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Der Efeufluch: Das Efeu-Siegel

Das Efeu-Siegel

von Mayana Jaeger (Autor:in)
195 Seiten
Reihe: Der Efeufluch, Band 2

Zusammenfassung

Der Gargoyle Ceyres kämpft mit Hilfe von Emma gegen seinen seit Jahrhunderten währenden Fluch. Nach einem Etappenziel müssen beide schnell feststellen, dass sie nun die gesamte Kleinstadt Breverhölz ins Chaos gestürzt haben. Emma hofft weiterhin auf Ceyres' Erlösung, doch der Weg ist schwierig und ihnen rennt die Zeit davon. Emmas Uroma Ottilie, ohne die sie den Fluch des Gargoyles niemals lösen können, verliert zusehends an Lebenskraft. Zu allem Überfluss haben es auch Ceyres' Artgenossen auf ihn abgesehen. Kann die Hexe Theresa ihnen auf ihrem Weg helfen? „Das Efeu-Siegel“ ist der zweite Teil der zwei-teiligen Serie „Der Efeufluch“. Der erste Teil ist unter dem Titel „Das Efeu-Amulett“ erschienen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I


Das Sonnenlicht fiel direkt auf Ottilies Gesicht. Langsam öffnete sie ihre müden Augen. Sie war auf Emmas Bett eingeschlafen. Nach und nach kam die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück. Ottilie starrte an die Decke. Ihr Körper fühlte sich müde an. Jeder Muskel schmerzte, ihre Beine waren schwer und sie wollte am liebsten einfach wieder einschlafen. Emma war in der Nacht nicht nach Hause gekommen.

Aber sie lebt. Das spüre ich. Und sie hat Erfolg gehabt. Sie hat ihr Amulett richtig eingesetzt. Allerdings bringt sie das nur noch mehr in Gefahr. Aber ist es nicht sowieso schon zu spät, um sie zu schützen? Ich spüre, wie meine Kraft schwindet. Ich muss Emma auf ihrem Weg unterstützen, solange ich noch dazu fähig bin.

Hastig richtete Ottilie sich auf dem Bett auf. Sofort übermannte sie ein ihr mittlerweile schon vertrautes Schwindelgefühl, das sie nicht einfach hinnehmen wollte, doch sie konnte sich nicht lange dagegen wehren und sackte zurück in die weichen Kissen. Nach ein paar Minuten versuchte sie es erneut. Sie richtete sich langsam Stück für Stück auf und setzte sich auf die Bettkante. Jedes ihrer alten Gelenke schmerzte. Als sie sicher war, dass die Schwindelattacke vorüber war, stand sie vorsichtig auf. Sie stützte sich an der Wand ab und tastete sich bis zur Treppe vor. Stufe für Stufe schritt sie nach unten. Der Weg bis zu ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoss erschien der alten Dame doppelt so lang wie gewöhnlich. Außer Atem und mit schmerzenden Beinen kam sie an der Kommode an, die gegenüber ihres Bettes stand. Sie zog die oberste Schublade auf, nahm ein kleines schwarzglänzendes Kästchen heraus und öffnete es. In einem schwarzen Samtbeutel lag es gut versteckt – das Efeu-Siegel. Ottilie streifte den alten Siegelring über ihren linken Ringfinger. Er rutschte sogleich wieder herunter.

Meine Finger sind auch nur noch Haut und Knochen. Früher hat mir der Ring wie angegossen gepasst. Es scheint Zeit zu sein, ihn endlich weiter zu geben. Ich hoffe nur, dass Emma dieser Aufgabe wirklich gewachsen ist.

Ottilie betrachtete den Ring kurz und ließ ihre Finger über das Siegel gleiten. Sie spürte die Maserung des goldenen Efeublattes unter ihren Fingerkuppen. Sie beschloss, Emma den Ring zu geben, sobald sie nach Hause kommen würde. Bis dahin verstaute sie ihn wieder sicher in seinem Samtsäckchen in ihrer Rocktasche.


Emma trat an die Burgmauer und ließ ihren Blick über das Tal wandern, das sich unterhalb der Burg erstreckte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es hier vor Jahrhunderten ausgesehen haben musste, als Ceyres noch ein Mensch gewesen war. Ihr Blick glitt über die Wipfel der Tannen, Kiefern, Eichen und Buchen und verschwamm bis sie sich schwerelos fühlte. In Trance kletterte Emma auf die mächtige Mauer. Sie fühlte sich, als würde sie über die Baumwipfel fliegen, den bewaldeten Berghang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Ihr Flug endete an einer verwitterten Grabplatte auf einem kleinen Waldfriedhof. Sie schwebte direkt über der alten Sandsteinplatte. Auf dem bemoosten Stein war kaum noch etwas von der ursprünglichen Inschrift zu lesen, so verwittert war er. Emma konnte den Namen und die Daten, die in den Stein gemeißelt worden waren, gerade noch entziffern. Die Inschrift darunter konnte sie jedoch nicht entziffern. Sie streckte ihre Finger aus und ließ sie über die erhabenen Ränder der Buchstaben gleiten, als sie einen kräftigen Stoß in ihrem Rücken spürte, mit dem die Bilder vor ihren Augen verschwammen.

„Tu mir nur diesen einen Gefallen und stirb endlich!“, hallte Noras Stimme durch den menschenleeren Burghof.

Niemand wird je erfahren, dass ich sie getötet habe. Ceyres kann mir niemals die Schuld an ihrem Tod geben. So habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Seine Menschenfreundin ist endlich tot und Ceyres gehört endgültig mir. Denn, wenn sie seinen Fluch nicht lösen kann, dann kann es niemand. Sie ist die letzte Nachfahrin seiner Ottilie, die genügend Macht besitzt.

Nora blickte über den Rand der Mauer und beobachtete zufrieden, wie Emma rasend schnell dem Erdboden entgegen stürzte Emma spürte den scharfen Wind in ihrem Gesicht, während das Grün der Tannen unter ihr rasend schnell näherkam. Langsam kehrte sie aus ihrer Vision in die Realität zurück. Gerade als sie begriff, was mit ihr passierte, wurde ihr Fall abrupt gestoppt. Erschrocken schrie sie auf. Ihr eigener Schrei hallte noch durch das verlassene Tal, als sie einen spitzen Schrei über sich hörte. Nora stand auf der Burgmauer und sah auf sie herab.

„Was zur Hölle soll das? Wer ist das verdammt?“

Überrascht von dem Windstoß, der plötzlich über die Mauer fegte, verlor Nora das Gleichgewicht und stürzte auf den unebenen Boden des Burghofs. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf dem unebenen Pflaster auf. Leicht benommen blieb sie liegen und starrte in den blauen Himmel, als das Sonnenlicht im nächsten Moment verschwand und der Himmel sich verdunkelte. Ceyres landete dicht vor ihr. Emma hielt er sicher im Arm. Es dauerte einige Augenblicke, bis Nora wieder klar sehen konnte. Erschrocken sprang sie auf ihre Füße.

„Du? Wie kann das sein? Ich dachte, ...“

„Du dachtest, dass ich niemals herausfinden würde, was du Emma angetan hast? Da hast du aber falsch gedacht!“, sagte Ceyres in scharfem Ton und setzte Emma sanft auf dem Boden ab.

Sie war immer noch etwas mitgenommen von ihrem Sturz und dem abrupten Flug zurück nach oben. Etwas unsicher auf den Beinen blieb Emma dicht neben Ceyres stehen. So nah bei ihm fühlte sie sich sicher. Dennoch behielt sie Nora die ganze Zeit im Auge.

„Du siehst das völlig falsch. Ich habe ihr doch nur helfen wollen“, versuchte Nora, zu erklären, und klimperte unschuldig mit ihren mandelförmigen Augen.

„Lass den Scheiß, Norana, deine Masche zieht bei mir nicht, das solltest du langsam wissen.“

„Nora!“, verbesserte sie Ceyres mit einem Funkeln in den Augen. „Nenn mich tagsüber gefälligst Nora!“

„Ob Nora oder Norana, du bist und bleibst ein verlogenes Miststück!“

„Reg dich doch nicht so auf. Sie ist an der Mauer abgerutscht und da habe ich versucht sie zu retten. Gut, dass du so schnell zur Stelle warst, ich hätte ja wohl schlecht hinterher springen können in meiner zerbrechlichen menschlichen Gestalt,“ flötete Nora nun.

„Du hältst mich wohl für saublöd, Norana. Ich habe dich beobachtet. Also spar dir deine Lügen.“

Einen Moment lang dachte Emma, dass Nora aufgeben würde, doch sie machte einen Schritt auf Ceyres zu, während sie Emma einen giftigen Blick zuwarf.

„Sieh dich doch nur mal an. Ist es das, was du wolltest? Auch noch tagsüber als Gargoyle unterwegs zu sein?“ Ceyres sah sie stumm an. „Und du Schlampe bist an allem Schuld!“, wetterte Nora und packte Emma an ihrer Jacke.

Blitzschnell verpasste Emma ihr eine Ohrfeige. Wenn sie Nora zeigte, dass sie Angst vor ihr hatte, hätte sie schon verloren. Doch der Schlag ins Gesicht, ließ Nora noch wütender werden. Sie schlug zurück. Ihr Schlag verfehlte Emma und traf Ceyres mit voller Wucht gegen die Brust, als er sich zwischen die beiden Frauen drängte. Ceyres packte Noras Handgelenke und hielt sie fest umschlossen. Wild mit den Armen fuchtelnd, versuchte sie, sich aus seinem festen Griff zu befreien.

„Lass mich los, du verblendeter Idiot! Versteh doch endlich, dass dich dieses Weib direkt ins Verderben stürzen wird!“

„Halt du dich da raus!“

„Wir haben eine Abmachung, vergiss das nicht! Ich werde dich nicht aufgeben. Und an dieses Miststück werde ich dich schon gar nicht verlieren. Bevor sie dich kriegt, verrate ich dich lieber an die anderen.“

„Das wagst du nicht!“

„Und ob. Du hast mir versprochen, dass ich sie töten darf, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, vergiss das nicht.“

Erschrocken wich Emma bei diesen Worten einen Schritt von Ceyres zurück.

„Wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Ob und wann er da ist, das entscheide ich ganz allein, merk dir das.“

Was soll das heißen? Sollte ich mich so in Ceyres getäuscht haben?

Unsicher blickte Emma auf Ceyres, der weiter mit Nora stritt. Er schien völlig vergessen zu haben, dass sie direkt hinter ihm stand. Schritt für Schritt tastete sie sich rückwärts, bis sie an die Burgmauer stieß, ohne die beiden aus den Augen zu lassen, obwohl sie sich mittlerweile so sehr in ihren Streit hineingesteigert hatten, dass sie Emma nicht mehr beachteten. Sie schlich sich zum Bergfried herüber. Als sie hinter dem Turm angekommen war, spähte sie noch einmal zu den Beiden herüber. Ceyres und Nora standen sich immer noch wild gestikulierend gegenüber. Emma zog sich an der Burgmauer hinauf und ließ sich vorsichtig auf der anderen Seite hinunter. Sie balancierte auf dem moosigen Boden entlang. Ihre Füße konnte sie geradeso nebeneinandersetzen, bevor der schmale Wall steil nach unten abfiel. Emma versuchte, sich an einzelnen Steinen festzuhalten, die aus der alten Mauer herausragten. So schnell sie konnte, tastete sie sich zwischen Abgrund und Burgmauer entlang bis zum Weg. Im Schutz der Sträucher am Wegesrand rannte sie bis zum rettenden Wald. Bevor sie zwischen den Bäumen verschwand, warf sie noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter. Sie konnte jedoch nicht erkennen, ob Ceyres und Nora noch immer im Burghof stritten. Angsterfüllt lief sie weiter. Auf dem unwegsamen Waldboden kam sie nur langsam voran, daher entschied sie, nach der nächsten Biegung doch direkt auf dem Wanderweg zu laufen. Keine Menschenseele begegnete ihr auf dem Weg in Richtung Bundesstraße.

Kein Wunder, bei dieser Eiseskälte verirrt sich auch niemand hierher.

Emma griff im Laufen nach ihrem Handy und versuchte, es einzuschalten. Doch der Bildschirm blieb schwarz.

Verdammt! Wie soll ich jetzt bloß hier wegkommen? Emma spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Bis in die Stadt ist es ein weiter Weg, zumindest zu Fuß. Ceyres kann mich mühelos einholen. Und ich wette, dass Norana schon kurz hinter mir ist. Die beiden haben sicherlich mittlerweile gemerkt, dass ich verschwunden bin.

Emma lief weiter. Sie war bereits völlig außer Atem, doch stehenbleiben wollte sie auf keinen Fall. Hinter der nächsten Biegung konnte sie bereits den kleinen Parkplatz erkennen. Ein einzelnes Auto stand da. Die Heckklappe war offen. Ein älterer Herr ließ gerade seinen Hund in den Kofferraum einsteigen. Obwohl sie vor Anstrengung kaum noch Luft bekam, legte sie noch einen Spurt hin.

Wenn ich es rechtzeitig zu dem Auto schaffe, habe ich eine Chance hier wegzukommen. Ich muss mir nur eine schlüssige Erklärung einfallen lassen, was ich hier so alleine im Wald mache.


Ceyres und Nora lieferten sich weiter ein Wortgefecht.

„Ich weiß gar nicht, warum du so sauer bist. Mein Fluch ist nicht mehr derselbe. Es hat sich etwas getan und ...“

„Ich sehe, was sich getan hat, Ceyres. Deine Lage hat sich enorm verbessert – du bist jetzt auch tagsüber als Gargoyle unterwegs!“

„Kein Grund gleich sarkastisch zu werden. Emma hat ein kleines Wunder vollbracht, dafür solltest du ihr danken und keine Mordgedanken hegen.“

„Dafür ist es wohl zu spät. Deine kleine Freundin scheint sich aus dem Staub gemacht zu haben.“

Erstaunt drehte Ceyres sich um. Nora hatte Recht. Emma war verschwunden.

Kein Wunder, wenn sie gehört hat, was Norana gesagt hat. Was muss sie nun von mir denken? Sie glaubt bestimmt, dass ich sie nur ausgenutzt habe. Ich muss unbedingt mit ihr reden.

„Worauf wartest du noch?“, fragte Nora genervt und stieß Ceyres unsanft gegen die Brust. „Wir müssen sie suchen und verhindern, dass sie irgendjemandem von dir erzählt.“

Nora lief entnervt los. Sie rannte durch das steinerne Tor, das vom Burghof auf den Wanderweg führte. Ceyres blieb im Hof stehen. Er war unschlüssig, was er tun sollte.

Ich kann wohl kaum in dieser Gestalt den Wanderweg hinunterfliegen, um Emma abzufangen. Was, wenn mich ein Spaziergänger sieht? Und wenn ich über den Baumwipfeln fliege? Ist unser Schutzschild am Tage intakt? Vermutlich hat es noch kein Gargoyle getestet, weil noch kein Gargoyle diese Welt je bei Tageslicht gesehen hat. Und woher weiß ich überhaupt, dass sie den Weg hinunter gelaufen ist? Vielleicht läuft sie ja auch mitten durch den Wald?

„Ach, was soll’s. Wer weiß, was Norana noch für Schaden anrichtet, wenn ich sie nicht stoppe,“ sagte der Gargoyle zu sich selbst und folgte Nora.

Er rannte die ersten hundert Meter, dann schwang er sich aber doch in die Lüfte und schwebte dicht über dem Erdboden den verschlungenen Wanderweg hinunter. Norana hatte er schnell eingeholt. Er glitt dicht über ihr entlang und schnellte um die nächste Kurve, ehe er seine Flügel von einer Sekunde auf die andere still hielt und unsanft auf dem Waldboden landete. Er sah gerade noch, wie Emma auf der Beifahrerseite eines silbernen Autos einstieg und die Tür hinter sich schloss. Ceyres hörte Noras schweren Atem hinter sich und streckte seinen Arm aus. Nora prallte prompt dagegen.

„Was soll das, Ceyres!? Ich kann sie noch erwischen.“

„Nein! Lass sie in Ruhe.“

„Aber sie wird uns weiter in Gefahr bringen“, protestierte Nora und versuchte sich zappelnd aus Ceyres‘ Griff zu lösen.

„Wenn uns jemand in Gefahr gebracht hat, dann bin ich das. Und ich werde das wieder gerade biegen.“

Es war sowieso zu spät, denn der silberne Wagen bog bereits nach links auf die Bundesstraße ab und das Motorengeräusch entfernte sich schnell in Richtung der Stadt. Entnervt stemmte Nora ihre Hände in die Hüften.

„Ich hoffe, dass du weißt, was du tust, aber lange werde ich keine Geduld mehr haben, das verspreche ich dir.“


Emma sah sich noch einmal um. Als das Auto angefahren war, hatte sie für einen kurzen Moment geglaubt, Ceyres zwischen den Bäumen zu sehen. Doch sie war sich nicht sicher. Und es war auch egal, denn sie war erst einmal in Sicherheit. Entspannt ließ sie sich in den Beifahrersitz sinken, während ihr Chauffeur sie der Stadt entgegenfuhr.

„Ich möchte ja nicht neugierig wirken, aber was haben sie um diese Uhrzeit allein im Wald gemacht? Und dann auch noch bei dieser Kälte?“

Emma hatte gewusst, dass diese Frage unweigerlich kommen musste. Sie lächelte den älteren Herren neben sich verlegen an. Normal stieg sie nicht zu fremden Männern ins Auto, aber erstens hatte sie keine andere Wahl gehabt, wenn sie schnell zurück in die Stadt wollte und außerdem hatte der Mann mit den grauen Haaren und dem dunkelgrünen Jägeroutfit so vertrauenswürdig ausgesehen. Und sein großer brauner Jagdhund hatte sie sofort freudig begrüßt, als sie an das Auto herangetreten war.

„Es ist etwas peinlich. Ich war mit meinem Freund im Auto unterwegs, als wir uns wegen einer Kleinigkeit gestritten haben. Ich habe dann irgendwann vor lauter Ärger gesagt, dass er mich einfach am nächsten Parkplatz rauslassen soll und das hat er dann auch getan.“

„Klingt mir nicht nach einem sehr fürsorglichen und verantwortungsbewussten jungen Mann.“

„Das ist er wohl auch nicht. Aber ich war auch nicht besser. Ich bin nur froh, dass ich sie getroffen habe. Sonst hätte ich den ganzen Weg in die Stadt laufen müssen.“

Der Mann schüttelte lächelnd mit dem Kopf.

„Wo soll ich sie den rauslassen?“, fragte er schließlich, als sie das Ortsschild von Breverhölzen passierten.

„Gleich dort vorne am Friedhof. Von dort habe ich es nicht mehr weit.“

Emma sah aus dem Fenster. Sie wollte nur noch nach Hause und eine heiße Dusche nehmen.

Habe ich mich wirklich so sehr in Ceyres getäuscht? Das kann nicht sein. Er hätte doch nie so etwas in meiner Gegenwart gesagt oder hatte er vergessen, dass ich direkt hinter ihm stand? Wartet er nur darauf, dass sein Fluch gelöst wird, damit er dann mit Norana zusammen sein kann?

Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte nicht glauben, dass Ceyres seine Zuneigung zu ihr nur gespielt hatte. Sie wollte sich nicht so in ihm getäuscht haben. Sie wollte sich nicht schon wieder in einem Mann so getäuscht haben.

„Oh!“, rief ihr Fahrer plötzlich.

Emma wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

„Was ist los?“, fragte sie und sah nach vorne aus der Frontscheibe des Wagens. „Oh!“, entfuhr es ihr ebenfalls.

Der Friedhof lag direkt vor ihnen. Die gesamte Straße war in blaues Licht getaucht.

„Sieht so aus, als wenn wir hier erst einmal nicht durchkommen. Wohnen sie hier in der Nähe?“

„Ja, direkt dort drüben“, log Emma und deutete gegenüber des Eingangstores zum Friedhof auf eine kleine Seitenstraße, die von einem Polizeiwagen versperrt war.

„Da werden sie jetzt wohl nicht reinkommen. Was ist hier nur passiert?“

„Hmm, scheint so, als wäre etwas auf dem Friedhof vorgefallen“, stellte Emma fest und deutete auf eine kleine Gruppe von Polizeibeamten, die an dem massiven Eisentor zum Friedhof standen und das Tor gerade mit rot-weißem Flatterband absperrten.

Der ältere Herr fuhr halb auf den Bordstein und begann den Wagen zu wenden, als ein ziviler Polizeiwagen mit eingeschalteter Sirene von hinten angerast kam. Er stoppte direkt vor einem Rettungswagen, der mit offenen Türen mitten auf der Straße stand. Zwei Sanitäter schob gerade eine leere Trage zurück in den Wagen. Emma spürte, wie sich ihr Magen bei diesem Anblick verkrampfte. Bitterer Schleim stieg ihre Kehle hinauf und sie begann zu husten. Ihr Fahrer warf ihr einen besorgten Blick zu.

„Kann ich sie woanders hinfahren? Haben sie Verwandte oder Freunde in der Stadt?“

„Ja“, sagte Emma und schluckte kräftig, um sich nicht übergeben zu müssen.

Sie sah wieder die Bilder vor sich, wie Norana dem nichtsahnenden Mark die Kehle zerfetzt hatte.

Es ist alles meine Schuld. Ich habe Mark auf dem Gewissen. Ich hätte ihn besser schützen müssen. Was mache ich nur?

Der ältere Herr hatte seinen Wagen mittlerweile gewendet und fuhr wieder stadtauswärts.

„Wenn es ihnen nichts ausmacht, dann könnten sie mich am anderen Ende der Stadt rauslassen. Meine Uroma wohnt dort.“

Eigentlich hatte Emma lieber niemandem sagen wollen, wo sie wirklich wohnte, aber es war ihr mittlerweile egal. Ihr Auto stand noch am Friedhof, da würde die Polizei sowieso früher oder später zu ihr kommen. Und bevor das passierte, wollte sie wenigstens noch etwas Zeit zum Nachdenken haben. Sie sagte dem Mann ihre Adresse und er fuhr sie bereitwillig zu Omma Ottis Haus.

„Nehmen sie das Bitte als Entschädigung für ihre Mühe.“ Emma hielt dem Mann einen Fünfeuroschein hin, den sie aus ihrer Hosentasche gefischt hatte. Er hob abwehrend die Hände und wollte protestieren, doch Emma ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Doch, bitte. Ich bestehe darauf. Sie sind schließlich nur wegen mir einmal quer durch die Stadt gefahren. Wenn sie das Geld nicht möchten, dann kaufen sie ihrem Hund einfach ein paar Leckerlis dafür.“

Sie lächelte den Herren an und stieg aus.

„Vielen Dank! Kommen sie nachher gut nach Hause!“

„Danke. Das werde ich sicher.“

Emma schloss die Beifahrertür und winkte noch kurz, als der Herr mit seinem Hund zurück in die Stadt fuhr. Schnell ging sie ins Haus.

II


„Verdammte Scheiße, konnte der Kerl sich nicht einen besseren Tag zum Sterben aussuchen? Es ist arschkalt hier draußen!“

Kommissar Sprenger drückte seine Zigarette auf dem Fußweg vor dem Friedhof aus und steckte die Kippe in seine Manteltasche. Langsam ging er den Kiesweg entlang und steuerte direkt auf eine Gruppe von Uniformierten zu, die den Tatortfotografen abschirmten und damit vor neugierigen Blicken schützten.

„Guten Morgen, Jungs! Wie sieht’s aus?“

„Nicht so gut. Einem der Frischlinge ist schon schlecht geworden.“

Kommissar Sprenger grunzte verächtlich. Er konnte es nicht ausstehen, wenn die jungen Beamten sich nicht im Griff hatten. Schroff schob er sich an den Uniformierten vorbei und sah dem Fotografen über die Schulter, als er plötzlich selber ein Würgen unterdrücken musste. So sehr sich sein Magen auch in diesem Moment verkrampfte, konnte er doch seinen Blick nicht von dem Leichnam abwenden. In seinen fast dreißig Dienstjahren hatte er kaum einen Toten gesehen, der so schlimm zugerichtet worden war. Der junge Mann lag in einer Lache aus zum Teil bereits getrocknetem Blut. Seine Kehle war völlig zerfetzt und sein Blick schien immer noch panikerfüllt. Sprenger schluckte kräftig und fuhr sich mit seiner Hand durch seine graue Löwenmähne. Nachdenklich kratzte er sich an der Schläfe.

„Wissen sie schon, womit er so zugerichtet wurde?“, fragte er vorsichtig an den Gerichtsmediziner gewandt, der neben dem Leichnam kniete.

„Es sieht nach einem Biss aus,“ antwortete der junge Mann wie selbstverständlich und ohne von dem Leichnam aufzublicken.

„Ein Biss? Haben sie getrunken oder was? Nicht einmal ein Wolf würde solche Bissspuren an einer menschlichen Kehle hinterlassen!“

„Es muss etwas Größeres gewesen sein“, sinnierte der Mediziner.

„Kommen sie zu Verstand!“, rief Sprenger aufgebracht. Er konnte abgehobene Mordtheorien nicht ausstehen. Für jedes Verbrechen gab es eine schlüssige Erklärung, davon war er überzeugt. Und so würde es auch hier sein.

„Es sind auf alle Fälle Abdrücke von so etwas wie kräftigen Fangzähnen zu sehen. Vielleicht hat auch nur jemand versucht, mit einem Raubtiergebiss als Hilfsmittel seine Spuren zu verwischen!?“, überlegte der Gerichtsmediziner nun laut.

„Klingt mir immer noch etwas abgehoben, aber schon schlüssiger, als dass hier ein Löwe oder etwas Ähnliches frei rumlaufen soll, der Menschen tötet. Ich denke, wir sprechen uns lieber nach der Obduktion nochmal. Vielleicht haben sie dann eine bessere Erklärung parat.“

Sprenger drehte sich um und verließ den Friedhof. Er trat auf den Fußweg und sog die kalte Luft ein. Langsam beruhigte sich sein Magen wieder. Der Kommissar ließ seinen Blick an der Straße entlang wandern und heftete ihn schließlich auf den Kleinwagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Friedhofsparkplatz stand. Die Scheiben waren nass und auf dem Dach hatte sich eine dünne Schicht Raureif gebildet.

„Wem gehört der Wagen?“, rief er zu einem der Beamten an der Straßensperre herüber und deutete mit seinem Zeigefinger auf das kleine Auto. Der Beamte zuckte nur mit den Schultern. „Rausfinden!“, befahl er in scharfem Ton.

Sprenger steckte sich noch eine Zigarette an. Er sah den beiden Männern in Schwarz nach, die den metallenen Sarg mit dem Leichnam vorbei trugen und in den bereitstehenden Leichenwagen schoben. Er blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft und trat von einem Bein auf das andere.

„Er gehört einer Frau!“, rief einer der Beamten von der anderen Straßenseite herüber.

Sprenger drückte seine Zigarette aus und steckte den Stummel zu den anderen in seine Manteltasche, ehe er zu dem Beamten herüberging.


Emma ließ sich müde gegen die Haustür fallen, die sie soeben hinter sich geschlossen hatte. Sie atmete tief durch, während sie langsam an der Tür zu Boden glitt. Ihren Kopf legte sie auf ihren Knien ab und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, als sie ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte.

Mark ist tot. Einfach tot. Das habe ich alles nicht gewollt. Wieder sah sie die Bilder vom Abend vor sich und ihre Trauer brach völlig aus ihr heraus. Laut schluchzend saß sie weiter im Flur. Und wofür ist er gestorben? Für einen hinterhältigen Gargoyle, der nichts anderes im Sinn hatte, als jemand Dummes zu finden, der seinen dämlichen Fluch löst. Die kalte Winterluft zog unter der Tür herein und ließ Emma zittern. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stand langsam auf. Nein, ich tue ihm Unrecht. Er ist es nicht, auf den ich sauer sein sollte. Norana, diese falsche Schlange, sie ist die treibende Kraft in der Sache. Sie war es, die Mark getötet hat. Ceyres kann doch nicht so verlogen sein! Oder doch!? Bin ich schon wieder auf so einen Heuchler reingefallen? Mark war ja nicht der erste Mann, der es geschafft hat, mich jahrelang zu belügen, ohne, dass ich dumme Gans etwas bemerkt habe.

Emma warf ihre Jacke auf die Garderobe, als sie die Stille im Haus bemerkte. Sie lauschte, doch es war kein Ton zu hören.

„Omma?“, rief sie, während sie in das leere Wohnzimmer sah und dann mit schnellen Schritten weiter in Richtung Küche ging. Doch ihre Uroma war auch dort nicht zu sehen. Emma kroch Gänsehaut am ganzen Körper hinauf. Es war noch nicht lange her, dass sie ihre Uroma nachts bewusstlos auf dem Wohnzimmerboden gefunden hatte. Sofort waren die Bilder aus dieser Nacht wieder in ihrem Kopf. Emma sah wie der Notarzt über ihrer Uroma kniete und sie wiederbelebte. Sie würde diesen Anblick nie vergessen, wie die alte Dame leichenblass auf dem Boden gelegen hatte. Ein Schlaganfall, hatten ihr die Ärzte erklärt, auch wenn Ottilie diese Diagnose weiterhin vehement als falsch bezeichnete. Emma konnte kaum glauben, dass ihre Uroma in dieser Nacht wirklich eine Vision gehabt hatte, die so stark gewesen war, dass sie einen Atemstillstand erlitten hatte. Aber die alte Dame blieb stur bei dieser Erklärung. Emma ließ ihren Blick durch die verlassene Küche wandern. Die Kaffeetasse, die Ottilie immer schon am Vorabend für das Frühstück bereitstellte, stand noch unbenutzt auf der Arbeitsplatte neben der Kaffeemaschine. Emma rannte den Flur entlang und stürmte in Ottilies Schlafzimmer. Dort lag sie. Emma setzte sich vorsichtig auf die Bettkante neben ihre Uroma und rüttelte sie sanft.

„Omma Otti! Wach auf! Es ist schon spät!“ Emma rüttelte kräftiger an der Schulter ihrer Uroma. „Omma?“

Sie hatte noch nie erlebt, dass Ottilie tagsüber auf ihrem Bett geschlafen hatte. Zudem trug sie noch immer ihre Kleidung und die Schürze, die sie schon am Vorabend getragen hatte, als Emma das Haus verlassen hatte. Gerade, als Emma spürte, wie sich ihr Magen vor Angst verkrampfte, schlug die alte Dame ihre Augen auf. Langsam kam Ottilie zu sich. Sie hatte nur nochmal ein kleines Nickerchen machen wollen, war dann aber doch fester eingeschlafen. Ottilie gähnte und streckte ihre müden Beine. Sie fühlte sich, als hätte sie seit Nächten kaum geschlafen. Langsam richtete sie sich auf ihrem Bett auf und setzte sich neben ihre Urenkelin an die Bettkante.

„Ist alles in Ordnung, Liebes? Ich hatte so gehofft, dass du wieder nach Hause kommst.“

„Ja. Nein, eigentlich ist gar nichts in Ordnung.“ Ottilie legte ihre Hand auf Emmas und Emma spürte sofort die Kälte, die von ihr ausging, doch sie ignorierte sie. „Ich habe eine Bestie erweckt. Ich weiß nicht genau wie, außer, dass Ceyres mein Amulett getragen hat und dann ging alles so schnell, aber jetzt ist er auch am Tage ein lebendiger Gargoyle. Und er will mich töten lassen. Von seiner Freundin Norana.“

„Das glaube ich nicht, Emma. Bist du dir da wirklich sicher?“

„Er hat es gesagt. Und Norana, sie hat Mark getötet. Mark ist tot, verstehst du?“, schrie Emma hysterisch und ließ sich in Ottilies Schoß fallen. Sie weinte hemmungslos, während Omma Otti ihr zärtlich über das Haar strich.

„Arme Emma. Beruhig dich erst einmal und dann reden wir in Ruhe über alles. Ich bin mir sicher, dass Ceyres dir nichts tun will. Es ist alles bestimmt nur etwas viel für dich.“

„Aber versteh doch. Er hat gehofft, dass ich seinen Fluch lösen kann, aber ich habe ihn nur noch schlimmer gemacht. Er erträgt es nicht mehr, in diesem Körper gefangen zu sein und nun ist er nicht nur nachts ein Gargoyle, sondern auch tagsüber.“

„Schhhhh. Ruhig, meine Kleine. Ganz ruhig. Hast du wirklich erwartet, dass du seinen Fluch in nur einer Nacht lösen kannst?“

Emma schniefte und richtete sich langsam auf. Sie sah ihre Uroma nachdenklich an.

„Ja, ehrlich gesagt schon. Ich dachte, wenn wir erstmal die Lösung gefunden haben, dann ist er wieder frei.“

„So einfach ist das nicht. Sidonia war eine mächtige Hexe und ihr Fluch ist komplex.“

„Du weißt, wie er verflucht worden ist?“

„Ich weiß, was letzte Nacht auf der Burg passiert ist. Und ich denke, dass ich dir helfen kann.“

Emma wischte sich die letzten Tränen aus den Augen und spürte, wie sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen legte. Sie hatte schon nicht mehr zu hoffen gewagt, dass ihre Uroma ihr noch einmal helfen könnte. Emma beobachtete gespannt, wie Ottilie ein kleines Säckchen aus ihrer Schürzentasche holte und ihr reichte.

„Was ist das?“, fragte Emma und öffnete den schwarzen Beutel aus Samt.

Sie zog einen Ring heraus. Der Ring war aus massivem Gold gefertigt und wog schwer in ihrer Hand. Sie drehte ihn zwischen den Fingern und starrte auf den Ringkopf. Er glich ihrem Amulett, als würden beide zu einem Set gehören. Emma strich mit ihrem rechten Zeigefinger über das Efeublatt, das, wie an ihrem Amulett, auf einer Basis aus Rosenquarz thronte. Das Blatt war jedoch nicht grün, wie das an ihrem Amulett, bevor Ceyres es angelegt hatte, sondern golden. Emma spürte die Maserung des Blattes deutlich an ihrer Fingerkuppe und strich noch einmal darüber.

„Es ist das Siegel“, sagte Omma Otti mit sanfter Stimme.

„Das Siegel?“

„Das Siegel, mit dem Sidonia Ceyres die Brandmarke auf die Brust gesetzt hat.“

„Du meinst, dass dieser Ring seinen Fluch lösen kann?“

„Nein, das denke ich nicht.“ Emma seufzte enttäuscht. „Ich denke aber, dass er ein Teil der Lösung ist.“

„Hmm.“

Emma musste zugeben, dass Ottilies These schlüssig klang. Sie musste sich eingestehen, dass sie es sich einfacher vorgestellt hatte, einen Fluch zu lösen.

Wenn das so einfach wäre, dann hätte es wohl kaum Jahrhunderte gedauert, Ceyres zu retten. Aber wie kann mir das Efeu-Siegel helfen? Sidonia hatte es bei sich, als sie Ceyres verflucht hat, so, wie sie vermutlich auch mein Amulett während der Zeremonie getragen hat. Das Amulett hat sie später Ottilie gegeben. Und den Siegelring? Wer hat ihn all die Zeit aufbewahrt?

„Warum hast du mir den Ring nicht schon eher gegeben?“

„Ich wusste nicht, dass er eine Bedeutung hat. Erst, als ich ihn in der Nacht in meiner Vision gesehen habe, habe ich die Verbindung zu deinem Amulett erkannt.“

„Woher hast du ihn?“

„Meine Mutter hat ihn mal von einer Bekannten bekommen. Die Dame hatte das Amulett bei ihr gesehen und hat sich an den Ring in ihrem Besitz erinnert. Da sie ihn nie trug, hat sie ihn meiner Mutter geschenkt.“

„Und wer war diese Bekannte?“

„Das weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur erinnern, dass sie einen riesigen Kräutergarten gehabt hat.“

„Wo?“

„In einem der Dörfer hinter dem Burgberg. Aber wo genau, das weiß ich nicht mehr. Ich war damals noch sehr jung und es hat sich so viel verändert. Ich glaube nicht, dass es den Garten heute noch gibt.“

Emma drehte den Ring in ihren Fingern. Dann schob sie ihn auf ihren Mittelfinger, doch er war ihr viel zu groß. Die Türklingel ertönte. Erschrocken fuhr Emma zusammen.

„Erwartest du jemanden?“, fragte sie ihre Uroma überrascht.

„Nein, du?“

„Nein. Wer sollte mich hier besuchen!?“

„Ich gehe aufmachen.“

„Nein, lass nur. Ich kümmere mich darum, Omma. Ruh du dich lieber noch etwas aus.“

Emma warf einen kurzen Blick in den Spiegel auf dem Flur. Sie öffnete ihren Zopf und fuhr sich kurz durch ihre langen Haare, bevor sie sie wieder zu einem Zopf zusammenfasste.

Emma hatte die Haustür noch nicht ganz geöffnet, als Kassandra sich schon hereindrängte.

„Was zur Hölle habt ihr mit Mark gemacht?“, schrie sie hysterisch und gab Emma einen kräftigen Schubs. Emma taumelte überrascht nach hinten, fing sich nach ein paar Schritten aber wieder.

„Sag mal, spinnst du? Hier so reinzuplatzen und rumzubrüllen, als wärst du nicht bei Sinnen? Was soll das Ganze?“

„Mark ist tot! Tot, verstehst du? Ermordet!“

Emma starrte Kassandra an. Ihre Haare waren zerzaust, ihre Augen blutunterlaufen und ihre Hände zitterten, während sie sich an Emmas Pullover festkrallte und sie schüttelte.

„Ich weiß“, sagte Emma leise und senkte ihren Blick. Kassandra ließ sie los. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie ihr gegenüber und rang um Fassung. „Ich war dabei.“

Emma stiegen Tränen in die Augen. Sie wollte nicht weinen, immerhin hatte Mark sie mit Kassandra betrogen, aber sie konnte nicht anders. Kassandra tat ihr Leid und Mark hatte diesen Tod nicht verdient, egal, was er ihr angetan hatte.

„Und dann hast du ihm nicht geholfen? Du hast diese Bestie nicht davon abgehalten? Warum hat er es getan, warum, zu Hölle?“

„Er? Von wem redest du?“

„Von deinem … deinem … ach, ich weiß auch nicht, dieser Bestie, die dich verfolgt. Er war in unserer Wohnung und hat nach dir gesucht.“

„In eurer Wohnung, die eigentlich meine Wohnung ist, falls du dich erinnerst. Und ich dachte, zwischen Mark und dir wäre es gar nicht so ernst, zumindest hat er sich ja auch mit anderen Frauen getroffen.“

„Was? Du Biest!“

Emma wusste nicht, warum sie so gemein zu Kassandra war, aber sie konnte nicht anders.

„Nicht mit mir, falls du das jetzt denkst. Aber ich dachte, du wüsstest davon!?“

„Du lügst. Er war gestern auf dem Friedhof. Und mit wem sollte er sich da treffen, wenn nicht mit dir?“

„Mit Nora?“

„Welche Nora? Ich kenne keine Nora!“

„Wirklich nicht?“ Emma verschränkte ihre Arme vor der Brust, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen. Kassandras Blick wurde sanfter. Sie schaute unsicherer und die Anspannung in ihrem Körper ließ langsam nach, bevor sie Emma schließlich losließ. Sie begann krampfhaft nachzudenken. „Sie ist großgewachsen, üppig ausgestattet, hat einen blonden Bob“, sprach Emma langsam weiter.

„Meinst du diese Bedienung aus dem Stadtcafé?“

„Keine Ahnung. Ich war da noch nie. Oder zumindest nicht in letzter Zeit.“

„Aber ich, also mit Mark. Und ich weiß, dass Mark da auch öfter alleine war. Da ist eine Bedienung, auf die deine Beschreibung passt. Mark hat sie immer angehimmelt.“

„Siehst du. Dann wird sie es sein. Dann weiß ich jetzt immerhin, wo ich sie finden kann.“

„Was meinst du damit?“

„Kassandra, lass uns bitte ins Wohnzimmer gehen. Ich denke, dass ich dir einiges erklären muss, damit du endlich verstehst, dass nicht Ceyres die Bestie ist, sondern ganz andere Kreaturen.“

Emma schob Kassandra durch den Flur in Richtung Wohnzimmer, als es erneut an der Haustür klingelte.

„Hier geht es ja heute Morgen zu wie in einem Taubenschlag“, seufzte Emma kraftlos und ging zurück durch den Flur in Richtung Haustür.

Eigentlich wollte sie nur noch in ihr Bett. Sie konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Während sie die Tür öffnete, gähnte sie ungeniert. Ein Mann mittleren Alters, in einen wollenen Mantel gehüllt, stand vor ihr.

„Wir brauchen keinen Staubsauger“, sagte Emma mit einem weiteren Gähnen, nachdem sie den Mann von oben bis unten gemustert hatte und schob die Tür wieder zu, doch er war schneller und schob seinen Fuß in den Türspalt. Emma steckte noch einmal ihren Kopf durch die Tür. „Ich möchte mit ihnen auch nicht über Gott reden. Also nehmen sie bitte ihren Fuß weg oder ich rufe die Polizei!“, fuhr Emma ihn an.

„Kommissar Sprenger. Kripo“, sagte der Mann unbeeindruckt und streckte Emma seinen Ausweis entgegen.

Sie wich erschrocken zurück und öffnete die Tür. Dann warf sie einen näheren Blick auf seinen Polizeiausweis, um etwas Zeit zu gewinnen. Emmas Kopf dröhnte vor Schmerzen. Immer, wenn sie übermüdet war, bekam sie diese hämmernden Kopfschmerzen. Sie konnte kaum noch ihre Augen offen halten. Emma rieb sich über ihre brennenden Augen und die schmerzende Stirn.

Was mache ich nur? Es war ja klar, dass die Polizei irgendwann hier aufkreuzen würde, aber warum so früh? Darauf war ich nun wirklich nicht vorbereitet. Soll ich so tun, als wenn ich von nichts weiß? Oder mache ich mich damit nur verdächtig?

„Kripo?“, fragte sie schließlich betont überrascht und rieb sich erneut über die Stirn. „Sind sie sicher, dass sie zu mir wollen?“

„Emma Lautenbach, das sind sie doch oder nicht?“

„Ja ja. Das bin ich. Was wollen sie von mir? Mir geht es heute nicht gut.“

„Darf ich reinkommen?“

„Muss das sein?“, fragte Emma genervt.

Sie hatte wirklich keine Lust darauf, dass der Kommissar mit Kassandra zusammentraf, nicht in ihrem hysterischen Zustand. Zum ersten Mal sah Emma den Polizisten direkt an. Sofort fiel ihr sein misstrauischer Blick auf.

„Entschuldigen sie. Ich stehe etwas neben mir. Natürlich können sie reinkommen. Gehen sie einfach durch ins Wohnzimmer.“

Emma folgte Kommissar Sprenger dicht und zwängte sich direkt hinter der Wohnzimmertür an ihm vorbei, um ihm den Blick auf Kassandra zu versperren.

„Ich muss ihnen leider eine traurige Mitteilung machen“, fing er in ernstem Ton an, zu erklären.

Emma überlegte krampfhaft, wie sie sich verhalten sollte.

Soll ich überrascht sein und direkt in Tränen ausbrechen oder, wie Kassandra, einfach hysterisch schreien?

Doch es war zu spät, denn in diesem Moment bekam Kassandra einen weiteren Heulkrampf.

„Frau Neudorf, sie hier?“, fragte Kommissar Sprenger überrascht, als er Kassandra auf der Couch entdeckte. „Was machen sie hier?“

„Wir sind Freundinnen“, beeilte Emma sich, zu erklären. Unsicher zog sie den Kommissar am Arm. „Lassen sie uns lieber in die Küche gehen,“ flüsterte sie ihm zu. „Es geht ihr nicht gut. Ihre traurige Mitteilung hat sie sehr mitgenommen.“

„Also wissen sie, warum ich hier bin!?“

Emma nickte stumm und ging voraus in die Küche.

„Kaffee?“, fragte sie beiläufig.

„Eine gute Idee. Das schreckliche Gebräu, das die Streifenkollegen mir heute Morgen als Kaffee verkaufen wollten, war ungenießbar.“

Kommissar Sprenger setzte sich an den runden Küchentisch und streckte seine Beine aus. Seit Stunden hatte er nicht mehr gesessen. Er beobachtete jeden von Emmas Handgriffen genau. Emma spürte seinen Blick. Langsam kroch Gänsehaut ihren Rücken hinauf. Im nächsten Moment ließ sie den Löffel mit dem Kaffeepulver fallen. Ihre Hände zitterten plötzlich und waren schweißnass. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Omma Otti betrat die Küche. Sie hatte sich zurechtgemacht und sah aus wie immer. Wäre da nicht ein Gehstock in ihrer linken Hand gewesen, den Emma noch nie zuvor bei ihrer Uroma gesehen hatte, hätte sie ihr die Nummer der starken alten Frau direkt abgekauft.

„Setz dich, mein Kind, ich mache das schon“, sagte sie mit einem fürsorglichen Lächeln auf den Lippen.

Kommissar Sprenger beobachtete die Szene stumm. Er verfolgte Emma mit seinem Blick von der Kaffeemaschine bis an den Tisch, wo sie sich ihm unsicher gegenübersetzte.

„Sie wussten also die ganze Zeit, warum ich hier bin. Warum haben sie dann so überrascht getan?“

Emma schluchzte in ihre Hände. Ihre Gedanken drehten sich wirr in ihrem Kopf. Sie wollte sich auf keinen Fall noch verdächtiger machen, als sie es vermutlich sowieso schon war. Allerdings fürchtete sie, dass sie in ihrem Zustand gar nicht anders konnte als von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten.

„Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass sie einfach wieder gehen würden. Ich stand unter Schock und stehe es vermutlich immer noch. Kassandra war gerade erst zu mir gekommen und hatte mit erzählt, dass Mark tot ist. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich meine, ich habe ihn gestern noch getroffen. Und jetzt soll er einfach tot sein.“

„Was heißt das, sie haben ihn gestern noch getroffen? Auf dem Friedhof?“

„Woher wissen sie? Ach so, mein Auto. Es steht noch auf dem Parkplatz am Friedhof.“

„Allerdings. Warum haben sie es dort stehen lassen?“

„Ich habe mich gestern Abend mit einem Bekannten getroffen. Wir sind etwas trinken gegangen und dann wollte ich nicht mehr fahren. Deshalb habe ich den Wagen stehenlassen. Ich wollte ihn heute abholen, aber mir ging es heute Morgen nicht gut. Sie wissen schon, ein paar Drinks zu viel.“

Emma lächelte gequält.

„Er hat Mark umgebracht. Er war es!“, schrie Kassandra plötzlich vom Sofa herüber.

„Wen meint sie? Ihren Bekannten?“, fragte der Kommissar an Emma gewandt.

„Nein, Quatsch. Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet.“

„Das hast du sehr wohl!“, schrie Kassandra unter Tränen, während sie auf Emma zugestürmt kam. Sie packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Begreif doch endlich, dass dieser Gargoyle eine Bestie ist. Er hat Mark kaltblütig umgebracht!“

„Gargoyle?“, fragte der Kommissar verwirrt. „Eine Bestie? Was soll das?“

„Kassandra, hör auf mit dem Quatsch. Beruhig dich endlich“, zischte Emma und krallte sich an Kassandras Arm fest.

Kassandra sank weinend auf die Knie. Ottilie kam herüber und griff nach ihr. Emma half Kassandra mit aller Kraft auf die Beine und führte sie zurück zur Couch. Kommissar Sprenger sah dem Treiben schweigend zu. Langsam und auf ihren Stock gestützt, kam Ottilie zurück in die Küche, während Kassandra schluchzend auf dem Sofa lag.

„Das arme Ding. Sie ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich mache ihr schnell einen Baldriantee. Der wird sie beruhigen. Sie sollten vielleicht ein anderes Mal wiederkommen, Herr Kommissar.“

Sprenger gab nur ein Grunzen von sich. Er wusste offensichtlich nicht, was er von der ganzen Szene halten sollte.

„Was meint sie mit Gargoyle und Bestie?“

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht meinen Bekannten. Er ist ein richtiger Hüne, wenn sie verstehen. Er kann einem schon Angst einjagen, wenn man ihn nicht kennt.“

„Wie heißt der Herr denn? Ich müsste auch mit ihm sprechen. Alibi und so, sie verstehen.“

„Alibi? Wie im Film, ja? Aber warum brauche ich ein Alibi?“

„Sie haben sich mit ihrem Bekannten auf dem Friedhof getroffen.“

„Ähm, nein. Ich habe Mark dort zufällig getroffen.“

„Zufällig?“

„Ja. Ich habe ein paar Fotos gemacht. Für meinen Onlineshop. Ich bin Künstlerin, verstehen sie!?“

Emma nahm ihr Tablet, das auf dem Küchentisch lag und öffnete ihren Onlineshop. Argwöhnisch blätterte Kommissar Sprenger durch ihren Shop.

„So so“, sagte er schließlich. „Etwas ungewöhnlich ihre Motive.“

„Nun ja, genau das hebt mich von der Masse an Fotografen ab.“

„Ja, sicher. Zurück zu ihrem Bekannten. Sie haben ihn also auf dem Friedhof getroffen.“

„Ja. Ähm, ich meine nein. Ich habe ihn vor dem Friedhof getroffen. Mark habe ich auf dem Friedhof getroffen.“

„Mark geht nie auf diesen dämlichen Friedhof!“, schrie Kassandra aus dem Wohnzimmer herüber.

Um Gottes willen, halt doch endlich deine Klappe! Als wenn alles nicht schon kompliziert genug wäre.

„Stimmt das?“, wollte Kommissar Sprenger sofort wissen und kritzelte weiter in seinem Notizbuch herum.

„Ja. Das stimmt. Es hat mich auch gewundert, aber Mark sagte, dass er mit einer Freundin verabredet sei.“

„Kennen sie diese Freundin?“

„Nein. Er sagte nur, dass sie Nora heißt und in einem Café arbeitet. Im Stadtcafé am Markt, glaube ich. Ich bin mir aber nicht sicher. Ich habe Mark nicht richtig zugehört. Blond soll sie sein und gut gebaut, wenn sie verstehen. Er meinte, sie wäre das komplette Gegenteil von mir. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Vielleicht wollte er mich auch nur aufziehen, weil wir uns erst vor kurzem getrennt haben. Es war eine unschöne Sache, aber ich bin mittlerweile drüber weg.“

Hoffentlich merkt dieser Typ nicht, dass ich ihn nach Strich und Faden belüge.

„Hmm.“ Kommissar Sprenger nahm einen Schluck aus der Tasse, die Ottilie ihm hingestellt hatte. „Wirklich gut ihr Kaffee, Frau ...“

„Sagen sie einfach Oma Ottilie zu mir, dass machen alle.“

Kommissar Sprenger nickte der alten Dame zu und nahm noch einen Schluck Kaffee.

„Zurück zu ihrem Bekannten. Wie heißt er noch?“

„Ceyres“, sagte Emma, ohne weiter nachzudenken.

„Ceyres? Ein sehr ungewöhnlicher Name. Und wie weiter?“

„Ähm. Also. Ja, das ist ein sehr ungewöhnlicher Name. Ich weiß auch nicht, ob er wirklich so heißt oder ob es nur ein Spitzname ist.“

„Und wie heißt er weiter?“

„Das weiß ich nicht.“ Emma suchte nach einem passenden Nachnamen, aber ihr wollte einfach keiner einfallen. Sie dachte auch darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, sich einen anderen Vornamen auszudenken, der nicht so ungewöhnlich war. Nein, besser so dicht bei der Wahrheit bleiben, wie es nur irgendwie geht. Ich bin schließlich eine schlechte Lügnerin. Wenn ich jetzt auch noch anfange, mir irgendwelche Namen auszudenken, dann vertausche ich sie am Ende noch und mache mich damit noch verdächtiger.

„Wo können wir den Herrn denn finden? Wo arbeitet er, wo wohnt er?“

„Das weiß ich alles nicht. Wir kennen uns erst seit Kurzem“, sagte Emma unsicher. Sie trank einen großen Schluck Kaffee, um etwas Zeit zu gewinnen. Unsicher spähte sie über den Rand ihrer Tasse zu Kommissar Sprenger herüber. Wie in Zeitlupe setzte sie die Tasse vor sich ab. „Aber er hat mir erzählt, dass er heute in den Urlaub fliegt. Nach Gran Canaria. Zwei Wochen will er bleiben.“

„Nun gut“, brummte der Kommissar. „Vertagen wir das. Kümmern sie sich am besten erst einmal um ihre Freundin.“ Sprenger stand vom Tisch auf. Er trank den restlichen Kaffee auf ex und stellte die Tasse klirrend zurück auf die Untertasse. Während er in Richtung Flur schlenderte, zog er seine Hose zurecht. „Es ist bewundernswert, dass sie beide noch befreundet sind.“

„Warum?“, fragte Emma betont überrascht.

„Nach allem was dieser Mark ihnen angetan hat, sie mit ihrer besten Freundin betrügen... andere würden ihn dafür am liebsten umbringen.“

„Andere vielleicht, ich aber nicht. Ich denke, es gehören immer Zwei dazu. Auch, wenn eine Beziehung in die Brüche geht. Wir wollten beide nicht wahrhaben, dass wir uns auseinandergelebt haben. So ist das nun mal. Und was Kassandra angeht – sie tut mir leid, denn anscheinend hat Mark nicht nur mich betrogen, sondern sie auch oder was meinen sie? Warum sollte er sich sonst mit dieser Nora treffen?“

Emma öffnete die Haustür und sah dem Kommissar gespannt nach. Er ging auf den Streifenwagen zu, der direkt vor dem Haus parkte. Dann drehte er sich noch einmal um.

„Dann waren sie es vielleicht zusammen. Der alten Freundschaft wegen. Gemeinsame Rache.“

Er zuckte vielsagend mit der Schulter. Emma lehnte sich lässig an die Haustür und versuchte, so gleichgültig wie möglich auszusehen. Sprenger warf ihr noch einen lauernden Blick zu, dann stieg er in den Wagen und fuhr zusammen mit seinem uniformierten Kollegen davon.

III


„Los, bring mich zurück in die Stadt.“

„Ich? Wie soll das gehen?“, fragte Ceyres überrascht und riss seinen Blick von der verlassenen Straße los.

„Fliegen natürlich. Diese Braut hat dir wohl dein Gehirn geklaut oder warum bist du neuerdings so schwer von Begriff?“

„Fliegen!? Bist du jetzt völlig verrückt? Ich kann doch nicht am helllichten Tag mal eben in die Stadt fliegen.“

„Nicht in die Stadt. Nur bis dorthin. Wenn du dicht über dem Boden fliegst, wird dich schon niemand entdecken. Bei dieser Scheißkälte ist doch niemand unterwegs. Was soll da schon schief gehen?“

„Vergiss es. Ich fliege dich nirgendwohin. Du kannst schön zurücklaufen und dir überlegen, wie ich das alles Emma erklären soll.“

„Das ist jawohl allein dein Problem. Ich kann doch nichts dazu, wenn du dich nicht an unsere Abmachung halten willst. Du stürzt dich immer weiter ins Unglück.“

„Jetzt hör endlich mit dieser Leier auf. Ich kann es nicht mehr hören. Es ist mein Leben und mein Fluch. Also lass mich die Sache auf meine Weise lösen.“

„Dann gehe ich eben zu ihr und löse das Problem auf meine Weise!“

Nora verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah Ceyres herausfordernd an.

„Du weißt doch gar nicht, wo sie wohnt.“

„Ich weiß aber, wo sie arbeitet. Da ist es ein Leichtes herauszufinden, wo sie wohnt.“

„Wag es nicht!“

Ceyres machte einen Schritt auf Nora zu. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr weiter zu drohen. Viel mehr musste er Emma finden, bevor Nora es tat. Und er war ihr einen Schritt voraus, denn immerhin wusste er, dass Emma bei ihrer Uroma am Stadtrand wohnte. Ihr Haus hatte sie ihm beschrieben. Er war sich sicher, dass er es finden würde. Allerdings wollte er lieber erst in der Dunkelheit fliegen. Aber er wusste, dass er nicht drumherumkommen würde, Nora in die Stadt zu bringen.

„Lass uns diesen dummen Streit beenden. Ich fliege dich jetzt in die Stadt und dafür lässt du Emma zufrieden“, sagte er sanft und mit einem Lächeln, soweit das mit seinen riesigen Reißzähnen, die bedrohlich aus seinen Mundwinkeln ragten, möglich war.

„Geht doch“, antwortete Nora selbstgefällig und schlang ihre Arme um Ceyres‘ Hals.

Als er vom Boden abhob, klammerte sie sich fester an ihn. Ceyres spürte, wie eine wohlige Wärme seinen Körper durchzog, als er daran dachte, wie Emma sich letzte Nacht auf ihrem gemeinsamen Flug an ihn geklammert hatte. Er musste sie so schnell wie möglich wiedersehen. Was, wenn sie wirklich dachte, dass er sie umbringen wollte?

Wie konnte ich auch nur so blöd sein und Noranas Gequatsche nicht sofort klarstellen? Die Einzige, die man hier umbringen sollte, ist Norana, dachte er verbittert und war kurz davor, sie in der Luft abzuschütteln, aber er brachte es nicht fertig. Vermutlich werde ich es irgendwann bereuen, diese Gelegenheit nicht genutzt zu haben, aber wenn ich sie jetzt töte, dann bin ich wirklich eine Bestie.

„Hey, flieg nicht so hoch. Mir ist sowieso schon arschkalt!“, rief Nora verärgert, als Ceyres immer höher aufstieg.

„Hier oben ist es aber sicherer. Falls uns jemand entdeckt, hält er mich vielleicht für einen großen Greifvogel oder einen Reiher, der den Weg nach Süden nicht gefunden hat.“

„Du spinnst doch. Ich will wieder runter.“

„Du kannst jederzeit loslassen!“, sagte er mit einem breiten Grinsen, das Nora mit einem Knurren beantwortete.

Kurz bevor sie die ersten Häuser der Stadt erreichten, setzte Ceyres zum Sturzflug an. Er spürte, wie sich Noras lange Fingernägel in sein Fleisch bohrten, während sie sich noch fester an ihn kralle, damit sie nicht herunterfiel. Gekonnt setzte Ceyres zur Landung auf einem brachliegenden Acker an. Er war froh, dass Nebel über dem Boden aufstieg und fühlte sich etwas sicherer.

„So, von hier aus darfst du laufen. Näher fliege ich garantiert nicht an die Stadt heran.“

„Und wo willst du den ganzen Tag über bleiben?“

„Ich verdrücke mich in den Wald.“

„Die anderen werden geschockt sein, wenn sie merken, dass du nicht mehr versteinerst.“

„Wer sagt denn, dass sie es erfahren müssen?“ Nora sah Ceyres fragend an. „Oder willst du es ihnen etwa erzählen?“

Nora öffnete ihren Mund, um Ceyres eine Antwort entgegenzuschleudern, schwieg dann jedoch. Sie wollte ihn nicht weiter reizen. Auch, wenn sie Emma am liebsten sofort getötet hätte, wusste sie, dass sie sie noch brauchen würden.

Und wenn dieses Menschenweib seinen Fluch erst einmal vollständig gelöst hat, dann wird er sicher auch nicht mehr so sehr an ihr hängen. Er wird drüber wegkommen, wenn ich sie töte. Schließlich ist es nur zu unserem Wohl. Er ist nicht der Typ, der seine Art ausrotten will.

„Also sehen wir uns bei Sonnenuntergang auf dem Friedhof!“, rief Nora zu Ceyres herüber, der bereits dicht über dem Boden dahinglitt und sich in Richtung des hinter ihnen liegenden Waldes entfernte.

Er hörte ihr nicht mehr zu, sondern dachte bereits darüber nach, wie er zu Emma kommen konnte.

Das Haus ihrer Uroma liegt am anderen Ende der Stadt. Ich könnte über die Felder fliegen, aber je weiter sich der Nebel zurückzieht, desto gefährlicher wird der Flug. Sicher ist sie auch gar nicht zu Hause. Sie wird zur Arbeit gegangen sein.

Ziellos streifte der Gargoyle durch das Unterholz. Der Waldboden war eiskalt unter seinen Füßen. Langsam bekam Ceyres Kopfschmerzen von dem Tageslicht. Seine Augen waren völlig überreizt. Obwohl es zwischen den dichten Bäumen wesentlich schattiger war als außerhalb des Waldes, schmerzten seine Augen.

Es hilft nichts. Ich muss bis zum Abend warten. Und dann muss ich zuerst zur Kapelle rüber, in der Hoffnung, dass niemand von den anderen bemerkt, was mit mir los ist. Nicht auszudenken, wenn sie direkt Jagd auf Emma machen würden.

Ceyres suchte sich einen Unterschlupf, in dem er den Tag gefahrlos verbringen konnte. Er legte sich zwischen zwei mächtige Fichten, die einem der vergangenen Herbststürme zum Opfer gefallen waren und deckte sich mit einigen Ästen und Laub zu. Ceyres schloss seine geröteten Augen und versuchte etwas zu schlafen. Doch bei jedem Knacken von kleinen Ästen oder dem Rascheln von Laub, das er vernahm, war er sofort wieder hellwach.


Das bunte Glas bebte, als Emma die Haustür ins Schloss knallte. Wutentbrannt stapfte sie ins Wohnzimmer.

„Wie kannst du nur so dämlich sein und diesem Kommissar von den Gargoyles erzählen?“, fuhr sie Kassandra an, die weiter auf dem Sofa saß. Sie sah zu ihr auf und fing sofort wieder an, laut zu schluchzen. „Entschuldige. Ich wollte nicht so grob sein“, sagte Emma etwas sanfter. „Aber ich kann nicht verstehen, wie du mich so in Bedrängnis bringen kannst.“

„Wenn es doch die Wahrheit ist.“

Emma setzte sich neben ihre Freundin und legte ihre Hände auf Kassandras.

„Es ist nicht wahr. Ceyres hat mit Marks Tod überhaupt nichts zu tun. Glaub mir doch. Ich war dabei. Ich musste alles mit ansehen.“

„Warum hast du ihm dann nicht geholfen? Bedeutet er dir so wenig? Ich hätte nie gedacht, dass du so skrupellos bist.“

„Das bin ich nicht, aber wie sollte ich Mark helfen, wenn Nora, also eigentlich Norana, wenn sie sich einfach auf ihn stürzt und ihm die Kehle zerbeißt?“

Kassandra starrte sie mit offenem Mund an. Emma dachte schon, sie wäre in eine Art Schockstarre verfallen, als Kassandra wild zu schreien anfing.

„Emma! Sei etwas einfühlsamer“, mahnte Omma Otti.

„Wie soll ich ihr diese Tragödie denn einfühlsam beibringen?“

Ottilie hielt Kassandra die Tasse mit dem Baldriantee hin. Der Tee war mittlerweile fast kalt. Wie in Trance nahm Kassandra die Tasse aus Ottilies Hand entgegen und trank sie in einem Zug leer.

„Du willst mir hier gerade sagen, dass die Blondine aus dem Café es geschafft hat, einen kräftigen Mann wie Mark mit bloßen Händen zu ermorden?“, fragte Kassandra mit zittriger Stimme. Emma konnte weiter den Zorn in ihren Augen sehen.

„Nein, Kassandra. Nicht die Blondine aus dem Café, sondern der Gargoyle, zu dem sie sich in der Abenddämmerung verwandelt. Sie ist eine von ihnen, verstehst du? Und sie ist eine Bestie. Sie ist nicht wie Ceyres. Sie will ihren Fluch nicht besiegen. Sie nutzt ihre Gestalt, um unschuldige Menschen zu ermorden. Sie hat sogar Vergnügen daran, andere leiden zu sehen.“

„Wie soll das denn gehen? Tagsüber Mensch und nachts ein Gargoyle? Es ist schon unglaublich genug, dass diese Bestien wirklich existieren, aber dass sie sich auch noch in Menschen verwandeln können, das ist wirklich zu viel.“

„Du musst mir glauben. Ich werde es dir beweisen, wenn es sein muss. Heute Nacht. Ich bin sicher, dass auch Norana wieder zum Friedhof kommt. Dann kannst du es mit eigenen Augen sehen.“

„Ich weiß gar nicht, ob ich das wirklich möchte.“

„Aber Rache willst du oder nicht? Rache für Marks Tod.“

„Ich will Gerechtigkeit. Deshalb habe ich dem Kommissar auch gesagt, wer für Marks Tod verantwortlich ist.“

„Ceyres ist es aber nicht. Alleine Norana ist dafür verantwortlich. Wenn wir zusammenhalten, können wir die Polizei vielleicht auch davon überzeugen, aber nicht, indem wir einen Gargoyle des Mordes beschuldigen.“

„Und wie dann?“

„Wir müssen sie davon überzeugen, dass Nora die Mörderin ist. Einen ersten Hinweis habe ich diesem Sprenger ja bereits gegeben. Wir können nur hoffen, dass sie DNA-Spuren von ihr an der Leiche finden oder Blutspuren. Ich habe sie immerhin an der Schulter verletzt, als sie mich töten wollte. Falls dieser Kommissar dich nach Nora fragt, solltest du auf alle Fälle sowas sagen, wie, dass sie Mark schon immer im Café angehimmelt hat, wenn ihr beide zusammen da gewesen seid. Das lenkt den Verdacht noch mehr auf sie. Kassandra?“

Emma rüttelte ihre Freundin an der Schulter. Kassandra schien eingeschlafen zu sein. Noch einmal versuchte Emma, sie wachzurütteln. Diesmal etwas stärker, doch Kassandra hielt ihre Augen weiter geschlossen. Emma nahm die leere Teetasse aus ihrer Hand und roch daran. Angewidert rümpfte sie ihre Nase.

Mit der Mischung kann man einen Elefantenbullen umhauen. Was hat Omma Otti sich nur dabei gedacht?

Emma nahm eine Decke aus dem Schrank und breitete sie über Kassandra aus, dann ließ sie sie alleine im Wohnzimmer zurück.

Emma ging den Flur entlang. Als sie an Ottilies Schlafzimmer vorüberkam, warf sie einen Blick durch die halbgeöffnete Tür. Ihre Uroma lag wieder auf dem Bett und hielt ein Nickerchen.

Komisch. Sonst hat sie nie tagsüber geschlafen. Anscheinend wird sie doch langsam alt. Hoffentlich geht es ihr nicht schlecht, weil ich dieses ganze Unheil heraufbeschworen habe. Es scheint sie doch alles mehr mitzunehmen, als sie zugeben will.

Leise schloss Emma die Tür und ging hinauf in ihr eigenes Schlafzimmer. Sie nahm den Samtbeutel mit dem Siegelring aus ihrer Hosentasche und setzte sich in die Fensterbank. Emma sah sich den Ring genau an. Ehrfürchtig fuhr sie mit ihren Fingern über das filigrane Efeublatt, das auf der Basis aus Rosenquarz aufgebracht war. Sie spürte die feine Maserung unter ihren Fingern und fragte sich, wie sich das Efeublatt über all die Jahrhunderte so gut gehalten haben konnte. Es wirkte, als wäre es soeben von einer Ranke geschnitten worden. Emma griff an ihr Dekolleté. Erst, als sie ihre glatte Haut unter ihren Fingern spürte, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie ihr Amulett nicht mehr trug. Zu gerne hätte sie beide Schmuckstücke nebeneinander gesehen.

Vielleicht wüsste ich dann, wie ich Ceyres weiter helfen kann. Wie ich seinen Fluch lösen kann. Ob er das Amulett noch trägt? Und wo er wohl gerade ist? Ich hoffe, dass er zurück auf die Burg gegangen ist. Alles andere wäre viel zu gefährlich. Oder ist er etwa bei Norana? Schmieden sie schon neue Mordpläne?

„Sei nicht albern, Emma. Ceyres würde dir nie etwas antun!“, rief sie sich laut zur Ordnung.

Auch, wenn sie ganz genau gehört hatte, wie Ceyres Norana erlaubt hatte, sie zu töten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, wusste sie tief in ihrem Inneren, dass nichts Wahres in seinen Worten liegen konnte.

Wer sagt, dass dieser Moment jemals kommen wird? Ceyres wird es sicher zu verhindern wissen. Hat er das alles nur gesagt, weil er Norana noch braucht? Aber wofür?

Emma drehte das Efeu-Siegel weiter zwischen ihren Fingern hin und her. Das goldene Blatt schimmerte im Licht der Mittagssonne. Sie blickte aus dem Fenster, ließ ihren Blick über die kahlen Felder wandern und versuchte, sich auf Ceyres zu konzentrieren. Sie wollte wissen, wo er war, ob er in Sicherheit war. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht erspüren.

Vielleicht war das auch etwas viel verlangt, dachte sie mit einem Seufzer. Vor allem, weil ich mein Amulett nicht mehr trage. Ich fühle mich auf einmal so leer, als wären meine Kräfte mit meinem Amulett verschwunden. Ob der Ring ein Ersatz ist?

Emma sprang aus der Fensterbank und suchte in ihrer Reisetasche nach der Silberkette, die Mark ihr vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Als sie sie gefunden hatte, nahm sie den Herzanhänger der Kette ab und zog stattdessen den Ring auf. Sie legte sich die Kette um den Hals und sofort spürte sie, wie sich die Kraft des Ringes in ihrem Körper ausbreitete.

Es ist das Efeublatt. Es hat magische Kräfte. Könnte der Ring mit meinem Amulett zusammen stark genug sein, den Fluch zu lösen? Aber wie müssen sie zusammengebracht werden? Sie beide nur zu besitzen, wird vermutlich nicht helfen.

Sie war zu müde, um über eine mögliche Lösung nachzudenken. Emma schlenderte nach unten in die Küche, wo Ottilie in mehreren Kochtöpfen herumrührte.

„Hast du dich etwas ausgeruht?“, fragte Emma und spähte neugierig in einen der Töpfe.

„Ein wenig. Aber ich bin immer noch so unendlich müde. Ich weiß gar nicht, was in der letzten Zeit mit mir los ist.“

„Du bist nicht mehr die Jüngste. Es ist normal, dass man in deinem Alter auch mal ein Nickerchen macht.“

Ottilie nickte stumm. Sie wusste, dass Emma recht hatte, aber gleichzeitig spürte sie auch, wie ihre Kraft von Tag zu Tag schwand.

„Deck bitte den Tisch und wecke Kassandra. Ich habe uns einen kräftigen Eintopf gekocht. Der sollte uns alle wieder auf die Beine bringen.“

Kassandra war auch während des Essens noch schläfrig, aber immerhin schrie sie nicht mehr hysterisch. Emma hoffte, dass sie das Schlimmste überstanden hatte, aber, wenn sie daran dachte, dass Mark nicht mehr zurückkommen würde und wie schrecklich der Anblick seiner Leiche gewesen war, dann bezweifelte sie, dass Kassandra schnell über seinen Tod hinwegkommen würde. Sie hoffte nur, dass sie sie davon überzeugen könnte, dass Ceyres nichts mit diesem bestialischen Mord zu tun hatte, aber sie verzichtete darauf, das Thema beim Essen anzuschneiden. Stattdessen löffelte sie ihren Eintopf, während sie immer wieder einen Blick zu Kassandra hinüberwarf. Nach dem Essen zogen sich alle Drei noch einmal zurück. Emma kroch unter ihre Bettdecke und fiel sofort in einen unruhigen Schlaf. Sie schlug ihren Kopf unruhig hin und her und fuchtelte wild mit ihren Armen. Als sie am späten Nachmittag aufwachte, konnte sie sich nicht erinnern, was sie geträumt hatte, aber sie war schweißgebadet und fühlte sich wie gerädert. Nach einer heißen Dusche und in frische Klamotten gehüllt, fühlte sie sich etwas besser. Ottilie und Kassandra saßen bereits am Kaffeetisch, als Emma zu ihnen ins Wohnzimmer kam.

„Glaubst du mir, dass Nora auch ein Gargoyle ist?“, fragte Emma hoffnungsvoll.

Kassandra sah sie nachdenklich an.

„Wie kann ich dir das nur glauben? Sie ist eine ganz normale Frau. Ich habe sie schon oft im Café gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie zu so einer Bestie werden sollte.“

„Sie verwandelt sich in der Dämmerung. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

„Hmm. Ich weiß nicht.“

„Glaubst du mir, wenn du es mit eigenen Augen siehst?“

„Das müsste ich dann wohl.“

„Dann fahren wir zum Friedhof. Ich wette, dass sie sich dort heute blicken lässt.“

„Ich weiß nicht. Meinst du, dass wir da so einfach hin können? Die Polizei hat doch alles abgesperrt.“

„Ich muss sowieso mein Auto holen. Und dann sehen wir weiter.“

„Kannst du das nicht morgen machen?“

„Nein. Ich brauche es. Ich muss Ceyres suchen.“

IV

Langsam versank die Sonne glutrot am Horizont, während der Nebel sich auf die Felder senkte. Ceyres stand wie angewurzelt mitten auf einem Acker vor der Stadt und starrte in das gleißende Sonnenlicht. Seine Augen schmerzten, dennoch war er nicht fähig, seinen Blick abzuwenden. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, noch einmal einen Sonnenuntergang zu sehen. Er hatte ganz vergessen, wie faszinierend es war, wenn die Sonne den gesamten Horizont in einen warmen Orangeton tauchte. Erst, als die Sonne fast vollständig versunken war, bemerkte Ceyres, dass er immer noch wie versteinert da stand. Erschrocken begann er mit seinen mächtigen Flügeln zu schlagen und erhob sich in den Nachthimmel.

Hoffentlich hat noch niemand bemerkt, dass ich nicht an der Kapelle bin. Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, stundenlang die Sonne anzustarren, wie ein Werwolf den Mond!? Aber es hat sich definitiv gelohnt. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich und zufrieden gewesen bin. Ich muss unbedingt weiter kämpfen, weiter nach einer Lösung für diesen verdammten Fluch suchen. Nur so kann ich wieder richtig glücklich werden. Es reicht mir nicht, wieder das Sonnenlicht sehen zu dürfen, nein, ich muss es wieder als Mensch sehen können, erst dann werde ich voll und ganz zufrieden sein. Auch, wenn meine Zeit auf dieser Erde dann wieder begrenzt ist. Solange ich diese Zeit mit Emma verbringen kann, ist mir alles andere egal.

Der Lärm, der ihm aus der Stadt entgegenschlug, riss Ceyres aus seinen Gedanken.

Was ist hier nur los? So laut ist es doch sonst nie. Sind die Menschen alle verrückt geworden?

Ceyres stieg instinktiv höher in den Nachthimmel auf. Der Lärm wurde gedämpfter, aber er war immer noch unerträglich für das feine Gehör des Gargoyles. Er flog direkt zum Friedhof herüber. Der Lärm steigerte sich immens. Schreie. Sirenen. Hupen. Quietschende Autoreifen. Alles durcheinander. Ceyres dröhnte der Kopf, als er den Friedhof erreichte. Und dann verstand er, was die aufgebrachten Leute auf der Straße riefen: Bestien und Monster waren die Worte, die er am häufigsten hörte.

„Eine riesige Fledermaus! Pass auf, dass sie dich nicht erwischt!“, schrie eine junge Frau hysterisch, als einer der Gargoyles über sie hinwegflog.

„Das ist keine Fledermaus! Lauf! Das ist ein Gargoyle! Ich habe so ein Viech im Internet gesehen! Aber dass es sie wirklich gibt ...“

Die Stimmen wurden von den herannahenden Sirenen der Polizeiautos erstickt.


„Es ist unglaublich. Einfach unglaublich. Du hattest die ganze Zeit recht!“

Immer wieder sah Kassandra hektisch zwischen Emma, die dicht neben ihr stand, und dem von Gargoyles besiedelten Nachthimmel hin und her. Emma dagegen wandte ihren Blick keine Sekunde vom Himmel ab. Sie versuchte verzweifelt, Ceyres unter den über der Kapelle kreisenden Gargoyles ausfindig zu machen.

„Immerhin glaubst du mir jetzt. Allerdings wäre es mir lieber, wenn nicht die ganze Welt Bescheid wüsste. Ab jetzt ist Ceyres in Gefahr und wir auch.“

„Wir? Warum wir?“, fragte Kassandra verwundert.

„Weil die Gargoyles jetzt erst recht hinter uns her sein werden. Ich habe sie verraten. Also, denke ich zumindest.“

„Aber Mark hat Ceyres doch vorher auch gesehen.“

„Ja, aber das war bei uns auf dem Balkon. Hier am Friedhof sind sie bisher niemandem aufgefallen, obwohl sie die ganze Zeit hier waren. Selbst ich habe lange gebraucht, um sie endlich zu bemerken. Aber jetzt hat sich irgendetwas verändert. Jeder kann sie plötzlich mühelos sehen.“

Um sie herum herrschte weiter ein höllischer Lärm. Sie standen direkt neben Emmas Auto. Kassandra lehnte auf der geöffneten Fahrertür ihres eigenen Wagens. Gerade, als sie am Friedhofsparkplatz angekommen waren, hatte das Schauspiel seinen Anfang genommen. Ein Gargoyle nach dem anderen war in den Nachthimmel aufgestiegen. Emma war dieses Schauspiel mittlerweile nur allzu vertraut, allerdings hatte es nie solch ein Chaos ausgelöst. Sie überlegte die ganze Zeit, was plötzlich anders war. Die Gargoyles steigen anscheinend schon seit Jahrhunderten Abend für Abend von der Kapelle aus in den Nachthimmel auf. Zu ihnen gesellten sich noch andere dieser Kreaturen, wo auch immer sie in der Nacht herkamen. Aber nie hatte Emma entsetze Schreie von ihren Mitmenschen gehört. Und dann fiel es ihr auf. Niemand um sie herum hatte je in den Himmel gesehen, wenn die Gargoyles erwacht waren. Sie alleine hatte da gestanden und den Ungeheuern zugesehen, wie sie sich über der Kapelle zusammengerottet hatten, bevor sie in Richtung der Felder und des Bergkamms davongeflogen waren.

Warum nur nehmen die Leute ausgerechnet jetzt Notiz von ihnen? Was hat sich geändert? Kann es sein, dass Sidonia dahintersteckt? Oder war es mein Amulett? Haben wir mit der Schwächung von Ceyres‘ Fluch ein anderes Unglück losgetreten?

Emma riss ihren Blick von den fliegenden Gargoyles los, als sie aus dem Augenwinkel ein blaues Licht näherkommen sah. Sie drehte sich um und sah, wie fünf Streifenwagen dicht hintereinander aus der Innenstadt angerast kamen. Als eine Gruppe von Menschen ihnen den Weg zum Friedhof versperrte, da sie mitten auf der Straße standen und in den Himmel starrten, schaltete der vordere Wagen seine Sirene ein. Blitzschnell sprangen die sowieso schon verschreckten jungen Leute auseinander und flüchteten sich auf den Bürgersteig zu beiden Straßenseiten. Mit einer Vollbremsung kamen die Einsatzwagen schließlich direkt vor dem Friedhof zum Stehen und die Beamten sprangen mit gezogenen Waffen heraus. Emma sah wieder in den Nachthimmel hinauf. Der Mond war hell in dieser klaren klirrend kalten Nacht. Angestrengt versuchte Emma, Ceyres unter den Gargoyles auszumachen, doch sie konnte ihn nicht entdecken. Auch von den anderen ihr bekannten Gargoyles konnte sie keinen identifizieren. Sie waren zu weit entfernt und flogen zu schnell durcheinander, als dass sie einem von ihnen länger hätte mit ihrem Blick folgen können.

Ceyres, wo bist du nur? Ich hoffe, es geht dir gut.

 

Ceyres war fast bei den anderen an der Kapelle angekommen, als er unter sich eine halbe Armee aus Polizisten entdeckte, die alle mit gezogener Waffe am Boden knieten und ihn ins Visier zu nehmen schienen. Er drehte, so schnell er konnte, ab, als bereits eine Kugel aus der Pistole eines Polizisten dicht an ihm vorbei pfiff. Panisch schlug er mit seinen Schwingen und gewann schnell an Höhe. Seinen Blick weiter auf den Erdboden gerichtet, beeilte er sich, wieder vom Friedhof wegzukommen. Nach wenigen Metern stieß er in der Luft gegen ein Hindernis. Der unerwartete Aufprall brachte den Gargoyle ins Trudeln und er stürzte einige Meter dem Erdboden entgegen, ehe er sich wieder fing.

„Scheiße, verdammt! Wo warst du?“, brüllte Killob ihn an.

Ceyres wusste sofort, dass Killob sauer auf ihn war und er sich in Acht nehmen musste. Es kam nur selten vor, dass sein bester Freund wirklich in Wut geriet, aber wenn er es tat, dann wurde der sonst so sanfte Gargoyle schnell zu einer mordenden Bestie.

„Ich komme vom Friedhof, wie immer“, stammelte Ceyres, als er neben Killob flog.

„Du warst aber nicht bei Sonnenuntergang da.“

Ceyres antwortete nicht. Er vollführte einige kräftige Flügelschläge, um einen größeren Abstand zwischen sich und Killob zu bringen und um noch schneller von der Stadt wegzukommen. Doch Killob tat es ihm gleich und holte schloss schnell wieder zu ihm auf. Schweigend flogen sie einige Kilometer nebeneinander her, bis Ceyres zum Sturzflug ansetzte und auf einer Lichtung landete.

„Wenn du glaubst, dass du mich verarschen kannst, Bursche, dann hast du dich aber sowas von getäuscht“, schallte Killobs aufgebrachte Stimme durch den Wald und in Ceyres‘ Ohren.

„Beruhig dich doch erstmal.“

„Ich soll mich beruhigen? Nach allem, was du uns allen angetan hast?“ Killob stieß mit seinem Kopf an Ceyres‘ Brust, wie ein Stier, der versucht, einen Torero auf die Hörner zu nehmen. Überrascht von Killobs Kraft, taumelte Ceyres zurück. „Also, wo zur Hölle warst du? Und wie erklärst du dieses Chaos in der Stadt?“

„Keine Ahnung. Was ist da überhaupt los?“

„Was da los ist? Unser Schutzschild ist verschwunden. Die Menschen können uns sehen.“

„Ach du heilige …“

„Oh ja, du sagst es. Eine verdammte Katastrophe ist das. Und das haben wir alles nur dir zu verdanken. Also, was hast du getan, dass der Schutzschild zusammengebrochen ist? Sieh zu, dass du ihn wieder aufbaust.“

„Das kann ich nicht. Ich wusste ja nicht einmal, dass er zerstört worden ist.“

Killob stieß einen tiefen Wutschrei aus und tigerte aufgeregt auf der Lichtung herum. Ceyres setzte sich auf den kalten Waldboden und legte sein Kinn auf seine Unterarme. Er fühlte sich erschöpft. Seitdem er am vergangenen Abend auf seinem Podest an der Kapelle erwacht war, hatte er nicht mehr geschlafen. Er war den gesamten Tag wach gewesen. Auch, wenn er genau genommen seit Jahrhunderten nicht mehr geschlafen hatte, hatte die Versteinerung am Tag doch wie eine Art erholsamer Schlaf gewirkt. Und genau diese Erholung fehlte ihm nun.

„Es muss damit zu tun haben, dass ich bei Sonnenaufgang nicht versteinert bin,“ sagte Ceyres so leise, als würde er mit sich selbst sprechen, doch Killob hatte ihn gehört.

„Du bist was? Was soll das heißen? Wie kannst du nicht versteinert sein!?“

„So, wie ich es gesagt habe. Ich bin einfach wach geblieben und beweglich. Ich bin nicht zu meinem Platz an der Kapelle zurückgekehrt.“

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Killob erstaunt und neugierig zugleich.

„Ich habe gar nichts gemacht. Emma war es. Verstehst du? Sie ist die Eine, sie ist es wirklich. Sie hat mir ihr Amulett gegeben und als ich es um den Hals gelegt habe, ging dieser ganze Spuk los.“ Killob starrte ihn mit offenem Mund an. Er lief nicht mehr ziellos auf der Lichtung umher, sondern stand wie angewurzelt vor ihm. „Ich habe Sidonia gesehen,“ sagte Ceyres schließlich ehrfürchtig.

„Nein! Diese alte Hexe lebt immer noch?“

„Nein, Killob. Sie ist mir erschienen.“

„Wie ein Geist?“

„So ähnlich. Plötzlich war sie da. Sie hat nach dem Amulett gegriffen und dann war sie so schnell wieder verschwunden, wie sie erschienen war.“

„Und dann? Was ist dann passiert?“

„Nichts. Ich, also Emma und ich, wir waren in meinem Versteck – also in einem Versteck. Ich habe nicht gemerkt, dass etwas anders ist. Erst, als ich in das Sonnenlicht getreten bin, da war es offensichtlich.“

„Und wo ist dieses Versteck?“

„Das kann ich dir nicht sagen, Killob.“

„Vertraust du mir etwa nicht mehr?“

„Das ist es nicht, aber...“

„Aber was?“

„Ach nichts. Es ist sowieso egal. Norana hat es sowieso entdeckt. Auf der Burg. In der Ruine im Verlies.“

„Du versteckst dich da, wo dir dieses Schicksal überhaupt erst angetan wurde? Das nenn ich mutig. Ich wäre im Leben nicht mehr fähig, dieses Verlies zu betreten.“

„Es ist der einzige Ort, an dem ich ungestört sein kann. Oder wohl eher konnte, denn Norana wird mich jetzt auch dort jeder Zeit nerven.“

„Was willst du jetzt tun? Ich meine, tagsüber? Wo willst du dich dann verstecken?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es beim besten Willen nicht.“

„Norana teilt sicher gerne ihr Bett mit dir“, sagte Killob mit einem süffisanten Lachen.


Ein Schuss nach dem anderen hallte durch die Nacht. Emma stand nur noch da und starrte in den Himmel.

„Kassandra, steig in deinen Wagen. Wir müssen hier weg!“, rief Emma plötzlich panisch und rannte zu ihrem eigenen Auto herüber. Während sie sich ihrem Kleinwagen näherte, fischte sie den Autoschlüssel aus ihrer Hosentasche. Dann sah sie sich noch einmal zu Kassandra um, doch die rührte sich keinen Millimeter. Sie stand immer noch wie erstarrt da, ihren Blick in den Himmel gerichtet. „Kassandra! Schnell!“, rief Emma, diesmal lauter. Doch Kassandra reagierte nicht. Emma rannte zurück zu ihrer Freundin und packte sie an der Schulter. Erschrocken fuhr Kassandra zusammen. Endlich riss sie sich von den Gargoyles los.

„Schnell, setz dich in dein Auto und fahr los. Wir müssen hier weg.“

„Warum?“

„Ich habe Nora gesehen. Also Norana. Verstehst du? Die Mörderin von Mark. Und sie wird auch uns töten wollen. Dich, weil sie weiß, dass du mit Mark versuchen wolltest, die Gargoyles auszulöschen und mich, weil sie mich aus dem Weg haben will, damit sie Ceyres kriegt.“

„Aber ich sehe keine Frau bei den Gargoyles.“

„Glaub mir einfach.“

„Und wo soll ich hinfahren?“

„Fahr einfach, so schnell du kannst, nach Hause und schließ die Wohnung ab. Fahr nicht zu Mark, fahr in deine eigene Wohnung. Du hast sie doch noch, oder!?“

„Ja, klar. Aber kann ich nicht lieber mit dir mitkommen?“

„Nein. Wir müssen uns aufteilen. Wenn Norana nur eine von uns entdeckt, ist es einfacher zu fliehen, als wären wir zusammen.“

Kassandra sprang ohne weiteren Protest in ihr Auto und schlängelte sich zwischen den Polizeiwagen entlang. Schnell entfernten sich die Rücklichter ihres Wagens in Richtung Innenstadt. Emma warf noch einen kurzen Blick an den Himmel, doch sie konnte Norana so schnell nicht wiederfinden.

Hoffentlich lauert sie nicht schon irgendwo hier am Boden und fällt gleich über mich her, hoffte Emma, als sie die Tür ihres Wagens aufschloss.

Sie hörte weitere Schüsse durch die Nacht hallen und drehte sich erneut um, während sie die Wagentür öffnete und sich auf den Fahrersitz schob. Ein Gargoyle schien getroffen zu sein, denn er trudelte und stürzte irgendwo hinter dem Friedhof zu Boden. Emma schloss die Fahrertür und verriegelte sie von innen, während sie den Motor startete, ihren Blick weiter auf das Treiben über der Kapelle gerichtet. Kaum, dass der verwundete Gargoyle vom Himmel gestürzt war, flogen die anderen Gargoyles ihm nach. Der Himmel über der Kapelle war von einer Sekunde auf die andere leergefegt. Kein einziger Gargoyle war mehr zu sehen. Die Menschen auf der Straße verstummten sogleich. Nur eine weitere Salve von Schüssen zerriss die Stille der Nacht. Emma trat aufs Gas und raste vom Parkplatz hinunter. Sie nahm nicht den direkten Weg in die Innenstadt, sondern schlängelte sich durch die engen Straßen der Wohngebiete und steuerte dann auf die Stadtgrenze zu. Immer wieder warf sie abwechselnd einen kurzen Blick in den Rückspiegel und die Außenspiegel. Doch niemand folgte ihr. Kein Gargoyle war am Himmel hinter ihr zu sehen. Und auch vor hier lag nur der dunkle Nachthimmel mit einzelnen funkelnden Sternen. Emma zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände krallten sich eiskalt und zugleich schweißnass um das Lenkrad. Sie trat weiter aufs Gas und raste regelrecht durch das Neubaugebiet. Die Fenster der modernen Bungalows und mediterran anmutenden Stadtvillen lagen fast alle dunkel da. Emma warf einen kurzen Blick nach links, bevor sie nach rechts auf die Hauptstraße abbog und die letzten Kilometer bis nach Hause durch den aufziehenden Nebel raste.

„Omma? Wo bist du?“, rief Emma, als sie mit dem Handy in der einen Hand und dem Haustürschlüssel in der anderen in den dunklen Flur trat. „Omma?“

Doch Ottilie antwortete nicht. Emma zuckte zusammen, als die Haustür mit einem Knall ins Schloss fiel. Der Luftzug, den Emma in ihrem Gesicht spürte, ließ ihr sofort Gänsehaut auf den Armen hinaufkriechen. Sie rannte durch den schmalen Flur in das angrenzende Wohnzimmer. Auch hier lag alles dunkel und verlassen da. Dann fiel Emmas Blick auf die offen stehende Terrassentür. Sie lief hinaus und stieß auf der Terrasse mit ihrer Uroma zusammen. Ottilie strauchelte, doch Emma konnte sie gerade noch am Arm festhalten und so verhindern, dass die alte Dame stürzte.

„Omma! Was machst du denn hier? Komm sofort rein!“ Emma zog Ottilie hinter sich her ins Haus. Schnell schloss sie die Terrassentür, zog die Vorhänge vor und ließ die Rollläden herunter. „In der Stadt ist die Hölle los!“, sagte Emma mit einem Seufzer und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Ich weiß. Das Geheul der Polizeisirenen hat man bis hierher gehört. Und die Gargoyles waren auch nicht zu übersehen. Ich wusste nicht, dass so viele Gargoyles in der Stadt leben.“

„Und ich wusste nicht, dass jeder sie sehen kann.“

„Ihr habt in der vergangenen Nacht Sidonias Fluch erschüttert. Dadurch sind die Gargoyles wahrscheinlich für alle Menschen sichtbar geworden. Anders kann ich mir dieses Phänomen zumindest nicht erklären.“

„Das ist schrecklich. Sie werden sie alle töten. Oder die Gargoyles töten uns. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“ Emma vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Ach du Scheiße, ich habe Kassandra völlig vergessen!“, rief sie im nächsten Moment.

Ottilie sah sie etwas verwirrt an. Emma tippte eine Nachricht an Kassandra in ihr Handy. Sie hatten abgesprochen, dass Kassandra sich bei Emma melden würde, sobald sie Zuhause in Sicherheit wäre, aber bisher hatte sie sich nicht gerührt. Nervös schob sie ihr Handy von einer Hand in die andere und wieder zurück. Von Minute zu Minute wurde sie nervöser, denn Kassandra antwortete nicht.

„Beruhig dich doch, Emma. Sie wird sich sicher bald melden.“

„Und wenn nicht? Ich habe Norana eindeutig gesehen. Was, wenn sie ihr gefolgt ist? Oder ihr irgendwo aufgelauert hat?“

„Dann kannst du es jetzt auch nicht mehr ändern. Du kannst da jetzt nicht raus. Es ist viel zu gefährlich.“

Emma drückte auf den Schalter für den Rollladen der Terrassentür. Mit einem Quietschen setzte er sich in Bewegung. Emma duckte sich und stieg unter dem sich öffnenden Rollladen hindurch. Sie griff nach der Schachtel, die in der Fensterbank auf der Terrasse lag und zündete sich eine Zigarette daraus an. Nervös zog sie daran und stieß den Rauch mit einem ausgedehnten Seufzer in die kalte Nachtluft. Ihre Hand zitterte. Emma konnte immer noch hören, wie Polizeiautos mit heulenden Sirenen durch die Stadt rasten. Sie schaltete ihr Handy wieder ein, dass sich schon zum achten Mal auf Standby geschaltet hatte, seitdem sie ihre Nachricht an Kassandra abgeschickt hatte. Doch auch jetzt war noch keine Antwort von ihr auf dem Display zu sehen. Emma hielt es einfach nicht mehr aus. Die Zigarette hatte sie nicht einmal halb aufgeraucht, als sie sie auf die Terrasse schnippte und hastig austrat. Entgegen ihrer Gewohnheit ließ sie die Kippe auf den Waschbetonplatten liegen.

„Egal was du sagst, Omma, ich muss zu Kassandra. Sie hätte sich längst bei mir melden müssen.“

Ottilie stand von der Couch auf und wollte gerade gegen Emmas Vorhaben protestieren, setzte sich dann jedoch wieder, als Emma abwehrend mit der Hand fuchtelte.

„Ich bin bald wieder da. Du brauchst aber nicht auf mich zu warten“, sagte Emma und warf sich ihre Jacke wieder über. „Und mach dir keine Sorgen!“, rief sie noch aus dem Flur, dann warf sie die Haustür hinter sich ins Schloss und eilte zu ihrem Auto.

„Das darf doch nicht wahr sein ...“

Entsetzt stellte sie fest, dass die Scheiben an ihrem Auto bereits leicht von Frost bedeckt waren. Emma wühlte in ihrem Handschuhfach nach dem Eiskratzer und machte sich daran, ihre Scheiben zu enteisen.


„Hier verkriecht ihr Feiglinge euch! Eigentlich solltet ihr Seite an Seite mit uns kämpfen und unseren toten Bruder rächen?“, schimpfte Morlox, während er sich auf den Waldboden niederließ.

„Tot?“, rief Killob schrill.

„Rächen?“, fragte Ceyres entsetzt.

„Wer ist tot?“, wollte Killob wissen.

„Einer von den Gargoyles, die jede Nacht über den Burgberg zu uns kommen. Keine Ahnung, wie er hieß.“

„Das darf doch nicht wahr sein! Da siehst du, was du angerichtet hast!“, entfuhr es Killob und er gab Ceyres einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Au! Hör auf mit dem Scheiß. Woher sollte ich wissen, dass so etwas passiert? Ich wollte doch bloß diesen dämlichen Fluch loswerden.“

„Und damit hast du uns alle ins Unglück gestürzt.“

„Du bist für den Scheiß hier verantwortlich?“ Morlox knurrte grimmig. „Ich wusste doch, dass du uns schaden würdest. Ich hätte dieses Weib töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Aber jetzt musst du wenigstens dran glauben, Ceyres! Dann ist dieser Spuk endlich vorbei.“

„Dann komm her!“ Ceyres sprang auf die Füße und forderte Morlox zum Angriff heraus. „Nun komm endlich her. Ich werd es dir auch leicht machen. Dann habe ich es endlich hinter mir und ihr könnt sehen, wie ihr alleine wieder aus diesem Chaos hier herauskommt. Mich geht das Ganze dann nichts mehr an.“

Morlox verpasste Ceyres einen Kinnhaken. Die Wucht seiner Faust war so groß, dass Ceyres‘ Kopf zur Seite schleuderte. Er wehrte sich nicht mit einem einzigen Schlag. Morlox holte erneut aus und traf diesmal direkt auf Ceyres‘ Unterkiefer. Blut rann aus seinem Mundwinkel, doch Ceyres blieb wie angewurzelt stehen.

„Jetzt reicht es aber!“, schrie Killob nun und drängte sich zwischen seine beiden Freunde. „Morlox, hör auf oder willst du ihn wirklich umbringen? Er hat uns diesen ganzen Mist eingebrockt, dann soll er uns auch wieder aus diesem Chaos herausbringen. Lassen wir ihm die Chance, um das, was er begonnen hat, auch zu Ende zu bringen.“

Doch Morlox hörte Killob nicht zu. Er holte zu einem weiteren Schlag aus, als er im nächsten Moment wie ein nasser Sack in sich zusammensackte. Norana hatte ihm im Landeanflug einen heftigen Tritt in den Magen verpasst und den stämmigen Gargoyle so zu Fall gebracht. Morlox stieß einen erstickten Schrei aus.

„Da siehst du, was du uns eingebrockt hast!“, schrie nun Norana und verpasste Ceyres einen Stoß gegen die Brust. Der Gargoyle blieb unbeeindruckt stehen.

„Lass, Norana, er sieht es sowieso nicht ein“, sagte Killob und winkte resignierend ab. „Du bist ja völlig mit Blut verschmiert! Bist du verletzt?“

„Nein, das ist nicht mein Blut.“

„Sag bloß, du hast ohne uns gegessen!? Und das in diesem Höllentreiben in der Stadt.“

„Nur gejagt, leider nicht gegessen. Dieses Miststück hat sich leider etwas zu heftig gewehrt und als eine ganze Gruppe von Menschen aufgetaucht ist, um ihr zu helfen, musste ich leider aufgeben.“

„Sag nicht, dass du Emma angegriffen hast!“ Ceyres war sofort hellhörig geworden, als Killob bemerkt hatte, dass Noranas Arme und Pranken mit Blut beschmiert waren.

So sehr er sich auch vor wenigen Minuten noch gewünscht hatte, dass sein Leben endlich beendet wurde, so sehr spürte er nun wieder die Hoffnung auf Erlösung in sich, sobald er nur an Emma dachte. Gleichzeitig spürte er aber auch große Angst. Angst, sie zu verlieren. Nicht, weil sie ihn dann nicht mehr erlösen könnte, sondern weil er spürte, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte. „Sag mir, dass du nicht von Emma redest!“, rief er aufgebracht und packte Norana an der Kehle, sodass ihr die Luft wegblieb und sie nur noch ein Krächzen herausbrachte.

„Lass sie los, Ceyres! Das macht doch keinen Sinn. Erst haben es die Menschen auf uns abgesehen und dann gehen wir uns auch noch gegenseitig an die Gurgel. Da hätten wir uns auch gleich in der Stadt abschlachten lassen können.“

Ceyres lockerte seinen Griff. Norana ging sofort kreischend auf ihn los. Als sie zum Sprung auf ihn ansetzte, hob Ceyres seinen Arm und Norana prallte direkt dagegen. Sie fiel zu Boden und rang nach Atem. Ceyres drehte ihr den Rücken zu und schritt zum Rand der Lichtung.

„Du solltest besser für eine Weile verschwinden“, flüsterte Killob seinem Kumpel zu. „Kannst du dich irgendwo anders verstecken als auf der Burg?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe eine Idee, aber ich weiß noch nicht, ob sie funktioniert.“

„Du musst es probieren. Bei uns kannst du nicht bleiben. Die anderen werden dich lynchen, wenn sie kapiert haben, dass du diesen ganzen Schlamassel ausgelöst hast.“

Killob lotste Ceyres einige Schritte in den Wald. Er drehte sich um, doch Norana und Morlox nahmen keine Notiz von ihnen. Drei weitere Gargoyles waren soeben auf der Lichtung gelandet und unterhielten sich mit Morlox und Norana.

„Du willst zu ihr, nicht wahr?“

„Ja, aber sag es den anderen nicht. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll.“

„Und du meinst, dass du bei einem Menschen sicher bist?“

„Nicht bei irgendeinem Menschen, sondern bei Emma. Sie ist etwas Besonderes und das weißt du. Immerhin hat sie es geschafft, das Sidonia mir erschienen ist und dass ich nicht mehr versteinere.“

„Ich hoffe nur, dass sie noch mehr drauf hat. Ich versuche, dir den Rücken freizuhalten. Sieh zu, dass du hier wegkommst, bevor die anderen etwas merken.“

„Danke, Kumpel. Ich bringe die Sache wieder in Ordnung, versprochen. Es war niemals meine Absicht, euch mit in Gefahr zu bringen.“

„Das weiß ich, Ceyres. Und jetzt hau endlich ab!“

Killob lächelte etwas schräg, dann gab er Ceyres noch einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, ehe er zu den anderen Gargoyles zurückkehrte. Ceyres schlich sich von der Lichtung weg, tiefer in den Wald hinein. Er warf noch einen Blick zurück. Als er sicher war, dass ihm keiner folgte, begann er zu rennen. Er schlängelte sich zwischen den Kiefern und Buchen entlang über den bemoosten unebenen Waldboden. Immer wieder spürte er die Dornen von Brombeerranken unter seinen ledrigen Fußsohlen, doch er ignorierte den Schmerz. Als er gerade zwischen zwei alten Bäumen hindurch trat, hörte er ein Rascheln zwischen den Eichen vor sich. Ceyres bleib wie angewurzelt stehen und horchte. Wieder konnte er es hören. Ein Rascheln und Scharren. Er suchte hinter dem mächtigen Stamm der nächsten Buche Schutz. Sein Herz raste und er war mittlerweile völlig außer Atem.

Bis zum Waldrand dürfte es eigentlich nicht mehr weit sein. Wer zur Hölle sollte sich bei dieser Eiseskälte hier im Wald herumtreiben und dann auch noch mitten in der Nacht? Vorsichtig lugte er hinter dem Stamm hervor. Ich kann hier nicht ewig herumstehen. Die Sonne müsste in ein paar Stunden aufgehen. Bis dahin muss ich in Sicherheit sein. Ich muss versuchen, bis zu Emmas Haus zu kommen. Und zwar in der Dunkelheit. Falls etwas schief geht, habe ich immer noch genug Zeit, vor Sonnenaufgang ein neues Versteck zu finden. Wieder hörte er ein Scharren. Diesmal etwas lauter. Hoffentlich hat Killob es nicht vergeigt. Wenn die anderen hinter mir her sind, habe ich schon so gut wie verloren.

Ohne weiter nachzudenken, rannte Ceyres wieder los. Er sah starr geradeaus, immer dorthin, wo er den Waldrand vermutete. Ein lautes Quieken riss ihn kurz aus seiner Konzentration. Er sah erschrocken zur Seite und bemerkte eine kleine Rotte Wildschweine, die im Waldboden nach Eicheln gesucht hatten. Die Tiere rannten bei seinem Anblick panisch auseinander. Ihr Quieken verhallte bald zwischen den Bäumen und die Stille der Nacht kehrte zurück. Endlich erreichte Ceyres den Waldrand. Die abgeernteten Felder um Breverhölzen lagen vor ihm. Er suchte den Himmel nach seinen Gefährten ab, konnte aber niemanden entdecken. In der Stadt hatte sich der Lärm mittlerweile gelegt. Es waren nur noch vereinzelt Polizeisirenen zu hören. Am Horizont konnte Ceyres die Umrisse von ein paar Häusern erahnen.

Bis dorthin muss ich es schaffen. Noch ist es dunkel genug, dass mich niemand entdeckt, aber trotzdem ist es besser, wenn ich so dicht wie möglich über dem Erdboden fliege.

Mit zwei kräftigen Flügelschlägen erhob sich der Gargoyle in die Luft. Er ließ sich lautlos gleiten. Erst nach einigen hundert Metern bewegte er wieder seine Schwingen. Er flog so dicht über dem Boden, dass nur wenige Zentimeter zwischen seinen Flügeln und dem Gras der Wiese waren, die unter ihm lag. Mit jedem Flügelschlag wurden die Umrisse der Häuser vor ihm deutlicher. Er konzentrierte sich auf das erste Haus der Siedlung. Emma hatte ihm erzählt, dass ihre Uroma im ersten Haus hinter der Allee wohnte, die direkt aus der Stadt herausführte. Ceyres war so sehr auf das Haus konzentriert, dass er beinahe die kleine Sandsteinmauer übersehen hätte, die den Garten umgab. Im letzten Moment konnte er mit einem kräftigen Flügelschlag so viel an Höhe gewinnen, dass er darüber hinweg segelte. Doch gleichzeitig hatte er nun so viel Tempo drauf, dass er nicht mehr sicher landen konnte. Mit einem lauten Knall krachte er geradewegs in den Rollladen an der Terrassentür.

„Verdammter Mist!“, rief er verärgert.

Bevor Ceyres überhaupt bewusst war, dass er soeben laut vor sich hin geschimpft hatte, bewegte sich der Rollladen quietschend in die Höhe und die Terrasse wurde in ein warmes Licht getaucht. Ceyres versuchte, seine Flügel auf dem Rücken zusammenzufalten, doch er hatte sich an der Kante des Rollladens mit einer seiner Krallen verheddert. So blieb ihm nichts anderes übrig, als vorerst direkt vor der Terrassentür stehen zu bleiben. Als der Rollladen fast oben war, gelang es ihm, endlich seine Flügel zu befreien. Ceyres faltete seine Schwingen auf dem Rücken und drehte sich zur Tür. Erschrocken trat er einen Schritt zurück, als er in Ottilies Augen blickte. Er hatte erwartet, dass Emma vor ihm stehen würde. Ceyres wollte gerade von der Terrasse flüchten, als Ottilie die Tür einen Spalt öffnete.

„Bist du alleine?“, flüsterte sie.

„Ähm, ja. Alleine. Ganz alleine.“ Ottilie öffnete die Tür weiter und trat hindurch. Sie zog ihr Tuch, das sie um die Schultern gelegt hatte, enger. „Wo ist Emma?“

„Sie hilft einer Freundin.“

Ceyres wusste nicht, was er weiter sagen sollte. Er starrte Ottilie stumm an.

„Du siehst müde aus, Ceyres“, sagte die alte Dame mit einem besorgten Blick. „Komm lieber herein und ruh dich etwas aus.“

„Sie wissen wer ich bin?“

„Natürlich.“

„Woher?“

„Aus meinen Visionen. Und von Emma. Sie hat mir natürlich von euren Begegnungen erzählt. Denn alles, kann ich ja nun nicht vorhersehen.“

Ottilie drehte sich um und ging ins Haus. Ceyres warf einen Blick über seine Schulter. Doch hinter ihm lagen nur die Felder und am Horizont der Wald, in dem sich die anderen Gargoyles versteckten. Zu sehen war aber keiner seiner Artgenossen. Unsicher setzte er einen ersten Schritt ins Haus. Er sah sich neugierig um. Ottilie schloss die Terrassentür schnell hinter ihm und ließ den Rollladen wieder herunter. Ceyres zuckte zusammen, als die Lamellen aufeinandertrafen und die Sicht nach draußen völlig versperrten. Er fühlte sich im ersten Moment, als wäre er wieder in einem Verlies gefangen.

„Du siehst hungrig aus“, rissen Ottilies Worte ihn aus seinen Gedanken.

Erst jetzt spürte Ceyres wieder seine Erschöpfung. Er erinnerte sich daran, dass er mittlerweile seit mehr als 24 Stunden keinen Bissen mehr gegessen hatte. Ohne auf seine Antwort zu warten, ging Ottilie in die Küche und richtete Ceyres ein Abendessen her.

„Emma wird nicht erfreut sein, dich zu sehen“, bemerkte die alte Dame, als Ceyres gebückt durch die Küchentür zu ihr trat. „Setz dich dort an den Tisch.“ Sie deutete mit ihrem Kopf auf den großen Esstisch in der Ecke der Küche. Er setzte sich an den ihm zugewiesenen Platz, während Ottilie einen großen Teller mit Wurst- und Käsebroten direkt vor Ceyres platzierte.

„Warum wird sie sich nicht freuen?“, hakte der Gargoyle nach.

„Du hast sie erschreckt. Sie denkt, dass du sie töten willst.“

„Denkst sie das wirklich?“

„Zumindest hält sie es für möglich.“

„Ich muss ihr unbedingt die Wahrheit sagen. Ich habe Norana doch nur belogen, um Zeit zu gewinnen. Ist Emma in der Stadt? Hoffentlich ist sie Norana nicht in die Hände gefallen!“

Erst jetzt wurde Ceyres richtig klar, was er überhaupt durch sein Versprechen an Norana angerichtet hatte.

Ich habe Zeit gewonnen, aber ich habe Emma gleichzeitig noch mehr in Gefahr gebracht, als sie es sowieso schon war. Norana denkt, dass sie Emma wirklich töten darf. Und jetzt, wo sie weiß, dass Emma meinen Fluch lösen kann, wird sie sie umbringen, sobald sie sie in die Finger bekommt.

„Emma kann auf sich aufpassen. Nun iss erstmal etwas. Oder magst du kein Wurstbrot? Ich fürchte nur, etwas anderes habe ich nicht im Haus.“

Ceyres nahm sich eines der Brote und hielt es vorsichtig in seiner Pranke, damit er es nicht direkt zerdrückte. Er sog den Duft der Mettwurst ein. Sie roch verführerisch und erinnerte ihn an sein früheres Leben. Er steckte sich die ganze Scheibe Brot in sein Maul und kaute sie genussvoll. Wie sehr hatte er diesen Geschmack vermisst. Er hatte sich kaum noch daran erinnern können, so lange hatte er kein verarbeitetes Fleisch mehr gegessen.

„Es schmeckt wunderbar!“, stellte der Gargoyle schmatzend fest, während er bereits die nächste Scheibe in sein Maul schob.


Emma drückte immer wieder auf die Klingel, doch Kassandra rührte sich nicht. Alle Fenster, die sie von der Straße aus einsehen konnte, waren dunkel. Noch einmal wählte sie Kassandras Handynummer.

Wieder die Mailbox, das darf doch nicht wahr sein. Ich habe ihr schon mindestens drei Nachrichten aufgesprochen. Wo kann sie nur sein? Ob sie doch zu unserer Wohnung, also zu Marks Wohnung, gefahren ist?

Mit einem unguten Gefühl stieg Emma wieder in ihr Auto und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Erst jetzt merkte sie, dass sie die Einzige war, die durch die nächtlichen Straßen fuhr. Auf dem ganzen Weg bis zu ihrer alten Wohnung begegnete ihr weder ein einziges Auto noch ein Fußgänger. Auch von den vielen Streifenwagen war nichts mehr zu sehen. Die ganze Stadt wirkte wie ausgestorben.

Irgendwie gespenstisch. Wie in einem Horrorfilm, dachte sie, als sie in die Straße einbog, in der sie bis vor wenigen Wochen noch mit Mark zusammen gewohnt hatte. Sie trat mit voller Kraft auf die Bremse. Emma konnte nichts mehr erkennen, kaum dass sie um die Ecke gebogen war. Alles war in das flackernde blaue Licht der Polizeiwagen getaucht, die die gesamte Straße absperrten. Nach ein paar Augenblicken hatten sich ihre Augen an das grelle flackernde Licht gewöhnt. Emma saß nur da und beobachtete ungläubig das Treiben. Die Polizeiwagen standen direkt vor ihrem alten Zuhause. Sie stellte den Motor ab und stieg wie in Trance aus dem Wagen. Mit langsamen Schritten ging sie auf die Straßensperre zu. Mit jedem Schritt verkrampfte sich ihr Magen etwas mehr. Emma wusste genau, dass mit Kassandra etwas nicht stimmte.

„Sie können hier nicht durch!“, sagte ein junger Beamter in scharfem Ton.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752110265
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Erlösung Efeu Eifersucht Siegel Fantasy Hexe Fluch Gargoyle Amulett Liebe

Autor

  • Mayana Jaeger (Autor:in)

Mayana Jaeger hat schon seit ihrer Jugend einen engen Bezug zum Schreiben. Ihr Spektrum reicht vom Journalismus bis zu Kurzgeschichten und Romanen.
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Titel: Der Efeufluch: Das Efeu-Siegel