Lade Inhalt...

Die Komplizen des Todes

von Kirsten Sawatzki (Autor:in)
210 Seiten

Zusammenfassung

Ein Zufallsfund bei einer Massenkarambolage: 48 Leichen werden in einem Container aufgefunden – ohne Papiere, ohne Fahrer und ohne erkennbaren Grund. Kommissarin Laura Braun und Gerichtsmedizinerin Elena Salonis stehen vor einem Rätsel: Handelt es sich um einen Unfall oder doch um ein gewaltiges Verbrechen? Die Ermittlungen ziehen die beiden Frauen immer tiefer hinein in einen Sog aus menschlichen Abgründen und grenzenloser Gier. Und zu allem Überfluss tritt auch Elenas Ex-Freund wieder in ihr Leben ... “Wer hat ein Interesse an so vielen toten Körpern? Fragen Sie lieber, wer keines hat…"

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1  

Die Lau­ne von Dr. Ele­na Sa­lo­nis war schon übel ge­nug, noch be­vor sie das rechts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut be­tre­ten hat­te. Der Berg un­be­ar­bei­te­ter Do­ku­men­te, die fein säu­ber­lich auf ihrem Schreib­tisch ge­ord­net wor­den wa­ren, dämpf­ten ih­re Stim­mung noch mehr. Fast je­de Ak­te war ge­spickt mit ei­ner No­tiz. Des­halb war sie heu­te frü­her ge­kom­men. Ihr ers­ter Ar­beits­tag. Sie wuss­te, was drin­gend zu er­le­di­gen war, denn seit zwei Wo­chen la­gen die Be­fun­de und me­di­zi­ni­schen Un­ter­la­gen zur Durch­sicht auf ihrem Schreib­tisch. Hin­zu ka­men die Fäl­le, die sie schon vor ihrem Ur­laub nicht er­le­digt hat­te. Wäh­rend des Du­schens hat­te sie sich vor­ge­nom­men, dass sie noch vor der ers­ten Ob­duk­ti­on al­le Be­rich­te un­ter­schrei­ben wür­de. Jetzt fühl­te sie sich der Auf­ga­be kei­nes­falls ge­wach­sen.

Lust­los sank sie ge­gen den Tür­rah­men, um­klam­mer­te ihren Kaf­fee­be­cher und in­ha­lier­te förm­lich des­sen Aro­ma. Aus si­che­rer Ent­fer­nung be­äug­te sie ihren Schreib­tisch, als wür­de al­lein der Wunsch, der Bü­ro­a­r­beit zu ent­flie­hen, den Sta­pel Ak­ten in Luft auf­lö­sen. Na­tür­lich klapp­te das nicht. Sie kipp­te den Rest des Kaf­fees hin­un­ter und knall­te die Tas­se mit ei­nem un­sanf­ten Ge­räusch ne­ben den Com­pu­ter­bild­schirm.

Oh­ne den Un­ter­la­gen ei­nen wei­te­ren Blick zu schen­ken, stürm­te sie aus dem Zim­mer. Von ei­nem plötz­li­chen Ein­fall be­flü­gelt, stieß sie die Tür zur Lei­chen­hal­le auf. Die Stil­le des Rau­mes war ihr so ver­traut, dass sie ei­nen Mo­ment in­ne­hielt und die Ru­he auf sich wir­ken ließ. Küh­le Luft, ver­mischt mit dem Ge­stank nach to­tem Fleisch und Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Die meis­ten Men­schen hät­te jetzt si­cher das Grau­en ge­packt. Ihr war der Ge­ruch des To­des schon lan­ge nicht mehr fremd. Aber heu­te kratz­te er so ver­däch­tig in ih­rer Na­se, dass sie ei­nen Mo­ment in­ne­hielt. Die Leucht­stoff­lam­pen blin­zel­ten und zuck­ten, und schließ­lich er­hell­ten sie den Raum. Im Vor­bei­ge­hen zog sie ein Paar Ni­tril­hand­schu­he aus ei­nem Spen­der und ließ sie mit ei­nem sat­ten Schnal­zer über die Hän­de glei­ten. Bei­na­he mo­ti­viert steu­er­te Ele­na die ho­hen Kühl­schrän­ke an und zog ei­ne Schub­la­de her­aus.

Dunk­les Naht­ma­te­ri­al. Gro­be Sti­che. Die be­haar­te Brust trug die un­ver­kenn­ba­re Hand­schrift ei­nes Rechts­me­di­zi­ners. Sie öff­ne­te die nächs­te La­de. Ein Greis. Auch hier hat­ten die Kol­le­gen schon gan­ze Ar­beit ge­leis­tet. Sie wie­der­hol­te die Pro­ze­dur. Über­prüf­te ein Schub­fach nach dem an­de­ren.

»Das gibt’s doch nicht. Mist!«, stieß sie her­vor.

Ent­täuscht und ge­ra­de­zu ihres Elans be­raubt, pfef­fer­te sie die Hand­schu­he in den Müll­ei­mer und lief zu­rück zu ihrem Bü­ro. Ei­ne Lei­che wä­re jetzt ein gu­ter Grund ge­we­sen, um sich vor dem Schreib­kram zu drü­cken. Bü­ro­a­r­beit war nicht ihr Ding. Das hat­te sie wohl ihren grie­chi­schen Ge­nen zu ver­dan­ken. Hieß es nicht im­mer, dass die Grie­chen ein Volk der Ta­ten wa­ren und nicht ein Volk von Bü­ro­kra­ten?

Mit ei­nem re­si­gnie­ren­den Stöh­nen ließ sie sich in ihren Bü­ro­stuhl fal­len. Miss­mu­tig starr­te sie auf den Ak­ten­berg. War die­ser vor we­ni­gen Mi­nu­ten nicht um ei­ni­ges klei­ner ge­we­sen? Sie griff nach der obers­ten Klad­de.

Vik­tor Böhm. Die Wor­te spran­gen ihr ent­ge­gen, und so­fort hat­te sie den Fall vor Au­gen. Das Bild ei­nes at­trak­ti­ven Mitt­sech­zi­gers mit sil­ber­nem Haar und stahlblau­en, wa­chen Au­gen. Wie über­rascht sie dar­über ge­we­sen war, dass die­se Au­gen, auch nach Ein­tre­ten des To­des, ih­re Leucht­kraft nicht ver­lo­ren hat­ten. Schnell war sie hin­ter de­ren Ge­heim­nis ge­kom­men. »Far­bi­ge, iri­sie­ren­de Kon­takt­lin­sen«, hat­te sie da­mals Di­mi­tri er­klärt. Der Sek­ti­ons­as­sis­tent hat­te über­rascht die Au­gen­brau­en hoch­ge­zo­gen. »Wie­so trägt ein al­ter Mann leuch­tend blaue Kon­takt­lin­sen, das ist doch eher was für die jun­ge Ge­ne­ra­ti­on?«

»Al­ter Mann?!«

Ober­haupt­kom­mis­sar Bo­de war schon öf­ters Gast in Ele­nas Sek­ti­ons­saal ge­we­sen. Er stand kurz vor der Pen­si­on und sie wuss­te, dass er in sei­ner Dienst­zeit bei der Kri­po Mann­heim-Hei­del­berg schon ei­ni­ges ge­se­hen hat­te. Aber noch nie hat­te sie es er­lebt, dass Alex­an­der Bo­de durch et­was aus der Fas­sung ge­ra­ten war. Grim­mig hat­te er den Sek­ti­ons­as­sis­ten­ten an­ge­fun­kelt. Hat­te des­sen jun­gen, mus­ku­lö­sen Kör­per be­äugt, über dem sich das grü­ne OP-Hemd ge­spannt hat­te.

»Nur weil der Mann kei­ne drei­ßig mehr ist, ist er noch lan­ge kein al­ter Kna­cker!«

Ei­ne Ent­schul­di­gung mur­melnd, hat­te sich Di­mi­tri schnell den In­stru­men­ten zu­ge­wandt.

Mia Bau­er. Sie seufz­te, als sie die nächs­te Klad­de öff­ne­te und die fein säu­ber­lich ge­tipp­ten Sei­ten her­aus­zog. Sie wuss­te, dass sie sich auf ih­re Kol­le­gin ver­las­sen konn­te. Trotz­dem las sie den kom­plet­ten Text durch, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass sich kei­ne Feh­ler ein­ge­schli­chen hat­ten, ehe sie in schwung­vol­len Let­tern un­ter­schrieb. Sie woll­te so­eben die nächs­te Fal­lak­te vom Sta­pel zie­hen, als ihr Han­dy klin­gel­te.

 

Be­reits aus der Fer­ne ver­such­te Ele­na, das Aus­maß des Un­falls zu er­ah­nen. Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge. Das war ei­nes der Wor­te von Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun am Te­le­fon ge­we­sen. Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge!

Aber das, was sich durch die Wind­schutz­schei­be ihres Dienst­wa­gens auf­tat, ging weit über ih­re Vor­stel­lungs­kraft hin­aus. Ein rie­si­ger Feu­er­schein zeich­ne­te sich ge­gen das Mor­gen­grau­en ab und stieß ei­ne gi­gan­ti­sche Rauch­säu­le in den Him­mel. Blau­lich­ter durch­zuck­ten die wei­chen­de Nacht und schraf­fier­ten al­les sa­phirblau. Längst hat­te man die Au­to­bahn ab­ge­sperrt und den Ver­kehr um­ge­lei­tet. Frü­he Pend­ler ver­stopf­ten die Stra­ße und mach­ten es fast un­mög­lich, durch die Ret­tungs­gas­se zu kom­men.

End­lich er­reich­te sie ei­ne Po­li­zeisper­re. Der Mann in Uni­form ließ sich Zeit, ihren Aus­weis zu kon­trol­lie­ren, dann warf er ihr ei­nen letz­ten prü­fen­den Blick zu und ließ sie pas­sie­ren. Im Schritt­tem­po roll­te sie über den As­phalt.

Ge­schickt lenk­te sie den Wa­gen zwi­schen ste­hen­den Fahr­zeu­gen hin­durch und such­te ei­ne ge­eig­ne­te Park­mög­lich­keit, um die ab­fah­ren­den Ret­tungs­fahr­zeu­ge nicht zu blo­ckie­ren. Um sich ei­nen Über­blick zu ver­schaf­fen, be­schloss sie, noch ei­nen Mo­ment im Wa­gen sit­zen zu blei­ben.

So­fort fie­len ihr die er­schöpf­ten Feu­er­wehr­män­ner am Stra­ßen­rand auf. Fah­le Ge­sich­ter, de­nen man das Grau­en und die Über­las­tung buch­stäb­lich an­sah. Ei­ner schraub­te ei­ne Was­ser­fla­sche auf, und sei­ne Hand zit­ter­te, als er sie zum Mund führ­te. Ei­ne kur­ze Pau­se, be­vor er sich wie­der dem Kampf ge­gen das Feu­er stel­len wür­de.

Sie griff nach Man­tel und Ein­satz­kof­fer und war ge­ra­de im Be­griff aus­zu­stei­gen, als sich ein dunk­ler Schat­ten vor ihr auf­bau­te.

»Hey, was wol­len Sie hier? Ver­schwin­den Sie!«

Noch be­vor Ele­na ant­wor­ten konn­te, fiel der Blick des Feu­er­wehr­man­nes auf das Ar­ma­tu­ren­brett. Auf die Wor­te, wel­che in di­cken ro­ten Let­tern auf ei­ne klei­ne Ta­fel ge­druckt wa­ren. Wor­te, die je­dem sag­ten, war­um sie hier war: Rechts­me­di­zin im Ein­satz.

»Sor­ry. Ich dach­te, Sie wä­ren ei­ner die­ser Re­por­ter, die hier stän­dig auf­tau­chen und uns nur im Weg rum­ste­hen!«, be­gann er mit ei­ner Ent­schul­di­gung.

Sie konn­te ihm kaum ei­nen Vor­wurf ma­chen. Sie hat­te selbst schon er­lebt, wie auf­dring­lich ei­ni­ge Jour­na­lis­ten sein konn­ten. Ele­na hob be­schwich­ti­gend die Hand. »Sa­gen Sie mir lie­ber, wo ich Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun fin­de.«

Er zuck­te mit den Ach­seln. »Hier sind Un­men­gen an Po­li­zis­ten. Wir sind schon seit Stun­den im Ein­satz. Ich weiß nicht, wie vie­le Last­wa­gen an dem Un­fall be­tei­ligt sind, aber es sind ei­ne gan­ze Men­ge, das kön­nen Sie mir glau­ben. Ganz zu schwei­gen von den vie­len PKWs. Aber das Schlimms­te ist der Tank­wa­gen. Der hat­te ir­gend­et­was Ex­plo­si­ves ge­la­den. Er hat sich und ein paar um­her­ste­hen­de Fahr­zeu­ge in die Luft ge­jagt. Die Tei­le sind bis auf die Ge­gen­spur ge­flo­gen. Ein In­fer­no, sa­ge ich Ih­nen. Sind Sie des­halb hier?«

Ele­na igno­rier­te die Fra­ge, je­doch nicht aus Un­höf­lich­keit. Ihr war im­mer noch nicht klar, war­um Lau­ra sie an­ge­ru­fen hat­te. Die Be­sorg­nis der Freun­din am Te­le­fon war deut­lich spür­bar ge­we­sen, aber es war nicht das ers­te Mal, dass sie zu ei­nem Un­fall­ort auf der Au­to­bahn ge­ru­fen wur­de. Die meis­ten Men­schen kann­ten die Ar­beit des Rechts­me­di­zi­ners nur aus Ro­ma­nen oder dem Fern­se­hen. Dort be­ka­men sie das Bild ver­mit­telt, wo­nach sich Rechts­me­di­zi­ner meist nur mit der Un­ter­su­chung von Lei­chen be­schäf­ti­gen wür­den. Die we­nigs­ten wuss­ten, dass die­ses Fach­ge­biet viel mehr Auf­ga­ben­be­rei­che um­fass­te. Die Ver­kehrs­me­di­zin war so ein The­ma. Al­ler­dings un­ter­such­te Ele­na die Op­fer in den sel­tens­ten Fäl­len di­rekt vor Ort. Heu­te war das of­fen­sicht­lich an­ders.

»Wo fin­de ich den Ein­satz­lei­ter?«

Mit ei­ner Kopf­be­we­gung deu­te­te der Mann auf ei­ne Grup­pe von Lösch­fahr­zeu­gen. »Ver­su­chen Sie es mal da vor­ne, aber pas­sen Sie auf, dass Sie nicht zu na­he an die LKWs kom­men. Die Rei­fen könn­ten durch die ex­tre­me Hit­ze plat­zen, und Sie wol­len so ein Ge­schoss si­cher­lich nicht ab­be­kom­men.«

»Ja, dan­ke.«

Un­ter den erns­ten Bli­cken der Feu­er­wehr­män­ner husch­te Ele­na an der Mit­tel­leit­plan­ke ent­lang. Sie späh­te über die ab­ge­sperr­te, lee­re Ge­gen­fahr­bahn, als das rhyth­mi­sche Don­nern von Ro­tor­blät­tern ei­nen He­li­ko­pter an­kün­dig­te. Kurz ver­folg­te sie den Flug des Ret­tungs­hub­schrau­bers auf der Su­che nach ei­nem ge­eig­ne­ten Lan­de­platz. Dann wand­te sie den Blick wie­der auf das, was sich auf der Au­to­bahn ab­spiel­te. Ein Bild des Schre­ckens.

Un­zäh­li­ge Fahr­zeu­ge wa­ren in­ein­an­der ver­keilt, PKWs, LKWs und Trans­por­ter. Ei­ni­ge stan­den quer. Ver­bo­ge­nes Me­tall reck­te sich in den Him­mel wie blei­che Kno­chen. Meh­re­re Wracks wa­ren un­längst von den Ber­gungs­kräf­ten an den Stra­ßen­rand ge­zo­gen wor­den und war­te­ten dar­auf, ab­ge­schleppt zu wer­den.

Die Fahr­bahn war über­sät von Fahr­zeug­tei­len und ver­lo­re­ner La­dung. Ver­letz­te wur­den ver­sorgt. Ei­ni­ge stan­den mit blei­chen Ge­sich­tern am Ran­de des Ge­sche­hens und starr­ten mit ge­wei­te­ten Au­gen auf die Res­te ih­rer Au­tos. Ei­ne Frau mit ei­nem wei­nen­den Klein­kind auf dem Arm ließ sich, wie in Tran­ce, von ei­nem Ret­tungs­sa­ni­tä­ter zu ei­nem Kran­ken­wa­gen füh­ren. Über­all lie­fen Feu­er­wehr­män­ner, Sa­ni­tä­ter und Po­li­zis­ten durch­ein­an­der. An­wei­sun­gen wur­den über die Fahr­bahn ge­brüllt. Pral­le Schläu­che zo­gen sich kreuz und quer über den nas­sen As­phalt, und nicht we­ni­ge wur­den kom­plett von ei­nem di­cken Tep­pich aus Lösch­schaum ver­deckt. Wie soll­te sie in die­sem Durch­ein­an­der Lau­ra fin­den?

Vor­sich­tig bahn­te sie sich ei­nen Weg durch das Cha­os. Der leich­te Herbst­wind weh­te ihr kühl ins Ge­sicht, trieb ihr ei­nen schar­fen Ge­ruch von Feu­er und ver­kohl­ten Kunst­stof­fen ent­ge­gen und brann­te in ihren Au­gen. Von Lau­ra fehl­te je­de Spur. Un­ge­dul­dig zog sie ihren Man­tel vor der Brust zu­sam­men. Jetzt erst wur­de ihr klar, wie kalt es heu­te mor­gen war. Sie hat­te weiß Gott kei­ne Lust dar­auf, die Kom­mis­sa­rin wei­ter in dem Durch­ein­an­der aus­fin­dig zu ma­chen und woll­te ge­ra­de nach ihrem Han­dy su­chen, als sie Falk Acker­mann ent­deck­te.

Um­ge­ben von Po­li­zis­ten hob ihn sei­ne Zi­vil­klei­dung von den uni­for­mier­ten Be­am­ten ab. Mit aus­drucks­lo­ser Mie­ne hör­te der Kom­mis­sar den Kol­le­gen zu und mach­te sich No­ti­zen. Un­ver­mit­telt schien er ihren Blick zu spü­ren und sah sie di­rekt an. Ein Aus­druck freu­di­ger Über­ra­schung husch­te über sein Ge­sicht. Dann ver­rutsch­te sein Lä­cheln, und sei­ne Mie­ne wur­de wie­der ernst. Er lös­te sich aus der Grup­pe und rief ihr et­was ent­ge­gen, aber der Lärm war zu stark.

»Was?«, brüll­te sie.

Statt ei­ner Ant­wort be­deu­te­te er ihr mit ei­nem Kopf­ni­cken, dass sie mit­kom­men sol­le. Vor­sich­tig wa­te­te sie durch den Lösch­schaum. Hier und da rag­ten die Spit­zen un­de­fi­nier­ba­rer Ge­gen­stän­de her­aus. Selbst wenn sie zu se­hen wa­ren, war es schwie­rig, zwi­schen ih­nen hin­durch­zu­ge­hen. Un­ter dem Schaum ver­bor­gen, wa­ren sie un­be­re­chen­bar. Als sie Acker­mann er­reich­te, wa­ren ih­re Schu­he kom­plett durch­nässt, und die voll­ge­so­ge­ne Ho­se kleb­te feucht an ihren Bei­nen.

Falk Acker­mann trug ei­ne Wild­le­der­ja­cke, dar­un­ter ei­nen schwar­zen Roll­kra­gen­pull­over und die ob­li­ga­to­ri­schen Jeans. Sein Haar, län­ger als sie es in Er­in­ne­rung hat­te und vom Wind zer­zaust, gab ihm das ju­gend­li­che Aus­se­hen ei­nes Dan­dys.

»Ele­na!« Sei­ne Au­gen lä­chel­ten, auch wenn er ernst blieb.

»Hal­lo, Falk, wo ist Lau­ra? War­um habt ihr mich ge­ru­fen?«

»Du weißt es nicht?«

Das Lä­cheln in sei­nen Au­gen ver­schwand. Er zog sie mit sich. Müh­sam scho­ben sie sich an den Wracks vor­bei. Im­mer wie­der muss­te er sich aus­wei­sen, da­mit sie pas­sie­ren konn­ten. Kurz vor dem bren­nen­den Tan­ker bo­ten sich zwei Feu­er­wehr­män­ner als Es­kor­te an. Trotz­dem muss­ten sie bis weit auf die Ge­gen­fahr­bahn aus­wei­chen, um si­cher an dem in Flam­men ste­hen­den Fahr­zeug vor­bei­zu­kom­men.

Ein Feu­er­wehr­mann er­klär­te: »In­zwi­schen ha­ben wir das Feu­er un­ter Kon­trol­le!« Er deu­te­te auf die ver­kohl­ten Über­res­te der in­vol­vier­ten Trans­por­ter. »Aber den Tan­ker kön­nen wir nicht lö­schen und müs­sen ihn kon­trol­liert ab­bren­nen las­sen!«

Ex­tre­me Hit­ze und der Ge­ruch von bren­nen­dem Die­sel schlug ih­nen ent­ge­gen und brann­te in ihren Au­gen, und sie muss­te blin­zeln. Sie such­te in ihrem Man­tel nach ei­nem Ta­schen­tuch und wisch­te sich da­mit über die Au­gen. Das kos­te­te nur we­ni­ge Se­kun­den Zeit, aber sie konn­te so schon kaum mit Acker­mann mit­hal­ten. Sie hät­te ihn gern ge­fragt, um was es ging. Doch der Lärm und die Um­stän­de lie­ßen kein Ge­spräch zu.

Nimmt die­ser Un­fall denn gar kein En­de?, dach­te sie mit Ent­set­zen, als sie die Schlan­ge auf­ein­an­der­ge­prall­ter Last­kraft­wa­gen er­blick­te. Wie Per­len an ei­ner Ket­te reih­ten sich die Fahr­zeu­ge auf. Zu­sam­men­ge­scho­ben durch die Kraft von Ma­schi­nen. Ver­mut­lich ver­ur­sacht durch mensch­li­ches Ver­sa­gen und zu ge­rin­ge Di­stanz.

 

2  

Kom­missa­rin Lau­ra Braun trat seit min­des­tens fünf­und­zwan­zig fros­ti­gen Mi­nu­ten von ei­nem Bein auf das an­de­re. Ih­re Fü­ße hat­ten sich schon vor ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit in Eis­klum­pen ver­wan­delt, und das Auf-und-Ab-Lau­fen war le­dig­lich der ver­zwei­fel­te Ver­such, ir­gend­wie warm zu blei­ben. Wo blieb Ele­na?

Wie­so lie­ßen heu­te al­le auf sich war­ten? Sie seufz­te. Es war ein re­si­gnier­tes Seuf­zen, weil sie wuss­te, dass man­che Din­ge ein­fach ih­re Zeit brauch­ten. Sie hob die Hand zur Stirn und ließ ihren Blick über das Cha­os glei­ten, um Ele­na dar­in aus­fin­dig zu ma­chen. Aber das war nicht so ein­fach. Wie flei­ßi­ge Amei­sen wu­sel­ten die Ein­satz­kräf­te über den As­phalt, und es schien ihr ge­ra­de­zu un­mög­lich, ein be­kann­tes Ge­sicht zu er­ken­nen. Sie ver­such­te es in Fahrt­rich­tung. Ein Kran­ken­wa­gen lös­te sich aus dem Clus­ter von Ret­tungs­fahr­zeu­gen und fuhr ein­sam davon. Der ei­si­ge Wind und die Tat­sa­che, dass sie schon ei­ne Ewig­keit in der feuch­ten Käl­te stand, zerr­ten an ih­rer Ge­duld. Hin­zu kam die Mü­dig­keit. Kaf­fee.

Der Wunsch nach ei­ner hei­ßen Tas­se Kaf­fee wur­de na­he­zu über­mäch­tig. Als wür­de in dem Heiß­ge­tränk die Lö­sung für al­les lie­gen. Sie stöhn­te und über­leg­te, ob sie sich an die Kol­le­gen wen­den soll­te. Ir­gend­je­mand wür­de doch wohl ei­ne Ther­mos­kan­ne Kaf­fee da­bei­ha­ben.

Sie ha­der­te ei­nen Au­gen­blick mit sich, ent­schied sich aber schließ­lich zu blei­ben, um Ele­na kei­nes­falls zu ver­pas­sen. Lau­ra hat­te Ele­na auf ihrem pri­va­ten Han­dy an­ge­ru­fen, um si­cher­zu­stel­len, dass sie den Fall be­ar­bei­ten wür­de. Ob­wohl sie mit der Rechts­me­di­zi­ne­rin be­freun­det war, konn­te sie ob­jek­tiv be­ur­tei­len, dass Ele­na ei­ne der Bes­ten auf ihrem Ge­biet war. Ein wei­te­rer Vor­teil be­stand dar­in, dass Ele­na auch nach ihrem Fei­er­abend für sie er­reich­bar war. An­de­re Mit­ar­bei­ter aus dem In­sti­tut wa­ren da nicht so to­le­rant.

Au­ßer­dem war Lau­ra die Freund­schaft zu Ele­na wich­tig. Sie hat­ten sich bei ihrem ers­ten Fall letz­tes Jahr ken­nen­ge­lernt. Da­mals wur­de sie von ei­nem Seri­en­mör­der ge­fan­gen ge­hal­ten, und die gan­ze An­ge­le­gen­heit hat­te die bei­den ein­an­der sehr na­he ge­bracht.

Sie ließ ihren Blick su­chend über die ver­schie­de­nen Fahr­zeu­ge glei­ten und auf das, was von ei­ni­gen üb­rig war. So stark wa­ren sie in­ein­an­der ver­keilt, dass man teil­wei­se das Füh­rer­haus nur noch an­nä­hernd er­ah­nen konn­te. Das Aus­maß an Ver­letz­ten war an­ge­sichts der Schwe­re des Un­falls kaum aus­zu­ma­chen. Sie hat­te ge­se­hen, dass die Ret­tungs­kräf­te ei­nen Fah­rer nur noch tot ber­gen konn­ten.

Der Tod fährt mit, dach­te sie. Der Tod … Er hat­te auch sie am frü­hen Mor­gen aus dem Bett ge­ris­sen. Er war auch ihr Ge­schäft. Als lei­ten­de Er­mitt­le­rin der Mord­kom­mis­si­on Mann­heim-Hei­del­berg muss­te sie sich re­gel­mä­ßig mit dem Tod und sei­nen Op­fern be­schäf­ti­gen. Dass sie ein­mal zu ei­ner Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge ge­ru­fen wer­den wür­de, hät­te sie nicht ge­dacht. Von Ele­na fehl­te wei­ter­hin je­de Spur.

Sie rieb sich die kal­ten Hän­de. Und plötz­lich ge­sell­te sich zu ihrem Wunsch nach Kaf­fee und Wär­me ein wei­te­res, sehr un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Sie muss­te zur Toi­let­te. Mist! Wie hat­te sie dies nur die gan­ze Zeit igno­rie­ren kön­nen?

Sie sah zum Stra­ßen­rand. Der Grün­strei­fen bot we­nig De­ckung. Zu­dem wur­de es merk­lich hel­ler. Ihr Blick blieb an ei­ner Bö­schung hän­gen. Dich­tes Ge­strüpp säum­te die Hü­gel. Sie über­leg­te, ob sie es wa­gen konn­te, sich hin­ter ei­nem Busch zu er­leich­tern, als sie zwei Ge­stal­ten ent­deck­te. »Na end­lich, das wur­de aber auch Zeit!«

Ele­na ließ es sich nicht an­mer­ken, ob es sie är­ger­te, von Lau­ra mit ei­nem Vor­wurf emp­fan­gen zu wer­den. Be­tont freund­lich be­grüß­te sie die Kom­mis­sa­rin. »Gu­ten Mor­gen, war­um bin ich hier?«

Lau­ras Blick schnell­te zu ihrem Part­ner. »Du hast es ihr nicht er­zählt?«

Ehe Falk Acker­mann et­was er­wi­dern konn­te, füg­te Lau­ra hin­zu: »Die gu­te Nach­richt zu­erst? Sie sind nicht im Feu­er um­ge­kom­men!«

Mit die­sen Wor­ten eil­te die Kom­mis­sa­rin zu ei­nem de­mo­lier­ten Sat­tel­schlep­per. Ele­na sah kurz zu Falk, seufz­te und folg­te der Po­li­zis­tin.

Oh­ne ih­re Schrit­te zu ver­lang­sa­men, sag­te Lau­ra: »Das Füh­rer­haus hat or­dent­lich was ab­be­kom­men. Der Fah­rer wur­de ent­we­der schon ge­bor­gen, oder war be­reits über al­le Ber­ge, noch be­vor wir ein­ge­trof­fen sind.« Sie sah zu Falk. »Konn­test du in Er­fah­rung brin­gen, in wel­ches Kran­ken­haus er mög­li­cher­wei­se ge­bracht wur­de?«

Acker­mann schüt­tel­te stumm den Kopf. Ele­na be­äug­te die ver­scho­be­ne Ka­ros­se­rie des Füh­rer­hau­ses. »Wenn es nicht um den Fah­rer geht, war­um hast du mich dann an­ge­ru­fen?«

»Weil du dir un­be­dingt et­was an­se­hen musst. Ich wet­te, so et­was ist dir auch noch nicht un­ter­ge­kom­men!«

Zwei Po­li­zis­ten stan­den am En­de des Über­see­con­tai­ners. Frisch­lin­ge, wie Lau­ra un­schwer an den na­gel­neu­en Uni­for­men er­kann­te. Ih­re ju­gend­li­chen Ge­sich­ter wa­ren blass, und man sah ih­nen die Er­leich­te­rung deut­lich an, als Lau­ra den Män­nern zu ver­ste­hen gab, dass sie ihren Pos­ten ver­las­sen konn­ten.

»Als die Kol­le­gen von der Au­to­bahn­po­li­zei den Fahr­zeug­füh­rer nicht aus­fin­dig ma­chen konn­ten, ha­ben sie den Schiffs­con­tai­ner ge­öff­net, um die La­dung zu über­prü­fen. Sie wuss­ten ja nicht, ob er et­was Gif­ti­ges oder Ex­plo­si­ves ge­la­den hat­te. Statt­des­sen ha­ben sie dann das hier ge­fun­den. Ich glau­be, dass die Jungs die­sen An­blick nie wie­der ver­ges­sen wer­den!«

Ele­na hat­te ihr stirn­run­zelnd zu­ge­hört. Jetzt starr­te sie auf die an­ge­lehn­te Stahl­tür, als wür­de sie mit dem Schlimms­ten rech­nen. Doch Lau­ra wuss­te, dass die Freun­din Pro­fi ge­nug war, um sich dem Fund zu stel­len. Was im­mer die jun­gen Po­li­zis­ten so scho­ckiert hat­te: Ele­na wür­de sich nicht davon ab­hal­ten las­sen, ihren Job zu ma­chen.

Die Kom­mis­sa­rin streif­te ein paar Hand­schu­he über und zog die rech­te Tür ei­nen Spalt weit auf. Ei­ne Wel­le fau­li­ger, feuch­ter Luft schwapp­te ih­nen ent­ge­gen. Acker­mann hielt sich den Arm vor Na­se und Mund und wand­te sich ab. »Na, wun­der­bar.«

Ele­na warf Lau­ra ei­nen Blick zu, der zwi­schen Neu­gier und Ab­scheu schwank­te, als der Ge­ruch in vol­lem Aus­maß auf die Grup­pe traf.

»Falk, leuch­te doch mal da rein, da­mit sie es se­hen kann«, sag­te Lau­ra.

Acker­manns Blick sprach Bän­de. Er sah aus, als wä­re er über­all lie­ber als hier. Zö­gernd kam er nä­her und knips­te sei­ne Mag-Li­te an.

Die Kom­mis­sa­rin ver­pass­te der Tür ei­nen un­sanf­ten Stoß. Der Ge­stank, der ih­nen dar­auf­hin ent­ge­gen­schlug, war ge­ra­de­zu un­er­träg­lich. Lau­ra war nicht ent­gan­gen, dass selbst die Rechts­me­di­zi­ne­rin an­ge­wi­dert die Na­se kraus zog. Und ihrem Ge­sicht konn­te man un­wei­ger­lich ab­le­sen, dass sie Schreck­li­ches ahn­te. Mit ei­ner Ta­schen­lam­pe be­waff­net stell­te sich Ele­na auf die Ze­hen­spit­zen, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Doch als der Schein der bei­den Ta­schen­lam­pen auf das In­ne­re des Con­tai­ners traf, wich sie tau­melnd zu­rück und keuch­te: »Um Got­tes wil­len!«

Lau­ra, die di­rekt hin­ter Ele­na stand, konn­te nicht schnell ge­nug aus­wei­chen, und un­sanft prall­ten die Frau­en in­ein­an­der. Lau­ra schnapp­te er­schro­cken nach Luft, als Ele­na auf ih­re Ze­hen trat, was zur Fol­ge hat­te, dass sie ei­nen Schwall des Ge­stanks ein­at­me­te. Ein hef­ti­ger Schmerz jag­te durch ihren Fuß. Sie biss die Zäh­ne zu­sam­men und zisch­te: »Mensch, pass doch auf!«

Doch Ele­na, un­fä­hig zu ant­wor­ten, tau­mel­te ein paar Schrit­te zur Sei­te, wo die Luft bes­ser war. Acker­mann nahm eben­falls Reiß­aus.

Wäh­rend die Dun­kel­heit das In­ne­re wie­der um­hüll­te, tat Ele­na ein paar be­ru­hi­gen­de Atem­zü­ge, of­fen­bar scho­ckiert von dem, was sie ge­se­hen hat­te. »Das ist …«, be­gann sie, aber sie fand kei­ne wei­te­ren Wor­te.

Lau­ra trat zur Freun­din. Selbst hier war der Ge­stank nach ver­rot­ten­dem Fleisch noch deut­lich zu ver­neh­men. »Schlim­me Sa­che! Ob­wohl ich schon ein­mal in den Con­tai­ner ge­schaut ha­be, kann ich mich kaum an den An­blick ge­wöh­nen.«

»Sind … sind sie al­le tot?«, wis­per­te Ele­na.

»Wir ha­ben ei­nen der Not­ärz­te hin­ein­ge­schickt, und er kam nur kopf­schüt­telnd raus. Ich glau­be, er er­holt sich ge­ra­de in ei­nem der Ret­tungs­wa­gen.«

»Wie vie­le sind es?«

»Kei­ne Ah­nung. Das her­aus­zu­fin­den, ist dei­ne Auf­ga­be.«

Ele­na seufz­te, als wür­de ihr noch ein­mal be­wusst wer­den, welch grau­si­ge Auf­ga­be ihr be­vor­stand. Sie warf den Be­am­ten ei­nen Blick zu, den man fast als Vor­wurf be­zeich­nen konn­te, griff nach ihrem Ein­satz­kof­fer und zog ei­nen Schutz­an­zug her­aus. Ge­ra­de­zu um­ständ­lich schlüpf­te sie in den An­zug.

Lau­ra kann­te die Rechts­me­di­zi­ne­rin, und sie hat­te es noch nie er­lebt, dass sie bei ei­nem Lei­chen­fund ge­zö­gert hat­te. »Ist mit dir al­les okay?«

Ele­na nick­te, wäh­rend sie den Reiß­ver­schluss mit ei­ner ener­gi­schen Be­we­gung hoch­zog und ih­re Schu­he ge­gen Gum­mi­stie­fel tausch­te.

Lau­ras Ge­füh­le fuh­ren Ach­ter­bahn. Al­lein der Ge­dan­ke dar­an, dass oh­ne Ele­nas Hil­fe sie es ge­we­sen wä­re, die die Viel­zahl der Lei­chen hät­te be­gut­ach­ten müs­sen, ließ sie er­schau­dern. Um sich ab­zu­len­ken, wand­te sie sich an Acker­mann.

»Falk, wann kommt die Hun­de­staf­fel?«

»Der Ein­satz­lei­ter sag­te et­was von ei­ner hal­b­en Stun­de«, ant­wor­te­te er.

»Ich fra­ge mich, ob die Hun­de den Fah­rer fin­den. Kein Wun­der, dass der ab­ge­hau­en ist, bei der La­dung. Hast du was von den Spu­sis ge­hört?«

Aber Acker­mann hat­te sich be­reits ab­ge­wandt und schritt lang­sam an ei­ner der lan­gen Flan­ken des Vier­zig­ton­ners ent­lang. Er hör­te sie erst, als sie ihn er­neut an­sprach: »Was machst du da?«

Falk Acker­mann run­zel­te die Stirn, und in sei­nem Ge­sicht spie­gel­te sich Ver­wir­rung.

»Wäh­rend mei­ner Aus­bil­dung war ich für ei­ni­ge Zeit bei der Ha­fen­po­li­zei. Über­see­con­tai­ner ha­ben nor­ma­le­r­wei­se Lüf­tungs­bän­der oder we­nigs­tens Lüf­tungs­schlit­ze.« Er zeig­te auf die obe­re Kan­te des An­hän­gers. »Ich se­he aber kei­ne.«

Lau­ra um­run­dete den Con­tai­ner. Auf der an­de­ren Sei­te wa­ren eben­falls kei­ne Luftlö­cher zu se­hen. Statt­des­sen kleb­te ein grü­ner Strei­fen um den Stahl­man­tel.

Ein­ge­hend mus­ter­te Lau­ra den ros­ti­gen Ko­loss. Hier trans­por­tier­te je­mand auf die ganz bil­li­ge Tour. Aber es wa­ren nicht die Beu­len oder Rost­fle­cken, die sie scho­ckier­ten, son­dern die Tat­sa­che, dass je­mand die Lüf­tung mit ei­nem Kle­be­band ver­sie­gelt hat­te.

»Zu­gek­lebt!«, stieß Lau­ra atem­los her­vor. »Denkst du, das Band klebt schon län­ger dort oben?« Die Vor­stel­lung, je­mand hät­te meh­re­re Men­schen vor­sätz­lich und grau­sam er­sti­cken las­sen, war mehr als er­schre­ckend.

Acker­manns Blick haf­te­te auf dem Con­tai­ner. »Ich glau­be schon, aber war­ten wir lie­ber, was die Spu­ren­si­che­rung da­zu sagt.« Er sah auf sei­ne Uhr. »Die wer­den si­cher­lich gleich ein­tref­fen. Ich schau mich mal wei­ter um.«

Lau­ra nick­te kurz, froh dar­über, dass er sich wie­der ab­wand­te. Auch wenn der Lei­chen­fund ih­re gan­ze Auf­merk­sam­keit for­der­te, konn­te sie das Zie­hen in ihrem Un­ter­leib nun nicht mehr län­ger igno­rie­ren. In­zwi­schen wa­ren die Schmer­zen der­art hef­tig, dass sie bei je­dem Schritt an das Drän­gen ih­rer Bla­se er­in­nert wur­de. Ich muss jetzt! Die­ses Ge­fühl war plötz­lich so über­mäch­tig, dass sie an nichts an­de­res mehr den­ken konn­te. Sie spür­te, wie sich ihr Un­ter­leib ver­krampf­te und sich die Här­chen in ihrem Na­cken auf­stell­ten. Lan­ge wür­de sie es nicht mehr aus­hal­ten.

Sie sah sich hek­tisch um. Im­mer noch herrsch­te ein gro­ßes Durch­ein­an­der. Sie um­run­dete den Last­wa­gen und starr­te er­neut auf das schmut­zi­ge Grün des Sei­ten­strei­fens. Nein, hier wür­de sie je­der se­hen.

Wie oft hat­te sie schon mit­be­kom­men, dass die zu­meist männ­li­chen Ein­satz­kräf­te sich am nächs­ten Baum er­leich­tert hat­ten. Aber sie brauch­te Pri­vat­sphä­re oder we­nigs­tens ein Ge­büsch. Ihr Blick folg­te dem Hang. Die üp­pi­ge Be­pflan­zung wür­de ihr aus­rei­chend Schutz bie­ten. Ich bin schnel­ler wie­der zu­rück, als man mich ver­mis­sen wird.

Sie klet­ter­te über die Leit­plan­ke und sprin­te­te los. In­ner­halb von we­ni­gen Herz­schlä­gen hat­te sie den Gip­fel des Hü­gels er­reicht.

 

Lau­ra stieß ei­nen zu­frie­de­nen Seuf­zer aus, als sie we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter ih­re Ho­se wie­der hoch­zog. Doch ein Ra­scheln hin­ter ihr ver­trieb das Ge­fühl der Er­leich­te­rung.

Schnell schloss sie den Reiß­ver­schluss. Das hat­te ihr ge­ra­de noch ge­fehlt, dass ei­ner der Ret­tungs­leu­te sie beim Pin­keln er­wi­schen wür­de.

Mit hoch­ro­tem Kopf dreh­te sie sich um. Aber da war nie­mand. Ner­vös lach­te sie auf. Sie muss­te sich ver­hört ha­ben.

Gott, wenn mich je­mand ge­se­hen hät­te. Wie pein­lich!

Er­leich­tert, dass ih­re Oh­ren ihr ei­nen Streich ge­spielt hat­ten, be­gann sie, den Hü­gel wie­der hin­ab­zu­stei­gen.

Ein Wim­mern.

Sie hielt in­ne. Dann ein Stöh­nen. Sie dreh­te den Kopf und ver­such­te noch ein­mal, das Ge­räusch ein­zu­fan­gen. Jetzt war sie sich si­cher. Sie hat­te et­was ge­hört. Je­man­den.

Sie klet­ter­te noch ein­mal den Hü­gel hin­auf. Oben an­ge­kom­men er­war­te­te sie, die Ur­sa­che des Ge­räu­sches um­ge­hend aus­zu­ma­chen. Aber es war nie­mand zu se­hen. Sie nahm sich noch ei­ne Mi­nu­te und hoff­te auf ei­ne Wie­der­ho­lung. Auf ir­gend­et­was, das ihr sag­te, dass sie sich nicht ge­irrt hat­te.

Sie kniff die Au­gen zu­sam­men und ließ ihren Blick über die Sträu­cher glei­ten. Das Laub der in Grup­pen ste­hen­den Bäu­me färb­te sich lang­sam gelb, und das knie­ho­he Gras hat­te sich teil­wei­se in Stroh ver­wan­delt. Tau­trop­fen glit­zer­ten in der Mor­gen­son­ne, die lang­sam den Kampf ge­gen den Bo­den­ne­bel ge­wann. Der Herbst hielt Ein­zug und zeig­te jetzt schon sei­ne ers­ten Spu­ren.

Schließ­lich gab sie auf und wand­te sich zum Ge­hen. Ver­mut­lich doch nur ein Ha­se, der von mir auf­ge­schreckt wur­de. Aber ir­gend­et­was nag­te an ihrem Un­ter­be­wusst­sein, das sie nicht zu fas­sen be­kam. Sie blieb ste­hen und schenk­te der Land­schaft ei­nen letz­ten prü­fen­den Blick. Nichts. Nur das me­lan­cho­lisch-trau­ri­ge Kräch­zen ei­ner Krä­he un­ter­brach die Stil­le. Viel­leicht doch nur ein Tier?

Sie such­te den Him­mel nach dem Vo­gel ab. Ihr Na­cken krib­bel­te, und da war es wie­der. Das Ge­fühl, et­was zu über­se­hen.

Sie strich durch das ho­he Gras, und plötz­lich mel­de­te ihr Ver­stand, dass da doch et­was nicht stimm­te. Sie ent­si­cher­te die Waf­fe in ihrem Hols­ter. Es war ei­ne un­be­wuss­te Be­we­gung. Rou­ti­ne. Vor­sich­tig schob sie sich nä­her. Nach und nach ver­dich­te­te sich das Bild, und sie er­kann­te Ein­zel­hei­ten. Re­a­li­sier­te, was ihr Ge­hirn schon vor we­ni­gen Se­kun­den re­gis­triert hat­te. Es war das Leuch­ten ei­ner si­gnal­ro­ten Ny­lon­ja­cke, das die har­mo­ni­sche Farb­pa­let­te der Land­schaft er­heb­lich stör­te.

Er lag auf dem Rü­cken. Schnitt­wun­den zeich­ne­ten ein wil­des Mus­ter auf sei­nem blas­sen Ge­sicht, und das Blut sam­mel­te sich an sei­nem Hals. Die Au­gen wa­ren ge­schlos­sen. Ei­ne tie­fe Nar­be reich­te vom Haar­an­satz bis zur lin­ken Au­gen­braue. Sein Atem ging hek­tisch und pfei­fend.

Sie zück­te ihr Mo­bil­te­le­fon.

 

3  

Ele­nas ers­ter Im­puls war es, zu­rück­zu­wei­chen.

Es kos­te­te sie ih­re gan­ze Wil­lens­kraft, in den dunk­len Schlund des Stahl­ku­bus zu stei­gen. Ihr Kör­per sträub­te sich ge­gen das, was sie nun vor­hat­te. Sie straff­te die Schul­tern. Es war ihr Job, da hin­ein­zu­ge­hen, und ihr Be­ruf hat­te sie schon vor Lan­gem davon ge­heilt, all­zu zim­per­lich zu sein.

Aber wes­halb hat­te sie dann die­ses un­gu­te Ge­fühl?

Sie zog sich an dem Auf­lie­ger hoch. Sie wuss­te, dass Falk sie beo­b­ach­te­te, und be­müh­te sich, ei­ne ge­wis­se Ele­ganz in ih­re Klet­ter­ver­su­che zu le­gen.

Oben an­ge­kom­men, rich­te­te sie sich auf und schal­te­te die Ta­schen­lam­pe wie­der ein. Der schma­le Licht­ke­gel husch­te laut­los über das In­ne­re des Con­tai­ners und ver­deut­lich­te noch ein­mal das Dra­ma zu ihren Fü­ßen. Sie er­kann­te ein Wirr­warr aus Ar­men, Bei­nen, Köp­fen, Kör­pern! Kreuz und quer durch­ein­an­der ge­wür­felt, wie un­zäh­li­ge Kä­fer in ei­ner Streich­holz­schach­tel. Sie sah Klei­dung, nack­te Fü­ße, dunk­le Haa­re. Und Hän­de.

Ihr Herz trom­mel­te ge­gen ihren Brust­korb. Vor­sich­tig setz­te sie ei­nen Fuß vor den an­de­ren und spür­te ge­ra­de­zu, wie die Dun­kel­heit sie ver­schluck­te. Das Ma­te­ri­al des Schutz­an­zu­ges rieb über ih­re Haut, und durch die Vlies­mas­ke vor Mund und Na­se be­kam sie kaum Luft. Gleich­wohl ließ der Ge­stank kaum ei­nen Atem­zug zu.

Starr rich­te­te sie ihren Blick nach vorn und wag­te es nicht, sich zu Acker­mann um­zu­dre­hen. Er soll­te ihren Wi­der­wil­len nicht se­hen. Statt­des­sen kon­zen­trier­te sie sich auf das, was vor ihr lag. Sie muss­te oh­ne­hin höl­lisch auf­pas­sen, um in dem Halb­dun­kel nicht zu stol­pern oder gar aus­zu­rut­schen. Sie um­klam­mer­te die Mag-Li­te und rich­te­te de­ren Strahl ganz be­wusst nicht auf den Bo­den. Es reich­te ihr, dass sie bei je­dem Schritt et­was Er­ha­be­n­es spür­te und dass die Über­zie­her ein schmat­zen­des Ge­räusch mach­ten. Sie nahm sich vor, ih­re Stie­fel im An­schluss erst gar nicht zu rei­ni­gen, son­dern gleich weg­zu­wer­fen.

Sie schob sich wei­ter, und ein be­klem­men­des Ge­fühl, als woll­te sie das En­de nie er­rei­chen, er­fass­te sie. Der schwe­re, süß­li­che Ge­stank fau­len­den Flei­sches durch­drang die Atem­mas­ke und um­schloss sie wie ein Ko­kon. Drang in ih­re Po­ren, leg­te sich blei­ern auf ih­re Lun­ge. Ein Ge­ruch, den sie nur zu gut kann­te. Der stän­di­ge Be­glei­ter ih­rer Ar­beit, und er be­geg­ne­te ihr täg­lich; an Tat­or­ten oder im Sek­ti­ons­saal. Doch heu­te war er kaum aus­zu­hal­ten. Stär­ker, in­ten­si­ver, ge­ball­ter. Das war für sie das ers­te In­diz.

Die­se Men­schen wa­ren nicht durch den Un­fall ge­stor­ben. Sie wa­ren be­reits tot, be­vor die Last­wa­gen in­ein­an­der­ge­rast wa­ren. Der Auf­prall hat­te ih­re leb­lo­sen Kör­per wie rut­schen­de La­dung durch den An­hän­ger ge­schleu­dert. Sie ließ den Licht­schein der Lam­pe über die Men­schen glei­ten.

Mein Gott, so vie­le Lei­chen. Fast al­le­samt Män­ner. Nur hier und da konn­te sie fröh­li­che Farb­kleck­se und weib­li­che Um­ris­se er­ken­nen. Der Schein der Lam­pe er­fass­te ei­nen Kör­per. Dann ei­nen wei­te­ren. Ei­ne Hand. Ei­nen Kopf. Ein Ge­sicht, auf des­sen Wan­gen dunk­le Trä­nen ge­trock­net wa­ren. Sie ließ den Licht­strahl um­her­strei­fen und be­trach­te­te die un­will­kür­li­che La­ge der Glied­ma­ßen. Aber das Ge­wirr der Kör­per ließ kei­ne ge­naue Be­ur­tei­lung zu. Al­les, was sie er­blick­te, wa­ren ver­renk­te Ex­tre­mi­tä­ten, ver­dreh­te Lei­ber. Star­re Ge­sich­ter mit ent­setz­ten Bli­cken. Weit auf­ge­ris­se­ne Mün­der, ver­zerrt im To­des­kampf zu stum­men Schrei­en. Ein Mas­sen­grab.

Al­le Per­so­nen hat­ten dunk­le Haut. Nicht die Ver­fär­bun­gen, die Lei­chen häu­fig an­nah­men, son­dern die dunk­le Pig­men­tie­rung von Men­schen afri­ka­ni­scher Her­kunft. Aber noch et­was an­de­res scho­ckier­te sie. Es war et­was, was ihr Un­ter­be­wusst­sein die gan­ze Zeit ver­sucht hat­te zu sa­gen. Hek­tisch lenk­te sie den Licht­strahl zu­rück zu dem ei­nen Ge­sicht. Sie ging in die Ho­cke, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Im Ke­gel der Ta­schen­lam­pe mus­ter­te sie die Trä­nen­flüs­sig­keit, die wie ris­si­ges Per­ga­ment die Wan­gen der Lei­che um­spann­te. Das wa­ren kei­ne Trä­nen, das war Blut. Blut.

Sie schob zwei Fin­ger un­ter die Ober­lip­pe des To­ten. Win­zi­ge Bluts­trop­fen fun­kel­ten wie klei­ne Ru­bi­ne in sei­ner Mund­schleim­haut. Sie hat­te so et­was schon ein­mal ge­se­hen. Ein Ver­dacht krat­ze an ihrem Ver­stand. Sie igno­rier­te ihn und über­prüf­te die Au­gen­li­der. Steck­na­del­kopf­gro­ße Ein­blu­tun­gen zeich­ne­ten sich deut­lich ge­gen die wäch­ser­ne Bin­de­haut ab.

Und dann traf sie die Er­kennt­nis wie ein Schlag ins Ge­sicht. Sie keuch­te, sprang auf. Der plötz­li­che Wech­sel war für ihren Kreis­lauf zu viel. Ihr ei­ge­nes Blut sack­te in ih­re Wa­den, und in ihrem Kopf dreh­te es sich. Die Mag-Li­te fiel pol­ternd zu Bo­den, und wäh­rend die Dun­kel­heit die to­ten Men­schen wie­der um­hüll­te, tau­mel­te sie atem­los rück­wärts. Ihr Ge­hirn war jetzt nur noch zu ei­nem Ge­dan­ken fä­hig. Raus! Ich muss hier raus!

Pa­nisch dreh­te sie sich zur Tür und sprin­te­te los. Ih­re Fü­ße ver­such­ten, auf dem schmie­ri­gen Holz­bo­den Halt zu fin­den. Sie durf­te jetzt auf kei­nen Fall aus­rut­schen. Es galt, je­den Kon­takt mit den Kör­per­f­lüs­sig­kei­ten die­ser un­glü­ck­li­chen Men­schen zu ver­mei­den.

Den Aus­gang fest im Blick hech­te­te sie wei­ter. Ih­re Lun­ge brann­te, und das ohn­mäch­ti­ge Ge­fühl, dass sie die Tür nicht vor dem nächs­ten, le­bens­wich­ti­gen Atem­zug er­rei­chen wür­de, trieb ihr die Trä­nen in die Au­gen, trüb­te ihren Blick. Sie hör­te das Rau­schen ihres ei­ge­nen Blu­tes und das hef­ti­ge Häm­mern ihres Her­zens, wäh­rend sie nur noch ein Ziel hat­te. Raus! Fri­sche, kla­re Luft at­men!

Der ret­ten­de Aus­gang war nah. Trotz­dem kam es ihr vor, als müss­te sie ei­nen Ma­ra­thon lau­fen, des­sen Ziel un­er­reich­bar blieb. Ei­nen Wett­lauf ge­gen den ei­ge­nen Tod. Er­schüt­tert von dem, was sie ge­ra­de ent­deckt hat­te, klam­mer­te sie sich keu­chend an die Tür des Auf­lie­gers.

Sie muss­te wür­gen. Sie riss die Mas­ke her­un­ter und zog scharf die küh­le Mor­gen­luft ein. Dann ein wei­te­rer Atem­zug. Sau­er­stoff drang tief in ih­re Lun­ge, und sie spür­te, wie je­de Al­veo­le um­spült wur­de.

»Was ist? Was hast du ent­deckt?«

Ele­na hob den Kopf und blin­zel­te ver­wirrt. Vor ihr ent­stand Be­we­gung. Es war Kom­mis­sar Falk Acker­mann, der et­was ab­seits ge­stan­den hat­te und nun mit schnel­len Schrit­ten auf sie zu kam. Sei­ne Mie­ne, ei­ne Mi­schung aus Neu­gier und Be­sorg­nis. Und noch et­was er­kann­te sie in dem ver­trau­ten Ge­sicht. Vor­wür­fe!

Aber da­für war jetzt kei­ne Zeit. Keu­chend schüt­tel­te sie den Kopf, als woll­te sie ei­nen na­men­lo­sen Schre­cken ab­schüt­teln. »Geh weg!«

»Was?«

Mit zit­tern­den Hän­den fisch­te sie nach ihrem Ein­satz­kof­fer, zog ihr Han­dy her­aus und such­te im Dis­play nach ei­ner Num­mer.

»Ele­na, was meinst du?«

Das Mo­bil­te­le­fon fi­xie­rend zisch­te sie: »Ver­schwin­de von hier!«

Ver­wirrt starr­te er sie an. Sie hat­te jetzt kei­ne Zeit für ihn und wich sei­nem Blick aus. Doch er in­ter­pre­tier­te ihr Ver­hal­ten falsch.

»Seit Ta­gen igno­rierst du mei­ne An­ru­fe, gehst mir aus dem Weg, und jetzt soll ich ver­schwin­den?«

Ele­na, im­mer noch mit dem Han­dy be­schäf­tigt, re­agier­te nicht auf ihn. Dann sah sie ihn di­rekt an. Doch an­statt ihm zu ant­wor­ten, schrie sie in das Te­le­fon: »Se­bas­ti­an? Ich ha­be ei­nen Stu­fe-Vier-Ver­dacht!«

»Stu­fe Vier? Was meinst du?«, misch­te sich Falk Acker­mann ein.

Er hat­te sich nicht von der Stel­le ge­rührt. Das war gut so. Für ihren Ge­schmack war er im­mer noch viel zu nah am Con­tai­ner, und sie warf ihm vor­sorg­lich ei­nen war­nen­den Blick zu, der of­fen­sicht­lich sei­ne Wir­kung nicht ver­fehl­te. Mit ver­schränk­ten Ar­men mus­ter­te er sie, und ihr war klar, dass er, so­bald sie das Te­le­fonat be­en­det hat­te, ei­ne Er­klä­rung for­dern wür­de.

Der Schock ebb­te lang­sam ab, trotz­dem konn­te sie ein Zit­tern kaum un­ter­drü­cken. Mit ei­ner Hand stütz­te sie sich am Con­tai­ner ab, und die an­de­re um­klam­mer­te das Han­dy, doch der Mann am Te­le­fon woll­te ihr kei­nen Glau­ben schen­ken. Wut keim­te in ihr auf.

»Ich bin mir ziem­lich si­cher. Komm vor­bei und schau es dir selbst an«, rief sie in die Sprech­mu­schel.

Of­fen­sicht­lich war ih­re Stim­me so laut, dass sich jetzt so­gar ein Feu­er­wehr­mann um­dreh­te und sie neu­gie­rig beo­b­ach­te­te. Doch er ver­lor schnell wie­der das In­ter­es­se, als sie die Stim­me senk­te.

Das galt nicht für Acker­mann. Mit auf­merk­sa­mem Blick ta­xier­te er sie. Doch sie hat­te jetzt we­der Zeit noch Lust, ihn auf­zu­klä­ren. Sie wuss­te, dass sie sich nicht ge­ra­de klug ver­hielt, aber ih­re Pri­o­ri­tä­ten la­gen jetzt ein­deu­tig wo­an­ders.

Sie dreh­te sich noch ein­mal um und be­trach­te­te die To­ten im Con­tai­ner, als könn­te Se­bas­ti­an Ke­ve­kor­des am an­de­ren En­de der Lei­tung durch ih­re Au­gen die schreck­li­chen Bil­der er­ken­nen. Sie gab sich Mü­he, sach­lich und re­la­tiv emo­ti­ons­los zu schil­dern, was sie ent­deckt hat­te.

Als sie den Blick wie­der auf die Stra­ße rich­te­te, war sie er­leich­tert und er­schro­cken zu­gleich. Er­leich­tert, weil sie die To­ten nicht mehr an­se­hen muss­te; er­schro­cken, weil sie jetzt durch das auf­kom­men­de Ta­ges­licht und die er­höh­te Po­si­ti­on das gan­ze Aus­maß des Un­falls über­bli­cken konn­te.

Kaum, dass sie das Ge­spräch be­en­det hat­te, setz­te sich Acker­mann in Be­we­gung. Sie hob ab­weh­rend die Hand und zisch­te: »Bleib weg von mir!«

Ih­re Wor­te ver­fehl­ten ih­re Wir­kung nicht. Sein Ge­sicht ver­zog sich, und er ließ je­de Höf­lich­keit fah­ren. »Das ist doch be­scheu­ert! Ver­dammt, sag mir end­lich, was los ist!«

»Du musst dich von dem Con­tai­ner fern­hal­ten!«

»War­um?«

Sie schüt­tel­te den Kopf, und ih­re schwar­zen Lo­cken fan­den ihren Weg aus der Ka­pu­ze. Mit ei­ner bar­schen Be­we­gung schob sie sich die Haa­re aus dem Ge­sicht. »Ich bin mir nicht si­cher, aber bleib weg von mir.« Sie sah ihm an, dass er mit die­ser Ant­wort nicht zu­frie­den war und frag­te: »Wo ist Lau­ra? Ihr müsst da­für sor­gen, dass sich nie­mand dem Con­tai­ner nä­hert.«

Sie ließ ihren Blick über Acker­mann hin­weg glei­ten. Ret­tungs­kräf­te wu­sel­ten über die Stra­ße, Ab­schlepp­wa­gen be­gan­nen, Au­tos weg­zu­kar­ren. Der Ret­tungs­hub­schrau­ber star­te­te mit lau­tem Ge­tö­se. Un­weit von ih­nen stan­den ei­ni­ge Po­li­zis­ten. Von Lau­ra fehl­te je­de Spur.

»War­um? Was zum Teu­fel ist da drin­nen los? Mit wem hast du te­le­fo­niert?«, rief er und reck­te den Hals, um noch ein­mal ins In­ne­re des Con­tai­ners se­hen zu kön­nen.

Ele­na seufz­te, weil ihr klar wur­de, dass Falk Acker­mann nicht so schnell das Feld räu­men wür­de. Schließ­lich war er Po­li­zist. Es lag in der Na­tur der Din­ge, dass er Ant­wor­ten woll­te. Auch wenn es un­be­quem wer­den wür­de.

Doch da klin­gel­te sein Han­dy. Sicht­lich ver­stimmt mus­ter­te er das Dis­play sei­nes Han­dys, ehe er den An­ruf an­nahm. In sei­ner Stim­me schwang Wut, als er sag­te: »Mensch, Lau­ra, wo steckst du?«

4  

Der Mann, der dem Su­per­pu­ma ent­stieg, war es ge­wohnt, dass man sei­nen An­wei­sun­gen Fol­ge leis­te­te, das konn­te Lau­ra selbst aus der Ent­fer­nung deut­lich er­ken­nen. Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung sprang er aus der Ka­bi­ne, kaum dass die Ku­fen des Hub­schrau­bers den Bo­den be­rührt hat­ten. Im Schlepp­tau ei­nen Tross Per­so­nen, de­ren auf­fal­lend gel­be Voll­schutz­an­zü­ge sich ge­gen al­les ab­ho­ben, zog er im Ge­hen den Reiß­ver­schluss sei­nes ei­ge­nen Over­alls zu und ließ sich von ei­nem Mit­ar­bei­ter die La­schen mit Kle­be­band ver­schlie­ßen.

Lau­ra stand im­mer noch auf dem Hü­gel. Sie spür­te ein Po­chen im Na­cken. Kopf­schmer­zen. Ir­gend­wie hat­te sie es fer­tig­ge­bracht, die­se die gan­ze Zeit zu igno­rie­ren. Sie schloss die Au­gen und war ver­sucht, sich dem Schmerz hin­zu­ge­ben, kam aber so­fort zu dem Ent­schluss, dass es da­für der fal­sche Zeit­punkt war. Sie schüt­tel­te den Kopf, mas­sier­te sich den Na­cken und über­leg­te mit ge­schlos­se­nen Li­dern, was sie jetzt tun soll­te. Sie hat­te we­nig Lust, hier oben zu war­ten. Es gab ihr das Ge­fühl, aus­ge­bremst zu wer­den. Aber so lau­te­te nun mal die An­wei­sung, die man ihr ge­ge­ben hat­te, kurz nach­dem Acker­mann mit dem Ret­tungs­team bei dem Ver­letz­ten an­ge­kom­men war.

Sie stöhn­te lei­se und öff­ne­te die Au­gen. Wei­te­re Ge­stal­ten in Over­alls ström­ten aus dem Hub­schrau­ber wie eif­ri­ge Bie­nen aus ei­nem Nest. In stum­mer Cho­reo­gra­fie be­gan­nen sie aus­zu­la­den. Zel­te wur­den in Win­des­ei­le auf­ge­baut und der Con­tai­ner mit den Lei­chen ab­ge­sperrt. Zwi­schen all dem Ge­wu­sel lie­fen ver­mumm­te Per­so­nen und be­sprüh­ten je­den Zen­time­ter groß­zü­gig mit dem In­halt der Fla­schen auf ihren Rü­cken.

Lau­ra warf Acker­mann ei­nen ner­vö­sen Blick zu. Sie er­kann­te, dass es ihm nicht bes­ser er­ging. Sein Kör­per war ge­spannt wie ein Bo­gen, und sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich är­ger­lich, als er sprach: »Was geht denn hier ab? Wer sind die­se Leu­te?«

Lau­ra schüt­tel­te den Kopf. Ihr Blick kleb­te auf der Sze­ne­rie am Con­tai­ner. Der Mann hat­te Ele­na er­reicht. So­fort ent­stand ei­ne hit­zi­ge Dis­kus­si­on. Das war ein­deu­tig zu er­ken­nen. Über was auch im­mer die bei­den spra­chen, es schien ihm nicht zu ge­fal­len.

»Was hat sie ent­deckt? Wie­so ist der Typ so sau­er?«, frag­te sie.

Falk Acker­manns Mie­ne wur­de un­nach­gie­big. »Tja, das hat­te ich sie auch ge­fragt. Doch be­vor sie ant­wor­ten konn­te, hast du an­ge­ru­fen.« Er schüt­tel­te wü­tend den Kopf. »Das ist al­les so … ty­pisch für sie.«

Lau­ra hat­te ab­so­lut kei­ne Ah­nung, wes­halb Falk so wü­tend war, und sah ihn ver­wun­dert an. Mit ihren ei­ge­nen Ge­dan­ken über den Lei­chen­fund be­schäf­tigt, war ihr sein Zu­stand nicht auf­ge­fal­len. Die Stim­me des Not­arz­tes hin­ter ihr riss sie aus ihren Ge­dan­ken. »Das ist ei­ne De­kon­ta­mi­na­ti­on­s­ein­heit!«

»Ei­ne was?« Sie wir­bel­te her­um.

»Was ist in dem Con­tai­ner?«, frag­te der Not­arzt und ließ ih­re Fra­ge un­be­ant­wor­tet. Sie zö­ger­te und mus­ter­te die Män­ner, doch schließ­lich ent­schied sie, dass sie ihm ant­wor­ten soll­te.

»Lei­chen. Das Ding ist vol­ler Lei­chen.«

Der Arzt starr­te die Po­li­zis­tin un­gläu­big an, und die bei­den Sa­ni­tä­ter glucks­ten über­rascht. »Das ist ein Witz, oder?«, rief er, und Lau­ra er­kann­te ei­nen An­flug von Spott in den grau­en Au­gen des Man­nes.

»Lei­der nicht!« Sie sprach es so aus, als wür­de sie kei­ner­lei Be­den­ken dul­den. Al­ler­dings funk­ti­o­nier­te das nicht.

»Wir sind von der Mord­kom­mis­si­on«, sag­te sie, um je­de Un­ge­wiss­heit aus­zu­räu­men.

Die Au­gen­brau­en des Man­nes schnell­ten in die Hö­he. Sie merk­te ihm an, dass er ihr nicht glaub­te. »Wie­so ist dann ein Seu­chen­schutz­trupp auf­ge­taucht, wenn es sich um Mord han­delt?«

Lau­ra und Acker­mann war­fen sich stum­me Bli­cke zu. Sie woll­ten kei­nes­falls De­tails preis­ge­ben, an­de­rer­seits hat­ten sie bei­de kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge des Man­nes.

Acker­mann brach schließ­lich das Schwei­gen. »Dr. Sa­lo­nis hat­te et­was von ei­nem Stu­fe-Vier-Ver­dacht er­zählt.«

Die­se Neu­ig­keit raub­te dem Arzt schier den Atem. Sei­ne Lip­pen wur­den schmal, und doch press­te er zwi­schen ih­nen her­vor: »Mein Gott! Sind Sie si­cher?«

Auf Acker­manns stum­mes Ni­cken füg­te er hin­zu: »Wa­ren Sie auch in dem An­hän­ger?«

»Nein. Was be­deu­tet Stu­fe Vier?«

Der Arzt sah in die Run­de. An den asch­fah­len Ge­sich­tern der Sa­ni­tä­ter er­kann­te Lau­ra, dass dem Ret­tungs­team schon lan­ge be­wusst war, was Ele­na ver­mu­te­te. Al­lem An­schein nach tapp­ten nur sie im Dun­keln. Ehe sich Är­ger in ih­rer Brust breit­ma­chen konn­te, raun­te der Arzt: »Töd­li­che Er­re­ger!«

»Geht das auch ge­nau­er?« Lau­ra spür­te, dass ihr lang­sam der Ge­dulds­fa­den riss. Töd­li­che Er­re­ger. Was soll­te das sein?

»Hoch­an­ste­cken­de Vi­ren wie zum Bei­spiel das Ebo­la- oder Mar­burg-Vi­rus«, er­klär­te der Arzt.

»Ebo­la!«, echo­te Lau­ra, und das Po­chen in ihrem Kopf schwoll zu ei­nem Häm­mern an. Sie spür­te, wie sich ih­re Na­cken­haa­re auf­stell­ten und das Ent­set­zen über die­se Aus­sa­ge di­rekt in je­de ih­rer Hirn­zel­len kroch. Ihr Blick schnell­te zu dem Mann auf der Tra­ge, den sie kurz vor­her hier ge­fun­den hat­te. Viel­leicht war er im Con­tai­ner ge­we­sen und könn­te nun in­fi­ziert sein?

Sie wich zu­rück und stell­te sich die Fra­ge, wie na­he sie ihm ge­kom­men war. Sie be­äug­te ih­re Hän­de. Hat­te sie ihn be­rührt? Zur Si­cher­heit wisch­te sie sich die Hän­de an ih­rer Ho­se ab. Sie wuss­te, dass das kei­ne Wir­kung hat­te. Trotz­dem konn­te sie die­sen Im­puls nicht un­ter­drü­cken.

Doch dann zog et­was an­de­res ih­re Auf­merk­sam­keit auf sich. Zwei ver­mumm­te Ge­stal­ten klet­ter­ten den Wall hin­auf. Bei­de be­packt mit Fla­schen und et­was, das aus­sah wie Schutz­an­zü­ge. Durch die Atem­schutz­mas­ke hör­te sich die Stim­me des Man­nes selt­sam dumpf an.

»Kom­mis­sa­rin Braun?«

Oh­ne Lau­ras Ant­wort ab­zu­war­ten, kam er so­fort zur Sa­che. »Ich bin Kars­ten Hum­mel, Zug­füh­rer des ABC-Trupps. Wir über­neh­men jetzt.«

»Das kommt nicht in Fra­ge. Dies ist schließ­lich mein Tat­ort!«, sag­te Lau­ra und ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust. Nicht nur, dass man sie an­ge­wie­sen hat­te, auf dem Hü­gel aus­zu­har­ren und sie so­mit von dem Con­tai­ner mit den Lei­chen fern­hielt. Jetzt tauch­te auch noch je­mand auf, der mein­te, die Re­gie über­neh­men zu müs­sen.

»Ich dis­ku­tie­re nicht!«, ant­wor­te­te Hum­mel scharf.

Lau­ras Wan­gen brann­ten, und sie warf ihm ei­nen ver­nich­ten­den Blick zu. Wie konn­te er so mit ihr re­den? Sie war schließ­lich die lei­ten­de Er­mitt­le­rin. Sie war seit Stun­den auf den Bei­nen, kämpf­te mit Mü­dig­keit und der Käl­te, und dann auch noch das. Sie schnaub­te ver­ächt­lich und hol­te tief Luft. Doch dann fing sie Falk Acker­manns Blick auf und ver­stand. Of­fen­sicht­lich war jetzt nicht der rich­ti­ge Zeit­punkt für Macht­spiel­chen.

Sie ließ die Luft aus ihren Lun­gen ent­wei­chen und be­müh­te sich um ei­nen freund­li­che­ren Ton: »Was ist ei­gent­lich pas­siert, wie­so be­darf es ei­nes ABC-Trupps?«

Der Mann in dem Schutz­an­zug igno­rier­te ih­re Fra­ge und wand­te sich an die Ret­tungs­kräf­te: »Wie geht es der ver­letz­ten Per­son?«

»Der Mann muss drin­gend in ein Kran­ken­haus!«, sag­te der Not­arzt.

Hum­mel schenk­te dem Ver­letz­ten kei­nen wei­te­ren Blick. »Wir ha­ben ei­nen Stu­fe-Vier-Ver­dacht. Sie ken­nen ja das Pro­ze­de­re, oder?«

Die Ret­tungs­sa­ni­tä­ter schlüpf­ten kom­men­tar­los in die Over­alls. Doch die Aus­sa­ge des Not­arz­tes nag­te im­mer noch an Lau­ras Ver­stand.

»Könn­te es tat­säch­lich Ebo­la sein?«

»Es muss nicht zwangs­läu­fig Ebo­la sein!«, sag­te Hum­mel, und die Kom­mis­sa­rin woll­te schon auf­at­men, als er hin­zu­füg­te: »Es könn­te auch ein an­de­res Hä­mor­rhagi­sches Fie­ber sein. Auf je­den Fall ist es zwin­gend not­wen­dig, dass Sie al­le de­kon­ta­mi­niert wer­den. Bit­te ach­ten Sie dar­auf, dass Ih­re Kör­per kom­plett be­deckt sind, und be­nut­zen Sie die Über­zie­her und den Mund­schutz.«

Ver­wirrt griff sie nach dem Over­all. Das Kunst­stoff­ge­we­be knis­ter­te, und so­fort ver­fing sich der Wind in dem Ma­te­ri­al. Mit dem An­zug kämp­fend sah sie zu Falk Acker­mann. Er be­müh­te sich um ei­ne neu­tra­le Mie­ne, doch lei­der pass­te sei­ne Ge­sichts­far­be nicht da­zu.

Ebo­la!, summ­te es in ihren Oh­ren. So­fort er­schie­nen grau­si­ge Bil­der von Re­por­ta­gen aus Afri­ka vor ihrem in­ne­ren Au­ge. Fo­tos hoff­nungs­los über­füll­ter Auf­fang­la­ger von Or­ga­ni­sa­ti­o­nen wie Ärz­te oh­ne Gren­zen, die ver­zwei­felt ver­such­ten, die Er­krank­ten zu ret­ten. Ebo­la!

Sie sah zu den Ret­tungs­sa­ni­tä­tern, und ein selt­sa­mes Ge­fühl der Pa­nik nahm ihr den Atem. Sie keuch­te. Doch der Zell­stoff ihres Mund­schut­zes mach­te ein tie­fes Ein­at­men na­he­zu un­mög­lich.

Die Men­schen auf dem Hü­gel er­in­ner­ten sie an die Hel­fer in den Kri­sen­ge­bie­ten. Ein­ge­mummt in wei­ße Ka­pu­zen­over­alls mit Atem­schutz und Schutz­bril­le, die kei­nen Blick auf den Trä­ger zu­lie­ßen, pau­sen­los da­mit be­schäf­tigt, Lei­chen in schwar­zen Plas­tik­sä­cken in an­ony­men Grä­bern zu ver­schar­ren. Ebo­la!

Der Ab­stieg in den Schutz­an­zü­gen er­wies sich als äu­ßerst schwie­rig. Die Schuh­über­zie­her wa­ren glatt und für ei­nen Steil­hang nicht ge­schaf­fen. Sie droh­te ab­zu­rut­schen, denn nach je­dem Schritt be­sprüh­ten die Män­ner den ver­meint­lich kon­ta­mi­nier­ten Bo­den und ver­wan­del­ten den Un­ter­grund in ei­ne schlam­mi­ge Bahn.

Es kam, wie es kom­men muss­te. Lau­ra schlit­ter­te. Aber Hum­mel pack­te sie und ver­hin­der­te, dass sie den Hang her­un­ter­pur­zel­te. »Dan­ke!«, mur­mel­te sie und sah ver­le­gen an ihm vor­bei.

Was den Con­tai­ner ge­ra­de­wegs in ihr Blick­feld schob. Ver­mumm­te Män­ner ver­sie­gel­ten den Stahl­ko­loss. So­fort er­fass­te sie wie­der ein un­gu­tes Ge­fühl. Wo­hin hat­te man Ele­na ge­bracht?

Ih­re Ge­dan­ken ras­ten, und ihr Puls ga­lop­pier­te, als sie dar­an dach­te, dass sie die­je­ni­ge ge­we­sen war, die die Freun­din in den Schiffs­con­tai­ner ge­schickt hat­te. Sie und Acker­mann hat­ten sich nur au­ße­r­halb des Un­glücks­fahr­zeugs auf­ge­hal­ten. Aber Ele­na war bei den Lei­chen ge­we­sen, war di­rekt mit ih­nen in Be­rüh­rung ge­kom­men.

Je mehr sie dar­über nach­dach­te, des­to stär­ker häm­mer­te ihr Herz ge­gen ih­re Brust, und ein un­an­ge­neh­mes Ge­fühl von Schuld mach­te sich in ihrem Bauch breit. Wie­der ein­mal hat­te sie ih­re Freun­din in Ge­fahr ge­bracht. Sie hat­te Ele­na ganz be­wusst auf ihrem pri­va­ten Han­dy an­ge­ru­fen, weil sie si­cher­ge­hen woll­te, dass sich kein an­de­rer Rechts­me­di­zi­ner des Falls an­neh­men wür­de. Nun war sie es ge­we­sen, die ih­re Freun­din in den To­des­frach­ter hin­ein­ge­schickt hat­te. In ei­nen Con­tai­ner vol­ler Lei­chen, die ein töd­li­ches Vi­rus in sich tru­gen.

 

5  

Das Des­in­fek­ti­ons­mit­tel hin­ter­ließ ei­nen bit­te­ren Ge­schmack auf Lau­ras Lip­pen, zu­dem brann­ten die Dämp­fe in ihren Au­gen. Aber das war das kleins­te Übel. Als hät­te der Tag heu­te nicht schon schreck­lich ge­nug be­gon­nen, so emp­fand Lau­ra die Pro­ze­dur der De­kon­ta­mi­na­ti­on als äu­ßerst de­mü­ti­gend. Ihr war kalt. Im De­kon­ta­mi­na­ti­ons­zelt zog es er­bärm­lich, und das Des­in­fek­ti­ons­mit­tel war ei­sig. Nur in Un­ter­wä­sche be­klei­det stand sie in der en­gen Ka­bi­ne und ließ sich er­neut mit der ste­chend rie­chen­den Flüs­sig­keit be­sprü­hen.

Der Mann war un­ter dem Ka­pu­zen­over­all und dem Mund­schutz an­onym, doch sie er­kann­te die Stim­me, als er ihr ein Tuch reich­te. Es war Hum­mel. Scham fla­cker­te in ihr auf, und sie hoff­te in­stän­dig, dass er sie durch die be­schla­ge­ne Schutz­bril­le nicht ein­deu­tig er­ken­nen konn­te. Schnell schlang sie das Lei­nen­tuch um ihren Kör­per und schau­te ver­le­gen zur Sei­te. Aber es gab kein Ent­kom­men.

Ei­ne wei­te­re Per­son trat auf sie zu, gab ihr ein Zei­chen und führ­te sie zu ei­ner Du­schein­heit. Froh, end­lich das Des­in­fek­ti­ons­mit­tel wie­der ab­wa­schen zu kön­nen, seif­te sie sich gleich zwei Mal ab. Trotz­dem blieb das un­an­ge­neh­me Ge­fühl, ei­nem töd­li­chen Vi­rus ge­fähr­lich na­he­ge­kom­men zu sein. Die­se win­zi­gen Mi­kro­or­ga­nis­men konn­te man nicht se­hen, füh­len oder schme­cken. Erst, wenn sie in ei­nen Or­ga­nis­mus ein­ge­drun­gen und ih­re un­heil­brin­gen­de Fracht ab­ge­la­den hat­ten, führ­ten sie zu Krank­heit oder Tod.

Ihren Ge­dan­ken nach­hän­gend, trat sie aus der Dusch­ka­bi­ne und schlüpf­te schnell in ei­nen wei­ßen Over­all und viel zu gro­ße Stie­fel. Das Ma­te­ri­al des An­zugs war dünn, und sie frös­tel­te, wäh­rend sie den Reiß­ver­schluss zu­zog.

Acker­mann war­te­te be­reits. Sei­ne Haa­re glänz­ten feucht, und auch er trug ei­nen An­zug. »Mei­ne Gü­te, dir steht das Ding ge­nau­so we­nig wie mir!«, grunz­te er, als er Lau­ra sah.

Statt ei­ner Ant­wort frag­te sie: »Was pas­siert mit un­se­ren Sa­chen?«

Acker­mann zuck­te rat­los mit den Schul­tern.

»Soll­te sich der Ver­dacht auf hä­mor­rhagi­sches Fie­ber be­stä­ti­gen, wer­den Sie Ih­re Klei­dung nicht mehr zu­rück­be­kom­men. Aber war­ten wir es erst ein­mal ab. Ich soll Sie zur Be­spre­chung in die Kom­man­doein­heit brin­gen«, sag­te Hum­mel.

Vor dem Zelt war­te­te be­reits ein wei­te­rer Mit­ar­bei­ter der ABC-Ein­heit. Er be­glei­te­te sie zu ei­nem Trai­ler. Lau­ra nutz­te die Ge­le­gen­heit, sich auf der Au­to­bahn um­zu­se­hen. Die Kol­le­gen von Po­li­zei und Feu­er­wehr hat­ten im­mer noch al­le Hän­de voll zu tun, um das Cha­os auf der A5 zu be­he­ben. Sie fi­xier­te den Con­tai­ner und dach­te an die Men­schen, die dar­in la­gen. Wa­ren sie tat­säch­lich an Ebo­la ge­stor­ben, und hat­ten sie wirk­lich die töd­li­che Seu­che nach Deutsch­land ein­ge­schleppt? Sie war sich der Trag­wei­te die­ses Pro­blems nicht be­wusst, aber ihr war klar, dass es ei­ner Ka­ta­stro­phe gleich­kam.

Ih­re Über­le­gun­gen wur­den jäh un­ter­bro­chen, als lau­te Stim­men an ih­re Oh­ren dran­gen. Ei­ne kam ihr sehr ver­traut vor, und lang­sam form­ten sich die Ge­sprächs­fet­zen zu zu­sam­men­hän­gen­den Sät­zen.

»Ich kann es gern wie­der­ho­len. Es ist mei­ne Schuld, ich ha­be nicht so­fort er­kannt, dass es sich bei den Lei­chen um Afri­ka­ner han­delt, die ver­mut­lich er­krankt wa­ren. In dem Con­tai­ner war es schließ­lich dun­kel.«

Lau­ra und Acker­mann be­tra­ten die Ein­satz­zen­tra­le und fan­den die Rechts­me­di­zi­ne­rin in ei­ner hef­ti­gen Dis­kus­si­on mit ei­nem gro­ßen Mann.

»Du hät­test da nicht rein­ge­hen dür­fen! Du bist dir doch der Kon­se­quen­zen be­wusst, oder? Was, wenn du dich in­fi­ziert hast?«, rief er aus.

Sein Ton­fall war wü­tend. Und noch et­was schwang in sei­ner Stim­me mit. Aber ehe ihr der Fun­ke der Er­kennt­nis ge­kom­men war, war er auch schon wie­der ver­flo­gen.

Lau­ra klopf­te laut an den Tür­rah­men. Ihr war be­wusst, dass sie da­mit den Streit der bei­den un­ter­brach. Aber sie hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, ih­re Freun­din aus die­ser hit­zi­gen Dis­kus­si­on her­aus­zu­ho­len. Ele­na dreh­te sich um. Wenn es ei­nen wei­te­ren Be­weis brauch­te, dass die Si­tu­a­ti­on ernst zu neh­men war, dann war der Mund­schutz, den die Rechts­me­di­zi­ne­rin trug, ein sicht­ba­rer. Über den Rand des wei­ßen Zell­stof­fes fun­kel­ten Ele­nas dunk­le Au­gen wü­tend. Aber ih­re Wut ver­ebb­te, als sie Lau­ra er­kann­te. Auch sie hat­te sich der De­kon­ta­mi­na­ti­on un­ter­zie­hen müs­sen, und der viel zu gro­ße Over­all ra­schel­te bei je­der Be­we­gung. Sie spar­te es sich, die Po­li­zis­ten zu be­grü­ßen, und stell­te den Mann di­rekt vor. »Das ist Dr. Se­bas­ti­an Ke­ve­kor­des, Lei­ter des Seu­chen­schut­zes.«

Lau­ra nick­te ihm zu und woll­te ihm die Hand rei­chen, doch er mus­ter­te sie nur mit arg­wöh­ni­schem Blick. Sei­ne Wut schien dem Raum den Sau­er­stoff zu neh­men, und sie at­me­te tief, ehe sie frag­te: »Ist es wirk­lich ein Fall von Ebo­la?«

Die oh­ne­hin schon an­ge­spann­te Mie­ne des Man­nes wur­de noch ei­ne Spur erns­ter. »Mei­ne Leu­te sind ge­ra­de da­bei, die ers­ten Pro­ben zu un­ter­su­chen.« Mit Blick auf die Uhr füg­te er hin­zu: »Das vor­läu­fi­ge Er­geb­nis soll­ten wir bald ha­ben. Es sind schließ­lich sehr vie­le Lei­chen. Nicht aus­zu­den­ken, wenn die­se Men­schen be­reits wei­te­re Per­so­nen in­fi­ziert ha­ben. An­ge­nom­men, dass der Schnell­test auch nur bei ei­ner Pro­be po­si­tiv aus­fällt, dann ha­ben wir ein ernst­zu­neh­men­des Pro­blem.«

»Wie mei­nen Sie das?«, frag­te Lau­ra.

»Im Fal­le von Ebo­la oder ei­nem an­de­ren hä­mor­rhagi­schen Fie­ber müs­sen wir die Lei­chen in si­tu, das heißt zu­sam­men mit dem Con­tai­ner, von hier weg­trans­por­tie­ren.«

Er fuhr sich ner­vös durch das Haar, was Lau­ra die Ge­le­gen­heit gab, ihn ge­nau­er zu be­trach­ten. Er war et­wa En­de vier­zig, gut aus­se­hend und nicht übel ge­baut, mit zer­zaus­ter grau­er Kurz­haar­fri­sur und dich­ten Bart­stop­peln, die aus der Mas­ke frech her­vor­lug­ten.

»Wie Sie sich si­cher vor­stel­len kön­nen«, fuhr er fort, »ist das un­ge­heu­er auf­wen­dig. Au­ßer­dem muss aus­nahms­los je­der in Qua­ran­tä­ne, der in ir­gend­ei­ner Form Kon­takt zu den Men­schen hat­te. Wir des­in­fi­zie­ren ge­ra­de das gan­ze Are­al, und ein wei­te­res Team prüft, wer von der Ret­tungs­mann­schaft in dem Con­tai­ner war. Hin­zu kommt, dass ab­ge­klärt wer­den muss, wie die­se Leu­te in un­ser Land ge­kom­men sind und ob sie mit je­man­dem Kon­takt hat­ten.

»Qua­ran­tä­ne? Wie lan­ge kann das dau­ern?«, warf Acker­mann ein. Er hat­te sich die gan­ze Zeit zu­rück­ge­hal­ten und die Rol­le des stum­men Be­ob­ach­ters ein­ge­nom­men. Jetzt fi­xier­te er Ke­ve­kor­des.

»Im un­güns­tigs­ten Fall könn­te es bis zu zwei­und­vier­zig Ta­ge dau­ern! Das Pro­blem ist, dass wir zur­zeit noch nicht wis­sen, mit wel­chem Er­re­ger wir es zu tun ha­ben.« Er sah die Be­am­ten an. »Wenn sich un­ser Ver­dacht be­stä­tigt, brau­chen wir ei­ne Blut­pro­be von Ih­nen.«

»Zwei­und­vier­zig Ta­ge!«, rief Lau­ra ent­setzt. »Ich ha­be ei­nen Con­tai­ner vol­ler Lei­chen. Ich muss ei­nen Mas­sen­mord auf­klä­ren. Da kann ich nicht sechs Wo­chen ta­ten­los zu­se­hen, bis ihr eu­re Test­er­geb­nis­se habt. Was, wenn sich her­aus­stellt, dass das Ebo­la-Vi­rus nicht für den Tod die­ser Men­schen ver­ant­wort­lich ist, dann sind die Mör­der schon über al­le Ber­ge!«

»Mir ist zu Oh­ren ge­kom­men, dass even­tu­ell der Fah­rer ge­fun­den wur­de! Ist er ver­neh­mungs­fä­hig?«, frag­te Ele­na, und ih­re Stim­me klang durch das Vlies des Mund­schut­zes selt­sam ge­dämpft.

»Wir wis­sen nicht, wer er ist«, gab Lau­ra zu und sah Ke­ve­kor­des an. »Falls es sich um den Fah­rer han­delt, kön­nen wir nur hof­fen, dass er kei­nen Kon­takt zu den Men­schen im Con­tai­ner hat­te.«

»Von ihm ha­ben wir auch schon ei­ne Pro­be ge­nom­men. Sind die Blut­pro­ben erst ein­mal im La­bor, geht es re­la­tiv schnell. In der Re­gel dau­ert der Schnell­test drei­ßig Mi­nu­ten. Aber mei­ne Leu­te ha­ben acht­und­vier­zig Lei­chen ge­zählt. Es wird ein we­nig dau­ern, bis wir al­le Er­geb­nis­se ha­ben.«

»Acht­und­vier­zig!« Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun starr­te den Lei­ter der Seu­chen­schutz­be­hör­de ent­setzt an. »Wirk­lich acht­und­vier­zig?«

Ke­ve­kor­des nick­te düs­ter, dann griff er nach ei­ner Klad­de und las vor: »Vier­und­drei­ßig Män­ner, sie­ben männ­li­che Ju­gend­li­che, fünf Frau­en, zwei Klein­kin­der!«

»Acht­und­vier­zig! Mei­ne Gü­te!« Un­gläu­big schüt­tel­te Lau­ra den Kopf. »Un­vor­stell­bar, dass so vie­le Men­schen in ei­nen Con­tai­ner pas­sen.«

Ke­ve­kor­des sah von der Klad­de auf. »Ich ver­mu­te, dass es sich hier um Flücht­lin­ge han­deln könn­te. Viel­leicht aus der Re­pu­blik Kon­go oder dem Su­dan, wir wis­sen es nicht. Aber be­ten Sie, dass die­se ar­men See­len nicht an ei­nem töd­li­chen Vi­rus ge­stor­ben sind, und –«, er mach­te ei­ne Pau­se, »dass kein In­fi­zier­ter un­wis­sent­lich in Deutsch­land her­um­läuft. Denn soll­te dem so sein, dann gna­de uns Gott!«

 

6  

Ist das wirk­lich not­wen­dig?«

Dr. Ele­na Sa­lo­nis sah von ihrem In­stru­men­ten­ta­blett auf. Lau­ra hat­te ge­ra­de zu­sam­men mit Acker­mann und dem Kol­le­gen Chris­ti­an Som­mer den Ob­duk­ti­ons­saal be­tre­ten. Al­le tru­gen Schutz­klei­dung der be­son­de­ren Art, und Lau­ra kam sich vor wie ei­ne Mu­mie.

»Ja, auf je­den Fall!« Der Mann war un­ter dem Ka­pu­zen­over­all und dem Mund­schutz kaum aus­zu­ma­chen, doch sie er­kann­te an der Stim­me den Lei­ter der Seu­chen­schutz­be­hör­de, Se­bas­ti­an Ke­ve­kor­des. Ele­na hat­te heu­te sel­te­ne Zu­schau­er in ihrem Sek­ti­ons­saal.

Lau­ra warf der Lei­che un­ter dem Tuch ei­nen miss­traui­schen Blick zu. »Wie si­cher bist du dir, dass die Men­schen nicht an Ebo­la ge­stor­ben sind?«, frag­te die Kom­mis­sa­rin, be­müht, ih­re wach­sen­de Ner­vo­si­tät zu igno­rie­ren. Lei­chen­öff­nun­gen wa­ren nicht ihr Ding.

»Die Tests wa­ren bei al­len ne­ga­tiv«, ant­wor­te­te Ele­na.

Mit ei­ner kur­z­en Kopf­be­we­gung in Rich­tung Ke­ve­kor­des raun­te Lau­ra: »Und war­um ist dann er da?«

Sie muss­te sei­nen Na­men nicht aus­spre­chen. Sie sah der Freun­din an, dass sie wuss­te, wer ge­meint war. Ele­na warf ihr ei­nen ge­nerv­ten Blick zu und spar­te sich die Ant­wort.

»Und was ist mit den Blu­tun­gen des To­ten?«, wech­sel­te Lau­ra das The­ma.

»Auch ne­ga­tiv. Pe­te­chi­en sind nur ei­ne Be­gleit­er­schei­nung. Sie kön­nen harm­lo­se Ur­sa­chen ha­ben, aber auch Sym­pto­me ernst­haf­ter Er­kran­kun­gen sein. Ver­mut­lich fin­den wir die Ur­sa­che für sei­ne Blu­tungs­nei­gung bei der Ob­duk­ti­on.«

»Wie vie­le Ob­duk­ti­o­nen wirst du durch­füh­ren?«

»Ich hof­fe, dass ich mög­lichst vie­le schaf­fe. Nimm dir für heu­te mal nichts mehr vor.«

Lau­ra stöhn­te. Die­se gan­ze Ebo­la-Sa­che hat­te so­wie­so schon so viel Zeit ge­kos­tet, und da sie als er­mit­teln­de Beam­tin bei je­der Ob­duk­ti­on zu­ge­gen sein muss­te, wür­de sie die nächs­ten Ta­ge nur mit Lei­chen­öff­nun­gen be­schäf­tigt sein.

Sie starr­te den Lei­chen­sack auf dem Ob­duk­ti­ons­tisch an. Al­le Lei­chen wur­den mit höchs­ter Vor­sicht be­han­delt, und sie wapp­ne­te sich in­ner­lich für die be­vor­ste­hen­de Pro­ze­dur. Sie trug den An­zug erst seit ein paar Mi­nu­ten, und sie spür­te jetzt schon, wie sich Schweiß auf ihrem Rü­cken bil­de­te. Das konn­te ein lan­ger Tag wer­den.

Ele­na sah in die Run­de. »Da wir nun voll­zäh­lig sind, kön­nen wir ja end­lich an­fan­gen.«

Ob­wohl die Atem­mas­ke Ele­nas Stim­me eben­so ver­zerr­te wie die der an­de­ren An­we­sen­den, re­gis­trier­te Lau­ra den ge­reiz­ten Un­ter­ton. Es pass­te der Freun­din nicht, dass ihr Ob­duk­ti­ons­saal heu­te über­füllt war, denn Ke­ve­kor­des war nicht al­lein ge­kom­men. Er hat­te ei­nen jun­gen Arzt mit­ge­bracht.

Di­mi­tri, der Sek­ti­ons­as­sis­tent, dräng­te sich an den Tisch, und Lau­ra muss­te ei­nen Schritt zu­rück­ge­hen. Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung öff­ne­te er den Reiß­ver­schluss des Spe­zi­al­sa­ckes, und mit ei­nem Mal war sie dank­bar für die Atem­mas­ke. Aus Er­fah­rung wuss­te sie, dass sich die üb­len Ge­rü­che in ei­nem Lei­chen­sack sam­mel­ten und nur dar­auf war­te­ten, frei­ge­las­sen zu wer­den.

Wäh­rend der Mann ent­klei­det wur­de, beo­b­ach­te­te sie ih­re Kol­le­gen. Falk Acker­mann, der ge­spannt je­de Be­we­gung der Rechts­me­di­zi­ne­rin ver­folg­te. Chris­ti­an Som­mer. Über dem Mund­schutz er­kann­te sie ei­nen mür­ri­schen Blick, der sich zu ei­nem Aus­druck des Wi­der­wil­lens ver­tief­te und ihr ver­ri­et, dass er im Mo­ment über­all lie­ber wä­re als an die­sem Ort.

Sie kon­zen­trier­te sich wie­der auf das Ge­sche­hen auf dem Ob­duk­ti­ons­tisch. In­zwi­schen hat­te der Sek­ti­ons­as­sis­tent die Klei­dung kom­plett ent­fernt, und Lau­ra sah zum ers­ten Mal den to­ten Kör­per. Ein jun­ger Mann. Der kaf­fee­brau­ne Farb­ton der Haut war jetzt ei­nem schmut­zi­gen Schwarz ge­wi­chen, und ob­wohl der Leib der Lei­che durch die Bak­te­ri­en stark auf­ge­bläht war, lie­ßen sich drah­ti­ge Seh­nen und ei­ne star­ke Mus­ku­la­tur er­ah­nen. Mit stoi­schem Blick ver­folg­te sie die äu­ße­re Lei­chen­schau.

»Sämt­li­che Fin­ger­nä­gel sind ab­ge­bro­chen, teil­wei­se bis zur Na­gel­wur­zel. An zwei Fin­ger­kup­pen fehlt die Haut«, sag­te Ele­na und wies Di­mi­tri an, die Hän­de des Man­nes zu fo­to­gra­fie­ren. Sie in­spi­zier­te die Fin­ger­bee­ren des Zei­ge­fin­gers und des Mit­tel­fin­gers. »Die Wund­rän­der zei­gen noch kei­ne An­zei­chen ei­nes Hei­lungs­pro­zes­ses. Des­halb ge­he ich davon aus, dass er sich die Ver­let­zun­gen beim Ver­such, aus dem Con­tai­ner zu ent­kom­men, zu­ge­zo­gen hat.«

Stumm be­trach­te­te Lau­ra die auf­ge­schürf­ten Hän­de des To­ten und er­wisch­te sich da­bei, wie sie ih­re ei­ge­nen Hän­de mus­ter­te. Ein­ge­zwängt in Ni­tril­hand­schu­he fühl­ten sich ih­re Hän­de selt­sam be­schützt und le­ben­dig an.

»Es muss schreck­lich eng und sti­ckig in die­sem Con­tai­ner ge­we­sen sein. Wenn ihr mich fragt, ein grau­sa­mer Ort um zu ster­ben!«, sag­te Ele­na und wid­me­te sich den Ver­let­zun­gen der an­de­ren Hand. »Habt ihr Spu­ren an der Tür ent­deckt?«

Acker­mann über­nahm das Ant­wor­ten: »Ja, die Spu­ren­si­che­rung ist im­mer noch da­bei. Aber ich kann dir jetzt schon sa­gen, dass im ge­sam­ten In­nen­be­reich des Con­tai­ners deut­li­che Kratz­spu­ren fest­ge­stellt wur­den.«

Lau­ra nick­te, sie hat­te die Bil­der des Con­tai­ners deut­lich vor Au­gen, aber jetzt galt es erst ein­mal zu klä­ren, was die Men­schen ge­tö­tet hat­te. Zu ih­rer Ver­wun­de­rung be­gann die Freun­din nun mit der Un­ter­su­chung des Kop­fes. Die­se Pro­ze­dur emp­fand Lau­ra im­mer als die schlimms­te, und sie war dank­bar, dass der An­zug das Ge­räusch der Os­zil­la­ti­ons­sä­ge dämm­te. Sie wand­te sich ab und ver­such­te, sich auf et­was an­de­res zu kon­zen­trie­ren. Aber al­le In­stru­men­te und Ge­rä­te im Ob­duk­ti­ons­saal er­in­ner­ten sie an das, was den Lei­chen hier an­ge­tan wur­de. Ihr Blick fiel auf die Waa­ge, und so­fort hat­te sie das Bild im Kopf, wie Or­ga­ne ge­wo­gen wur­den. Sie ver­such­te, an­ge­neh­me Bil­der her­auf­zu­be­schwö­ren, aber in die­sem tris­ten Raum war es ihr un­mög­lich, nicht an den Tod zu den­ken. Zu sehr be­schäf­tig­te sie die Fra­ge, war­um acht­und­vier­zig To­te in dem Con­tai­ner wa­ren. Acht­und­vier­zig Men­schen! Acht­und­vier­zig Le­ben! Sie konn­te die Zahl noch so oft wie­der­ho­len, sie ver­lor ihren Schre­cken nicht, und der Leich­nam vor ihr war nur der An­fang.

»Wie lan­ge wird es dau­ern, bis du al­le Er­geb­nis­se hast?«, frag­te Lau­ra.

Das Skal­pell der Rechts­me­di­zi­ne­rin durch­drang mü­he­los die Haut der Brust und stopp­te erst, als es das Scham­bein des Man­nes er­reich­te. Ele­na sah die Po­li­zis­tin nicht an, als sie ant­wor­te­te: »Dr. Wer­ner wird heu­te Nach­mit­tag par­al­lel ar­bei­ten. Au­ßer­dem er­war­ten wir ei­nen Kol­le­gen aus Frei­burg. Er wird mor­gen zu uns sto­ßen, um uns zu un­ter­stüt­zen.«

»Dann wirst du die gan­ze Wo­che mit den Op­fern be­schäf­tigt sein?«

»Ja«, ant­wor­te­te Ele­na knapp und be­gann, mit­hil­fe ei­ner Zan­ge die Rip­pen zu durch­tren­nen. Ein scheuß­li­ches Ge­räusch, das Lau­ra durch Mark und Bein ging und ihr ver­deut­lich­te, wie ein­fach es war, ei­nen mensch­li­chen Kno­chen zu durch­schnei­den. Sie schloss die Au­gen für ei­nen Au­gen­blick, und als sie sie wie­der öff­ne­te, sah sie, wie ih­re Freun­din, oh­ne zu zö­gern, in die Brust­höh­le der Lei­che griff und mit sou­ve­rä­nen Be­we­gun­gen des Skal­pells die Lun­ge her­aus­lös­te.

»Oh Mann, mir bleibt heu­te aber nichts er­spart!«

Sie wand­te den Blick ab. Auch wenn sie häu­fig Gast in Ele­nas Ob­duk­ti­ons­saal ge­we­sen war – die­se Pro­ze­dur er­schreck­te sie im­mer aufs Neue.

Sie mus­ter­te Ke­ve­kor­des. Ihr fiel es schwer, nach­zu­voll­zie­hen, wie­so der Lei­ter des Seu­chen­schut­zes bei der Lei­chen­öff­nung un­be­dingt da­bei sein woll­te. Nor­ma­le­r­wei­se in­ter­es­sier­ten sich die Be­hör­den nur für die Er­geb­nis­se. Die hät­te er je­doch auch per Mail ha­ben kön­nen. Die­ser Mann war auf­dring­lich und be­hin­der­te die Rechts­me­di­zi­ne­rin un­ent­wegt. Ge­ra­de un­ter­brach er sie er­neut. Ele­nas Stim­me war ge­reizt, als sie ant­wor­te­te: »Das wird das La­bor her­aus­fin­den. Ich wer­de mich kei­nes­falls zu vor­schnel­len Er­geb­nis­sen ver­lei­ten las­sen!«

Für Lau­ra war klar, dass Ke­ve­kor­des die­se Wir­kung auf Ele­na hat­te. Die Span­nung zwi­schen den bei­den Me­di­zi­nern war fast greif­bar. Sie konn­te ih­re Freun­din ver­ste­hen. Sein Team stör­te und ver­zö­ger­te die Ab­läu­fe. Ele­na war es nicht ge­wohnt, An­wei­sun­gen zu fol­gen. Sie al­lein herrsch­te in ihrem Reich der To­ten. Be­fän­de Lau­ra sich an Ele­nas Stel­le, wä­re sie ver­mut­lich auch wü­tend.

Sie sah, wie die Freun­din ih­re Ar­beit wie­der auf­nahm. Mit stoi­schem Blick ließ sie Pro­ben in ei­nen Be­häl­ter fal­len und reich­te ihn Di­mi­tri zur Be­schrif­tung. Je­der hier im Saal konn­te se­hen, dass sie Ke­ve­kor­des aus­wich. Ele­nas Re­ser­viert­heit er­in­ner­te Lau­ra an die un­nah­ba­re und über­kor­rek­te Rechts­me­di­zi­ne­rin, die sie An­fang des Jah­res ken­nen­ge­lernt hat­te. Nicht an die Freun­din, mit der sie letz­ten Mo­nat ei­ne Rad­tour ge­macht hat­te. Die­ser Aus­flug hat­te ih­nen bei­den fast das Le­ben ge­kos­tet. Es war ei­ne Tour, die die ech­te Ele­na ge­zeigt hat­te. Ei­ne Frau mit nor­ma­len Ge­füh­len und Ängs­ten. Als die Rechts­me­di­zi­ne­rin ges­tern am Un­fall­ort ein­ge­trof­fen war, hat­te Lau­ra gleich be­merkt, dass ih­re Freun­din im­mer noch leicht hink­te und ihr oh­ne­hin schma­les Ge­sicht er­schre­ckend hohl­wan­gig wirk­te. Und ob­wohl Ele­na mit ge­wohn­ter Pro­fes­si­o­na­li­tät den Tat­ort be­tre­ten hat­te, war Lau­ra das Zö­gern der Rechts­me­di­zi­ne­rin auf­ge­fal­len, als sie die Lei­chen er­blickt hat­te. War es das, was ih­re Freun­din be­schäf­tig­te?

»Lau­ra, hörst du mir ei­gent­lich zu?«

Lau­ra riss sich zu­sam­men. Ihr war nicht be­wusst ge­we­sen, dass ih­re Ge­dan­ken ab­ge­schweift wa­ren. Of­fen­sicht­lich war sie doch mü­der, als sie ge­dacht hat­te.

»Ent­schul­di­gung. Ich ha­be nur nach­ge­dacht.«

»Ich frag­te, ob du mal füh­len möch­test?«, sag­te Ele­na und fuch­tel­te mit der Hand vor Lau­ras Na­se her­um.

Lau­ra starr­te auf ein blu­ti­ges Stück Fleisch, wel­ches feucht glän­zend im Hand­schuh der Rechts­me­di­zi­ne­rin lag. Es war kaum grö­ßer als Ele­nas Hand­flä­che, hat­te ei­ne glat­te Au­ßen­hül­le und un­ter­schied sich nur in ge­rin­gem Ma­ße von dem blut­be­schmier­ten La­tex­hand­schuh. Lau­ra hät­te beim bes­ten Wil­len nicht sa­gen kön­nen, um wel­ches Or­gan es sich han­del­te, und frag­te sich ge­ra­de, was Ele­na von ihr woll­te. Ob sie es wa­gen konn­te, der Frau zu ge­ste­hen, dass sie nicht wuss­te, was sie ihr vor die Na­se hielt?

Doch die­se Ent­schei­dung muss­te sie nicht tref­fen, denn Ele­na sag­te: »Stei­ne! Die­ser Ma­gen ist vol­ler Stei­ne!«

»Wie­so?«

»Ich zei­ge es euch.«

Oh­ne ein wei­te­res Wort trug Ele­na das Or­gan zu ei­nem Tisch. Mit ei­nem Skal­pell schnitt sie tief in die Ma­gen­wand, und klir­rend fiel der In­halt des Ma­gens in die Me­tall­schüs­sel. Al­le starr­ten auf die Scha­le. Lau­ra konn­te die Kie­sel­stei­ne nicht ein­ord­nen. Kei­ner glich dem an­de­ren, we­der in der Far­be noch in der Form oder der Grö­ße.

Som­mer mach­te sei­ner Ver­wun­de­rung zu­erst Luft: »Das sind ja wirk­lich Stei­ne! Ich dach­te, Sie spre­chen von Di­a­man­ten.« Er schüt­tel­te den Kopf. »Der Typ ist doch ver­rückt!«

»Nein. Wä­re das hier ei­ne Lei­che aus ei­nem rei­chen In­dus­trie­land, dann hät­te ich Ih­nen viel­leicht zu­ge­stimmt. Aber wie man hier se­hen kann, be­fin­det sich au­ßer den Stei­nen nichts im Ma­gen«.

Um ih­re Aus­sa­ge zu un­ter­strei­chen, schob Ele­na die Kie­sel mit ei­ner Pin­zet­te aus­ein­an­der. »Vie­le Men­schen in Afri­ka prak­ti­zie­ren das Stei­ne-Es­sen. Aus Hun­ger, Durst oder Mi­ne­ral­stoff­man­gel. So, wie es aus­sieht, hat die­ser Mann schon seit Ta­gen nichts mehr ge­ges­sen. Ich kann hier kei­ne Res­te von Nah­rung er­ken­nen.«

»Das ist doch si­cher­lich ge­fähr­lich?«, er­wi­der­te Lau­ra. Die Vor­stel­lung, dass je­mand frei­wil­lig Stei­ne es­sen wür­de, war ihr zu­wi­der. Aber wenn ihr als Po­li­zis­tin ei­nes im Dienst klar ge­wor­den war, dann, dass Men­schen zu al­lem fä­hig wa­ren.

Ele­na nick­te. »Ja, je nach Grö­ße, Be­schaf­fen­heit oder Men­ge des auf­ge­nom­me­nen Ge­steins kann es zu ei­nem Darm­ver­schluss oder Darm­ver­let­zun­gen kom­men.«

»Mei­ne Gü­te, da muss die Ver­zweif­lung schon ex­trem sein, wenn je­mand Stei­ne isst!«, sag­te Acker­mann kopf­schüt­telnd.

»Das passt zum All­ge­mein­zu­stand die­ses Man­nes. Er ist un­ter­er­nährt, und die Or­ga­ne zei­gen An­zei­chen von jah­re­lan­ger Man­gel­er­näh­rung. Aber ich glau­be nicht, dass es das ist, was ihn ge­tö­tet hat. Er ist nicht ver­hun­gert, und ei­nen Darm­ver­schluss kann ich eben­so­we­nig er­ken­nen.«

Sie such­te Ke­ve­kor­des Blick: »Ich wer­de Pro­ben für ei­ne to­xi­ko­lo­gi­sche Un­ter­su­chung ent­neh­men, da­mit wir Gift eben­so aus­schlie­ßen kön­nen. Ich wür­de die Lei­chen­schau nun ab­schlie­ßen. Brauchst du noch et­was?«

Ke­ve­kor­des kon­trol­lier­te sei­ne Pro­ben­röhr­chen. »Wir ha­ben al­les. Wie lau­tet dei­ne Ver­mu­tung be­züg­lich der To­des­ur­sa­che?«

Die Rechts­me­di­zi­ne­rin sah in die Run­de. »Tod durch äu­ße­r­li­che Ge­walt­ein­wir­kung ist nicht fest­zu­stel­len. War­ten wir auf die Er­geb­nis­se aus dem La­bor. Die CO2-Kon­zen­tra­ti­on im Blut wird uns ver­ra­ten, ob es sich hier um ein hy­po­xi­sches Er­sti­cken han­delt.«

Lau­ra ver­zog das Ge­sicht. »Kannst du das bit­te so er­klä­ren, dass es die Nicht­me­di­zi­ner hier auch ver­ste­hen?«

»Hy­po­xi­sches Er­sti­cken? Ganz ein­fach.« sag­te Ele­na. »Hier­bei han­delt es sich um Er­sti­cken in­fol­ge ei­nes Sau­er­stoff­man­gels in der Atem­luft.«

Als Lau­ra nichts er­wi­der­te, füg­te Ele­na hin­zu: »Ma­chen wir ihn zu und schau­en wir uns die nächs­te Lei­che an. Viel­leicht er­fah­ren wir mehr.«

Sie deu­te­te mit ei­ner Kopf­be­we­gung auf ei­nen an­de­ren Ob­duk­ti­ons­tisch in dem Raum. Di­mi­tri, der Sek­ti­ons­as­sis­tent, hat­te die Lei­chen­öff­nung schon vor­be­rei­tet, so­dass al­le An­we­sen­den nur zum be­nach­bar­ten Tisch ge­hen muss­ten.

»Das wird ein Ob­duk­ti­ons­ma­ra­thon«, dach­te Lau­ra. Ei­gent­lich hat­te sie jetzt schon kei­ne Lust mehr. Ei­ne Lei­chen­öff­nung pro Tag war mehr, als sie ver­kraf­ten konn­te. Au­ßer­dem hat­te sie noch je­de Men­ge Pa­pier­kram zu er­le­di­gen und mit ihren Er­mitt­lun­gen zu dem Fall kaum an­ge­fan­gen. Aber sie­ben­und­vier­zig wei­te­re To­te aus dem Con­tai­ner war­te­ten dar­auf, dass Ele­na ih­nen ih­re Ge­heim­nis­se ent­lo­cken wür­de.

»Wie geht es ei­gent­lich dem Ver­letz­ten? Habt ihr be­reits fest­stel­len kön­nen, ob er aus dem glei­chen LKW kam, und ist er aus dem Ko­ma er­wacht?«, frag­te die Rechts­me­di­zi­ne­rin, wäh­rend sie nach neu­en La­tex­hand­schu­hen griff.

Lau­ra schüt­tel­te den Kopf. »Wir sind uns ziem­lich si­cher, dass es sich bei ihm um den Fah­rer han­delt. Lei­der ist er noch nicht auf­ge­wacht, so­dass er uns noch nichts er­zäh­len konn­te. Aber die Ärz­te ha­ben ver­spro­chen, sich so­fort zu mel­den, falls es Neu­ig­kei­ten gibt!«

»Das kann Ta­ge dau­ern, viel­leicht so­gar Wo­chen. Bei sei­nen Ver­let­zun­gen kön­nen wir froh sein, wenn er über­haupt wie­der auf­wacht!«, er­wi­der­te Ele­na und öff­ne­te den Lei­chen­sack.

»Mal mir den Teu­fel nicht an die Wand! Wir brau­chen sei­ne Aus­sa­ge.«

Lau­ra woll­te noch hin­zu­fü­gen, dass es an ein Wun­der gren­ze, dass der Mann trotz sei­ner Ver­let­zun­gen das Fahr­zeug hat­te ver­las­sen kön­nen, aber da wur­de sie auch schon vom An­blick des To­ten ab­ge­lenkt. Sie schluck­te schwer. Es war nicht ihr ers­ter Tag in ei­nem Au­top­sie­saal, und trotz­dem ver­schlug es ihr fast je­des Mal die Spra­che, wenn der Reiß­ver­schluss ge­öff­net wur­de. Es war wie der Auf­takt zu ei­ner neu­en Tra­gö­die.

 

7  

Was ist denn mit dem pas­siert?«, rief Kom­mis­sar Chris­ti­an Som­mer und trat nä­her an den Sek­ti­ons­tisch her­an.

Die­se Fra­ge stell­te sich Ele­na auch und starr­te auf das ent­stell­te Ge­sicht, wel­ches sie aus dem klei­nen Aus­schnitt in der schwar­zen Fo­lie an­starr­te. Quä­lend lang­sam öff­ne­te sich der Reiß­ver­schluss des Lei­chen­sacks und gab den Blick auf des­sen In­halt frei.

Ihr Na­cken schmer­z­te, und ih­re Fü­ße fühl­ten sich schwer an, aber im Ver­gleich zu der Lei­che auf dem Tisch ging es ihr wirk­lich blen­dend.

Stell dich nicht so an, sag­te sie zu sich selbst und be­frei­te mit Di­mi­tris Hil­fe den To­ten vom Lei­chen­sack. Auch oh­ne me­di­zi­ni­sche Aus­bil­dung wa­ren die ver­dreh­ten Glied­ma­ßen der Lei­che und die Viel­zahl von Nar­ben deut­lich zu er­ken­nen.

Acker­mann ließ ge­räusch­voll die Luft ent­wei­chen. »Mei­ne Gü­te, kommt das durch den Un­fall?«

Ele­na schüt­tel­te lang­sam den Kopf und sah kurz zu Ke­ve­kor­des. Stumm und mit stoi­schem Aus­druck in den Au­gen mus­ter­te er den to­ten Kör­per.

»Sieht aus, als han­delt es sich hier um äl­te­re Trau­ma­ta«, sag­te sie und be­trach­te­te die Brand­nar­be, wel­che sich von der lin­ken Wan­ge bis zum Hals zog und ir­gend­wo im Brust­be­reich en­de­te. Doch ein Blick in Falks Acker­manns Ge­sicht sag­te ihr, dass ihn nicht die Brand­wun­de so scho­ckiert hat­te. Ent­setzt fi­xier­te der Kom­mis­sar die Hän­de des Man­nes, und Ele­na be­griff. Die un­na­tür­lich ge­krümm­ten Fin­ger, die in ei­gen­tüm­li­cher Wei­se ab­stan­den wie dün­ne, knor­ri­ge Zwei­ge an ei­nem tro­cke­nen Ast, hat­ten ihn so ge­schockt. An zwei Fin­gern war das letz­te Glied re­gel­recht ab­ge­knickt.

Be­hut­sam be­fühl­te sie mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger die ein­zel­nen Glie­der. »Ich kann deut­lich die Kal­lus­bil­dung spü­ren. Das sind al­te Frak­tu­ren.«

»Aber das ist ein jun­ger Mann. Ich schät­ze ihn nicht äl­ter als zwan­zig«, warf Lau­ra ein.

So alt hät­te ihn Ele­na auch ge­schätzt, und sie ver­stand den Ein­wand der Freun­din. »Ich woll­te nur sa­gen, dass die­se Kno­chen­brü­che schon ei­ni­ge Mo­na­te, wenn nicht so­gar Jah­re alt sind.«

»Wie kann so et­was pas­sie­ren?«, frag­te Lau­ra.

Ele­na nahm noch ein­mal die Hand in Au­gen­schein. »Bei mei­ner Ar­beit im Kon­go ha­be ich ähn­li­che Ver­let­zun­gen ge­se­hen. Man be­rich­te­te uns von bar­ba­ri­schen Fol­te­run­gen. Und für mich sieht das hier eben­falls nach Fol­ter­merk­ma­len aus. Die Fin­ger und die Ge­len­ke wur­den will­kür­lich ge­bro­chen. Mit ei­nem har­ten Ge­gen­stand, viel­leicht ei­nem Ham­mer oder ei­ner schwe­ren Ei­sen­stan­ge.

Sie lief zum Rönt­gen­film­be­trach­ter, wo Di­mi­tri be­reits die von ihm an­ge­fer­tig­ten Rönt­gen­bil­der auf­ge­hängt hat­te. Sie deu­te­te auf die Kno­chen der Hand. Selbst für ei­nen Lai­en war deut­lich zu er­ken­nen, dass klei­ne hel­le Kno­chen­split­ter im Ge­we­be steck­ten und ein wil­des Mus­ter bil­de­ten. Es war wie bei ei­nem Puz­zle, bei dem die Tei­le ein­fach nicht zu­sam­men­pas­sen woll­ten.

»Wie ihr hier se­hen könnt, sind die zer­trüm­mer­ten Kno­chen falsch oder gar nicht zu­sam­men­ge­wach­sen.«

Lau­ra Stim­me klang ent­setzt, als sie frag­te: »Bist du dir si­cher, was die Ur­sa­che be­trifft?«

»Ich den­ke schon. Das ist nicht das ers­te Mal, dass ich es mit ei­nem Fol­ter­op­fer zu tun ha­be. In Afri­ka kom­men Miss­hand­lun­gen recht häu­fig vor, und auf der ägyp­ti­schen Si­nai-Halb­in­sel wer­den jähr­lich tau­sen­de afri­ka­ni­sche Mi­gran­ten zu To­de ge­quält!«

Be­tre­te­nes Schwei­gen mach­te sich breit, und die Ge­sich­ter der Er­mitt­ler über der Mas­ke wirk­ten ge­schockt.

»Ein Be­dui­nen-Clan hat da­mit ei­ne er­folg­rei­che Ein­nah­me­quel­le ge­fun­den.«

Chris­ti­an Som­mer räus­per­te sich. »Ein­nah­me­quel­le?«

Sie nick­te. »Flücht­lin­ge aus Eri­trea oder aus dem Su­dan wer­den von Men­schen­händ­lern auf­ge­grif­fen und über Ägyp­ten in die Wüs­te des Si­nais ver­schleppt. Hier wur­den re­gel­rech­te Fol­ter­camps ein­ge­rich­tet, um von den An­ge­hö­ri­gen ho­he Sum­men zu er­pres­sen.«

»Aber die Men­schen in Afri­ka sind doch bet­tel­arm, was will man von die­sen Fa­mi­li­en er­pres­sen?«, schnaub­te Som­mer.

»Das ist es doch ge­ra­de. Die­se Men­schen flie­hen vor Krieg, Hun­gers­not oder Dik­ta­tur. Oft­mals ver­kauft die Fa­mi­lie Hab und Gut, um dem äl­tes­ten Sohn die Rei­se in ein eu­ro­pä­i­sches Land zu er­mög­li­chen. In der Hoff­nung, dass er re­gel­mä­ßig Geld nach Hau­se schickt. Wenn dann er oder sie in die Fän­ge der Men­schen­händ­ler ge­rät, muss sich die Fa­mi­lie hoch ver­schul­den, um das Fa­mi­li­en­mit­glied frei­zu­kau­fen. Oft­mals schaf­fen es die An­ge­hö­ri­gen nicht, das Lö­se­geld recht­zei­tig auf­zu­brin­gen, und die Ge­kid­napp­ten ster­ben an ihren Ver­let­zun­gen.«

Ele­na lief zu­rück an den Ob­duk­ti­ons­tisch. »Die­ser Mann hier hat ei­ni­ges an Qua­len und Miss­hand­lun­gen er­lei­den müs­sen.«

Mit ihrem be­hand­schuh­ten Fin­ger deu­te­te sie auf die Bei­ne, wo die ehe­mals dunk­le Haut jetzt schmut­zig ro­sa­far­bi­gem, zer­knit­ter­tem Per­ga­ment glich. Di­cke nar­bi­ge Wüls­te zo­gen sich über die Ober­schen­kel und ver­ebb­ten in der Schien­bein­ge­gend. »Das sind die Spu­ren von Ver­bren­nun­gen drit­ten Gra­des. Oft ver­ur­sacht durch hei­ßes Öl. Die Pei­ni­ger las­sen sich ei­ni­ges ein­fal­len und ken­nen kei­ne Gna­de!«

»Stimmt!«, füg­te Dr. Ke­ve­kor­des hin­zu, und sei­ne Au­gen fun­kel­ten wü­tend hin­ter der Schutz­bril­le. »Wenn man die Kin­der aus dem Clan nach ihrem Be­rufs­wunsch fragt, dann ant­wor­ten die­se: Afri­ka­ner fol­tern. Selbst die Jüngs­ten ha­ben kei­ne Ach­tung vor dem Le­ben an­de­rer!«

»Mei­ne Gü­te!«, ent­fuhr es Lau­ra, »das sind ja Bes­ti­en!«

 

Als Ele­na ei­ni­ge Stun­den spä­ter das Halb­dun­kel ihres Apart­ments be­trat, fühl­te sie sich er­schöpft bis ins Mark. Ih­re Bei­ne hat­ten sich ir­gend­wann vor Fei­er­abend in Blei ver­wan­delt. Sie ließ die Tür mit ei­nem tie­fen Seuf­zer ins Schloss fal­len und schleu­der­te die Schu­he von den Fü­ßen. Ih­re Woh­nung war mehr als nur ein Zu­hau­se. Es war ein Zu­fluchts­ort. Mit dem Schlie­ßen der Haus­tür sperr­te sie ei­nen Tag vol­ler schreck­li­cher Schick­sa­le aus. Heu­te war so ein Tag. Fünf Ob­duk­ti­o­nen im Zwei-Stun­den-Takt.

Und dann noch Se­bas­ti­an. Sei­ne An­we­sen­heit war schwer zu igno­rie­ren ge­we­sen. Schon bald hat­te sie es be­reut, ihn an­ge­ru­fen zu ha­ben. Im­mer wie­der hat­te er ihr da­zwi­schen­ge­funkt. Hat­te die Or­ga­ne auf Lä­si­o­nen oder in­fek­ti­ons­beding­te Ne­kro­sen un­ter­sucht und se­pa­ra­te Pro­ben ge­nom­men.

Se­bas­ti­an Ke­ve­kor­des gab ihr das Ge­fühl, ei­ne An­fän­ge­rin zu sein, de­ren Ur­teil er nicht trau­te. Sie konn­te ja ver­ste­hen, dass er als Lei­ter der Seu­chen­schutz­be­hör­de ei­ne gro­ße Ver­ant­wor­tung trug. Und als er­fah­re­ne Me­di­zi­ne­rin war ihr eben­falls klar, dass ins­be­son­de­re Ge­flüch­te­te des afri­ka­ni­schen Kon­tin­ents Krank­hei­ten in sich tra­gen konn­ten, die für Eu­ro­pä­er ge­fähr­lich wer­den konn­ten. In­fek­ti­ons­krank­hei­ten, die in Eu­ro­pa schon lan­ge als aus­ge­rot­tet gal­ten, und Er­kran­kun­gen, ge­gen die Eu­ro­pä­er kei­ne An­ti­kör­per hat­ten, weil sie mit den Er­re­gern nie in Kon­takt ge­kom­men wa­ren. Ei­ne Epi­de­mie von Las­sa­fie­ber oder Ähn­li­chem könn­te mit Si­cher­heit zur Ka­ta­stro­phe wer­den.

Aber sie war schließ­lich die Rechts­me­di­zi­ne­rin. Es war ihr Sek­ti­ons­saal, und es är­ger­te sie, dass er stän­dig ih­re Au­to­ri­tät un­ter­grub. Ver­dammt, war­um hat­te ihr Vor­ge­setz­ter ein­ge­wil­ligt, ihn bei­woh­nen zu las­sen? Sie hät­te die Sek­ti­o­nen auch oh­ne Ke­ve­kor­des ge­schafft. Ver­mut­lich so­gar um ei­ni­ges bes­ser.

Wü­tend auf die gan­ze Si­tu­a­ti­on warf sie den Haus­tür­schlüs­sel auf die Kon­so­le im Flur. Die An­zei­ge ihres An­ruf­be­ant­wor­ters blink­te hek­tisch. Sie igno­rier­te das Si­gnal. Ihr Na­cken war ver­spannt, und ih­re Knö­chel schmer­z­ten vom lan­gen Ste­hen. Ihr gan­zer Kör­per sehn­te sich nach ei­nem hei­ßen Tee und ei­nem Bad.

Der di­cke Tep­pich im Flur schluck­te ih­re Schrit­te und führ­te di­rekt zu den farb­lich ab­ge­stimm­ten Schie­fer­flie­sen, die ei­nen wun­der­ba­ren Kon­trast zu der wei­ßen Hoch­glanz­kü­che bil­de­ten, des­sen wohl ein­drucks­volls­ter Blick­fang die Gra­nit­kü­chen­in­sel war. Man­chem moch­te die mo­der­ne, glän­zen­de Kü­che zu ste­ril er­schei­nen, und viel­leicht war sie für ei­nen Sin­gle­haus­halt et­was zu groß. Doch beim Ein­zug in die Ei­gen­tums­woh­nung war ihr Sta­tus ein an­de­rer ge­we­sen. Nie hät­te sie ge­dacht, dass sie ein­mal al­lein an der Kü­chen­in­sel wür­de früh­stü­cken müs­sen.

Sie ließ fri­sches Was­ser in den Was­ser­ko­cher ein, hol­te ei­nen Por­zel­lan­be­cher aus dem Schrank und löf­fel­te Tee­blät­ter in ein Sieb. Sie mus­ter­te den In­halt der Tee­do­se und be­fand, dass sie drin­gend ein­kau­fen muss­te. Aber da­für fehl­te ihr in den letz­ten Ta­gen ein­fach die Zeit.

Auf dem Weg ins Schlaf­zim­mer fiel ihr Blick wie­der auf den An­ruf­be­ant­wor­ter. »Jetzt nicht!«, rief sie dem Ap­pa­rat ent­ge­gen und ver­spür­te ei­nen An­flug von Stolz, dass sie die neu­en Nach­rich­ten ver­nach­läs­si­gen konn­te. Sie warf ih­re Klei­dung aufs Bett und lief nackt zu­rück in die Kü­che, um den Tee auf­zu­gie­ßen. Mit der Tas­se in der Hand schlurf­te sie ins Ba­de­zim­mer. Sie lieb­te die­sen Raum, und we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter ließ sie sich ins hei­ße Ba­de­was­ser glei­ten. Ih­re Mus­keln ent­spann­ten sich, und es dau­er­te nicht lan­ge, bis sie ein­ge­schla­fen war.

 

Das fort­wäh­ren­de Ping, Ping von trop­fen­dem Was­ser drang in Ele­nas Be­wusst­sein. Kalt, war ihr ers­ter Ge­dan­ke, als sie frös­telnd er­wach­te. Ih­re Glie­der fühl­ten sich steif an. Lang­sam öff­ne­te sie die Au­gen, und die Dun­kel­heit, die sie um­gab, raub­te ihr fast den Atem. Wo war sie?

Pa­nik über­kam Ele­na, und sie keuch­te. Ihr Puls ras­te, und in ihren Oh­ren hör­te sie das Rau­schen ihres ei­ge­nen Blu­tes. Sie war ein­ge­schlos­sen! Im Berg­werk? Oder im Con­tai­ner?

Sie we­del­te er­schro­cken mit den Ar­men, was zur Fol­ge hat­te, dass sie sich ei­nen Schwall Was­ser ins Ge­sicht spritz­te. Ihr Keu­chen ging in ei­nen Schrei über, der von den Flie­sen hall­te. Ih­re Hän­de fan­den plötz­lich den Rand ih­rer Ba­de­wan­ne, und sie stemm­te sich hoch. Fast wä­re sie aus­ge­rutscht und über den glat­ten Rand ge­stürzt. Sie hielt in­ne, und all­mäh­lich nahm sie die ver­trau­ten Ge­rü­che ihres Ba­de­zim­mers wahr. Die dunk­len Schat­ten ver­wan­del­ten sich in die Sil­hou­et­ten der Mö­bel.

Ich bin in mei­nem Ba­de­zim­mer! In mei­ner Woh­nung. In Si­cher­heit! Ein keh­li­ger Laut ent­fuhr ihr und en­de­te in ei­nem hys­te­ri­schen La­chen. Ent­setzt über ihr Ver­hal­ten, rang sie um Selbst­be­herr­schung. Be­ru­hi­ge dich!, er­mahn­te sie sich und spür­te, wie das Flat­tern ih­rer Ner­ven all­mäh­lich nach­ließ. Doch das Déjà-vu hall­te in ihr nach, und sie brauch­te ei­nen Mo­ment, um zu ver­dau­en, dass sie we­der in ei­nem ein­ge­stürz­ten Berg­werk noch in ei­nem Con­tai­ner vol­ler Lei­chen ge­fan­gen war, son­dern in ih­rer Ba­de­wan­ne lag.

Sie stieg aus der Wan­ne und fand den Licht­schal­ter. Als sie nach ihrem Ba­de­man­tel griff, streif­te ihr Blick ihr ei­ge­nes Spie­gel­bild. Über­rascht hielt sie in­ne und be­trach­te­te die frem­de Frau. Wann hat­te sie sich in die­ses Schreck­ge­spenst ver­wan­delt? Die schwar­zen Haa­re kleb­ten feucht und sträh­nig an ih­rer Stirn und hat­ten sei­nen na­tür­li­chen Glanz ver­lo­ren. Aber mit der rich­ti­gen Pfle­ge wä­re das Pro­blem schnell be­ho­ben.

Sie un­ter­schied sich in kei­ner Wei­se von an­de­ren Frau­en und war mit ihrem Aus­se­hen ge­nau­so un­zu­frie­den, aber heu­te konn­te sie ihrem Spie­gel­bild so rein gar nichts Po­si­ti­ves ab­ge­win­nen. Wenn sie et­was an sich moch­te, dann ih­re fei­nen Ge­sichts­zü­ge. Im Licht des Ba­de­zim­mers wirk­ten sie eher kno­chig und lie­ßen ih­re Na­se stär­ker her­vor­tre­ten. Eben­so wie ih­re Schul­tern. Sie war ein Schat­ten ih­rer Selbst ge­wor­den. Bleich, aus­ge­zehrt, ge­hetz­ter Blick, lau­te­te ih­re Selbst­dia­gno­se.

Sie wand­te sich ab und rub­bel­te sich tro­cken. In der Hoff­nung, das be­klem­men­de Ge­fühl los­zu­wer­den, wel­ches sie ge­packt hat­te, seit sie aus dem alb­traum­ar­ti­gen Schlaf er­wacht war.

Frös­telnd schlüpf­te sie in ihren Schlaf­an­zug und zog di­cke So­cken aus der Schub­la­de. Auf dem Weg zum Wohn­zim­mer hat­te sie ein Ein­se­hen mit dem An­ruf­be­ant­wor­ter und hör­te die Nach­rich­ten ab. Zwei davon wa­ren von Falk, der um Rück­ruf bat, aber mit ihm woll­te sie sich im Mo­ment nicht be­fas­sen.

Mit ei­nem Seuf­zer ließ sie sich auf die Le­der­couch fal­len und sah sich um. Der an­ti­ke Holz­schrank, die di­cken Tep­pi­che über dem Par­kett, selbst die ge­rahm­ten Fo­tos auf der Kom­mo­de. Al­les schien un­ver­än­dert. Trotz­dem kam ihr der Raum selt­sam fremd vor.

Wann hat­te sie sich das letz­te Mal so rund­her­um wohl ge­fühlt?

Sie griff nach ei­ner Zeit­schrift und blät­ter­te dar­in. Nach ei­ner Wei­le be­merk­te sie, dass sie sich nicht dar­auf kon­zen­trie­ren konn­te und die ge­druck­ten Wor­te kei­nen Sinn er­ga­ben.

Sie seufz­te und warf die Zeit­schrift auf den Tisch. Dann schnapp­te sie sich die Fern­be­die­nung und be­gann, sich durch die ein­zel­nen Ka­nä­le zu zap­pen. Halb­her­zig blieb sie an ei­ner Talk­run­de hän­gen.

 

8  

Das kro­a­ti­sche Num­mern­schild war ge­stoh­len, und der Na­me der ita­li­e­ni­schen Fir­ma auf dem Con­tai­ner exis­tiert nicht!«, sag­te Ar­min Els­zer. »Die Fahr­ge­stell­num­mer wur­de auch über­schrie­ben. Das hat je­mand ganz cle­ver ein­ge­fä­delt. Da­durch, dass al­le Spu­ren in Eu­ro­pa ver­teilt wur­den, kön­nen wir den Hal­ter nicht er­mit­teln. Wir ha­ben das gan­ze Wrack auf links ge­dreht.«

Er klopf­te mit dem Zei­ge­fin­ger auf ei­ne Klad­de, die vor ihm auf dem Tisch lag und die bis­he­ri­gen Er­mitt­lungs­un­ter­la­gen ent­hielt.

»Au­ßer ei­ni­gen per­sön­li­chen Ge­gen­stän­den ha­ben wir von den Op­fern nichts ge­fun­den. Kei­ne Aus­wei­se, kei­ne Pa­pie­re. Kei­ne Han­dys. Nichts. Al­ler­dings –«, Els­zer mach­te ei­ne be­deu­tungs­vol­le Pau­se und sah in die Run­de. »Al­ler­dings«, wie­der­hol­te er, »ha­ben die Hun­de­füh­rer das Ge­län­de an der Un­fall­stel­le ab­ge­sucht und tat­säch­lich ei­nen Füh­rer­schein ge­fun­den, des­sen Fin­ger­ab­drü­cke mit de­nen aus un­se­rem LKW iden­tisch sind.«

Der Kri­mi­nal­tech­ni­ker schlug die Klad­de auf und reich­te Lau­ra ei­ne Ko­pie. »Ist das der Kerl, den du ge­fun­den hast?«

Lau­ra mus­ter­te die Groß­auf­nah­me. Der Mann auf dem Fo­to war deut­lich jün­ger als der, den sie auf dem Hü­gel ge­fun­den hat­te. Und doch durch­fuhr sie der Fun­ke des Wie­der­er­ken­nens, als sie nach Ähn­lich­kei­ten zwi­schen den bei­den such­te. Eng zu­sam­men­lie­gen­de Au­gen, die ihr un­ver­wandt ent­ge­gen­starr­ten. Dar­über bu­schi­ge Brau­en und ei­ne ho­he Stirn mit ei­ner gro­ben Nar­be un­ter­halb des Haar­an­sat­zes. Da­zu ei­ne ge­ra­de Na­se und ein Mund mit vol­len Lip­pen, den man fast schon als ar­ro­gant be­schrei­ben konn­te, wä­re da nicht das Grüb­chen, das den An­blick des Man­nes freund­li­cher wir­ken ließ. Sie dach­te an den Ver­letz­ten, an das vie­le Blut und war sich trotz­dem plötz­lich sehr si­cher, dass sie sein Fo­to in den Hän­den hielt. »Ja, das ist er, ich er­ken­ne die Nar­be!«

»Gut, dann hät­ten wir das auch ge­klärt«, sag­te Els­zer. »Passt üb­ri­gens zu dem Na­men auf dem Fahr­ten­schrei­ber. Ha­be ich er­wähnt, dass er Ju­ri Iva­now heißt und 1973 in Duschan­be, Ta­dschi­ki­stan ge­bo­ren wur­de?«

Lau­ra reich­te die Auf­nah­me an Acker­mann wei­ter. »Wir soll­ten den­noch das Fo­to mit dem Ver­letz­ten im Kran­ken­haus ver­glei­chen. Kannst du dich dar­um küm­mern?«

Falk Acker­mann mus­ter­te das Fo­to, und Lau­ra ver­mu­te­te, dass auch er den Ver­letz­ten auf dem Fo­to er­kann­te. Wie zur Be­stä­ti­gung nick­te er und sag­te: »Das könn­te er sein. Schau­en wir mal, wer da im Kran­ken­haus liegt.«

Lau­ra sah zu, wie er das Fo­to mit sei­nem Han­dy ab­fo­to­gra­fier­te, und füg­te hin­zu: »Die Ret­tungs­kräf­te konn­ten sich nicht er­in­nern, dass ihn je­mand aus dem Füh­rer­haus ge­bor­gen hat­te. Aber bei dem gan­zen Durch­ein­an­der … Es wa­ren un­zäh­li­ge Ret­ter im Ein­satz. Soll­te der Mann im Kli­ni­kum nicht un­ser Ge­such­ter sein, wer­den wir das Fo­to an al­le um­lie­gen­den Kran­ken­häu­ser fa­xen. Viel­leicht ist er ja in ei­ner an­de­ren Kli­nik ge­lan­det.«

Falk tipp­te auf sei­nem Han­dy her­um, gab das Fo­to an Ar­min Els­zer zu­rück und sag­te: »Die Kol­le­gen sind in­for­miert und or­ga­ni­sie­ren je­man­den, der ins Kran­ken­haus fährt. Was ist ei­gent­lich mit den Fahr­zeug­pa­pie­ren?«

»Hast du mir nicht zu­ge­hört? Wir ha­ben kei­ne Pa­pie­re ge­fun­den. Wenn der Mann auf dem Füh­rer­schein der Fah­rer ist, dann muss er die Pa­pie­re bei sich ha­ben, oder er hat sie so ver­steckt, dass wir sie nicht fin­den konn­ten. Ei­ne an­de­re Mög­lich­keit wä­re, dass es ei­nen Bei­fah­rer gab, der al­les mit­ge­nom­men hat.«

»Gibt es Hin­wei­se auf ei­nen Bei­fah­rer?«, brumm­te Falk.

»Nichts, was uns wei­ter­brin­gen wür­de. Im Füh­rer­haus wim­melt es nur so von Spu­ren wie Fin­ger­ab­drü­cke, Haa­re und Haut­par­ti­kel von min­des­tens zwei Per­so­nen, aber das Sys­tem hat da­zu kei­ne Na­men aus­ge­spuckt. Di­ver­se Vi­gnet­ten las­sen uns ver­mu­ten, dass der Trans­por­ter in Spa­ni­en und Frank­reich un­ter­wegs war.«

Lau­ra horch­te auf. »Na, das ist doch mal was und passt zu der The­o­rie, dass es sich um Men­schen aus Afri­ka han­delt. Man hört doch im­mer, dass Boo­te in Spa­ni­en an Land ge­hen. Sonst noch et­was?«

»Im Fah­rer­haus gab es lee­re Fla­schen, Es­sens­res­te, Klei­dung und ei­ne Zei­tung in spa­ni­scher Spra­che. Das üb­li­che. Wir sind auf je­den Fall dran.«

»Gibt es von der Zei­tung Auf­nah­men?«

Els­zer brach­te ein mü­des Lä­cheln zu­stan­de. »Selbst­ver­ständ­lich.« Er schob ihr ein Fo­to über den Tisch. »Die Zei­tung ist erst ein paar Ta­ge alt und könn­te in Spa­ni­en ge­kauft wor­den sein.«

Sie sah den Kri­mi­nal­tech­ni­ker an. »Kön­nen wir her­aus­fin­den, wo das Fahr­zeug in Spa­ni­en ge­star­tet ist?«

»Wir sind schon da­bei.« Er las von sei­nen No­ti­zen ab: »Was die Zei­tung be­trifft, so ist die­se die zweit­größ­te spa­ni­sche Ta­ges­zei­tung, mit Re­dak­ti­ons­sitz in Ma­drid. Bei der Zei­tung aus dem Füh­rer­haus han­delt es sich um ei­ne re­gi­o­na­le Aus­ga­be aus Se­vil­la in An­da­lu­si­en. Ich wür­de mal be­haup­ten, die Zei­tung hat ei­ne lan­ge Fahrt hin­ter sich, be­vor sie in Deutsch­land ge­lan­det ist. Von uns aus ge­se­hen sind es mehr als 2000 Ki­lo­me­ter bis nach Se­vil­la. Un­ter Be­rück­sich­ti­gung der Ent­fer­nung und der Stra­ßen­ver­hält­nis­se so­wie der vie­len Staus war der Last­wa­gen min­des­tens zwei Ta­ge un­ter­wegs.«

»Se­vil­la«, sag­te Lau­ra und zück­te ihr Mo­bil­te­le­fon. Sie star­te­te den Rou­ten­pla­ner. »Laut Na­vi sind das ge­ra­de mal zwei­und­zwan­zig Stun­den.«

»Wenn es gut läuft und man oh­ne Un­ter­bre­chung durch­fährt. Aber auf der Stre­cke gibt es Maut­stel­len, Tun­nel und je­de Men­ge Bau­stel­len. Um bei ei­ner Kon­trol­le nicht ne­ga­tiv auf­zu­fal­len, muss ein Brum­mi­fah­rer die so­ge­nann­ten Lenk­zei­ten ein­hal­ten. Das heißt ma­xi­mal neun Stun­den hin­ter dem Steu­er, und dann ist erst ein­mal Pau­se an­ge­sagt«, ant­wor­te­te Els­zer.

»Was wie­der­um ver­mu­ten lässt, dass es ei­nen Bei­fah­rer ge­ge­ben hat. Zwei Fah­rer könn­ten sich auf der Stre­cke ab­ge­wech­selt ha­ben«, mur­mel­te Falk Acker­mann und sah in die Run­de. Nie­mand wi­der­sprach.

»Was ist mit dem Kle­be­band, das man am Con­tai­ner ge­fun­den hat?«, warf Som­mer ein.

»Hier han­delt es sich um ein ex­trem haf­ten­des Kle­be­band ei­nes Schwei­zer Her­stel­lers. Es wird nor­ma­le­r­wei­se zum Ver­kle­ben im Da­ch­aus­bau ver­wen­det. Aber be­vor ei­ner von euch auf die Idee kommt, dass dies ein be­son­de­rer Hin­weis wä­re …« Er schüt­tel­te mit dem Kopf. »Es ist in je­dem Bau­markt er­hält­lich. Heut­zu­ta­ge be­kommt man so­wie­so al­les, not­falls im In­ter­net. Fin­ger­ab­drü­cke gab es auch nicht mehr. Das Kle­be­band war so stark ver­wit­tert, dass es uns nichts mehr zu er­zäh­len ver­moch­te, au­ßer dass es schon vor Mo­na­ten an­ge­bracht wor­den war.

Lau­ra gähn­te hör­bar, und die Ge­sich­ter der Kol­le­gen sag­ten ihr, dass sie nicht die Ein­zi­ge war, die mit der Mü­dig­keit zu kämp­fen hat­te. Der Fall raub­te ihr be­reits den Schlaf. Im­mer wie­der hat­te sie sich ge­fragt, war­um je­mand Lei­chen über ei­ne stark be­fah­re­ne Au­to­bahn trans­por­tier­te und sie nicht schon längst ent­sorgt hat­te.

Sie rieb sich den ver­spann­ten Na­cken. Für ihren Ge­schmack hat­te man die Be­spre­chung des Falls viel zu früh an­ge­setzt. Die Uhr zeig­te ge­ra­de mal kurz nach acht. Sie wünsch­te, je­mand wür­de ein Fens­ter öff­nen, denn die ab­ge­stan­de­ne Luft in dem Be­spre­chungs­raum wirk­te auf sie wie ein Schlaf­gas. Um nicht ein­zu­ni­cken, griff sie zur Kan­ne auf dem Tisch und schenk­te sich Kaf­fee nach. Viel­leicht wür­de Kof­fe­in ihrem mü­den Ge­hirn auf die Sprün­ge hel­fen.

Lau­ra bog den Rü­cken durch und sag­te: »Das sind ja un­schö­ne Aus­sich­ten. Bis­her wis­sen wir nur, dass das Fahr­zeug in Spa­ni­en und Frank­reich un­ter­wegs war. Das ist, ehr­lich ge­sagt, nicht ge­ra­de viel. Nichts, wo­mit wir et­was an­fan­gen kön­nen. Ich kann nicht ver­ste­hen, war­um je­mand acht­und­vier­zig Men­schen in ei­nem Con­tai­ner durch Deutsch­land schip­pert.«

Acker­mann mel­de­te sich: »Ei­nen Men­schen­schmugg­ler­ring kön­nen wir aus­schlie­ßen, denn die las­sen er­fah­rungs­ge­mäß die Flücht­lin­ge nicht ab­sicht­lich er­sti­cken.«

»Wer sagt, dass es Ab­sicht war? Ein Un­fall wä­re auch denk­bar. Viel­leicht sind die Men­schen ja ver­se­hent­lich er­stickt, und man hat den Con­tai­ner im Nach­gang zu­gek­lebt, da­mit nie­mand den Lei­chen­ge­ruch riecht. Wie soll man fast fünf­zig to­te Flücht­lin­ge, die man ei­gent­lich ret­ten woll­te, er­klä­ren?«, warf Som­mer ein.

»Aber Ar­min hat doch ge­ra­de er­zählt, dass das Band star­ke Ver­wit­te­rungs­spu­ren zeigt«, sag­te Acker­mann und sah Som­mer an. »Folg­lich hat dei­ne Hy­po­the­se ei­nen Ha­ken. Die Luft­schlit­ze wa­ren be­reits zu­gek­lebt, be­vor die Men­schen in den Con­tai­ner stie­gen. Wir re­den hier von Tö­tungs­ab­sicht, oh­ne Zwei­fel.«

Doch auch an die­ser The­o­rie gab es Ele­men­te, die nicht zu­sam­men­pass­ten. Lau­ra konn­te sich nicht vor­stel­len, dass der LKW un­be­merkt durch halb Eu­ro­pa fah­ren konn­te.

Sie schüt­tel­te lang­sam den Kopf. »Ich ha­be den Ver­dacht, dass die Men­schen ir­gend­wo in Deutsch­land ein­ge­stie­gen sind. Auf Au­to­bah­nen gibt es Maut­stel­len für Tun­nel und Zoll­kon­trol­len. Ich mei­ne zu wis­sen, dass LKWs neu­er­dings elek­tro­nisch ins Maut­sys­tem ein­ge­bucht wer­den. Ist da der Fahr­zeug­hal­ter er­mit­tel­bar?«

Ar­min Els­zer rutsch­te auf dem Stuhl zu­rück und schlug die Bei­ne über­ein­an­der. »Nö, es gibt die Mög­lich­keit, sich auch ma­nu­ell über ei­ne App oder via In­ter­net ein­zu­bu­chen. Das wird von den Spe­di­ti­o­nen ge­nutzt, die eher sel­ten ins Aus­land fah­ren, und dann gibt es ja noch die ganz Cle­ve­ren, die die Au­to­bah­nen um­fah­ren. Ich den­ke, Iva­now hat die­se Va­ri­a­n­te ge­wählt. Dau­ert et­was län­ger, ist da­für un­auf­fäl­li­ger.«

»Aber der Con­tai­ner wur­de doch auf ei­ner Au­to­bahn ge­fun­den«, hak­te Lau­ra nach.

»Das ist auch kein be­son­de­rer Hin­weis.« Er seufz­te. »Hier kommt uns der Da­ten­schutz in die Que­re, denn die für die Ge­büh­ren­ab­rech­nung er­ho­be­nen Da­ten wer­den an­ony­mi­siert. Er kann durch­aus Maut be­zahlt ha­ben, oh­ne dass wir das ver­wer­ten kön­nen.«

Lau­ra ver­zog das Ge­sicht. Ei­ne Ges­te, die den an­we­sen­den Er­mitt­lern of­fen­sicht­lich aus dem Her­zen sprach. »Ir­gend­wie kom­men wir so nicht wei­ter. Wie­so fährt je­mand mit solch ei­ner Fracht quer durch Deutsch­land, und wo soll­te die Fahrt en­den? Wie­so gibt es kei­ne Han­dys oder Aus­wei­se oder sons­ti­ge Pa­pie­re? Das ist ja echt zum Ver­rückt­wer­den.«

»Wenn ich ei­nen gan­zen Con­tai­ner voll Men­schen an­ony­mi­sie­ren woll­te, wür­de ich ih­nen auch al­le per­sön­li­chen Ge­gen­stän­de ab­neh­men und bei der ers­ten Ge­le­gen­heit ent­sor­gen. Viel­leicht so­gar ver­bren­nen. Stän­dig hö­ren wir davon, dass Leu­te oh­ne Pa­pie­re ein­rei­sen. Das stellt of­fen­sicht­lich kein Pro­blem dar, al­so soll­ten wir uns hier nicht lan­ge auf­hal­ten. Ich blei­be im­mer noch da­bei, dass die Men­schen vor­sätz­lich ge­tö­tet wur­den.« Er sah zu Ele­na.

Die Rechts­me­di­zi­ne­rin hat­te sich bis­her nicht zu Wort ge­mel­det. Jetzt wa­ren nicht nur Falks Bli­cke auf sie ge­rich­tet, und sie schien er­leich­tert, sich ein­brin­gen zu kön­nen, um ihn nicht di­rekt an­se­hen zu müs­sen. »Mei­ne Kol­le­gen und ich ha­ben ges­tern Abend die letz­ten Ob­duk­ti­o­nen ab­ge­schlos­sen. Es gibt kei­ne of­fen­sicht­li­che To­des­ur­sa­che durch Ge­walt­ein­wir­kung oder Ähn­li­ches. Gift konn­ten wir aus­schlie­ßen. Eben­so mei­nen an­fäng­li­chen Ver­dacht, dass sie an ei­ner In­fek­ti­ons­krank­heit ge­stor­ben sein könn­ten. Zum Zeit­punkt der Auf­fin­dung wa­ren ei­ni­ge Lei­chen be­reits stark ver­west. An­de­re wie­der­um zeig­ten we­ni­ger Ver­we­sungs­merk­ma­le. Das heißt, sie sind erst spä­ter ge­stor­ben. Das war für uns wie­der­um ein Vor­teil, da wir in ihrem Blut ei­nen CO2-An­stieg nach­wei­sen konn­ten, was die The­o­rie des hy­po­xi­schen Er­sti­ckens be­stä­tigt.«

»Al­so gehst du von Mord aus?«, frag­te Falk und mus­ter­te Ele­na.

»Ich kann nur die me­di­zi­ni­schen Fak­ten lie­fern. Al­les wei­te­re über­las­se ich euch.«

Letz­te­res un­ter­strich Ele­na mit Nach­druck, so­dass Lau­ra das Ge­fühl hat­te, in das Ge­spräch ein­stei­gen zu müs­sen. »Was wür­det ihr ma­chen, wenn ihr ei­nen An­hän­ger vol­ler to­ter Men­schen hät­tet?« Sie sah die Kol­le­gen an. »Kommt schon, lasst uns ein­fach mal ein paar Ge­dan­ken auf den Tisch wer­fen. Ge­hen wir davon aus, dass je­mand die ar­men Men­schen ge­tö­tet hat. Aber war­um? Wie­so der Auf­wand?«

Nie­mand sprach ein Wort, und selbst Lau­ra fehl­ten die Ide­en. »Was ist los, Leu­te?«, sag­te sie schließ­lich. Doch im Raum herrsch­te nur Schwei­gen.

Ar­min Els­zer zö­ger­te, dann sag­te er: »Seit ei­ni­gen Mo­na­ten gibt es wie­der ei­ne neue Lei­chen­wel­ten-Dau­er­aus­stel­lung in der Al­ten Müh­le in Hei­del­berg. Ich war mit mei­ner Frau letz­tes Wo­chen­en­de dort. Das war sehr be­ein­dru­ckend. Ich den­ke, die­se Leu­te könn­ten mit den Lei­chen ei­ni­ges an­stel­len.«

»Echt? Aber das ist nicht dein Ernst! Hast du nicht ge­nug Lei­chen im Be­rufs­le­ben, als dass du dei­ne Frau zu die­sem Typ schlep­pen musst?«, prus­te­te Lau­ra.

Ar­min Els­zers Blick wur­de scharf. »Du woll­test doch, dass wir Ide­en in den Raum wer­fen! Weißt du, wo­her er sei­ne Lei­chen hat?«

Das wuss­te sie nicht. Trotz­dem war ihr der Ge­dan­ke so zu­wi­der, dass sie ihn nicht zu­las­sen woll­te. »Recht­lich ge­se­hen ist das ein sehr heik­les The­ma. Ich den­ke, da­für gibt es Quel­len. Lei­chen­spen­den oder so.«

»Kennt ihr je­man­den, der sei­nen Kör­per der Wis­sen­schaft ge­spen­det hat? Ich den­ke, dass Lei­chen ei­ne sehr un­ge­wöhn­li­che Wa­re dar­stel­len«, sag­te Acker­mann und warf Lau­ra ei­nen iro­ni­schen Blick zu. »Ele­na, weißt du wo­her er die Lei­chen hat?«

»Nein. Ich ha­be kei­ner­lei Kennt­nis über den Mann und sei­ne Me­tho­den. Er ist mir mal an der Uni be­geg­net, aber wir ken­nen uns nicht. Ich ge­he aber davon aus, dass al­les sei­ne Rich­tig­keit hat.«

»Das bringt mich zu der Fra­ge, wie kom­men ei­gent­lich die gan­zen Uni­ver­si­täts­kli­ni­ken an all die Lei­chen für die Stu­die­ren­den?«

Ele­na, über­rascht von der Fra­ge, zö­ger­te: »Na, so ein­fach ist das nicht. Denkst du, die Uni­ver­si­tä­ten ma­chen ei­nen Auf­ruf? Wir neh­men gern ih­re Kör­per­spen­de an! Nein, die­ses The­ma wird sehr dis­kret be­han­delt.«

»Du kommst doch von ei­ner me­di­zi­ni­schen Hoch­schu­le. Wie seid ihr an die Lei­chen ge­kom­men?«

Ele­na zuck­te mit den Schul­tern. »Dar­um muss­ten wir uns nicht küm­mern, das war Auf­ga­be der Uni. Neu­er­dings wer­den die ge­spen­de­ten Kör­per zu­erst ge­scannt, um ei­ne ver­läss­li­che Da­ten­bank auf­zu­bau­en. Ziel ist es, die Stu­den­ten mit vir­tu­el­ler Ana­to­mie ver­traut zu ma­chen. Al­ler­dings er­setzt die­ses Pro­gramm nicht die Prä­pa­ra­ti­on von Kör­pern. Im Mo­ment dient es le­dig­lich zur Ver­tie­fung des Wis­sens. An­de­rer­seits sind vir­tu­el­le Lei­chen je­der­zeit ver­füg­bar.«

»Hast du ei­ne Idee, was man mit Lei­chen sonst so al­les an­stel­len kann?«

Ele­na zö­ger­te, doch dann be­gann sie ih­re Ge­dan­ken in Wor­te zu fas­sen. »In den USA gibt es so­ge­nann­te Bo­dy Farms. Das sind gut ge­si­cher­te Ge­län­de, auf de­nen Lei­chen im Rah­men von wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en ver­we­sen.«

»Igitt«, stieß Lau­ra her­vor und ver­zog das Ge­sicht. Na­tür­lich hat­te sie schon davon ge­hört. Aber für ihren Ge­schmack hat­te sie schon ge­nug ver­wes­te Lei­chen und Lei­chen­t­ei­le ge­se­hen, de­ren An­blick sie sich lie­ber er­spart hät­te.

»Das ist auch nichts an­de­res als in un­se­rem In­sti­tut. Nicht nur wir Rechts­me­di­zi­ner pro­fi­tie­ren von den Er­kennt­nis­sen aus Ten­nes­see.«

»Ach ja, wer noch?«

Ele­na zähl­te auf: »FBI-Agen­ten, Kri­mi­nal­bio­lo­gen, An­thro­po­lo­gen. Sie al­le stu­die­ren den Zer­fall mensch­li­cher Lei­chen. Un­ter­sucht wer­den zum Bei­spiel Ein­flüs­se von To­des­art, Wit­te­rung oder Lei­chen­la­ge­rung auf die Ver­we­sungs­ge­schwin­dig­keit. Sie la­gern die To­ten an den un­ter­schied­lichs­ten Stel­len und do­ku­men­tie­ren den Ver­lauf der Ver­we­sung. Je nach Be­schaf­fen­heit der Um­ge­bung kann es sein, dass der Kör­per un­ver­sehrt bleibt, be­zie­hungs­wei­se mu­mi­fi­ziert. Das ist für Rechts­me­di­zi­ner oder Kri­mi­nal­bio­lo­gen äu­ßerst wich­tig.«

Som­mer sag­te: »Das ist ja wirk­lich wi­der­lich!«

Ele­na grins­te. »Die nächs­te Was­ser­lei­che ge­hört euch. Ver­spro­chen!«

Lau­ras Mie­ne wur­de wie­der ernst. »Ei­ne Bo­dy Farm in Deutsch­land hal­te ich für so un­denk­bar, dass ich sie so­gar aus­schlie­ßen wür­de.« Mit dem Stift in der Hand ging sie noch ein­mal ih­re No­ti­zen durch, dann frag­te sie: »Wer braucht au­ßer­dem to­te Kör­per?«

Ele­na hielt in­ne, über­leg­te, wel­che Mög­lich­kei­ten sich sonst noch auf­zei­gen lie­ßen, und zuck­te mit den Schul­tern. Lau­ra dach­te schon, Ele­na wür­de nichts mehr sa­gen, als sie un­ver­mit­telt rief: »Crash­test Dum­mies.«

»Was?«

»Ich ha­be doch mal von Dr. Gé­rald Le­clerc er­zählt …«

»Der Fran­zo­se? Die­ser Ex­per­te für Zu­gun­fall­op­fer?«

Ele­na nick­te. »Er ist ei­gent­lich Ver­kehrs­me­di­zi­ner und Lei­ter des In­sti­tuts für an­ge­wand­te Bio­me­cha­nik in Straß­burg. Für sei­ne Un­fall­re­kon­struk­ti­o­nen be­nö­tigt er auch Lei­chen. Bei ei­nem Au­toun­fall wir­ken mas­si­ve Kräf­te auf den mensch­li­chen Kör­per. Die Art und Wei­se, wie Schul­tern bre­chen, Schä­del auf­pral­len oder in­ne­re Or­ga­ne Scha­den neh­men, kann an Dum­mies aus Kunst­stoff und Stahl nicht nach­ge­stellt wer­den.«

Lau­ra sah die Rechts­me­di­zi­ne­rin von der Sei­te an und be­trach­te­te das Pro­fil der Freun­din. »Was du so al­les weißt.«

»Du hast ge­fragt.«

»Ja, und ich be­reue jetzt schon mei­ne nächs­te Fra­ge. Hast du noch ir­gend­ei­ne Vor­stel­lung, was man mit sei­nem Kör­per nach dem Tod tun kann?«

»Lang­sam ge­hen mir die Ide­en aus. Die Fo­ren­siker un­ter­su­chen al­les Mög­li­che an ge­spen­de­ten Kör­pern. Das Mi­li­tär hat auch ein ge­stei­ger­tes In­ter­es­se dar­an.«

»Ach ja?«

»Schuss­si­che­re Wes­ten wer­den an Lei­chen er­probt, oder willst du et­wa auf dich schie­ßen las­sen?«

Lau­ra schüt­tel­te hef­tig den Kopf, ließ aber die Freun­din aus­re­den.

»Die Waf­fen­in­dus­trie will wis­sen, wel­che ver­hee­ren­den Ver­let­zun­gen ih­re Re­vol­ver ver­ur­sa­chen. Auch die Her­stel­ler von Schutz­klei­dung für das Bom­ben­räum­kom­man­do müs­sen ir­gend­wie die Taug­lich­keit ih­rer Pro­duk­te be­wei­sen. An­sons­ten …«

Acker­manns Mo­bil­te­le­fon un­ter­brach die Un­ter­hal­tung der Frau­en. Er sah auf das Di­play und gab ih­nen ein Zei­chen, dass der An­ruf wich­tig war. Nach we­ni­gen Se­kun­den schal­te­te er den Laut­spre­cher ein, leg­te das Te­le­fon vor sich auf den Tisch und rief: »Ich schal­te Sie mal auf laut. Kön­nen Sie das bit­te wie­der­ho­len, da­mit die an­we­sen­den Kol­le­gen gleich mit­hö­ren kön­nen?«

Die Stim­me aus dem Laut­spre­cher war jetzt das Ein­zi­ge, was im Raum zu hö­ren war. »Hier spricht Po­li­zei­meis­ter Trapp. Ich bin im Kran­ken­haus. Das Fo­to passt zu dem Pa­ti­en­ten, und wie wir ge­ra­de er­fah­ren ha­ben, ist er heu­te mor­gen auf­ge­wacht. Er ist noch nicht an­sprech­bar. Aber im­mer­hin.«

Lau­ras Kör­per spann­te sich so­fort an. »Sie blei­ben vor Ort und pas­sen auf, dass uns der Mann nicht ab­han­den kommt. Wir sind schon auf dem Weg und über­neh­men die Be­fra­gung.

»Nein!«, kam es zö­ger­lich aus dem Laut­spre­cher. »Der Ober­arzt lässt uns nicht zu ihm. Er meint, dass es noch zu früh sei für ei­ne Be­fra­gung des Pa­ti­en­ten.«

»Das war zu er­war­ten«, sag­te Ele­na so lei­se, dass es nur die an­we­sen­den Er­mitt­ler hö­ren konn­ten. »Schließ­lich lag Iva­now im Ko­ma. Wir kön­nen von Glück spre­chen, dass er über­haupt auf­ge­wacht ist.«

»Was meint der Dok­tor, wann dür­fen wir zu ihm?«, frag­te Lau­ra in Rich­tung Mi­kro­fon.

»Frü­hes­tens in zwei bis drei Ta­gen. So ge­nau woll­te sich Dr. Wel­len­reuther nicht fest­le­gen.«

»Sie blei­ben vor Ort und sor­gen da­für, dass der Pa­ti­ent rund um die Uhr be­wacht wird«, sag­te Acker­mann.

»Dirk Wel­len­reuther?«, rief Ele­na und schien die Fra­ge so­fort zu be­reu­en. Doch der Po­li­zist hat­te be­reits auf­ge­legt.

»Du kennst ihn?«

»Wir ha­ben zu­sam­men stu­diert, und manch­mal lau­fen wir uns im Kli­ni­kum über den Weg.«

Lau­ras Blick er­hell­te sich. »Klas­se, dann über­nimmst du die Be­fra­gung von Iva­now. Ein al­ter Freund tut doch ei­ner ehe­ma­li­gen Kom­mi­li­to­nin si­cher ei­nen Ge­fal­len!«, sag­te Lau­ra und grins­te Ele­na un­schul­dig an.

»Aber das ist nicht mei­ne Auf­ga­be«, pro­tes­tier­te Ele­na. »War­um macht ihr das nicht?«

»Das hast du doch ge­hört. Wir dür­fen nicht zu ihm. Aber du.«

Ele­na sah die Freun­din mit ei­nem Blick an, der ge­nau­so gut Ver­är­ge­rung wie Ver­wun­de­rung be­deu­ten konn­te.

»Und was macht ihr?«

Lau­ra deu­te­te auf ih­re No­ti­zen. »Wir ar­bei­ten die Lis­te der eben auf­ge­zähl­ten Mög­lich­kei­ten ab, um nicht ta­ten­los her­um­zu­sit­zen. Ich wür­de gern mit dem Plas­ti­na­tor und sei­ner Lei­chen­welt be­gin­nen. Laut Han­dy-Na­vi liegt sein In­sti­tut hier um die Ecke. Mal schau­en, was wir da so her­aus­fin­den.«

Sie sah Acker­mann an, der von die­ser Aus­sa­ge ge­nau­so über­rascht schien wie Ele­na.

 

»Hier wer­den Lei­chen prä­pa­riert?«, sag­te Lau­ra und warf noch ein­mal ei­nen Blick auf die Haus­num­mer, um zu prü­fen, ob sie sich vor dem rich­ti­gen Ge­bäu­de be­fan­den. »Ich ha­be es mir ir­gend­wie an­ders vor­ge­stellt. Grö­ßer, auf­fäl­li­ger!«

Tat­säch­lich schien es sich bei dem Are­al vor ih­nen mehr um ein ehe­ma­li­ges Be­triebs­ge­län­de zu han­deln, mit zweck­mä­ßi­gen Bü­ro­ge­bäu­den und an­gren­zen­der La­ger­hal­le. Gar­di­nen zier­ten die Fens­ter, und der ge­pflas­ter­te Hof wirk­te wie leer­ge­fegt. Viel­leicht lag es dar­an, dass es noch frü­her Vor­mit­tag war.

Lau­ra stieg aus dem Wa­gen und steu­er­te auf das schwe­re Roll­tor zu. Nach der Be­spre­chung war sie froh, ei­ni­ge Schrit­te ge­hen zu kön­nen. Ob­wohl es heu­te schon emp­find­lich frisch war, ge­noss sie die küh­le Atem­luft und blieb für ei­nen Mo­ment ste­hen. Dann späh­te sie durch die Git­ter­stä­be.

»Sieht ir­gend­wie ver­las­sen aus. Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass hier Men­schen plas­ti­niert wer­den!«, sag­te sie und schiel­te zur Haus­num­mer, als müss­te sie sich ver­ge­wis­sern, dass sie vor dem rich­ti­gen Ge­bäu­de stan­den. In die­ser Ecke des Ge­wer­be­ge­bie­tes reih­ten sich die Fir­men­ge­län­de dicht an­ein­an­der. Sie wa­ren an ei­nem Male­r­be­trieb, ei­nem Sa­ni­tä­r­han­del und so­gar an ei­ner Klet­ter­hal­le vor­bei­ge­fah­ren. Nun stan­den sie zwei­fels­frei vor der rich­ti­gen Adres­se.

Falk trat hin­zu und nahm das Ge­län­de in Au­gen­schein. »Was hast du dir denn vor­ge­stellt? Ein Schild mit der Auf­schrift: Lei­chen­an­lie­fe­rung hier?«

»Nein, aber et­was mehr hat­te ich schon er­war­tet!« Doch im nächs­ten Mo­ment for­der­te ein an­de­res Ob­jekt ih­re Auf­merk­sam­keit. »Sieh mal.«

Nicht weit vom Ge­bäu­de ent­fernt, fast ver­deckt von auf­ge­sta­pel­ten Che­mi­ka­li­en­fäs­sern, stand ein Schiffs­con­tai­ner. Et­was klei­ner als der, den sie vor Ta­gen auf der Au­to­bahn ge­fun­den hat­ten, aber zwei­fels­oh­ne ein Über­see­con­tai­ner. Sie straff­te die Schul­tern und füg­te hin­zu: »Na, dann wol­len wir mal Dok­tor Tod ei­nen Be­such ab­stat­ten.«

Be­vor Lau­ra den Klin­gel­knopf be­tä­ti­gen konn­te, wur­de die Tür des Bü­ro­ge­bäu­des auf­ge­ris­sen. Ein Mann trat ih­nen mit schnel­len Schrit­ten ent­ge­gen. Er trug Jeans, ein T-Shirt, das ir­gend­wann ein­mal schwarz ge­we­sen sein muss­te, und schwe­re Le­der­stie­fel. Das ist nicht von Dahl, war Lau­ras ers­ter Ge­dan­ke. Die­ser Mann war um ei­ni­ges jün­ger.

»Was wol­len Sie?«, blaff­te er sie an.

Au­gen­schein­lich hielt er nicht viel von Höf­lich­kei­ten. Was auch im­mer der Mann für ein Pro­blem ha­ben moch­te, es war Lau­ra egal. Ru­hig er­wi­der­te sie sei­nen Blick.

»Kri­mi­nal­po­li­zei Mann­heim-Hei­del­berg, wir möch­ten zu Dr. von Dahl.«

Die Mie­ne des Man­nes wech­sel­te im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de von Ver­är­ge­rung zu Be­lus­ti­gung. Er lehn­te sich ge­gen das Stahl­git­ter. »Der Chef ist nicht da.«

»Wann kön­nen wir ihn spre­chen?«

Der Mann kratz­te sich am Kinn. »Im Mo­ment ist es et­was un­güns­tig. Der Chef plant ei­ne gro­ße Wan­der­aus­stel­lung, bei der weit mehr als fünf­zig gänz­lich neue Ex­po­na­te aus­ge­stellt wer­den sol­len. Da hat er rich­tig viel zu tun.«

Der plötz­li­che Ruck, der durch Lau­ra ging, ließ den Mann so­fort ver­stum­men. Sein Ge­sicht wur­de hart.

»Wo fin­den wir Dr. von Dahl?«, hak­te sie nach.

Der Mann hat­te sich wie­der ge­fasst, und Lau­ra glaub­te jetzt, ei­nen An­flug von leich­tem Spott in sei­nen Zü­gen zu le­sen. »Dr. von Dahl lebt in Ber­lin. Er kommt eher sel­ten nach Hei­del­berg. Ich bin der Ver­wal­ter des Kör­per­spen­den­bü­ros. Aber hier pas­siert schon lan­ge nichts mehr. Dr. von Dahl hat schon vor Jah­ren ein wei­te­res In­sti­tut er­öff­net.«

»Trotz­dem wür­den wir uns hier ger­ne et­was um­se­hen«, sag­te Acker­mann und deu­te­te auf den Con­tai­ner. »Was ist da drin?«

Der Mann hin­ter dem Tor kniff die Au­gen zu­sam­men, und sein Kör­per ver­steif­te sich. »Ha­ben Sie ei­nen Durch­su­chungs­be­fehl?«

»Brau­chen wir denn ei­nen?«, frag­te Lau­ra und füg­te hin­zu: »Wir kön­nen ger­ne mit ei­nem Durch­su­chungs­be­schluss wie­der­kom­men, und Sie kön­nen si­cher sein, dass wir dann je­den Stein auf die­sem Ge­län­de um­dre­hen.«

»Ja, ma­chen Sie das.«

Oh­ne ein wei­te­res Wort dreh­te sich der Mann wie­der um und warf kra­chend die Tür hin­ter sich ins Schloss.

»Was war das denn?«, frag­te Acker­mann.

Lau­ra zuck­te mit den Schul­tern. Das war wirk­lich ein selt­sa­mer Typ. Die Feind­se­lig­keit des Man­nes war ge­ra­de­zu ver­däch­tig.

Aber et­was an­de­res be­schäf­tig­te Lau­ra weit­aus mehr. Sie be­äug­te noch ein­mal den Hof mit den Che­mi­ka­li­en­fäs­sern und dem Con­tai­ner.

»Was denkst du? War­um steht hier ein Con­tai­ner, wenn hier kei­ne Lei­chen mehr an­ge­nom­men wer­den?«, frag­te sie.

»Ich glau­be nicht, dass von Dahl die Lei­chen in Con­tai­nern an­lie­fern lässt.« Acker­mann mus­ter­te das Ge­län­de. »Und hier sieht es wirk­lich et­was ver­waist aus. Fin­dest du nicht?«

Zu sehr mit ihren ei­ge­nen Ge­dan­ken be­schäf­tigt, ging sie nicht auf ihn ein und frag­te statt­des­sen: »Du hast es nicht ge­se­hen, stimmt’s?«

Sei­ne Ant­wort be­stä­tig­te ih­re Ver­mu­tung. »Was soll ich ge­se­hen ha­ben?«

»Das Kle­be­band.«

Jetzt sah Acker­mann sie an, als hät­te sie end­gül­tig den Ver­stand ver­lo­ren.

»Die­ser so­ge­nann­te Ver­wal­ter hat­te ei­ne Rol­le Kle­be­band in der Ho­sen­ta­sche«, er­klär­te sie.

Acker­manns Mie­ne wur­de noch ei­ne Spur grim­mi­ger. »Das ist nicht dein Ernst?«

»Doch. Ich konn­te se­hen, dass aus sei­ner rech­ten Ge­säß­ta­sche ei­ne Kle­be­band­rol­le her­aus­lug­te.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948736101
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Ermittlerinnen Körperwelten Powerfrauen Mordkommission Leichen Krimi Weibliche Kommissare Leichenschau Heidelberg Gerichtsmedizin Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Kirsten Sawatzki (Autor:in)

Kirsten Sawatzki, geboren in Bad Dürkheim und aufgewachsen in der Pfalz, begann nach der Schule eine Ausbildung zur Tierarzthelferin und war in diesem Beruf noch weitere zehn Jahre tätig. Danach wechselte sie zu einem Automobilzulieferer, wo sie bis heute im Bereich Qualitätssicherung tätig ist. Sie ist Mitglied der Autorenvereinigung »Mörderische Schwestern e.V.« Zu ihren literarischen Vorbildern gehören Tess Gerritsen und Simon Beckett.
Zurück

Titel: Die Komplizen des Todes