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Der Efeufluch: Das Efeu-Amulett

Das Efeu-Amulett

von Mayana Jaeger (Autor:in)
164 Seiten
Reihe: Der Efeufluch, Band 1

Zusammenfassung

Das Schicksal führt die junge Hobbyfotografin Emma und den seit Jahrhunderten verfluchten Ceyres zusammen. Ceyres ist durch seinen Fluch in der Gestalt eines Gargoyles gefangen. Tagsüber wacht er versteinert zu einer Statue über den Friedhof der Kleinstadt bis er bei Sonnenuntergang zu einer Bestie erwacht. Die Hoffnung auf Erlösung hatte er schon aufgegeben. Doch als er Emma das Leben rettet, spürt er, dass sie die Eine sein könnte, die ihn doch noch retten kann. Kurz nach ihrem Zusammentreffen mit dem Gargoyle wird Emma wieder von Visionen heimgesucht, die sie bereits in ihrer Jugend gehabt hatte. Sie erinnert sich an eine Kette mit einem Amulett, in das ein Efeublatt eingelassen ist. Die Kette hatte ihre Uroma ihr im Teenageralter zum Schutz gegeben. Doch auch die Kette kann dieses Mal die Visionen nicht unterdrücken. Außerdem fühlt Emma sich immer mehr zu dem mysteriösen Gargoyle hingezogen. Welches Schicksal verbindet Emma und Ceyres und was hat ihr Efeu-Amulett damit zu tun?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I


Schweißgebadet stand sie vor ihrer Wohnungstür. Sie bekam den Schlüssel nicht in das Schloss, so sehr zitterten ihre Finger. Immer wieder warf sie nervös einen Blick über die Schulter. Sie glaubte, immer noch diesen pfeifenden Luftzug hinter sich zu spüren. Immer wieder. Genau, wie auf dem Friedhof, kurz nachdem sie angegriffen worden war.

Alles Einbildung, dachte Emma, als sie sich noch einmal umsah. Außer dem leeren Hausflur konnte sie hinter sich nichts entdecken. Und endlich bekam sie den Schlüssel mit ihren zittrigen Fingern in das Schloss. Gerade, als sie die Wohnungstür öffnete, erlosch das Licht im Hausflur und sie stand kurz im Dunkeln. Sie tastete nach dem Lichtschalter im Wohnungsflur, während sie mit der anderen Hand nach der Wohnungstür griff.

Zum Glück ist meine Kamera heile geblieben, dachte sie, während sie die Tür hinter sich schloss. Zur Sicherheit drehte sie den Schlüssel noch zweimal im Schloss herum. Sie kam sich immer noch beobachtet vor.

Was für ein schrecklicher Anblick.

Emma musterte sich im Spiegel der Flurgarderobe. Ihr T-Shirt war zerrissen und auch der BH-Träger auf ihrer rechten Schulter. Sie schluckte kräftig, konnte ein Schluchzen aber nicht unterdrücken. Lautlos liefen ihr wieder die Tränen über die Wangen. Ohne weiter nachzudenken, ließ sie ihre Collegetasche noch im Flur fallen, nahm im Weitergehen die Kamera von ihrem Hals und fummelte die Speicherkarte mit immer noch zittrigen Fingern aus dem Slot. Sie ging ohne Umweg direkt zu ihrem Computer. Das war schon ein automatischer Gang. Immer, wenn sie vom Friedhof mit neuen Fotos zurückkam, fing sie sofort mit der Arbeit an. Erst als sie hörte, wie ein Schlüssel im Schloss der Eingangstür gedreht wurde, kam sie zu sich. Da saß sie nun an ihrem Schreibtisch in einem zerrissenen T-Shirt. Blutige Kratzwunden auf Höhe der Rippen an ihrer rechten Seite. Ihr Gesicht spiegelte sich in den Bildschirmen ihres Computers. Ihr Augen-Make-up hatte sich mit ihren Tränen vermischt und schwarze schmierige Bahnen auf ihren Wangen hinterlassen. Sie griff nach einem Taschentuch, doch bevor sie es benutzen konnte, stolperte Mark schon über ihre Tasche.

„Was soll das hier, Emma?“, schimpfte er, während er wild mit den Armen ruderte, um sein Gleichgewicht zu halten. Erstaunlicherweise gelang es ihm sogar. „Ich habe dich etwas gefragt“, motzte er weiter, während er den Flur entlang ins Wohnzimmer stolperte. „Du könntest wenigstens antworten.“

Kaum zu Hause schon wieder am Meckern, dachte Emma, aber sie sagte dieses Mal nichts. Fast jeden Abend war es das gleiche, ob er sich nun über ihre Tasche im Flur beschwerte oder einen anderen Grund fand, seine schlechte Laune an ihr auszulassen.

„Ich räum' meine Tasche gleich weg“, sagte Emma betont gelassen.

Am liebsten hätte sie ihm mal so richtig die Meinung gesagt. Sie wollte, dass er endlich wusste, wie sehr ihr sein Ordnungswahn mittlerweile auf die Nerven ging. Auch, wenn sie wusste, dass ihre Tasche heute wirklich mitten im Weg lag und er zwangsweise darüber stolpern musste. Aber heute war ja auch eine Ausnahmesituation. Und deswegen sagte sie lieber nichts weiter. Emma hoffte, dass er so ihren Zustand nicht bemerken würde.

„Das ist doch dein Standardspruch und dann steht sie hier morgen immer noch im Weg rum. Und wie siehst Du überhaupt aus?“

Na klar, keinen Tag bemerkt er irgendetwas an mir. Ich könnte mir die Haare quietschgrün färben und er würde nichts merken. Aber heute, ausgerechnet da muss er mir mal wieder seine Aufmerksamkeit schenken.

Emma rollte genervt mit ihren braunen Augen.

„Was ist passiert?“ Marks Stimme klang vorwurfsvoll und genervt, ohne jede Spur von Mitgefühl. „Hast du geheult?“

„Ich hatte einen kleinen Unfall auf dem Friedhof. Ich bin über einen Stein gestolpert und habe mir das T-Shirt an einem Dornenbusch zerrissen, mehr nicht“, versuchte sie zu erklären, während sie sich den zerlaufenen Mascara aus dem Gesicht wischte. Dass nur schon das Wort Friedhof für neuen Krach sorgen würde, war ihr klar gewesen. Mark hasste es, wenn sie dort in der Abenddämmerung herumlief, um Fotos zu machen.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du da nicht im Dunkeln hingehen sollst. Vielleicht siehst Du jetzt ja endlich, zu was das führt. Und wofür? Für ein blödes Hobby! Such dir endlich nen vernünftigen Job. Du weißt, dass du immer noch die Ausbildung bei uns in der Bank anfangen kannst.“

Mark schnaubte verächtlich. Er konnte nicht verstehen, dass die Fotos, die sie auf dem Friedhof und an anderen verlassenen und eher düsteren Orten machte, für sie Kunst waren. Kunst, mit der sie eines Tages ihren Lebensunterhalt verdienen wollte.

Emma antwortete ihm nicht. Sie tippte gerade das Passwort für ihren Onlineshop ein. Und schon öffnete sich das Fenster mit den unbearbeiteten Aufträgen auf ihrem Bildschirm. Seitdem sie ihren Shop auf der Kreativplattform am Nachmittag das letzte Mal kontrolliert hatte, waren schon wieder zwei neue Bestellungen dazu gekommen. Bisher reicht der Umsatz nur für ein nettes Nebeneinkommen, das musste sie zugeben, aber Emma hatte Hoffnung, dass sie ihr Geschäft weiter ausbauen könnte.

„Du weißt, dass es für mich mehr ist als ein blödes Hobby. Und es wäre schön, wenn du das endlich akzeptieren würdest. Es ist meine Arbeit, meine Berufung.“

„So ein Quatsch!“, entgegnete Mark immer noch sichtlich gereizt, während er versuchte, den Knoten seiner Krawatte aufzubekommen. „Deine Arbeit ist das, was du in der Fotobox machst – schlichte Passbilder und Kameras verkaufen. Du bist keine Fotografin und schon gar keine Künstlerin oder für was du dich auch immer hältst. Du bist eine einfache Verkäuferin, mehr nicht!“

So deutlich hatte Mark ihr noch nie gesagt, was er von ihr hielt. Emma war enttäuscht, dass er offensichtlich nicht mehr in ihr sah, als eine einfache Verkäuferin. Gut, sie war keine gelernte Fotografin und sie hatte den Job in der Fotobox auch nur bekommen, weil ihr Chef eine einfache Verkaufshilfe gesucht hatte. Aber es war für Emma von Anfang an bei diesem Job ein Vorteil gewesen, dass sie sich schon seit ihrer Jugend in ihrer Freizeit mit Digitalkameras und Fotografie beschäftigt hatte und so ein gewisses Fachwissen mitbrachte. So war sie nicht nur dazu verdammt im Laden die Ware zu sortieren und die Kasse zu bedienen, sondern durfte zumindest einfache Fotoaufträge selber erledigen. Das war zwar nicht das, was sie ewig machen wollte, aber sie konnte zumindest erst einmal davon leben. Und sie versuchte sich durch ihre künstlerischen Fotoarbeiten weiterzuentwickeln, dass Mark das nicht verstehen konnte, machte sie wütend. Lautlos lief ihr wieder eine Träne über die Wange. Emma wischte sie wütend weg.

„Ach so, der Herr ist sich zu fein, um einfacher Bankkaufmann zu bleiben, der Herr wollen ja was besseres sein. Aber ich, ich soll im Fotostudio versauern und mein Leben lang Passbilder schießen oder Schulkindern fürs Klassenfoto ein Lächeln abringen, oder was!? Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?“

Nun schrie sie doch.

„Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich muss nur mit meinem Chef reden und schon hast du den Ausbildungsplatz als Bankkauffrau sicher – auch, wenn du mit Anfang Dreißig eigentlich schon zu alt bist, um noch eine Ausbildung zu machen. Und bei mir ist das was ganz anderes. Ich habe immerhin Bankkaufmann gelernt. Ich habe eine richtige Ausbildung. Und da ist es doch nur natürlich, dass man sich in seinem Beruf weiterentwickeln will“, entgegnete Mark. Aber Emma hörte ihm nicht mehr zu. Sie starrte aus dem Fenster.

Da war doch etwas oder nicht? Ein Schatten. Etwas Großes.

Emma stockte der Atem. Von einer Sekunde auf die andere vergaß sie den Streit mit Mark.

„Hast du das gesehen?“, flüsterte sie stattdessen panisch. Aber Mark antwortete nicht. Er stand bloß da und starrte sie an. „Da ist etwas vor dem Fenster!“

Sie griff hinter Mark zum Lichtschalter an der Wand und schaltete die Beleuchtung im Flur und im Wohnzimmer aus, bevor sie sich im Dunkeln um ihren Schreibtisch herumtastete. Sie schob die weiße Gardine leicht zur Seite und spähte hinaus in die Nacht. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich auf die Dunkelheit einzustellen. Aber draußen war nichts zu sehen. Nicht einmal die Fledermaus, die sonst Insekten im Efeu an der Hauswand jagte, war da. Und was sollte auch anderes vor dem Fenster zu sehen sein, als eine Fledermaus oder ein nachtaktiver Vogel, schließlich wohnte sie im dritten Stock.

Bilde ich mir das etwa alles nur ein?

So langsam fing Emma an, an sich zu zweifeln. Aber war es ein Wunder, dass sie sich heute Abend verfolgt fühlte?

„Vergiss es!“, rief Mark plötzlich aus dem Schlafzimmer. „Ich gehe zu Mario! Wir schauen uns zusammen mit den anderen das Spiel an.“

Erst jetzt merkte Emma, dass sie immer noch in Gedanken versunken aus dem Wohnzimmerfenster in den Nachthimmel starrte. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie Mark den blau-roten Fanschal seines Lieblingsfußballvereins vom obersten Fach der Garderobe nahm. Er brauchte sich nicht einmal danach strecken. Seine Größe war es, die Emma immer ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hatte. Dann fiel die Wohnungstür auch schon ins Schloss und sie war allein.

Endlich allein. Oder doch nicht?

Sie fühlte sich auf einmal unbehaglich in der Dunkelheit. Langsam kroch Gänsehaut an ihren Unterarmen herauf und sie spürte eine undefinierbare Kälte in ihrem Körper aufsteigen. Ängstlich sah Emma noch einmal aus dem Fenster, aber sie konnte immer noch nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie zog die blickdichten Vorhänge zu und spürte, wie ein Teil der Anspannung sofort von ihr abfiel. Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloss sie, erst einmal ein entspannendes Lavendelbad zu nehmen.

 

Während das Badewasser gluckernd in die Wanne einlief und sich der Schaum durch das duftende Lavendelöl leicht lila verfärbte, entledigte Emma sich im angrenzenden Schlafzimmer ihres zerrissenen T-Shirts und schleuderte es in die Ecke zwischen Kleiderschrank und Zimmertür, darauf landete der ebenfalls zerrissene BH. Sie betrachtete die Kleidungsstücke nicht weiter, denn sie wollte diesen Überfall so schnell wie möglich vergessen. Schon halb aus der Tür, schmiss sie noch ihre Jeans zu den anderen Kleidungsstücken.

Einfach nur entspannen und an nichts mehr denken.

Vor der Wanne zog sie ihren Slip aus und warf ihn in die Wäschetonne. Der ganze Raum war von feuchten Nebelschwaden durchzogen und duftete nach Lavendel. Vorsichtig stieg Emma mit einem Fuß in die Wanne. Das Wasser war heiß, aber gerade noch angenehm und so ließ sie sich langsam in die Wanne gleiten. Doch, als sie mit ihrem Oberkörper in das Badewasser glitt, durchzog sie ein brennender Schmerz, der sie aufstöhnen ließ und sie sofort wieder an die Ereignisse des Abends erinnerte. Die blutigen Kratzer an ihren Rippen brannten durch das Lavendelöl wie Feuer. Im ersten Moment war sie versucht, sofort wieder aus der Badewanne herauszuspringen, doch dann ließ der Schmerz schon nach und ihre Muskeln entspannten sich endlich im warmen Wasser. Emma goss sich ein Glas Rotwein aus der bereitstehenden Flasche ein und versuchte, ihre Erinnerung an den Abend zu verdrängen. Doch es wollte ihr beim besten Willen nicht gelingen. Und so kreisten ihre Gedanken doch immer wieder um die Ereignisse dieses Abends und sie dachte noch einmal über das Erlebte nach. Emma sah die Bilder noch deutlich vor sich. Sie hatte gerade vor einer kleinen Engelsfigur gestanden, die auf einem Sockel aus Sandstein eines der historischen Gräber zierte. Der kleine Sandsteinengel kniete mit gesenkten Flügeln auf dem gleichfarbigen Sockel, die Hände gen Himmel gestreckt und den Blick seinen Händen folgend ebenfalls nach oben gerichtet. Das Licht der untergehenden Sonne fiel durch die noch grünen Blätter der mächtigen Eiche, die nur unweit des Grabes mit dem Engel stand, und beleuchtete die linke Gesichtshälfte der kleinen Statue. Emma stand breitbeinig vor der Säule und hatte sich etwas nach vorne gebeugt, um den Engel perfekt ins Bild setzen zu können. Die Figur nahm zwei Drittel im Sucher ihrer Kamera ein. Emma richtete den Engel am linken Bildrand aus, sodass seine Hände sich im rechten Drittel des Fotos befanden und das Gesamtbild dem goldenen Schnitt entsprach. Im rechten Drittel des Fotos waren verschwommen im Hintergrund die Blätter der riesigen Eiche zu erkennen, deren mächtige Äste mit ihren dünneren Ausläufern nur knapp über dem Boden endeten. Gerade als das Licht perfekt schien und sie auf den Auslöser drückte, hörte sie hinter sich ein paar Äste knacken. Doch sie beachtete das Geräusch nicht weiter. In ihrer Konzentration bekam sie beim Fotografieren nur selten mit, was um sie herum geschah. Zu sehr konzentrierte sich Emma auf die vielen kleinen Dinge, die es zu beachten galt, um das eine perfekte Foto in jeder Situation hinzubekommen. Schließlich waren es diese perfekten Details, die ihre Fotos so unverwechselbar machten. Sie drückte den Auslöser durch und verharrte in ihrer unbequemen Position, um das Klicken ihrer Kamera abzuwarten, die gleich fünf Fotos nacheinander schoss. So war die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein perfektes Foto dabei war. Sie hörte wieder ein Knacken von kleinen Ästen, die unter der Last eines Schuhs zerbrachen. Diesmal deutlich näher. Jetzt drehte Emma sich um und blickte in das Gesicht eines Mannes. Er trug ein schwarzes Kapuzen Sweatshirt und ehe sie auch nur einen Ton sagen konnte, griff er nach dem Kameragurt an ihrem Hals und zog sie zu sich heran. Emma schrie noch kurz laut auf, bevor ihr die Luft wegblieb. Der Mann sagte kein Wort. Er starrte sie nur mit einem bösen Funkeln in seinen dunklen Augen an. Sein Blick war stechend und furchteinflößend. Der Mann zog weiter an dem Kameragurt. Emma versuchte noch einmal, um Hilfe zu schreien, aber mehr als ein klägliches Krächzen brachte sie nicht hervor. Sofort wurde der Druck auf ihren Hals noch stärker. Der Unbekannte hatte den Kameragurt vor ihrer Kehle überkreuzt und zog kräftig an beiden Enden. Gleichzeitig versuchte er, Emma zu Boden zu ringen. Panisch stemmte sie sich mit aller Kraft dagegen und versuchte krampfhaft auf den Beinen zu bleiben.

Bloß nicht zu Boden gehen, sonst hast du verloren, dachte sie immer wieder.

Langsam wurde ihr schwindelig. Sie musste unbedingt wieder Luft bekommen, sonst würde sie ohnmächtig werden. Mit letzter Kraft setzte Emma zu einem Tritt gegen die Kniescheibe ihres Angreifers an, aber sie verfehlte ihn und kam ins Straucheln. Während sie unsanft zu Boden fiel, spürte sie einen seltsamen Luftzug dicht über ihrem Kopf und der Druck auf ihre Kehle verschwand von einem Moment auf den anderen. Röchelnd lag sie nun am Boden und wälzte sich von einer Seite auf die andere, während sie nach Luft schnappte. Langsam kam Emma wieder zu Atem. Ihre Kehle brannte mit jedem Atemzug wie Feuer und ihre Augen waren tränengefüllt. Nach ein paar Minuten auf dem Boden liegend, setzte sie sich langsam auf. Ihre Kamera hielt Emma immer noch fest mit ihrer rechten Hand umklammert, den Zeigefinger immer noch auf dem Auslöser. Langsam begann sie ihre Gedanken zu sortieren.

Nichts wie weg hier!, schoss es ihr durch den Kopf und sie sprang, so schnell sie konnte, auf die Füße. Zuerst wankte sie noch etwas. Emma fürchtete, sofort wieder auf den Boden zu fallen, aber sie konnte sich auf den wackeligen Beinen halten. Sie stützte sich an dem dicken Stamm einer Eiche ab und atmete noch einige Male tief ein und aus. Um sie herum war alles ruhig. Nur das leise Rauschen der Blätter war noch zu hören. Nichts rührte sich auf dem Friedhof. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und blinzelte einige Male, bis sie wieder klar sehen konnte. Keine Menschenseele war in ihrer Nähe. Dann griff sie nach ihrer Collegetasche und begann sie zu rennen. Ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, rannte sie den dunklen Schotterweg des alten Friedhofs entlang bis zu dem eisernen Eingangstor, das sich quietschend öffnete, als Emma sich dagegen lehnte. Sie rannte die ganze Strecke bis nach Hause. Im Grunde war der Weg nicht weit, aber wenn man ihn so schnell lief, wie man nur konnte, war er doch anstrengend. Völlig entkräftet und zitternd vor Aufregung und Erschöpfung zugleich, war sie an diesem Abend zu Hause angekommen.


Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen und tropften von ihrem Kinn in das Badewasser. Der Schock saß tief. Hatte sie doch in den letzten Wochen immer wieder von Vergewaltigungen und Überfällen auf Frauen in der Tageszeitung gelesen. Der Tägliche Anzeiger berichtete in letzter Zeit regelmäßig über solche Übergriffe in der Kleinstadt und den umliegenden Gemeinden.

Scheiße, jetzt hör auf zu heulen, freu Dich lieber. Du hast verdammtes Glück gehabt, ermahnte sie sich innerlich. Oh ja, verdammtes Glück.

Sie nahm noch einen Schluck Rotwein aus ihrem Glas. Langsam versiegten ihre Tränen und Emma fragte sich zum ersten Mal, warum der Angreifer so plötzlich von ihr abgelassen hatte. Schließlich war er gerade dabei gewesen sein Ziel zu erreichen. Er hatte Emma erfolgreich zu Boden geschleudert. Genau das hatte er zuvor minutenlang versucht. Emma konnte sich nicht erinnern jemanden gehört oder geschweige denn gesehen zu haben, der ihr zu Hilfe geeilt war. Da war nur dieser unerklärliche Luftstoß gewesen, der ihr plötzlich ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar ins Gesicht geweht hatte, während sie zu Boden gestürzt war. Und genau in diesem Moment hatte der Angreifer sie losgelassen und war verschwunden.

Er ist nicht weggerannt, überlegte sie verwirrt. Sie hatte keine Schritte gehört, die sich von ihr entfernt hatten. Vielmehr hatte der Angreifer selber kurz aufgeschrien, bevor er wie vom Erdboden verschwunden war, erinnerte sie sich dunkel. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Das Badewasser war mittlerweile kalt und Emma begann langsam zu frösteln. Sie stieg vorsichtig aus der Wanne. Dabei dachte sie weiter darüber nach, wie der Mann so plötzlich verschwunden sein konnte. Sie fand aber einfach keine rationale Erklärung für sein Verschwinden. Emma drapierte ihre nassen Haare mit einem Handtuch zu einem Turban. Dann fing sie an, sich gründlich abzutrocknen. Als sie mit dem Handtuch an ihrer rechten Seiten entlang wischte, stöhnte sie auf vor Schmerz. Erst jetzt erinnerte sie sich wieder an die Kratzer an ihrer rechten Seite. Sie blickte in den Spiegel. Die Kratzer bluteten nicht mehr, aber sie waren knallrot und brannten wieder wie Feuer. Emma trat näher an den Spiegel heran und betrachtete die Kratzer genauer.

Woher kommen die nur?

Die Kratzer hatten eine seltsam geschwungene Form. Sie vermutete zunächst, dass der Mann sie bei dem Angriff gekratzt hatte. Aber es erschien ihr ungewöhnlich, dass dabei ihr T-Shirt zerrissen sein sollte. Je länger sie die Male des Angriffs betrachtete, desto verwirrter wurde sie. Es waren drei Kratzer, die in einer gleichmäßig geschwungenen Linie über ihre Rippen verliefen. Sie zog den Gürtel ihres Bademantels zu, nahm die halbleere Weinflasche und ihr Glas und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Wohnung war immer noch dunkel. Mark war bisher nicht nach Hause gekommen. An Schlafen war für Emma noch nicht zu denken. Sie suchte immer noch nach einer Erklärung für die Kratzer an ihrem Oberkörper und für das unerklärliche Verschwinden des Angreifers. Sie fühlte sich noch aufgewühlter als vor dem Bad. Also beschloss sie, ihre Fotos zu sichten. Ohne lange zu überlegen, sortierte sie die Aufnahmen mit einem gekonnten Blick aus. Alles was ihr beim ersten Anblick nicht gefiel, wanderte sofort in den Papierkorb auf dem Desktop. Emma behielt nur die Aufnahmen, die ihr auf den ersten Blick perfekt erschienen. Es war nicht einfach, so schnell auszuwählen, aber sie hatte es sich über die Jahre angewöhnt, denn sonst würde sie in der Vielzahl der Aufnahmen nur allzu schnell den Überblick verlieren und das konnte sie nicht gebrauchen. Sie liebte klare Strukturen und Ordnung. Und zumindest was ihre Fotos anging, schaffte sie es auch, Ordnung zu halten. Denn der Rest ihres Lebens war schon unaufgeräumt genug. Sie lebte, seit sie denken konnte, im Chaos. Ihre Gedanken überschlugen sich oft und ihre Wohnung war ein einziges Chaos, wenn auch ein organisiertes Chaos. Zumindest in den Ecken, in denen Mark nicht ständig aufräumte.

Ein Foto nach dem anderen wanderte in den Papierkorb. Nur wenige der Aufnahmen befand Emma für gut genug, um sie dauerhaft zu speichern. Mit geschultem Auge verschob sie die Fotos zwischen Speicherkarte, Papierkorb und Festplatte. Plötzlich hielt sie inne. Ohne, dass sie es gemerkt hatte, musste sie, während der Unbekannte über sie hergefallen war, weiter fotografiert haben. Kein Wunder, so fest, wie sie ihre Kamera noch nach dem Angriff umklammert gehalten hatte, hatte sie wohl auch während des Angriffs immer wieder krampfhaft den Auslöser gedrückt. Sie hatte immer den Mehrfachbildmodus aktiviert, um keinen Moment zu verpassen, indem der Wind oder die Wolken das perfekte Licht und die perfekte Stimmung für ihre Motive preisgaben. Jetzt hatte genau diese Funktion dafür gesorgt, dass kein Moment des Angriffs undokumentiert geblieben war. Mit einem Doppelklick öffnete Emma das erste Foto dieser Serie und wartete gespannt, bis es von der Speicherkarte geladen war.

Was ist das? Alles schwarz! Nicht das Geringste zu sehen.

Als hätte sie den Objektivdeckel vor der Linse vergessen. Und der war ganz sicher nicht vor der Linse gewesen. Sie klickte sich weiter durch die folgenden Aufnahmen.

Es war doch noch gar nicht so dunkel. Irgendetwas muss doch zu erkennen sein, selbst, wenn der Blitz nicht funktioniert haben sollte.

Nach weiteren zwölf Fotos, auf denen nichts zu erkennen war, außer einer schwarzen Fläche mit einer undefinierbaren Struktur, fand sie endlich einen ersten Hinweis. Auf einem der letzten Fotos, das sie geschossen hatte, war endlich etwas zu erkennen. Wie die Fotos davor war es zwar ebenfalls sehr dunkel, aber nicht mehr komplett schwarz. Was auch immer die Linse zuvor verdeckt hatte, ließ nun genug Licht durch, um eine Struktur abbilden zu können. Emma hatte dennoch Mühe etwas auf dem Foto zu erkennen. Es schien eine Art Leder zu sein, was direkt vor der Linse war. Es bedeckte fast das ganze Foto. Nur an der Kante war ein fahler Lichtschein zu erahnen. Der Rest des Fotos wurde von einer dunkelgrauen Fläche bedeckt. Die lederne Oberfläche machte Emma neugierig. Sie zoomte weiter in das Bild hinein, um die Struktur näher betrachten zu können.

Als wäre das Grau von Adern durchzogen, grübelte Emma.

Sie wiegte den Kopf nachdenklich von einer Seite zur anderen und wand sich immer wieder vor dem Bildschirm, als versuchte sie, hinter die Fläche zu blicken, die die Linse nahezu komplett verdeckt hatte. Emma scrollte durch das gesamte Foto und tastete sich langsam bis zum Rand vor, dorthin, wo sie den Lichtschein entdeckt hatte. Die Struktur dieses Leders, oder was auch immer es war, änderte sich, je näher sie zum Rand der Aufnahme kam. Es wurde glatter und gleichzeitig etwas dicker und damit weniger durchscheinend. Dann endete die Fläche. Sie war gewölbt und an der Kante erkannte Emma eine Rundung.

Wie die Kante eines Regenschirms.

Emma scrollte mit der Maus noch weiter nach Außen, bis sie am Rand des Fotos angekommen war. Sie sah sich die Kante der komischen Fläche noch einmal genau an.

Da, da ist etwas.

Bei genauerem Hinsehen entdeckte Emma eine Art Stachel an der Kante. Oder war es eine riesige Kralle?

Was, zur Hölle …? Ist das etwa eine riesige Kralle?“

Sie sprang schreiend von ihrem Stuhl auf, der krachend zu Boden fiel.

II


Ceyres leckte sich das Blut von seinen krallenbesetzten Pranken. Er saß unter einer riesigen Kiefer am Rande des Waldes und beobachtete die anderen Gargoyles, wie sie sich um die Reste des Körpers stritten. Er war satt. Außerdem hasste er es, sich um Essen zu streiten. Er hatte den Mann zwar erlegt, aber sollten sich doch die anderen Bestien um die Reste des Kadavers schlagen. Außerdem keimte auch schon wieder dieses schlechte Gewissen in ihm auf. Er hatte einen Menschen getötet und verspeist. Er fühlte sich wie ein Kannibale. In diesem Moment sprach wieder einmal der Mensch aus ihm, den er immer noch in seinem tiefsten Inneren spüren konnte. Selbst, nach so langer Zeit. Seit Jahrhunderten wandelte er schon als Gargoyle auf der Erde. Dieser verdammte Fluch hatte ihn zu dieser Bestie gemacht. Aber ganz tief im Inneren spürte er immer noch seine sanftmütige menschliche Natur, auch wenn sie mit den Jahrhunderten zu einem letzten Glimmen in der Asche eines Feuers verkümmert war. Ceyres hatte schon gedacht, dass dieses Feuer mittlerweile vollständig erloschen war, aber als er diese Frau das erste Mal auf dem Friedhof gesehen hatte, hatte er diesen winzigen Funken Menschlichkeit, der in ihm verblieben war, wieder aufkeimen gespürt. Er hatte sie heute nicht zum ersten Mal gesehen. Sie war oft allein auf dem Friedhof. In seinen Gedanken sah er noch einmal die Ereignisse des frühen Abends: Als er sich heute mit den letzten Sonnenstrahlen von der Kapelle in die Abenddämmerung erhob, war sie nicht allein auf dem Friedhof. Jemand stand nah bei ihr. Ceyres kümmerte sich nicht weiter darum. Was gingen ihn die Menschen an? Er flog über die mächtigen Bäume, die überall auf dem Friedhof standen und zog seine Kreise hoch über den Dächern der Stadt. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Dächer in ein goldenes Licht.

Von hier oben sieht alles so friedlich aus. Er schob den Gedanken sofort wieder beiseite. Was ist bloß los mit mir?

Er ärgerte sich über solche Gedanken. Menschliche Gefühlsduselei, die niemand braucht, vor allem keine Bestie wie ich, ein Gargoyle. Trotzdem verspürte er solche Anflüge von Menschlichkeit in letzter Zeit wieder öfter. Er hatte solche Gedanken seit Jahrhunderten nicht gehabt.

Hat sie, diese junge Frau da unten, all diese Gefühle wieder in mir geweckt? Kann das sein, nach so langer Zeit?

Er konnte es sich nicht ernsthaft vorstellen und wagte es auch nicht zu hoffen. Ceyres zog weiter seine Kreise am Abendhimmel und flog eine weitere Runde über den alten Friedhof. Er schwebte hoch über den Wipfeln der alten Bäume und genoss den kühlen Wind unter seinen Flügeln. Seine Gedanken kühlten sich schnell wieder ab und er besann sich auf das, was er war – ein Gargoyle, bis er plötzlich einen erstickten Schrei hörte. Irgendwo unter dem Laub der Eichen. Ceyres lauschte, während er seine Flügel still hielt und sich gleiten ließ. Langsam verlor er an Höhe, aber er konnte nichts mehr hören. Still lagen die Gräber unter ihm da. Sein Gehör war so fein wie das eines Raubtieres. Er wollte gerade wieder Höhe in der Abendthermik aufnehmen, als er ein gequältes Röcheln am Boden wahrnahm, sehr leise nur, aber er wurde neugierig. Und so drehte er ab und glitt zwischen den Blättern der Baumkronen hindurch in Richtung Erdboden. Als er zwischen den obersten Ästen hervorstieß, sah er sie am Boden. Diese Frau, die Abend für Abend alleine auf dem Friedhof wandelte und Fotos schoss. Der Mann von vorhin war immer noch bei ihr. Als Ceyres näher kam, sah er, dass er sich nun über sie gebeugt hatte. Seine Hände zogen einen Gurt um ihren Hals zu. Er drückte ihr die Luft ab. Die Frau wehrte sich heftig, kam aber gegen den wesentlich stärkeren Mann nicht an. Ceyres sah, wie sie immer mehr nach Luft rang und dabei immer schwächer wurde. Ihre Bewegungen wurden unkoordinierter. Ihre Tritte und Schläge in Richtung des Angreifers verfehlten immer weiter ihr Ziel. Das konnte der Gargoyle nicht länger mit ansehen. Er stieß einen kurzen Warnschrei aus und schon hörte er das leise Flügelschlagen der anderen Gargoyles, die zu ihm herüberkamen.

„Hey Ceyres, was ist los?“

Killob schwebte neben ihm in der Luft.

„Der Kerl da unten bedrängt die Frau. Wir müssen ihr helfen!“

„Oh super, gleich zwei Menschen. Das wird ein leckeres Essen!“

Morlox leckte sich schon den Sabber von den Reißzähnen, während er näher zu den anderen beiden Gargoyles herübergeflogen kam. Ceyres verpasste ihm einen Kinnhaken.

„Du rührst die Frau nicht an, Morlox! Den Kerl kralle ich mir und dann kannst du ihn haben. Aber wehe, du versucht dir die Frau zu holen ...“

„Ist ja gut. Musst ja nicht gleich so aggro werden. Aber sie wäre eine leichte Beute, auch wenn nicht besonders viel an ihr dran ist.“ Morlox grinste Ceyres an. Er wusste, wie er seinen Gefährten reizen konnte. Und schon fing er sich den nächsten Schlag von Ceyres ein. Diesmal traf er seine Rippen, sodass Morlox kurz die Luft wegblieb. „Schon gut, ich verschone sie. Lohnt sich sowieso nicht. Die Kleine wäre eh nicht mehr als nur ein nettes Spielzeug“, sagte Morlox unter Husten.

Ceyres blickte nach unten und musste mit ansehen, wie der vermummte Mann versuchte, die junge Frau zu Fall zu bringen. Sie war schon so entkräftet, dass sie sich nicht weiter auf den Beinen halten konnte und schließlich zusammensackte.

Es wird höchste Zeit!

Der Unbekannte beugte sich sofort zu seinem Opfer herunter und versuchte, die Frau mit aller Kraft auf den Kiesweg zu drücken. In diesem Moment stieß der mächtige Gargoyle im Sturzflug die letzten Meter aus den Bäumen nach unten auf die beiden Menschen zu. Der Angreifer musste ihn aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn er blickte kurz nach oben und ließ von seinem Opfer ab. Diesen Moment nutzte Ceyres aus. Er stieß die Frau unsanft mit seinen riesigen Füßen beiseite und packte den Mann mit seinen Vorderpranken. Seine Krallen bohrten sich in die Schultern seines Opfers, das gleichzeitig vor Schreck und vor Schmerzen aufschrie. Ceyres kümmerten die Qualen des Mannes in diesem Moment nicht. Er hielt ihn fest in seinen Pranken und zog ihn mit sich in die Höhe. Immer weiter nach oben. Das Gewicht des Mannes merkte er kaum. Sein von Muskeln durchzogener Körper schaffte es mühelos mit dem zappelnden Menschen in seinen Pranken an Höhe zu gewinnen.

„Gib ihn endlich her!“, rief Morlox ungeduldig und flatterte aufgeregt neben Ceyres, als der mit seiner Beute durch die Baumwipfel stieß.

Mit Schwung schleuderte er den hilflosen Mann zu Morlox herüber, aber Killob war schneller und schlug seine scharfen Krallen in die Seite des Mannes, der vor Schmerzen aufstöhnte. Hoch über den Wipfeln der Eichen stürzten sich die Gargoyles nun regelrecht auf das zappelnde Etwas und einer jagte es dem anderen wieder ab. Der Mann hatte mittlerweile aufgehört zu schreien. Er hatte seine Augen in Todesangst aufgerissen, als er schließlich ohnmächtig wurde. Die Gargoyles spielten noch eine Weile mit ihm, wie mit einem Ball. Sie schleuderten ihn immer wieder im Flug von einem zum anderen, während sie sich langsam immer weiter vom Friedhof und der Stadt entfernten. Über dem freien Feld fliegend, begannen sie den Körper in Stücke zu reißen. Ceyres musste sich beeilen, wenn er selber noch ein Stück zu fressen abbekommen wollte. Abseits vom Friedhof ließ sich die Gruppe auf einem abgeernteten Getreidefeld im Schutz des angrenzenden Waldes nieder und verspeiste gemeinsam die Beute. Es war ein Keifen und Knurren zu hören, während sich die acht Gargoyles um ihre Mahlzeit stritten. Sie zerrten alle gleichzeitig an dem toten Körper, rissen riesige Fleischstücken heraus und schlangen sie eilig herunter, während sie schon nach neuen Bissen griffen.

„Hey, das gehört mir!“, knurrte Morlox einen der anderen Gargoyles an und riss ihm den blutigen Unterschenkel aus der Pranke.

Ceyres griff sich den linken Arm des Toten und riss das Fleisch von den Knochen. Er hörte neben sich Knochen brechen und drehte sich um. Killob verspeiste gerade einen Fuß des Mannes.

„Nicht schlecht, was du uns hier zum Frühstück besorgt hast.“

„Wenn man auf den Geschmack von Menschenfleisch steht ...“

„Jetzt fang nicht wieder damit an. Dieses dämliche Gequatsche von Kannibalismus und so. Du bist ein Gargoyle und kein Mensch – und das seit Jahrhunderten. Da wirst du dich jawohl langsam mal dran gewöhnen können, Menschen als Beute zu akzeptieren. Hier, nimm den Kopf, der ist das Beste.“

„Lass die Finger davon. Der Kopf gehört mir. Ich will das Hirn!“

Morlox schlug ihm kräftig auf das Handgelenk und schnappte sich den Kopf der Beute, ehe Ceyres ihn aus den Händen von Killob nehmen konnte.

„Nimm ihn ruhig. Ich bin sowieso satt.“

Ceyres stand auf und ging zu einer der Kiefern am Waldrand herüber.


Dort saß er nun und leckte sich die letzten Tropfen Blut von den Krallen, während seine Artgenossen sich um die Reste des toten Mannes stritten. In diesem Moment kam ihm diese Frau wieder in den Sinn.

Was, wenn sie immer noch auf dem Kiesweg liegt? Was, wenn sie schwer verletzt ist? Sie darf nicht sterben!

Er hatte in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Menschen kommen und gehen sehen, aber keiner von ihnen hatte ihn je gekümmert. Er hatte auch viele Menschen, ob Frauen, Kinder oder auch Männer, vor Angreifern oder aus anderen gefährlichen Situationen gerettet, aber keiner war ihm je konkret in Erinnerung geblieben. Es war die menschliche Seite in ihm, die ihn geradezu zwang, Menschen aus gefährlichen Situationen zu retten. Anfangs hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass er so irgendwann seinen Fluch besiegen und selbst wieder ein Mensch werden könnte, aber diese Hoffnung hatte er schon lange aufgegeben. Sobald er einen Menschen in Sicherheit gebracht hatte, ließ er ihn allein zurück und verschwand lautlos im Nachthimmel. Niemand erinnerte sich später an ihn. Die geretteten Menschen waren noch so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Und wenn doch mal einer von ihnen irgendwo in seinem Unterbewusstsein etwas von dem Gargoyle bemerkte, verdrängte er es sofort wieder, denn wie sollte ein Mensch des 21. Jahrhunderts erklären können, dass ein Monster ihn aus seiner misslichen Lage gerettet hatte? Niemand glaubte mehr an diese Bestien, genauso wenig wie an Hexen, Vampire und andere offensichtliche Fabelwesen. Und es nahm sie auch keiner der Menschen mehr wahr, wenn sie ihnen begegneten. Die Leute waren viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass sie über die Existenz von anderen Wesen nachdenken konnten. Sie lebten in ihrer digitalisierten Welt vor sich hin und sahen weder nach links noch nach rechts. Und schon gar nicht nach oben in den Himmel, wo die Gargoyles Nacht für Nacht ihre Kreise zogen. Nur diese junge Frau hatte Ceyres schon öfter dabei beobachtet, wie sie unter einer der Friedhofskastanien oder einer der Eichen saß und gedankenverloren in den Abendhimmel starrte, bevor sie ihre Sachen zusammenpackte und in der Dämmerung wieder verschwand. Den Gargoyle hatte sie dabei bisher nicht wahrgenommen. Ihr Schutzschild funktionierte also noch. Es verhinderte schon seit Jahrhunderten, dass die Gargoyles von den Menschen entdeckt wurden, während sie Nacht für Nacht hoch am Himmel ihre Kreise zogen. Solange sie nicht zu tief flogen, waren sie vor den Blicken der Menschen sicher. Deshalb hatte Ceyres auch immer gebührenden Abstand gehalten, wenn er diese Frau auf dem Friedhof gesehen hatte. Und doch spürte er dieses innerliche Verlangen nach ihrer Aufmerksamkeit. So etwas hatte er noch nie gespürt. Seit Jahrhunderten vegetierte er in dieser Gestalt vor sich hin, hatte sich langsam damit abgefunden im Körper dieser Bestie gefangen zu sein und ignorierte die Menschen so gut er konnte. Nur diese zierliche Frau mit den langen braunen Haaren, die sie meistens zu einem Zopf geflochten trug, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Besonders heute Nacht nicht. Er hatte immer wieder überlegt, ob er sie verfolgen sollte, wenn sie vom Friedhof wegging, um zu sehen, wo sie wohnte, was sie machte, wen sie traf, aber er ließ es doch jedes Mal. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an seine große Liebe Ottilie. Wegen seiner Liebe zu ihr war er in der Gestalt dieser Bestie seit Jahrhunderten gefangen. Sie hatte ihr Leben ohne ihn zu Ende gelebt. Ceyres hatte sie nie aus den Augen gelassen. Er hatte sie den Rest ihres Lebens begleitet, ihr so manches Mal unbemerkt zur Seite gestanden, aber er hatte sie auch altern und schließlich sterben sehen. Es hatte ihm das Herz zerrissen, zu sehen, wie seine Geliebte mit den Jahren immer schwächer geworden war. Er hätte all die Jahre an ihrer Seite sein müssen, war es aber nicht. Obwohl mittlerweile Jahrhunderte seitdem vergangen waren, schmerzte ihn diese Erfahrung immer noch ungemein. Und er wollte und konnte das ganze nicht noch einmal durchmachen. Deshalb gab er seinem Drang nie nach, mehr über diese unbekannte Frau auf dem Friedhof herauszufinden.

Sie darf nicht sterben!, schoss es ihm wieder durch den Kopf.

Ceyres trat aus dem Schutz der Kiefer hervor und erhob sich leichtfüßig in die Luft. Nur ein paar wenige Flügelschläge brauchte er, bis er hoch über den Wipfeln der Bäume durch die Luft schwebte.

„Hey, Ceyres! Wo willst du hin?“, hallte Killobs Stimme durch die Nacht, doch Ceyres flog einfach weiter.

Er musste einfach nachsehen, ob sie noch auf dem Friedhof war. Auch, wenn er Angst hatte, mehr über sie herauszufinden, musste er doch zumindest nachsehen, ob es ihr gut ging. Vorsichtig näherte er sich der Eiche neben dem Grab mit der kleinen Engelsstatue. Genau dort hatte er die Frau zuletzt gesehen, als sie am Boden gelegen hatte. Ceyres schlängelte sich zwischen den Ästen der Krone entlang und ließ sich schließlich dicht neben dem Stamm nieder.

Sie ist nicht mehr hier.

Der Kiesweg war menschenleer. Und auch der Rest des Friedhofs lag ruhig und verlassen da. Die kleinen Steine knirschten unter seinen Füßen, als er den Kiesweg betrat. Er hockte sich hin und strich mit seinen Fingern über den Boden.

Blut. Ihr Blut? Oh nein, sie ist verletzt. Ich habe sie verletzt!

Panisch sah Ceyres sich um. Außer ein paar kleinen Blutflecken konnte er aber nichts auf dem Boden entdecken. Schnell beruhigte er sich wieder. Sie kann also nicht allzu schwer verletzt sein, mutmaßte er. Auch ihre Tasche war verschwunden, wie er feststellte.

Sie wird nach Hause gegangen sein, vermutete Ceyres.

Was sollte er nun tun? Selbst, wenn er wollte, wie sollte er sie finden? Er drehte ein paar Runden über dem Friedhof und hielt in den angrenzenden Straßen Ausschau nach ihr. Er konnte sie aber nirgends entdecken.

Nichts zu sehen. Sie kann überall in der Stadt sein. Wo sollte ich anfangen zu suchen? Im Tiefflug das ganze Stadtgebiet absuchen? Viel zu gefährlich.

Was, wenn ihn doch ein Mensch entdecken würde? Er war sich sicher, dass dann wieder eine Treibjagd auf die Gargoyles beginnen würde, wie schon Jahrhunderte zuvor. Und nicht nur auf Gargoyles. Er musste sich also damit abfinden, dass er nur hoffen konnte, dass es ihr gut ging. Er konnte nur abwarten, ob sie an den nächsten Abenden wieder auf dem Friedhof auftauchen würde.


Als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erhellten, zog es Ceyres und die anderen Gargoyles zurück zu ihren Schlafplätzen. Diejenigen, die am Tage als Menschen auf der Erde weiterlebten, flogen zurück zu ihren Wohnungen. Er selbst, der tagsüber zu Stein erstarrte, gab sich seinem Schicksal hin und flog zurück zur Kapelle. Selbst, wenn er gewollt hätte, hätte er sich nicht dagegen wehren können. Morgen für Morgen zog ihn eine unsichtbare Macht zurück zur Friedhofskapelle. Acht Podeste waren rund um das Kuppeldach der Kapelle angeordnet. Auf jedem ließ sich ein Gargoyle nieder. Die Kapelle war 1392 als Teil des Friedhofs erbaut worden. Sie stand am Rande des Friedhofs direkt an der Mauer aus dicken Sandsteinblöcken. Seit Ceyres denken konnte, hatten hier schon Gargoyles auf den blassroten Sandsteinpodesten an der Kuppel gesessen. Lange bevor er selber zu einer dieser Bestien geworden war. Im heller werdenden Sonnenlicht verwandelten sich die Gargoyles nach und nach auf magische Weise zu Statuen aus Stein. Kaum, dass Ceyres auf seinem Podest gelandet war, begann auch seine Versteinerung. Zuerst seine Krallen, dann konnte er seine Füße nicht mehr bewegen, sie klebten geradezu auf dem Podest fest. Und so arbeitete sich der Fluch Zentimeter für Zentimeter vor, bis sein gesamter Körper erstarrt war. Mit ausgebreiteten Flügeln und mit zum Teil zu zähnefletschenden Fratzen verzerrten Gesichtern wachten die Gargoyles leblos über die Kapelle, bis die Sonne am Abend wieder am Horizont untergehen und die Bestien erneut zum Leben erwachen würden.

III


Nach einer unruhigen Nacht wachte Emma allein in ihrem Bett auf. Mark war anscheinend schon aufgestanden. Emma drehte ihren Kopf und sah auf ihren Radiowecker. 10 Uhr 12 zeigten die großen orangefarbenen Leuchtziffern. So lange hatte sie ewig nicht geschlafen, allerdings auch lange nicht so unruhig. Fast die ganze Nacht hatte sie sich von einer Seite zur anderen gedreht und immer wieder zur Uhr gesehen. Sie war immer mal eingenickt, aber nach nur kurzer Zeit schon wieder wach gewesen. In ihren kurzen Schlafphasen hat Emma immer wieder von den Geschehnissen am Abend geträumt. Es waren nur Fragmente, die sie immer wieder in ihren Träumen gesehen hat: die Engelsstatue auf dem Friedhof, die sich im Wind wiegenden Äste der mächtigen Eichen, eine schwarze Gestalt in einem Kapuzen-Shirt und den riesigen Flügel einer Fledermaus. Die Ereignisse des vergangenen Abends beschäftigten sie doch intensiver, als sie zunächst vermutet hatte. Erst gegen Morgen war sie richtig eingeschlafen. Mark hatte da allerdings noch nicht neben ihr gelegen.

Ist er letzte Nacht überhaupt nach Hause gekommen?, fragte Emma sich, doch dann hörte sie das Klappern von Geschirr aus der Küche.

Emma fühlte sich wie gerädert, als sie langsam aus dem Schlafzimmer ins Bad tapste. Am liebsten wäre sie gar nicht wieder von der Toilette aufgestanden. Sie war so müde, dass ihr immer wieder die Augen zu fielen. Schließlich raffte sie sich doch auf. Beim Händewaschen sah sie in den Spiegel und erschrak bei ihrem Anblick. Sie hatte schwarze Ringe unter den geröteten Augen und quer über ihr Gesicht liefen tiefe Abdrücke von den Nähten der Bettwäsche. Emma wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.

Oh, das tut gut.

Langsam wurde sie wach und sofort kamen die Gedanken an den vergangenen Abend und an die Fragmente aus ihren Träumen zurück. Warum, zur Hölle, habe ich von diesem überdimensionierten Fledermausflügel geträumt? Was hat das nur zu bedeuten? Sie grübelte weiter, während sie durch den Flur in Richtung Küche schlurfte.

„Morgen“, murmelte sie, als sie die Küche betrat und Mark beim Frühstück sitzen sah. „Warum hast du mich nicht geweckt?“

„Du hattest heute Nacht anscheinend Albträume. Da dachte ich, es wäre besser, wenn du dich erstmal richtig ausschläfst.“

„Albträume? Habe ich etwas gesagt?“

Sie konnte sich nur an diese einzelnen Bilder erinnern, aber Emma hatte die Hoffnung, dass Mark mehr wusste.

„Nein. Du hast nur immer so komisch geröchelt, als hättest du Halsschmerzen oder als wenn du dich verschluckt hättest ...“

„Ich habe keine Luft bekommen“, sagte sie leise und immer noch in Gedanken versunken.

„Warum solltest du keine Luft mehr bekommen?“, fragte Mark verwirrt, während er sich den letzten Happen seines Marmeladenbrötchens in den Mund steckte und mit einem großen Schluck Kaffee herunterspülte. „Was ist wirklich gestern Abend passiert? Du bist irgendwie so verstört. Das passt gar nicht zu dir. Da muss doch mehr gewesen sein, als ein einfacher Sturz“, bohrte er weiter.

Emma drehte sich von ihm weg und nahm sich einen Kaffeebecher aus dem Küchenschrank. Die Kaffeekanne war noch dreiviertel voll. Vorsichtig ließ sie den Kaffee in den Becher laufen und sah zu, wie sich langsam viele kleine Bläschen an der Oberfläche der braunen Brühe bildeten. Emmas Gehirn arbeitete noch nicht auf höchster Stufe und so musste sie etwas länger überlegen, bis ihr eine plausible Erklärung einfiel.

„Es ist nichts. Wirklich!“, beteuerte sie. „Ich bin nur unglücklich gefallen und da ist mir kurz die Luft weggeblieben. Das wird es gewesen sein, was mich in meinem Traum beschäftigt hat. Ich hatte etwas Panik, als ich nach dem Sturz auf dem Boden lag und mir das atmen so schwer fiel. Aber nach ein paar Minuten war ja alles wieder in Ordnung.“

Sie lächelte verkrampft und setzte sich ihrem Freund gegenüber an den Frühstückstisch, ihren Blick starr auf den dampfenden Kaffee gerichtet, damit sie Mark bloß nicht in die Augen sehen musste. Emma wollte nicht, dass er weiter Verdacht schöpfte, dass etwas an ihrer Geschichte nicht stimmte, und weiter versuchte, die Wahrheit aus ihr herauszubekommen.

Es ist besser, wenn er nicht weiß, was gestern Abend wirklich passiert ist, beschloss Emma.

„Du bist ja mal wieder sehr gesprächig,“ bemerkte Mark sarkastisch. Gedankenverloren griff Emma nach einem Croissant. Mark holte jeden Samstag Brötchen vom Bäcker ein paar Straßen weiter. Er war sowieso immer früher auf als sie, auch wenn sie gewöhnlich nicht so lange schlief, wie an diesem Morgen. Mark war ein Frühaufsteher. Er konnte ohne Probleme schon direkt nach dem Aufstehen in seine Sportklamotten springen und den Weg zum Bäcker für eine kleine Joggingrunde nutzen. Emma selber kam morgens gewöhnlich nur schwer in Gang. „Hast du gestern Abend wieder ewig vor deinem Rechner gesessen?“

„Du weißt genau, dass ich nachts am besten an meinen Fotos arbeiten kann.“

Sie war eben ein Nachtmensch. Erst abends wurde sie richtig kreativ und dann konnte sie die halbe Nacht durcharbeiten. Ihr unterschiedlicher Lebensrhythmus stellte ihre Beziehung immer wieder auf eine Probe. Emma akzeptierte, dass ihr Freund ein Morgenmensch war und sah über seine schrecklich gute Laune am Frühstückstisch hinweg, wenn er mal wieder versuchte morgens ein Gespräch mit ihr anzufangen. Bevor sie nicht ihren ersten Becher Kaffee ausgetrunken hatte, war Emma nicht zu einem Gespräch bereit. Aber das konnte Mark bis heute nicht akzeptieren. Und auch, dass sie immer wieder bis tief in die Nacht an ihrem Computer saß, um Fotos zu bearbeiten, konnte oder wollte er nicht verstehen und hielt es ihr immer wieder vor.

„Außerdem war ich noch vor dir im Bett. Ich habe dich nicht mal nach Hause kommen hören,“ bemerkte Emma und schob sich ein Stück von ihrem Croissant in den Mund.

„Da siehst du mal, wie sehr du deinen Schlaf brauchst!“ Dass er erst im Morgengrauen nach Hause gekommen war und sich gar nicht mehr zu ihr ins Bett gelegt hatte, verschwieg Mark. Er sah Emma noch ein paar Minuten eindringlich an, dann stand er vom Tisch auf, räumte sein benutztes Geschirr in den Spüler und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe. „Ich bin heute Abend zurück.“

„Wo willst du denn schon wieder hin? Es ist doch Samstag.“

„Ich treffe mich mit den Jungs. Wir wollen eine Runde durch den Wald joggen,“ rief Mark aus dem Flur.

Ehe Emma noch etwas sagen konnte, fiel die Wohnungstür ins Schloss.

Seine Abschiedsküsse waren auch schon mal leidenschaftlicher … Ich frage mich, wie er den ganzen Tag mit joggen verbringen kann oder hat er noch etwas anderes vor? Egal, wahrscheinlich gehen die Jungs nach einer kurzen Runde durch den Wald erstmal einen trinken und Bundesliga gucken...

Emma trank noch einen Schluck Kaffee und streckte sich, während sie noch einmal gähnte. Während sie sich den zweiten Becher Kaffee eingoss, zog sie mit der rechten Hand die nächstgelegene Küchenschublade auf. Dort fingerte sie gekonnt, ohne auch nur einen Blick von ihrem sich füllenden Kaffeebecher abzuwenden, nach ihren Zigaretten. Schnell hatte sie die angebrochene Packung Slim-Zigaretten mit dem Feuerzeug darin gefunden. Mark hasste es, wenn sie in der Küche rauchte, aber da sie wusste, dass er bis zum Abend nicht zurück kommen würde, war es ihr heute egal. Sie öffnete das Fenster. Mit einem Klicken schoss die kleine Flamme aus dem Feuerzeug und entzündete die Zigarette in ihrer Hand. Emma blieb an dem geöffneten Fenster stehen und blickte hinaus, während sie genüsslich den ersten Zug nahm. Sie sah direkt in Richtung des alten Friedhofs, auch wenn sie ihn von hier aus nicht sehen konnte. Zu viele mehrstöckige Wohnhäuser versperrten die Sicht. Aber sie wusste ganz genau, wo ihr Lieblingsplatz der Stadt lag. Plötzlich zuckte sie zusammen und goss sich dabei einen Teil ihres Kaffees über das Nachthemd. Während sie den heißen Kaffee auf ihrer Haut spürte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken und die kleinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Eine kleine Windböe, die unvermittelt zum offenen Fenster herein geweht war, ließ Emma so erschauern.

Genau so hat es sich angefühlt, kurz bevor der Kerl mich losgelassen hat. Ein kleiner scharfer Windstoß, der mir meine Haare zerzaust hat, erinnerte sie sich an die Erlebnisse vom Vorabend.

Emma strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, während ihre Gedanken wieder zum Vorabend wanderten. Sie hatte auf dem Boden gelegen und der Mann hatte sich gerade wieder über sie gebeugt, als sie einen dunklen Schatten über sich in der Luft gesehen und gleichzeitig diesen Windhauch gespürt hatte. Sie hatte gemerkt, wie der Griff des Unbekannten sich plötzlich gelockert hatte. In diesem Moment hatte sie sich auf die Seite gerollt und sich so vollständig aus seinem Griff gelöst. Emma hatte damit gerechnet, sofort wieder den festen Griff des Mannes an ihrer Schulter zu spüren, aber nichts dergleichen war in den nächsten Sekunden geschehen. Während sie versucht hatte sich aufzurichten, hatte sie den Mann schreien gehört. Aber sie hatte noch ein Geräusch über sich gehört: ein Flattern, wie das Schlagen von Flügeln. Sie hatte nach oben geblickt, aber nichts entdecken können, ihre langen Haare hatten ihr die Sicht versperrt. Der Angreifer hatte ihr das Zopfgummi aus den Haaren gerissen, als sie zu Boden gefallen war. Bevor sie sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, war das Geräusch auch schon verschwunden gewesen. Es hatte sich sehr schnell bis über die Baumkronen entfernt und auch der Mann, der sie angegriffen hatte, hatte nicht weiter geschrien. Das Licht der Abenddämmerung war mittlerweile zu schwach gewesen, als dass sie noch etwas durch die Baumwipfel hätte erkennen können. Der Angreifer war wie vom Erdboden verschwunden. Sie hatte ihn nicht wegrennen hören. Nur diesen einen Schrei, den er ausgestoßen hatte, als er sie losgelassen hatte, den hatte sie noch im Ohr.

Wie hätte er auf dem Kiesweg lautlos verschwinden können? Und zwischen den Gräbern entlang? So schnell? Unmöglich! Dann hätte ich ihn noch sehen müssen. Und welchen Grund hat er gehabt, mich so plötzlich loszulassen? Und dieser Schrei – warum dieser Schrei?

Emma drückte ihre Zigarette auf der Fensterbank vor dem Küchenfenster aus und warf sie in den Mülleimer. Der Kaffeefleck auf ihrem schwarzen Nachthemd war mittlerweile getrocknet. Sie beschloss, sich endlich etwas anzuziehen und dann noch einmal die Fotos vom Vorabend durchzusehen.

Vielleicht lässt sich doch noch ein Hinweis auf einem der Fotos finden, wohin der Mann verschwunden ist. Vielleicht war ich gestern Abend einfach nur zu müde, um genau genug hinzusehen, dachte sie, während sie ins Schlafzimmer ging.

Sie streifte die spitzenbesetzten Träger des Nachthemds über ihre Schultern und ließ den zarten Stoff zu Boden gleiten. Emma schlüpfte in einen lockeren schwarzen Strickpullover und hob die Jeggins vom Boden auf, die sie am Vorabend getragen hatte. Als sie sie über die Hüften zog, fiel ihr Blick auf die restlichen Kleidungsstücke, die noch am Boden lagen: das Shirt und der BH vom Vorabend. Sie erinnerte sich, dass der Stoff zerrissen war. Auch das hatte sie sich bisher nicht erklären können. Emma hockte sich hin und nahm das Shirt in ihre Hände. Sie begutachtete es. An der rechten Schulter war der Stoff gerissen, so wie der Träger ihres BHs, den sie darunter getragen hatte.

Okay, der dünne Stoff kann gerissen sein, als ich mit diesem Kerl gekämpft habe. Aber der Träger? Das Material ist doch viel zu fest, als dass man es einfach so durchreißen könnte. Und der Stoff am T-Shirt ist an der Risskante nicht ausgefranst. Die Kante ist glatt, wie bei einem scharfen Schnitt.

Emma nahm das Shirt auf dem Weg ins Wohnzimmer weiter unter die Lupe. Sie arbeitete sich zur rechten Seite vor. Dort, wo es ebenfalls zerrissen war. Und diese Stelle stellte sie vor ein noch größeres Rätsel. Sie schob den Stoff zwischen ihren Fingern hin und her und grübelte:

Drei Risse im Stoff. Drei bogenförmig verlaufende Risse. Nein, Schnitte. Die Kanten sind alle glatt. Keine Fransen im Stoff zu sehen. Aber woher können die Schnitte in meinem Shirt stammen? Der Mann hatte kein Messer oder Ähnliches dabei, als er mich angegriffen hat. Und als ich im Kampf zu Boden gegangen bin, bin ich auf dem Kies gelandet. Das tat zwar im ersten Moment weh, aber mehr als ein Piksen auf der Haut war es nich. Die Steine können so einen Schaden nicht anrichten.

Emma drehte sich um und hing das Shirt auf die Lehne ihres Stuhls. Dabei berührte sie mit ihrer rechten Seite die Kante der Lehne. Sofort zuckte sie vor Schmerz zusammen. Die Kratzer an ihren Rippen hatte sie ganz vergessen gehabt. Sie schob den Pullover hoch, um sich die Kratzspuren noch einmal anzusehen. Sanft fuhr Emma mit ihren Fingerspitzen über die Haut. Rau fühlte sie sich an, verkrustet. Über Nacht hatte sich ein Schorf gebildet, nachdem die Kratzer aufgehört hatten zu bluten. Aber die Haut drumherum war immer noch gereizt und entzündet. Die Ränder der Kratzer waren knallrot und schmerzten bei jeder Berührung.

Drei Kratzer, genau wie die Schnitte im Shirt. Mhh, sieht irgendwie aus, als hätte mich eine Katze gekratzt ...

Auf ihrer Haut war der Schwung in den Kratzspuren noch viel deutlicher zu erkennen, als an dem zerrissenen T-Shirt. Aber anstatt die Ursache für die Kratzer zu finden, wurde die Verwirrung bei Emma nur noch größer, je länger sie sich mit der Verletzung beschäftigte. Sie starrte einige Minuten teilnahmslos aus dem Fenster zum Balkon. Der Himmel war bedeckt. Eine graue eintönige Fläche.

„Dieses eine Foto!“, rief sie.

Wie hatte sie das vergessen können? Oder hatte sie es gar nicht vergessen, hatte sie es vielmehr verdrängt? Eilig öffnete sie den Ordner mit ihren Arbeiten auf dem Desktop und wühlte sich durch die Unterordner, bis die Dateien vom Vorabend vor ihr auf dem Bildschirm erschienen. Auf den Miniaturansichten in der Vorschau war nicht viel zu erkennen. Deshalb öffnete Emma die Fotos, die während der letzten Sekunden des Angriffs entstanden waren. Auf einem dieser Fotos hatte sie gestern Nacht das Unglaubliche entdeckt. Da war es: Eine ledrige dunkelgraue Fläche, durchzogen von feinen Linien mit Verästelungen, mal feiner, mal etwas kräftiger, die sich über die gesamte Oberfläche zogen. Man konnte diese Feinheiten nur erkennen, wenn man in das Foto hineinzoomte.

Wie eine Haut ... Aber dunkelgrau? Kein Mensch hat eine dunkelgraue Haut.

Emma grübelte weiter, während sie ihren Blick keine Sekunde von dem Foto abwandte. Der Mann, der sie angegriffen hatte, hatte definitiv keine dunkelgraue Haut gehabt, das wäre ihr aufgefallen. Sie hatte doch direkt in sein Gesicht gesehen, als er vor ihr gestanden und den Gurt ihrer Kamera über ihrer Kehle zugezogen hatte. Angestrengt dachte sie nach, was das für eine komische Haut sein konnte, die sie dort fotografiert hatte.

Eine Fledermaus. Fledermausflügel sind dunkelgrau. Und werden von Adern durchzogen. Eine simple Erklärung.

Emma atmete auf. Ihr war bloß eine Fledermaus vor die Linse geflogen. Dass ihr das nicht gleich aufgefallen war? Schließlich hatte sie schon oft vom Balkon aus die Fledermäuse abgelichtet, die an der Hauswand im Efeu auf Mückenjagd gingen. Und das erklärte auch, warum sie in ihrem Traum diesen Fledermausflügel gesehen hatte.

Erleichtert ging Emma in die Küche, um sich Kaffeenachschub zu holen. Doch schon auf dem Weg zur Kaffeemaschine kamen ihr Zweifel an ihrer, auf den ersten Blick so einleuchtenden, Erklärung. Denn für eine kleine Fledermaus stimmten die Proportionen einfach nicht. Das Foto war ohne Zoom entstanden. Dafür war das Bildrauschen in dem spärlichen Licht zu gering. Außerdem konnte sie es anhand der Metadaten der Datei erkennen. Und wenn die Fledermaus so nah vor der Linse geflogen wäre, dass ihre Flügel so detailreich abgebildet worden wären, dann hätte das vorhandene Licht nicht ausgereicht, um überhaupt noch eine Struktur auf dem Flügel erkennen zu können. Dann wäre nur noch eine schwarze Fläche abgebildet worden.

Und noch ein Problem, dachte sie, während der dampfende Kaffee ihren Becher füllte und tausende Bläschen an der Oberfläche bildete. Fledermäuse schlagen so schnell mit ihren Flügeln, dass es unmöglich ist, so ein scharfes Foto hinzubekommen. Vor allem in diesem Dämmerlicht.

Es musste eine andere Erklärung für dieses Foto geben. Emma nahm einen Schluck Kaffee und sah gedankenverloren aus dem immer noch geöffneten Küchenfenster. Sie überlegte verbissen, was dort auf dem Friedhof herumfliegen konnte, das aussah wie eine gewöhnliche Fledermaus, aber wesentlich größer war. So groß wie ein Mensch vielleicht?

Eine mutierte Riesenfledermaus ...

Emma musste unweigerlich über ihren Gedanken lachen und verschluckte sich prompt an ihrem Kaffee. Sie prustete und rang nach Luft, während ihr Tränen in die Augen schossen und ihren Blick verschwimmen ließen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, ging sie die Gegend um den Friedhof noch einmal in Gedanken durch:

Da ist der Friedhof selber. Uralte Grabsteine. Ein paar Grüften, die zum Teil schon langsam verfallen. Viele Bäume – Eichen, Buchen, Kastanien. Direkt an der Mauer liegt die Kapelle. Überall dort fliegen nachts sicher unzählige Fledermäuse umher. Aber was sonst noch?

Emma wanderte mit ihrem Blick in Gedanken an der alten Kapelle hinauf. Sie war aus rötlichem Sandstein gebaut. Die schmalen Bogenfenster mit ihren bunten Glasornamenten leuchteten in der untergehenden Abendsonne. Darüber die mit Schiefer verkleidete Kuppel, an deren Fuß an jeder der acht Ecken eine steinerne Figur saß.

„Die Gargoyles!“, rief Emma plötzlich laut aus dem Fenster.

Das war die Lösung, wenn es keine Fledermaus auf dem Foto war, dann konnte es nur ein Gargoyle sein. Seine Flügel sahen aus, wie die einer Fledermaus, aber er war wesentlich größer.

Okay, die Gargoyles an der Kapelle sind alle aus Stein, aber wer sagt denn, dass es nicht auch Gargoyles aus Fleisch und Blut gibt!?

Emma hatte schon immer etwas für das Übersinnliche übrig gehabt. Das musste sie von ihrer Uroma geerbt haben. Die hatte ihr schon früher Geschichten von Hexen erzählt und ihr erklärt, wie man Heilkräuter benutzt, um daraus Medizin und Tränke für Liebeszauber und Verwünschungen herzustellen. Der Rest der Familie hatte Uroma Ottilie immer als verrückt abgetan. Aber Emma war schon als kleines Mädchen von ihrem Wissen fasziniert gewesen und glaubte auch heute noch an sie. Und so spielte Emma zumindest mit dem Gedanken, dass es Gargoyles in der Nähe des Friedhofs geben könnte.

Habe ich deshalb heute Nacht von diesen riesigen Flügeln geträumt? Weil ich sie wirklich gesehen habe? Aber warum erinnere ich mich dann nicht mehr daran? Habe ich diese Erinnerung etwa verdrängt?


Mit festen Schritten näherte Emma sich der Kapelle. Die Wolken vom Vormittag hatten sich verzogen und der Sonne platz gemacht. Der Nachmittag neigte sich schon langsam dem Ende zu, aber die Sonnenstrahlen wärmten noch. Trotzdem spürte Emma, dass der Herbst sich unaufhaltsam näherte. Sie konnte ihn förmlich riechen. Das Laub auf den Bäumen hatte schon diesen ganz speziellen Geruch nach Herbst angenommen.

Lange wird es nicht mehr dauern, bis die Blätter der Friedhofseichen und der großen Kastanien in größeren Mengen von den Ästen fallen und einen raschelnden gelb-braunen Teppich auf dem Kiesweg bilden, dachte Emma, während sie an der Friedhofsmauer entlang ging.

Ihr Herz pochte mit jedem Schritt schneller. Langsam kroch Gänsehaut ihren Arm herauf und sie begann zu frösteln, obwohl sie eine Jeansjacke trug. Am liebsten hätte sie sofort die Straßenseite gewechselt.

Stell dich nicht so an!, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Es ist noch hell draußen und um diese Zeit sind noch viele Menschen rund um den Friedhof unterwegs.

Sie konnte die Kapelle bereits sehen, auch wenn nur die Spitze der Kuppel hinter den großen Koniferen hervorragte, die das mittelalterliche Gebäude von der Straße trennten. Ein Pärchen mittleren Alters kam ihr an der Friedhofsmauer entgegen. Beide hatten eine Eiswaffel in der Hand und genossen sichtlich ihren Spaziergang an diesem sonnigen Spätsommernachmittag. Emma ging weiter durch das verschnörkelte schmiedeeiserne Tor am Eingang des Friedhofs. Ein bisschen mulmig war ihr doch zumute, als sie mit ihrem Blick dem langen Kiesweg folgte, der gesäumt von mächtigen Eichen und Kastanien, zu den alten Gräbern und Grüften führte und zu der Stelle, an der sie angegriffen worden war. Sie bog jedoch direkt hinter dem Tor nach rechts ab, ging zwischen zwei Koniferen hindurch und folgte dem schmalen Kiesweg bis zur Kapelle. Hier fühlte sie sich unglaublich sicher. Die Kapelle stand zwar auf dem Friedhofsgelände und war auch nicht belebter als der Rest des Areals, aber irgendetwas hier vermittelte ihr ein Gefühl von absoluter Sicherheit. Sie wusste nicht, was es war, das ihr dieses Gefühl gab, aber sie kümmerte sich auch nicht weiter darum. Sie war schon wieder von dem Anblick der Steinfiguren am Rand der Kuppel fasziniert und konnte ihren Blick kaum von ihnen abwenden. Emma nahm den Objektivdeckel von ihrer Kamera, ohne die Figuren aus den Augen zu lassen, und brachte sich in Position. Sie hatte sich schon lange vorgenommen gehabt, die Steinfiguren bei einer Fotosession in Szene zu setzen, aber bisher hatte sie nie das perfekte Licht dafür gehabt und ihre Vorhaben deshalb immer wieder aufgeschoben. Der Gargoyle rechts neben dem Eingang zur Kapelle war es, der sie besonders interessierte. Es waren noch sieben andere Figuren rund um die Kuppel der Kapelle angebracht. Alle saßen sie auf kleinen Sandsteinpodesten. Jeder in einer anderen Position, aber doch alle ähnlich. Die elefantengrauen mannsgroßen Figuren hoben sich deutlich von den blassroten Podesten ab. Emma wusste nicht, warum sie ausgerechnet den Gargoyle rechts neben der schweren hölzernen Eingangstür für ihre Recherchefotos auswählte. Es war eine intuitive Entscheidung. Irgendetwas zog sie förmlich zu dieser Figur hin. Und gewöhnlich traute sie ihrem Instinkt. Ihre Intuition ließ sie eigentlich nie im Stich. Sie betrachtete die Steinfigur durch den Sucher ihrer Kamera.

Ich hätte diese Figuren schon viel früher fotografieren sollen, stellte sie für sich fest, während sie den Gargoyle Zentimeter für Zentimeter durch den Sucher betrachtete und die Atmosphäre in sich aufsog.

Sie ließ jedes Detail der Figur auf sich wirken, bevor sie das erste Foto machte. Der Gargoyle saß dort oben auf seinem kleinen Podest. Seine riesigen Füße ragten über die Kante der Sandsteinplatte hervor, als wollte er sich von ihr abstoßen, um sich in den Nachmittagshimmel zu erheben. Die Krallen an den Füßen bogen sich leicht um die Kante des Podests. Emma machte Detailaufnahmen von den Krallen und den Füßen der Figur und arbeitete sich von dort aus immer weiter zum Kopf des Gargoyles vor. Seine Flügel hatte er leicht ausgebreitet, als wollte er jeden Moment abheben. Sie waren etwas dunkler als der Rest der Statue. Emma konnte einzelne Knochen erkennen, die die Flügel durchzogen.

So eine detailreiche Arbeit. Faszinierend!

Den Kopf hatte der Gargoyle gedankenverloren auf seine rechte Pranke gestützt. Sie sah fast aus wie die Hand eines Menschen. Nicht so rund und dick, wie die Tatze einer Raubkatze, aber war mit genauso großen scharfen Krallen besetzt. Und genau diese Krallen interessierten Emma besonders. Denn auf diesem einen ungewöhnlichen Foto war neben dem offensichtlichen Flügel auch so etwas wie eine Kralle zu sehen gewesen. Wenn auch nur im Anschnitt, aber immerhin. Und wenn sie das Foto mit der Statue vergleichen wollte, brauchte sie Detailaufnahmen der Vorderkrallen. Langsam kroch ein stechender Schmerz in Emmas Nacken hinauf. Ihre Schulter war schon ganz steif. Kein Wunder, so lange wie sie sich schon verrenkte und zu der Steinfigur hinauf starrte. Normal hätte sie jetzt die Fotosession beendet, bevor sie noch Kopfschmerzen bekam. Aber nicht heute. Da war noch etwas, das sie magisch anzog:

Seine Augen! Wie kann man nur ein paar Augen so detailgetreu in Stein meißeln? Und dieser Blick ... So sehnsuchtsvoll ...

Sie hatte das Gefühl, als könnte sie diese Augen stundenlang durch den Sucher ihrer Kamera anstarren. Fast vergaß sie, den Auslöser zu drücken. Doch dann machte Emma gleich mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln. So sehr faszinierte sie der Blick des steinernen Gargoyles.

Die Sonne näherte sich währenddessen immer weiter dem Horizont. Emma musste sich beeilen, wenn sie noch im Hellen nach Hause kommen wollte. Und das wollte sie unbedingt. Auf keinen Fall wollte sie wieder in der Dämmerung in der Nähe des Friedhofs sein. Zu sehr saß ihr der Angriff und die damit verbundene Angst von gestern Abend noch in den Knochen. Und auch, wenn die Kapelle am Rand des Friedhofs lag und von einer Reihe Koniferen umgeben war, die keinen direkten Blick auf den Rest des Friedhofs zuließ, fühlte sie sich zunehmend unbehaglicher. Sie drehte nur noch kurz eine Runde um die Kapelle, um die Augen der anderen Gargoyles ebenfalls zu fotografieren, verwarf diesen Plan aber schnell wieder. Denn keiner der anderen Gargoyles zog sie so in seinen Bann, wie der eine neben dem Eingang der Kapelle. Sie sah nichts in den Augen der anderen Gargoyles als eine steinerne Leere. Dabei waren die Augen genauso detailreich in den Stein gehauen, wie bei ihrem Gargoyle. Sie konnte keinen Unterschied entdecken, auch nicht, als sie durch den Sucher ihrer Kamera blickte und nah an die Augen der anderen Gargoyles heranzoomte. Dennoch hatten alle anderen Figuren den selben leeren Blick – eben den Blick einer steinernen Statue.

Wahrscheinlich eh alles nur Einbildung von mir. Wie soll der Blick einer steinernen Figur sehnsuchtsvoll sein? Oder irgendein anderes Gefühl ausdrücken können?

Bevor sie wieder vor dem einen Gargoyle stehen blieb und erneut in seine Augen starrte, ging sie lieber zurück zum Tor und machte sich auf den Heimweg. Die untergehende Sonne tauchte den Weg mittlerweile in ein warmes rotes Licht.

Höchste Zeit hier wegzukommen.


Im Wohnzimmer war es dunkel. Nur das Licht der beiden Bildschirme erhellte einen kleinen Teil der Schreibtischplatte, auf der sie standen. Die Stille im Raum wurde nur durch das rhythmische Klicken der Maus unterbrochen, während Emma ihre Fotos vom Nachmittag sichtete. Und wieder zogen die Augen des Gargoyles sie in ihren Bann.

So ein ausdrucksstarker Blick und das in Stein ... Sehnsucht ist es, die in diesem Blick liegt. Eine tiefe Sehnsucht. Da bin ich mir jetzt vollkommen sicher.

Emma kam es vor, als würde der steinerne Gargoyle jeden Moment blinzeln, so lebendig wirkten diese in Stein gemeißelten Augen. Stundenlang hätte sie sich nur diese Augen ansehen können, aber sie hatte wichtigeres zu tun. Schließlich wollte sie herausfinden, was sie da am Vorabend wirklich mit der Kamera eingefangen hatte. So sehr sie sich auch fürchtete, die Wahrheit herauszufinden, so neugierig war sie gleichzeitig. Was, wenn sie wirklich den Flügel eines Gargoyles fotografiert hatte? Emma spürte ein flaues Gefühl in ihrem Magen, als sie das Foto vom Vorabend öffnete. Eindeutig identifizieren konnte sie die dunkelgraue Fläche darauf immer noch nicht.

Ich brauche den direkten Vergleich.

Mit einem Doppelklick öffnete sie auch eines der Fotos vom Nachmittag. Der Bildausschnitt war ähnlich dem vom Vorabend, aber so sehr sie sich auch bemüht hatte, die Perspektive war eine andere. Sie hatte sich gekrümmt, ihren Oberkörper soweit es ging verdreht, nur um den steinernen Flügel in der gleichen Perspektive ablichten zu können. Aber es war ihr trotz aller Anstrengungen nicht gelungen.

Wenn mich da heute Nachmittag jemand beobachtet hat, dann wird er mich jetzt sicher für verrückt halten, dachte sie, während sie das Foto auf den rechten Bildschirm zog.

Nun lagen beide Motive nebeneinander. Das Foto vom Abend des Angriffs auf dem linken Monitor, das von heute auf dem Rechten. Sie zoomte in das Foto auf dem rechten Bildschirm herein und heraus, immer Stück für Stück, bis sie mit dem Bildausschnitt zufrieden war. Die Farben unterschieden sich noch, verursacht durch die verschiedenen Lichtverhältnisse, in denen die Fotos entstanden waren.

So kann ich die Flügel nicht vergleichen. Entsättigen – das ist die Lösung, ich muss beide Fotos entsättigen. Dann müsste es klappen.

Emma verschob die Regler zur Farbkorrektur und Belichtung in ihrem Bildbearbeitungsprogramm, bis beide Fotos nahezu identisch aussahen.

Schon besser.

Sie rückte noch näher an den Bildschirm heran. Die Adern, die die lederne Fläche durchzogen, waren nur auf dem Foto vom Vorabend deutlich zu erkennen. Auf dem Foto von heute waren diese Details nicht zu erkennen. Immer wieder blickte sie abwechselnd auf den rechten und auf den linken Bildschirm, um sich sicher zu sein. Schließlich nahm sie ihre Lupe aus der unteren Schublade ihres Schreibtischs und betrachtete den Bildausschnitt mit dem steinernen Flügel noch einmal genauer.

Was für ein großartiger Künstler muss diese Figuren gefertigt haben! So detailreich. Einfach unglaublich faszinierend. Und dann war sie sich sicher: Da sind sie. Diese feinen Äderchen. Nicht so deutlich wie links, aber sie sind da. Wie kann man nur solche feinen Adern in Stein meißeln?

Für Emma bestand kein Zweifel mehr daran, dass auf beiden Fotos der Flügel eines Gargoyles zu sehen war. Die einzigen Unterschiede, die sie auf den beiden Aufnahmen nach der Bearbeitung noch sehen konnte, resultierten aus der Tatsache, dass der eine Flügel versteinert war und der andere eindeutig lebendig.

„Was ist hier bloß los?“, flüsterte Emma zu sich selbst.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen:

Wenn die beiden Fotos sich so sehr ähneln, muss es also Gargoyles auf dieser Welt geben. Das wäre zumindest auch eine Erklärung dafür, dass jemand diese Figuren geschaffen hat. So ein Wesen kann sich doch kein Mensch ausdenken, solche Monster kann man nur abbilden und für die Nachwelt festhalten, wenn man sie wirklich gesehen hat. Und wenn diese Kreaturen wirklich existieren, dann war es ein Gargoyle, der diesen Kerl gestern Abend vertrieben hat. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum der Typ so plötzlich losgelassen hat. Und wohin er verschwunden ist ...

Wieder lief Emma ein kalter Schauer über den Rücken und die kleinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf, als Gänsehaut sich auf ihnen ausbreitete. Wenn so eine Bestie den Mann von ihr weggerissen hatte, was war dann schlimmer, dass dieser Kerl sie angegriffen und gewürgt hatte oder was sonst noch hätte passieren können, wenn er es nicht getan hätte und diese Bestie über sie hergefallen wäre, während sie sich alleine auf dem Friedhof herumtrieb?

„Bin wieder zu Hause, Schätzchen!“

Und betrunken. Na toll.

Sie wusste sofort, dass Mark nach dem Sport noch mit seinen Kumpels in seiner Stammkneipe gewesen war. Schätzchen nannte er sie nur, wenn er betrunken war. Und sie hasste es. Noch bevor Emma alle Fotos auf den Bildschirmen schließen konnte, stand Mark schon hinter ihr. Der Geruch von Bier und kaltem Schweiß waberte zu ihr herüber, als ihr Freund ihr einen feuchten Kuss auf die Wange gab. Dann wanderte sein Blick auf die Bildschirme vor Emma.

„Du warst doch nicht etwa wieder auf dem Friedhof, oder!?“

„Nein. Ich war nur an der Kapelle. Und wenn, warum nicht?“

„Das fragst du noch? Ich weiß nicht, was gestern passiert ist, aber du bist garantiert nicht nur gestolpert.“ Er machte eine kurze Pause, in der Hoffnung, dass Emma endlich mit der Wahrheit herausrücken würde. Aber sie tat es nicht. Sie starrte weiter auf den rechten Bildschirm in die Augen des Gargoyles. „Bist du von jemandem angegriffen worden?“, bohrte er weiter. „Immerhin stand in den letzten Wochen öfter in der Zeitung, dass Frauen nachts überfallen oder vergewaltigt worden sind. Du solltest dich wirklich nicht im Dunkeln auf diesem menschenleeren Friedhof herumtreiben.“

Du hättest noch mehr Bier in dich reinschütten sollen, dann würdest du mich wenigstens nicht mehr nerven, dachte Emma, sprach es aber nicht aus.

„Es war aber heute helllichter Tag. Und ich war ja nicht direkt auf dem Friedhof, sondern nur in der Nähe.“

„Hast du nicht eigentlich genug Fotos von diesen Statuen und Grabsteinen und weiß Gott was noch? Was ist das da überhaupt?“

Er deutete auf den Bildschirm.

„Das ist eine Nahaufnahme von den Augen eines steinernen Gargoyles“, erklärte Emma. „Die Figuren sind an der Kapelle angebracht. Hast du die noch nie gesehen?“

„Hässliche Dinger!“, antwortete Mark nur kopfschüttelnd. „Also ich würde mir sowas da nicht an die Wand hängen. Ich verstehe die Leute nicht, die solche Fotos von dir kaufen. Ich gehe duschen.“ Und schon verschwand er im Badezimmer.

Das verstehen auch nur Menschen mit einem Blick für Kunst und schöne Dinge. Du wirst das nie verstehen.

Bis spät in die Nacht saß Emma noch vor ihrem PC. Schlafen gehen konnte sie einfach nicht. Die Arbeit lenkte sie zu sehr ab. Auch, wenn es eigentlich keine Arbeit für sie war, die neuesten Fotos zu bearbeiten und für den Druck vorzubereiten. Viele waren es diesmal ohnehin nicht. Nach dem Sortieren blieben gerade einmal zwei Aufnahmen übrig, die Emma für gut genug befand, um sie in ihrem Onlineshop anzubieten: Der kleine Sandsteinengel auf dem Grab, an dem sie überfallen worden war, und die Augen ihres Gargoyles. An den Augen des Gargoyles bearbeitete Emma nicht viel. Sie beschnitt das Foto ein wenig, legte die richtige Größe für die verschiedenen Druckformate fest und kontrollierte den Schwarzwert, die Belichtung, sowie den Kontrast des Fotos. Mit dem Engel hatte sie mehr Arbeit. Sie hatte ihm für das Foto eine rote Rosenblüte in die Hände gelegt, um einen Farbakzent zu haben. In der Nachbearbeitung ließ sie nur der Rose ihre Farbe. Den Rest des Fotos entsättigte sie, so dass es zu einem Schwarzweißfoto wurde. Langsam fielen Emma die Augen zu. Sie schmerzten vor Anstrengung. Nach mehreren Stunden Arbeit vor dem Bildschirm brauchten ihre Augen dringend eine Pause, aber Emma wollte unbedingt noch alles fertig bekommen. Sie führte die verschiedenen Ebenen des Engelsfotos zusammen, kontrollierte das Ergebnis noch einmal und speicherte alle Dateien ab. So brauchte sie am nächsten Tag nur noch die Aufträge für die Postkarten an die Druckerei schicken. Die Abzüge der Fotos, würde sie während ihrer Arbeit in der Fotobox machen. Ihr Chef freute sich, wenn sie für ein paar Extraaufträge sorgte.


Mark schnarchte leise, als sie sich zu ihm ins Bett legte. Er wachte nicht auf, als sie unter die Decke kroch. Emma beobachtete ihn einige Minuten, bis ihre Augen vor Müdigkeit zufielen. Doch ihr Schlaf war unruhig. Direkt nach dem Angriff hatte Emma noch gedacht, dass sie das Erlebnis leicht wegstecken würde. Dem war jedoch nicht so. Auch in dieser Nacht beschäftige sie der Überfall weiter. Sie träumte wirr und wälzte sich wieder unruhig im Bett hin und her, während Mark neben ihr lag, wie ein Stein. Emma träumte von den steinernen Augen. Sie sah sie immer wieder vor sich. Ganz nah. Sie starrten sie an. Und dann blinzelten sie. Emma saß schweißgebadet im Bett. Durch die Vorhänge lugten bereits die ersten zarten Sonnenstrahlen des nahenden Morgens.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739479828
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Erlösung Fantasy Fluch Gargoyle Liebe

Autor

  • Mayana Jaeger (Autor:in)

Mayana Jaeger hat schon seit ihrer Jugend einen engen Bezug zum Schreiben. Ihr Spektrum reicht vom Journalismus bis zu Kurzgeschichten und Romanen.
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Titel: Der Efeufluch: Das Efeu-Amulett