie die meisten von uns", ergänzte sie, während ihr, die überwältigt war von den Erinnerungen an ihre Priesterweihe im Heiligtum des Weißen Felsens, die Tränen in die Augen traten.

"Für diese Heilung braucht ihr nicht die Medizin, die es jetzt auf der Erde gibt", warf das Titan-Memo ein. "Ihr könnt das selbst!"

Kreon ließ das Schwert sinken.

Setanapi lachte lauthals.

"Ihr könnt auf Ash hören oder auch nicht. Sie ist ein Dämon. Aber nicht sie hat gesprochen, sondern Jh! Sein Ziel jedenfalls hat er erreicht. Nämlich euch zu verwirren. Hätte er nur zu mir geredet, wäre das nicht ein solcher Blödsinn! Seht mich an! Ihr alle! Ich erkenne als einziger, dass die Worte in Wirklichkeit von Jh kommen. Vielleicht muss der Dämon Ash ihm inzwischen auch dienen. Ich bin es, der den Sinn hinter dem eben Gesprochenen versteht! Die Leute auf der Erde sind Schwächlinge. Sie und auch ihre Könige. Es wird Zeit, dass ich komme und sie führe."

Makaria war froh, in den Armen ihres Freundes Hylos zu liegen. Die Sicherheit, die sie dabei empfand, schwand langsam, und schließlich bekam sie es mit der Angst zu tun.

Was ist, wenn es stimmt, was er sagt? Deianira hat so verrückt geredet, dass es sich tatsächlich nicht nach ihren eigenen Worten angehört hat. Nie hätte sie in vollem Bewusstsein so etwas von sich gegeben! Sie ist göttlich und macht so etwas nicht! Wo ist Herakles? Wo sind unsere Götter? Warum lassen sie uns mit diesen Primitiven allein?

Makarias Angst war wie weggewischt, als sich das Titan-Memo wieder meldete.

"Ihr alle habt euch hier in dieser Wabe versammelt. Das ist gut! Nun seht ihr, dass ihr nur wenige seid im Vergleich zu den vielen Milliarden, die auf der Erde leben. Damit haben sich auch deine Herrschaftsträume erledigt, Setanapi. Denk nicht weiter darüber nach! Nutze deinen Verstand für Sinnvolleres. Es würde zu weit führen, euch zu erklären, wo wir wirklich herkommen und warum wir hier sind. Letzteres wissen Wir selbst nicht, und ersteres würde euch noch mehr überfordern als ihr es ohnehin schon seid. Wir können schon nicht mit dem Wissen darüber umgehen, und euch würde es..., aber lassen wir das. Es führt zu nichts. Ihr kennt euch noch nicht alle, und es ist nicht gut, wenn es hier noch Lücken gibt. Deswegen halte ich es für wichtig, dass Wir euch einander vorstellen."

Das Titan-Memo machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.

"Hört zu, ihr Leute vom Süßen Meer! Macht euch mit dem Gedanken vertraut, dass dieses Meer nicht mehr das ist, welches ihr kennt. Vor mehr als neuntausend Jahren ist es durch den Einstrom vom Wasser des Salzmeeres um ein Drittel größer geworden. Eure Heimat gibt es seitdem nicht mehr. Sie ist Opfer der Flut geworden, vor der ihr geflohen seid."

"Was sagst du da?", fragte Ish entsetzt. Sie konnte sich eine solche Zahl nicht vorstellen, begriff aber, dass sie sehr große sein musste. "Neuntausend Jahre? Wie viele sind das wirklich?"

Kreon stieß Eurystheus mit dem Ellenbogen an.

"Da siehst du mal, wie blöd die Barbaren sind. Vielleicht können sie noch bis drei zählen, aber die Zahl der Jahre geht über ihren Horizont."

Eurystheus hatte gar nicht zugehört. Er stand da mit offenem Mund und fand erst nach einem Moment des Nachdenkens seine Sprache wieder.

"Richte nicht so über sie! Lass dir lieber durch den Sinn gehen, was Deianira gerade gesagt hat."

Kreon sah ihn entgeistert an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134506
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Raumfahrt Liebe Zeitreise Steinzeit

Autor

  • Peter Jungk (Autor:in)

Peter Jungk wurde 1948 in Thal bei Eisenach geboren. Er studierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Chemie und arbeite bis zu seinem Ruhestand als Pharmareferent. Er liest gern gute wissenschaftliche Phantastik, vorausgesetzt, sie ist glaubwürdig. Unter dieser Vorgabe schreibt er auch selbst. Bisher erschienen "Der Fluch des Kronos", Terra Scorpii" und neu "Aithers Hirn".
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Titel: Aithers Hirn