Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1
Die Laune von Dr. Elena Salonis war schon übel genug, noch bevor sie das rechtsmedizinische Institut betreten hatte. Der Berg unbearbeiteter Dokumente, die fein säuberlich auf ihrem Schreibtisch geordnet worden waren, dämpften ihre Stimmung noch mehr. Fast jede Akte war gespickt mit einer Notiz. Deshalb war sie heute früher gekommen. Ihr erster Arbeitstag. Sie wusste, was dringend zu erledigen war, denn seit zwei Wochen lagen die Befunde und medizinischen Unterlagen zur Durchsicht auf ihrem Schreibtisch. Hinzu kamen die Fälle, die sie schon vor ihrem Urlaub nicht erledigt hatte. Während des Duschens hatte sie sich vorgenommen, dass sie noch vor der ersten Obduktion alle Berichte unterschreiben würde. Jetzt fühlte sie sich der Aufgabe keinesfalls gewachsen.
Lustlos sank sie gegen den Türrahmen, umklammerte ihren Kaffeebecher und inhalierte förmlich dessen Aroma. Aus sicherer Entfernung beäugte sie ihren Schreibtisch, als würde allein der Wunsch, der Büroarbeit zu entfliehen, den Stapel Akten in Luft auflösen. Natürlich klappte das nicht. Sie kippte den Rest des Kaffees hinunter und knallte die Tasse mit einem unsanften Geräusch neben den Computerbildschirm.
Ohne den Unterlagen einen weiteren Blick zu schenken, stürmte sie aus dem Zimmer. Von einem plötzlichen Einfall beflügelt, stieß sie die Tür zur Leichenhalle auf. Die Stille des Raumes war ihr so vertraut, dass sie einen Moment innehielt und die Ruhe auf sich wirken ließ. Kühle Luft, vermischt mit dem Gestank nach totem Fleisch und Desinfektionsmittel. Die meisten Menschen hätte jetzt sicher das Grauen gepackt. Ihr war der Geruch des Todes schon lange nicht mehr fremd. Aber heute kratzte er so verdächtig in ihrer Nase, dass sie einen Moment innehielt. Die Leuchtstofflampen blinzelten und zuckten, und schließlich erhellten sie den Raum. Im Vorbeigehen zog sie ein Paar Nitrilhandschuhe aus einem Spender und ließ sie mit einem satten Schnalzer über die Hände gleiten. Beinahe motiviert steuerte Elena die hohen Kühlschränke an und zog eine Schublade heraus.
Dunkles Nahtmaterial. Grobe Stiche. Die behaarte Brust trug die unverkennbare Handschrift eines Rechtsmediziners. Sie öffnete die nächste Lade. Ein Greis. Auch hier hatten die Kollegen schon ganze Arbeit geleistet. Sie wiederholte die Prozedur. Überprüfte ein Schubfach nach dem anderen.
»Das gibt’s doch nicht. Mist!«, stieß sie hervor.
Enttäuscht und geradezu ihres Elans beraubt, pfefferte sie die Handschuhe in den Mülleimer und lief zurück zu ihrem Büro. Eine Leiche wäre jetzt ein guter Grund gewesen, um sich vor dem Schreibkram zu drücken. Büroarbeit war nicht ihr Ding. Das hatte sie wohl ihren griechischen Genen zu verdanken. Hieß es nicht immer, dass die Griechen ein Volk der Taten waren und nicht ein Volk von Bürokraten?
Mit einem resignierenden Stöhnen ließ sie sich in ihren Bürostuhl fallen. Missmutig starrte sie auf den Aktenberg. War dieser vor wenigen Minuten nicht um einiges kleiner gewesen? Sie griff nach der obersten Kladde.
Viktor Böhm. Die Worte sprangen ihr entgegen, und sofort hatte sie den Fall vor Augen. Das Bild eines attraktiven Mittsechzigers mit silbernem Haar und stahlblauen, wachen Augen. Wie überrascht sie darüber gewesen war, dass diese Augen, auch nach Eintreten des Todes, ihre Leuchtkraft nicht verloren hatten. Schnell war sie hinter deren Geheimnis gekommen. »Farbige, irisierende Kontaktlinsen«, hatte sie damals Dimitri erklärt. Der Sektionsassistent hatte überrascht die Augenbrauen hochgezogen. »Wieso trägt ein alter Mann leuchtend blaue Kontaktlinsen, das ist doch eher was für die junge Generation?«
»Alter Mann?!«
Oberhauptkommissar Bode war schon öfters Gast in Elenas Sektionssaal gewesen. Er stand kurz vor der Pension und sie wusste, dass er in seiner Dienstzeit bei der Kripo Mannheim-Heidelberg schon einiges gesehen hatte. Aber noch nie hatte sie es erlebt, dass Alexander Bode durch etwas aus der Fassung geraten war. Grimmig hatte er den Sektionsassistenten angefunkelt. Hatte dessen jungen, muskulösen Körper beäugt, über dem sich das grüne OP-Hemd gespannt hatte.
»Nur weil der Mann keine dreißig mehr ist, ist er noch lange kein alter Knacker!«
Eine Entschuldigung murmelnd, hatte sich Dimitri schnell den Instrumenten zugewandt.
Mia Bauer. Sie seufzte, als sie die nächste Kladde öffnete und die fein säuberlich getippten Seiten herauszog. Sie wusste, dass sie sich auf ihre Kollegin verlassen konnte. Trotzdem las sie den kompletten Text durch, um sich zu vergewissern, dass sich keine Fehler eingeschlichen hatten, ehe sie in schwungvollen Lettern unterschrieb. Sie wollte soeben die nächste Fallakte vom Stapel ziehen, als ihr Handy klingelte.
Bereits aus der Ferne versuchte Elena, das Ausmaß des Unfalls zu erahnen. Massenkarambolage. Das war eines der Worte von Kommissarin Laura Braun am Telefon gewesen. Massenkarambolage!
Aber das, was sich durch die Windschutzscheibe ihres Dienstwagens auftat, ging weit über ihre Vorstellungskraft hinaus. Ein riesiger Feuerschein zeichnete sich gegen das Morgengrauen ab und stieß eine gigantische Rauchsäule in den Himmel. Blaulichter durchzuckten die weichende Nacht und schraffierten alles saphirblau. Längst hatte man die Autobahn abgesperrt und den Verkehr umgeleitet. Frühe Pendler verstopften die Straße und machten es fast unmöglich, durch die Rettungsgasse zu kommen.
Endlich erreichte sie eine Polizeisperre. Der Mann in Uniform ließ sich Zeit, ihren Ausweis zu kontrollieren, dann warf er ihr einen letzten prüfenden Blick zu und ließ sie passieren. Im Schritttempo rollte sie über den Asphalt.
Geschickt lenkte sie den Wagen zwischen stehenden Fahrzeugen hindurch und suchte eine geeignete Parkmöglichkeit, um die abfahrenden Rettungsfahrzeuge nicht zu blockieren. Um sich einen Überblick zu verschaffen, beschloss sie, noch einen Moment im Wagen sitzen zu bleiben.
Sofort fielen ihr die erschöpften Feuerwehrmänner am Straßenrand auf. Fahle Gesichter, denen man das Grauen und die Überlastung buchstäblich ansah. Einer schraubte eine Wasserflasche auf, und seine Hand zitterte, als er sie zum Mund führte. Eine kurze Pause, bevor er sich wieder dem Kampf gegen das Feuer stellen würde.
Sie griff nach Mantel und Einsatzkoffer und war gerade im Begriff auszusteigen, als sich ein dunkler Schatten vor ihr aufbaute.
»Hey, was wollen Sie hier? Verschwinden Sie!«
Noch bevor Elena antworten konnte, fiel der Blick des Feuerwehrmannes auf das Armaturenbrett. Auf die Worte, welche in dicken roten Lettern auf eine kleine Tafel gedruckt waren. Worte, die jedem sagten, warum sie hier war: Rechtsmedizin im Einsatz.
»Sorry. Ich dachte, Sie wären einer dieser Reporter, die hier ständig auftauchen und uns nur im Weg rumstehen!«, begann er mit einer Entschuldigung.
Sie konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Sie hatte selbst schon erlebt, wie aufdringlich einige Journalisten sein konnten. Elena hob beschwichtigend die Hand. »Sagen Sie mir lieber, wo ich Kommissarin Laura Braun finde.«
Er zuckte mit den Achseln. »Hier sind Unmengen an Polizisten. Wir sind schon seit Stunden im Einsatz. Ich weiß nicht, wie viele Lastwagen an dem Unfall beteiligt sind, aber es sind eine ganze Menge, das können Sie mir glauben. Ganz zu schweigen von den vielen PKWs. Aber das Schlimmste ist der Tankwagen. Der hatte irgendetwas Explosives geladen. Er hat sich und ein paar umherstehende Fahrzeuge in die Luft gejagt. Die Teile sind bis auf die Gegenspur geflogen. Ein Inferno, sage ich Ihnen. Sind Sie deshalb hier?«
Elena ignorierte die Frage, jedoch nicht aus Unhöflichkeit. Ihr war immer noch nicht klar, warum Laura sie angerufen hatte. Die Besorgnis der Freundin am Telefon war deutlich spürbar gewesen, aber es war nicht das erste Mal, dass sie zu einem Unfallort auf der Autobahn gerufen wurde. Die meisten Menschen kannten die Arbeit des Rechtsmediziners nur aus Romanen oder dem Fernsehen. Dort bekamen sie das Bild vermittelt, wonach sich Rechtsmediziner meist nur mit der Untersuchung von Leichen beschäftigen würden. Die wenigsten wussten, dass dieses Fachgebiet viel mehr Aufgabenbereiche umfasste. Die Verkehrsmedizin war so ein Thema. Allerdings untersuchte Elena die Opfer in den seltensten Fällen direkt vor Ort. Heute war das offensichtlich anders.
»Wo finde ich den Einsatzleiter?«
Mit einer Kopfbewegung deutete der Mann auf eine Gruppe von Löschfahrzeugen. »Versuchen Sie es mal da vorne, aber passen Sie auf, dass Sie nicht zu nahe an die LKWs kommen. Die Reifen könnten durch die extreme Hitze platzen, und Sie wollen so ein Geschoss sicherlich nicht abbekommen.«
»Ja, danke.«
Unter den ernsten Blicken der Feuerwehrmänner huschte Elena an der Mittelleitplanke entlang. Sie spähte über die abgesperrte, leere Gegenfahrbahn, als das rhythmische Donnern von Rotorblättern einen Helikopter ankündigte. Kurz verfolgte sie den Flug des Rettungshubschraubers auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz. Dann wandte sie den Blick wieder auf das, was sich auf der Autobahn abspielte. Ein Bild des Schreckens.
Unzählige Fahrzeuge waren ineinander verkeilt, PKWs, LKWs und Transporter. Einige standen quer. Verbogenes Metall reckte sich in den Himmel wie bleiche Knochen. Mehrere Wracks waren unlängst von den Bergungskräften an den Straßenrand gezogen worden und warteten darauf, abgeschleppt zu werden.
Die Fahrbahn war übersät von Fahrzeugteilen und verlorener Ladung. Verletzte wurden versorgt. Einige standen mit bleichen Gesichtern am Rande des Geschehens und starrten mit geweiteten Augen auf die Reste ihrer Autos. Eine Frau mit einem weinenden Kleinkind auf dem Arm ließ sich, wie in Trance, von einem Rettungssanitäter zu einem Krankenwagen führen. Überall liefen Feuerwehrmänner, Sanitäter und Polizisten durcheinander. Anweisungen wurden über die Fahrbahn gebrüllt. Pralle Schläuche zogen sich kreuz und quer über den nassen Asphalt, und nicht wenige wurden komplett von einem dicken Teppich aus Löschschaum verdeckt. Wie sollte sie in diesem Durcheinander Laura finden?
Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch das Chaos. Der leichte Herbstwind wehte ihr kühl ins Gesicht, trieb ihr einen scharfen Geruch von Feuer und verkohlten Kunststoffen entgegen und brannte in ihren Augen. Von Laura fehlte jede Spur. Ungeduldig zog sie ihren Mantel vor der Brust zusammen. Jetzt erst wurde ihr klar, wie kalt es heute morgen war. Sie hatte weiß Gott keine Lust darauf, die Kommissarin weiter in dem Durcheinander ausfindig zu machen und wollte gerade nach ihrem Handy suchen, als sie Falk Ackermann entdeckte.
Umgeben von Polizisten hob ihn seine Zivilkleidung von den uniformierten Beamten ab. Mit ausdrucksloser Miene hörte der Kommissar den Kollegen zu und machte sich Notizen. Unvermittelt schien er ihren Blick zu spüren und sah sie direkt an. Ein Ausdruck freudiger Überraschung huschte über sein Gesicht. Dann verrutschte sein Lächeln, und seine Miene wurde wieder ernst. Er löste sich aus der Gruppe und rief ihr etwas entgegen, aber der Lärm war zu stark.
»Was?«, brüllte sie.
Statt einer Antwort bedeutete er ihr mit einem Kopfnicken, dass sie mitkommen solle. Vorsichtig watete sie durch den Löschschaum. Hier und da ragten die Spitzen undefinierbarer Gegenstände heraus. Selbst wenn sie zu sehen waren, war es schwierig, zwischen ihnen hindurchzugehen. Unter dem Schaum verborgen, waren sie unberechenbar. Als sie Ackermann erreichte, waren ihre Schuhe komplett durchnässt, und die vollgesogene Hose klebte feucht an ihren Beinen.
Falk Ackermann trug eine Wildlederjacke, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover und die obligatorischen Jeans. Sein Haar, länger als sie es in Erinnerung hatte und vom Wind zerzaust, gab ihm das jugendliche Aussehen eines Dandys.
»Elena!« Seine Augen lächelten, auch wenn er ernst blieb.
»Hallo, Falk, wo ist Laura? Warum habt ihr mich gerufen?«
»Du weißt es nicht?«
Das Lächeln in seinen Augen verschwand. Er zog sie mit sich. Mühsam schoben sie sich an den Wracks vorbei. Immer wieder musste er sich ausweisen, damit sie passieren konnten. Kurz vor dem brennenden Tanker boten sich zwei Feuerwehrmänner als Eskorte an. Trotzdem mussten sie bis weit auf die Gegenfahrbahn ausweichen, um sicher an dem in Flammen stehenden Fahrzeug vorbeizukommen.
Ein Feuerwehrmann erklärte: »Inzwischen haben wir das Feuer unter Kontrolle!« Er deutete auf die verkohlten Überreste der involvierten Transporter. »Aber den Tanker können wir nicht löschen und müssen ihn kontrolliert abbrennen lassen!«
Extreme Hitze und der Geruch von brennendem Diesel schlug ihnen entgegen und brannte in ihren Augen, und sie musste blinzeln. Sie suchte in ihrem Mantel nach einem Taschentuch und wischte sich damit über die Augen. Das kostete nur wenige Sekunden Zeit, aber sie konnte so schon kaum mit Ackermann mithalten. Sie hätte ihn gern gefragt, um was es ging. Doch der Lärm und die Umstände ließen kein Gespräch zu.
Nimmt dieser Unfall denn gar kein Ende?, dachte sie mit Entsetzen, als sie die Schlange aufeinandergeprallter Lastkraftwagen erblickte. Wie Perlen an einer Kette reihten sich die Fahrzeuge auf. Zusammengeschoben durch die Kraft von Maschinen. Vermutlich verursacht durch menschliches Versagen und zu geringe Distanz.
2
Kommissarin Laura Braun trat seit mindestens fünfundzwanzig frostigen Minuten von einem Bein auf das andere. Ihre Füße hatten sich schon vor einer gefühlten Ewigkeit in Eisklumpen verwandelt, und das Auf-und-Ab-Laufen war lediglich der verzweifelte Versuch, irgendwie warm zu bleiben. Wo blieb Elena?
Wieso ließen heute alle auf sich warten? Sie seufzte. Es war ein resigniertes Seufzen, weil sie wusste, dass manche Dinge einfach ihre Zeit brauchten. Sie hob die Hand zur Stirn und ließ ihren Blick über das Chaos gleiten, um Elena darin ausfindig zu machen. Aber das war nicht so einfach. Wie fleißige Ameisen wuselten die Einsatzkräfte über den Asphalt, und es schien ihr geradezu unmöglich, ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Sie versuchte es in Fahrtrichtung. Ein Krankenwagen löste sich aus dem Cluster von Rettungsfahrzeugen und fuhr einsam davon. Der eisige Wind und die Tatsache, dass sie schon eine Ewigkeit in der feuchten Kälte stand, zerrten an ihrer Geduld. Hinzu kam die Müdigkeit. Kaffee.
Der Wunsch nach einer heißen Tasse Kaffee wurde nahezu übermächtig. Als würde in dem Heißgetränk die Lösung für alles liegen. Sie stöhnte und überlegte, ob sie sich an die Kollegen wenden sollte. Irgendjemand würde doch wohl eine Thermoskanne Kaffee dabeihaben.
Sie haderte einen Augenblick mit sich, entschied sich aber schließlich zu bleiben, um Elena keinesfalls zu verpassen. Laura hatte Elena auf ihrem privaten Handy angerufen, um sicherzustellen, dass sie den Fall bearbeiten würde. Obwohl sie mit der Rechtsmedizinerin befreundet war, konnte sie objektiv beurteilen, dass Elena eine der Besten auf ihrem Gebiet war. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass Elena auch nach ihrem Feierabend für sie erreichbar war. Andere Mitarbeiter aus dem Institut waren da nicht so tolerant.
Außerdem war Laura die Freundschaft zu Elena wichtig. Sie hatten sich bei ihrem ersten Fall letztes Jahr kennengelernt. Damals wurde sie von einem Serienmörder gefangen gehalten, und die ganze Angelegenheit hatte die beiden einander sehr nahe gebracht.
Sie ließ ihren Blick suchend über die verschiedenen Fahrzeuge gleiten und auf das, was von einigen übrig war. So stark waren sie ineinander verkeilt, dass man teilweise das Führerhaus nur noch annähernd erahnen konnte. Das Ausmaß an Verletzten war angesichts der Schwere des Unfalls kaum auszumachen. Sie hatte gesehen, dass die Rettungskräfte einen Fahrer nur noch tot bergen konnten.
Der Tod fährt mit, dachte sie. Der Tod … Er hatte auch sie am frühen Morgen aus dem Bett gerissen. Er war auch ihr Geschäft. Als leitende Ermittlerin der Mordkommission Mannheim-Heidelberg musste sie sich regelmäßig mit dem Tod und seinen Opfern beschäftigen. Dass sie einmal zu einer Massenkarambolage gerufen werden würde, hätte sie nicht gedacht. Von Elena fehlte weiterhin jede Spur.
Sie rieb sich die kalten Hände. Und plötzlich gesellte sich zu ihrem Wunsch nach Kaffee und Wärme ein weiteres, sehr unangenehmes Gefühl. Sie musste zur Toilette. Mist! Wie hatte sie dies nur die ganze Zeit ignorieren können?
Sie sah zum Straßenrand. Der Grünstreifen bot wenig Deckung. Zudem wurde es merklich heller. Ihr Blick blieb an einer Böschung hängen. Dichtes Gestrüpp säumte die Hügel. Sie überlegte, ob sie es wagen konnte, sich hinter einem Busch zu erleichtern, als sie zwei Gestalten entdeckte. »Na endlich, das wurde aber auch Zeit!«
Elena ließ es sich nicht anmerken, ob es sie ärgerte, von Laura mit einem Vorwurf empfangen zu werden. Betont freundlich begrüßte sie die Kommissarin. »Guten Morgen, warum bin ich hier?«
Lauras Blick schnellte zu ihrem Partner. »Du hast es ihr nicht erzählt?«
Ehe Falk Ackermann etwas erwidern konnte, fügte Laura hinzu: »Die gute Nachricht zuerst? Sie sind nicht im Feuer umgekommen!«
Mit diesen Worten eilte die Kommissarin zu einem demolierten Sattelschlepper. Elena sah kurz zu Falk, seufzte und folgte der Polizistin.
Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, sagte Laura: »Das Führerhaus hat ordentlich was abbekommen. Der Fahrer wurde entweder schon geborgen, oder war bereits über alle Berge, noch bevor wir eingetroffen sind.« Sie sah zu Falk. »Konntest du in Erfahrung bringen, in welches Krankenhaus er möglicherweise gebracht wurde?«
Ackermann schüttelte stumm den Kopf. Elena beäugte die verschobene Karosserie des Führerhauses. »Wenn es nicht um den Fahrer geht, warum hast du mich dann angerufen?«
»Weil du dir unbedingt etwas ansehen musst. Ich wette, so etwas ist dir auch noch nicht untergekommen!«
Zwei Polizisten standen am Ende des Überseecontainers. Frischlinge, wie Laura unschwer an den nagelneuen Uniformen erkannte. Ihre jugendlichen Gesichter waren blass, und man sah ihnen die Erleichterung deutlich an, als Laura den Männern zu verstehen gab, dass sie ihren Posten verlassen konnten.
»Als die Kollegen von der Autobahnpolizei den Fahrzeugführer nicht ausfindig machen konnten, haben sie den Schiffscontainer geöffnet, um die Ladung zu überprüfen. Sie wussten ja nicht, ob er etwas Giftiges oder Explosives geladen hatte. Stattdessen haben sie dann das hier gefunden. Ich glaube, dass die Jungs diesen Anblick nie wieder vergessen werden!«
Elena hatte ihr stirnrunzelnd zugehört. Jetzt starrte sie auf die angelehnte Stahltür, als würde sie mit dem Schlimmsten rechnen. Doch Laura wusste, dass die Freundin Profi genug war, um sich dem Fund zu stellen. Was immer die jungen Polizisten so schockiert hatte: Elena würde sich nicht davon abhalten lassen, ihren Job zu machen.
Die Kommissarin streifte ein paar Handschuhe über und zog die rechte Tür einen Spalt weit auf. Eine Welle fauliger, feuchter Luft schwappte ihnen entgegen. Ackermann hielt sich den Arm vor Nase und Mund und wandte sich ab. »Na, wunderbar.«
Elena warf Laura einen Blick zu, der zwischen Neugier und Abscheu schwankte, als der Geruch in vollem Ausmaß auf die Gruppe traf.
»Falk, leuchte doch mal da rein, damit sie es sehen kann«, sagte Laura.
Ackermanns Blick sprach Bände. Er sah aus, als wäre er überall lieber als hier. Zögernd kam er näher und knipste seine Mag-Lite an.
Die Kommissarin verpasste der Tür einen unsanften Stoß. Der Gestank, der ihnen daraufhin entgegenschlug, war geradezu unerträglich. Laura war nicht entgangen, dass selbst die Rechtsmedizinerin angewidert die Nase kraus zog. Und ihrem Gesicht konnte man unweigerlich ablesen, dass sie Schreckliches ahnte. Mit einer Taschenlampe bewaffnet stellte sich Elena auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Doch als der Schein der beiden Taschenlampen auf das Innere des Containers traf, wich sie taumelnd zurück und keuchte: »Um Gottes willen!«
Laura, die direkt hinter Elena stand, konnte nicht schnell genug ausweichen, und unsanft prallten die Frauen ineinander. Laura schnappte erschrocken nach Luft, als Elena auf ihre Zehen trat, was zur Folge hatte, dass sie einen Schwall des Gestanks einatmete. Ein heftiger Schmerz jagte durch ihren Fuß. Sie biss die Zähne zusammen und zischte: »Mensch, pass doch auf!«
Doch Elena, unfähig zu antworten, taumelte ein paar Schritte zur Seite, wo die Luft besser war. Ackermann nahm ebenfalls Reißaus.
Während die Dunkelheit das Innere wieder umhüllte, tat Elena ein paar beruhigende Atemzüge, offenbar schockiert von dem, was sie gesehen hatte. »Das ist …«, begann sie, aber sie fand keine weiteren Worte.
Laura trat zur Freundin. Selbst hier war der Gestank nach verrottendem Fleisch noch deutlich zu vernehmen. »Schlimme Sache! Obwohl ich schon einmal in den Container geschaut habe, kann ich mich kaum an den Anblick gewöhnen.«
»Sind … sind sie alle tot?«, wisperte Elena.
»Wir haben einen der Notärzte hineingeschickt, und er kam nur kopfschüttelnd raus. Ich glaube, er erholt sich gerade in einem der Rettungswagen.«
»Wie viele sind es?«
»Keine Ahnung. Das herauszufinden, ist deine Aufgabe.«
Elena seufzte, als würde ihr noch einmal bewusst werden, welch grausige Aufgabe ihr bevorstand. Sie warf den Beamten einen Blick zu, den man fast als Vorwurf bezeichnen konnte, griff nach ihrem Einsatzkoffer und zog einen Schutzanzug heraus. Geradezu umständlich schlüpfte sie in den Anzug.
Laura kannte die Rechtsmedizinerin, und sie hatte es noch nie erlebt, dass sie bei einem Leichenfund gezögert hatte. »Ist mit dir alles okay?«
Elena nickte, während sie den Reißverschluss mit einer energischen Bewegung hochzog und ihre Schuhe gegen Gummistiefel tauschte.
Lauras Gefühle fuhren Achterbahn. Allein der Gedanke daran, dass ohne Elenas Hilfe sie es gewesen wäre, die die Vielzahl der Leichen hätte begutachten müssen, ließ sie erschaudern. Um sich abzulenken, wandte sie sich an Ackermann.
»Falk, wann kommt die Hundestaffel?«
»Der Einsatzleiter sagte etwas von einer halben Stunde«, antwortete er.
»Ich frage mich, ob die Hunde den Fahrer finden. Kein Wunder, dass der abgehauen ist, bei der Ladung. Hast du was von den Spusis gehört?«
Aber Ackermann hatte sich bereits abgewandt und schritt langsam an einer der langen Flanken des Vierzigtonners entlang. Er hörte sie erst, als sie ihn erneut ansprach: »Was machst du da?«
Falk Ackermann runzelte die Stirn, und in seinem Gesicht spiegelte sich Verwirrung.
»Während meiner Ausbildung war ich für einige Zeit bei der Hafenpolizei. Überseecontainer haben normalerweise Lüftungsbänder oder wenigstens Lüftungsschlitze.« Er zeigte auf die obere Kante des Anhängers. »Ich sehe aber keine.«
Laura umrundete den Container. Auf der anderen Seite waren ebenfalls keine Luftlöcher zu sehen. Stattdessen klebte ein grüner Streifen um den Stahlmantel.
Eingehend musterte Laura den rostigen Koloss. Hier transportierte jemand auf die ganz billige Tour. Aber es waren nicht die Beulen oder Rostflecken, die sie schockierten, sondern die Tatsache, dass jemand die Lüftung mit einem Klebeband versiegelt hatte.
»Zugeklebt!«, stieß Laura atemlos hervor. »Denkst du, das Band klebt schon länger dort oben?« Die Vorstellung, jemand hätte mehrere Menschen vorsätzlich und grausam ersticken lassen, war mehr als erschreckend.
Ackermanns Blick haftete auf dem Container. »Ich glaube schon, aber warten wir lieber, was die Spurensicherung dazu sagt.« Er sah auf seine Uhr. »Die werden sicherlich gleich eintreffen. Ich schau mich mal weiter um.«
Laura nickte kurz, froh darüber, dass er sich wieder abwandte. Auch wenn der Leichenfund ihre ganze Aufmerksamkeit forderte, konnte sie das Ziehen in ihrem Unterleib nun nicht mehr länger ignorieren. Inzwischen waren die Schmerzen derart heftig, dass sie bei jedem Schritt an das Drängen ihrer Blase erinnert wurde. Ich muss jetzt! Dieses Gefühl war plötzlich so übermächtig, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Sie spürte, wie sich ihr Unterleib verkrampfte und sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Lange würde sie es nicht mehr aushalten.
Sie sah sich hektisch um. Immer noch herrschte ein großes Durcheinander. Sie umrundete den Lastwagen und starrte erneut auf das schmutzige Grün des Seitenstreifens. Nein, hier würde sie jeder sehen.
Wie oft hatte sie schon mitbekommen, dass die zumeist männlichen Einsatzkräfte sich am nächsten Baum erleichtert hatten. Aber sie brauchte Privatsphäre oder wenigstens ein Gebüsch. Ihr Blick folgte dem Hang. Die üppige Bepflanzung würde ihr ausreichend Schutz bieten. Ich bin schneller wieder zurück, als man mich vermissen wird.
Sie kletterte über die Leitplanke und sprintete los. Innerhalb von wenigen Herzschlägen hatte sie den Gipfel des Hügels erreicht.
Laura stieß einen zufriedenen Seufzer aus, als sie wenige Minuten später ihre Hose wieder hochzog. Doch ein Rascheln hinter ihr vertrieb das Gefühl der Erleichterung.
Schnell schloss sie den Reißverschluss. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass einer der Rettungsleute sie beim Pinkeln erwischen würde.
Mit hochrotem Kopf drehte sie sich um. Aber da war niemand. Nervös lachte sie auf. Sie musste sich verhört haben.
Gott, wenn mich jemand gesehen hätte. Wie peinlich!
Erleichtert, dass ihre Ohren ihr einen Streich gespielt hatten, begann sie, den Hügel wieder hinabzusteigen.
Ein Wimmern.
Sie hielt inne. Dann ein Stöhnen. Sie drehte den Kopf und versuchte noch einmal, das Geräusch einzufangen. Jetzt war sie sich sicher. Sie hatte etwas gehört. Jemanden.
Sie kletterte noch einmal den Hügel hinauf. Oben angekommen erwartete sie, die Ursache des Geräusches umgehend auszumachen. Aber es war niemand zu sehen. Sie nahm sich noch eine Minute und hoffte auf eine Wiederholung. Auf irgendetwas, das ihr sagte, dass sie sich nicht geirrt hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und ließ ihren Blick über die Sträucher gleiten. Das Laub der in Gruppen stehenden Bäume färbte sich langsam gelb, und das kniehohe Gras hatte sich teilweise in Stroh verwandelt. Tautropfen glitzerten in der Morgensonne, die langsam den Kampf gegen den Bodennebel gewann. Der Herbst hielt Einzug und zeigte jetzt schon seine ersten Spuren.
Schließlich gab sie auf und wandte sich zum Gehen. Vermutlich doch nur ein Hase, der von mir aufgeschreckt wurde. Aber irgendetwas nagte an ihrem Unterbewusstsein, das sie nicht zu fassen bekam. Sie blieb stehen und schenkte der Landschaft einen letzten prüfenden Blick. Nichts. Nur das melancholisch-traurige Krächzen einer Krähe unterbrach die Stille. Vielleicht doch nur ein Tier?
Sie suchte den Himmel nach dem Vogel ab. Ihr Nacken kribbelte, und da war es wieder. Das Gefühl, etwas zu übersehen.
Sie strich durch das hohe Gras, und plötzlich meldete ihr Verstand, dass da doch etwas nicht stimmte. Sie entsicherte die Waffe in ihrem Holster. Es war eine unbewusste Bewegung. Routine. Vorsichtig schob sie sich näher. Nach und nach verdichtete sich das Bild, und sie erkannte Einzelheiten. Realisierte, was ihr Gehirn schon vor wenigen Sekunden registriert hatte. Es war das Leuchten einer signalroten Nylonjacke, das die harmonische Farbpalette der Landschaft erheblich störte.
Er lag auf dem Rücken. Schnittwunden zeichneten ein wildes Muster auf seinem blassen Gesicht, und das Blut sammelte sich an seinem Hals. Die Augen waren geschlossen. Eine tiefe Narbe reichte vom Haaransatz bis zur linken Augenbraue. Sein Atem ging hektisch und pfeifend.
Sie zückte ihr Mobiltelefon.
3
Elenas erster Impuls war es, zurückzuweichen.
Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, in den dunklen Schlund des Stahlkubus zu steigen. Ihr Körper sträubte sich gegen das, was sie nun vorhatte. Sie straffte die Schultern. Es war ihr Job, da hineinzugehen, und ihr Beruf hatte sie schon vor Langem davon geheilt, allzu zimperlich zu sein.
Aber weshalb hatte sie dann dieses ungute Gefühl?
Sie zog sich an dem Auflieger hoch. Sie wusste, dass Falk sie beobachtete, und bemühte sich, eine gewisse Eleganz in ihre Kletterversuche zu legen.
Oben angekommen, richtete sie sich auf und schaltete die Taschenlampe wieder ein. Der schmale Lichtkegel huschte lautlos über das Innere des Containers und verdeutlichte noch einmal das Drama zu ihren Füßen. Sie erkannte ein Wirrwarr aus Armen, Beinen, Köpfen, Körpern! Kreuz und quer durcheinander gewürfelt, wie unzählige Käfer in einer Streichholzschachtel. Sie sah Kleidung, nackte Füße, dunkle Haare. Und Hände.
Ihr Herz trommelte gegen ihren Brustkorb. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und spürte geradezu, wie die Dunkelheit sie verschluckte. Das Material des Schutzanzuges rieb über ihre Haut, und durch die Vliesmaske vor Mund und Nase bekam sie kaum Luft. Gleichwohl ließ der Gestank kaum einen Atemzug zu.
Starr richtete sie ihren Blick nach vorn und wagte es nicht, sich zu Ackermann umzudrehen. Er sollte ihren Widerwillen nicht sehen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was vor ihr lag. Sie musste ohnehin höllisch aufpassen, um in dem Halbdunkel nicht zu stolpern oder gar auszurutschen. Sie umklammerte die Mag-Lite und richtete deren Strahl ganz bewusst nicht auf den Boden. Es reichte ihr, dass sie bei jedem Schritt etwas Erhabenes spürte und dass die Überzieher ein schmatzendes Geräusch machten. Sie nahm sich vor, ihre Stiefel im Anschluss erst gar nicht zu reinigen, sondern gleich wegzuwerfen.
Sie schob sich weiter, und ein beklemmendes Gefühl, als wollte sie das Ende nie erreichen, erfasste sie. Der schwere, süßliche Gestank faulenden Fleisches durchdrang die Atemmaske und umschloss sie wie ein Kokon. Drang in ihre Poren, legte sich bleiern auf ihre Lunge. Ein Geruch, den sie nur zu gut kannte. Der ständige Begleiter ihrer Arbeit, und er begegnete ihr täglich; an Tatorten oder im Sektionssaal. Doch heute war er kaum auszuhalten. Stärker, intensiver, geballter. Das war für sie das erste Indiz.
Diese Menschen waren nicht durch den Unfall gestorben. Sie waren bereits tot, bevor die Lastwagen ineinandergerast waren. Der Aufprall hatte ihre leblosen Körper wie rutschende Ladung durch den Anhänger geschleudert. Sie ließ den Lichtschein der Lampe über die Menschen gleiten.
Mein Gott, so viele Leichen. Fast allesamt Männer. Nur hier und da konnte sie fröhliche Farbkleckse und weibliche Umrisse erkennen. Der Schein der Lampe erfasste einen Körper. Dann einen weiteren. Eine Hand. Einen Kopf. Ein Gesicht, auf dessen Wangen dunkle Tränen getrocknet waren. Sie ließ den Lichtstrahl umherstreifen und betrachtete die unwillkürliche Lage der Gliedmaßen. Aber das Gewirr der Körper ließ keine genaue Beurteilung zu. Alles, was sie erblickte, waren verrenkte Extremitäten, verdrehte Leiber. Starre Gesichter mit entsetzten Blicken. Weit aufgerissene Münder, verzerrt im Todeskampf zu stummen Schreien. Ein Massengrab.
Alle Personen hatten dunkle Haut. Nicht die Verfärbungen, die Leichen häufig annahmen, sondern die dunkle Pigmentierung von Menschen afrikanischer Herkunft. Aber noch etwas anderes schockierte sie. Es war etwas, was ihr Unterbewusstsein die ganze Zeit versucht hatte zu sagen. Hektisch lenkte sie den Lichtstrahl zurück zu dem einen Gesicht. Sie ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Im Kegel der Taschenlampe musterte sie die Tränenflüssigkeit, die wie rissiges Pergament die Wangen der Leiche umspannte. Das waren keine Tränen, das war Blut. Blut.
Sie schob zwei Finger unter die Oberlippe des Toten. Winzige Blutstropfen funkelten wie kleine Rubine in seiner Mundschleimhaut. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen. Ein Verdacht kratze an ihrem Verstand. Sie ignorierte ihn und überprüfte die Augenlider. Stecknadelkopfgroße Einblutungen zeichneten sich deutlich gegen die wächserne Bindehaut ab.
Und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Sie keuchte, sprang auf. Der plötzliche Wechsel war für ihren Kreislauf zu viel. Ihr eigenes Blut sackte in ihre Waden, und in ihrem Kopf drehte es sich. Die Mag-Lite fiel polternd zu Boden, und während die Dunkelheit die toten Menschen wieder umhüllte, taumelte sie atemlos rückwärts. Ihr Gehirn war jetzt nur noch zu einem Gedanken fähig. Raus! Ich muss hier raus!
Panisch drehte sie sich zur Tür und sprintete los. Ihre Füße versuchten, auf dem schmierigen Holzboden Halt zu finden. Sie durfte jetzt auf keinen Fall ausrutschen. Es galt, jeden Kontakt mit den Körperflüssigkeiten dieser unglücklichen Menschen zu vermeiden.
Den Ausgang fest im Blick hechtete sie weiter. Ihre Lunge brannte, und das ohnmächtige Gefühl, dass sie die Tür nicht vor dem nächsten, lebenswichtigen Atemzug erreichen würde, trieb ihr die Tränen in die Augen, trübte ihren Blick. Sie hörte das Rauschen ihres eigenen Blutes und das heftige Hämmern ihres Herzens, während sie nur noch ein Ziel hatte. Raus! Frische, klare Luft atmen!
Der rettende Ausgang war nah. Trotzdem kam es ihr vor, als müsste sie einen Marathon laufen, dessen Ziel unerreichbar blieb. Einen Wettlauf gegen den eigenen Tod. Erschüttert von dem, was sie gerade entdeckt hatte, klammerte sie sich keuchend an die Tür des Aufliegers.
Sie musste würgen. Sie riss die Maske herunter und zog scharf die kühle Morgenluft ein. Dann ein weiterer Atemzug. Sauerstoff drang tief in ihre Lunge, und sie spürte, wie jede Alveole umspült wurde.
»Was ist? Was hast du entdeckt?«
Elena hob den Kopf und blinzelte verwirrt. Vor ihr entstand Bewegung. Es war Kommissar Falk Ackermann, der etwas abseits gestanden hatte und nun mit schnellen Schritten auf sie zu kam. Seine Miene, eine Mischung aus Neugier und Besorgnis. Und noch etwas erkannte sie in dem vertrauten Gesicht. Vorwürfe!
Aber dafür war jetzt keine Zeit. Keuchend schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen namenlosen Schrecken abschütteln. »Geh weg!«
»Was?«
Mit zitternden Händen fischte sie nach ihrem Einsatzkoffer, zog ihr Handy heraus und suchte im Display nach einer Nummer.
»Elena, was meinst du?«
Das Mobiltelefon fixierend zischte sie: »Verschwinde von hier!«
Verwirrt starrte er sie an. Sie hatte jetzt keine Zeit für ihn und wich seinem Blick aus. Doch er interpretierte ihr Verhalten falsch.
»Seit Tagen ignorierst du meine Anrufe, gehst mir aus dem Weg, und jetzt soll ich verschwinden?«
Elena, immer noch mit dem Handy beschäftigt, reagierte nicht auf ihn. Dann sah sie ihn direkt an. Doch anstatt ihm zu antworten, schrie sie in das Telefon: »Sebastian? Ich habe einen Stufe-Vier-Verdacht!«
»Stufe Vier? Was meinst du?«, mischte sich Falk Ackermann ein.
Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Das war gut so. Für ihren Geschmack war er immer noch viel zu nah am Container, und sie warf ihm vorsorglich einen warnenden Blick zu, der offensichtlich seine Wirkung nicht verfehlte. Mit verschränkten Armen musterte er sie, und ihr war klar, dass er, sobald sie das Telefonat beendet hatte, eine Erklärung fordern würde.
Der Schock ebbte langsam ab, trotzdem konnte sie ein Zittern kaum unterdrücken. Mit einer Hand stützte sie sich am Container ab, und die andere umklammerte das Handy, doch der Mann am Telefon wollte ihr keinen Glauben schenken. Wut keimte in ihr auf.
»Ich bin mir ziemlich sicher. Komm vorbei und schau es dir selbst an«, rief sie in die Sprechmuschel.
Offensichtlich war ihre Stimme so laut, dass sich jetzt sogar ein Feuerwehrmann umdrehte und sie neugierig beobachtete. Doch er verlor schnell wieder das Interesse, als sie die Stimme senkte.
Das galt nicht für Ackermann. Mit aufmerksamem Blick taxierte er sie. Doch sie hatte jetzt weder Zeit noch Lust, ihn aufzuklären. Sie wusste, dass sie sich nicht gerade klug verhielt, aber ihre Prioritäten lagen jetzt eindeutig woanders.
Sie drehte sich noch einmal um und betrachtete die Toten im Container, als könnte Sebastian Kevekordes am anderen Ende der Leitung durch ihre Augen die schrecklichen Bilder erkennen. Sie gab sich Mühe, sachlich und relativ emotionslos zu schildern, was sie entdeckt hatte.
Als sie den Blick wieder auf die Straße richtete, war sie erleichtert und erschrocken zugleich. Erleichtert, weil sie die Toten nicht mehr ansehen musste; erschrocken, weil sie jetzt durch das aufkommende Tageslicht und die erhöhte Position das ganze Ausmaß des Unfalls überblicken konnte.
Kaum, dass sie das Gespräch beendet hatte, setzte sich Ackermann in Bewegung. Sie hob abwehrend die Hand und zischte: »Bleib weg von mir!«
Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sein Gesicht verzog sich, und er ließ jede Höflichkeit fahren. »Das ist doch bescheuert! Verdammt, sag mir endlich, was los ist!«
»Du musst dich von dem Container fernhalten!«
»Warum?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre schwarzen Locken fanden ihren Weg aus der Kapuze. Mit einer barschen Bewegung schob sie sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher, aber bleib weg von mir.« Sie sah ihm an, dass er mit dieser Antwort nicht zufrieden war und fragte: »Wo ist Laura? Ihr müsst dafür sorgen, dass sich niemand dem Container nähert.«
Sie ließ ihren Blick über Ackermann hinweg gleiten. Rettungskräfte wuselten über die Straße, Abschleppwagen begannen, Autos wegzukarren. Der Rettungshubschrauber startete mit lautem Getöse. Unweit von ihnen standen einige Polizisten. Von Laura fehlte jede Spur.
»Warum? Was zum Teufel ist da drinnen los? Mit wem hast du telefoniert?«, rief er und reckte den Hals, um noch einmal ins Innere des Containers sehen zu können.
Elena seufzte, weil ihr klar wurde, dass Falk Ackermann nicht so schnell das Feld räumen würde. Schließlich war er Polizist. Es lag in der Natur der Dinge, dass er Antworten wollte. Auch wenn es unbequem werden würde.
Doch da klingelte sein Handy. Sichtlich verstimmt musterte er das Display seines Handys, ehe er den Anruf annahm. In seiner Stimme schwang Wut, als er sagte: »Mensch, Laura, wo steckst du?«
4
Der Mann, der dem Superpuma entstieg, war es gewohnt, dass man seinen Anweisungen Folge leistete, das konnte Laura selbst aus der Entfernung deutlich erkennen. Mit einer schnellen Bewegung sprang er aus der Kabine, kaum dass die Kufen des Hubschraubers den Boden berührt hatten. Im Schlepptau einen Tross Personen, deren auffallend gelbe Vollschutzanzüge sich gegen alles abhoben, zog er im Gehen den Reißverschluss seines eigenen Overalls zu und ließ sich von einem Mitarbeiter die Laschen mit Klebeband verschließen.
Laura stand immer noch auf dem Hügel. Sie spürte ein Pochen im Nacken. Kopfschmerzen. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, diese die ganze Zeit zu ignorieren. Sie schloss die Augen und war versucht, sich dem Schmerz hinzugeben, kam aber sofort zu dem Entschluss, dass es dafür der falsche Zeitpunkt war. Sie schüttelte den Kopf, massierte sich den Nacken und überlegte mit geschlossenen Lidern, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte wenig Lust, hier oben zu warten. Es gab ihr das Gefühl, ausgebremst zu werden. Aber so lautete nun mal die Anweisung, die man ihr gegeben hatte, kurz nachdem Ackermann mit dem Rettungsteam bei dem Verletzten angekommen war.
Sie stöhnte leise und öffnete die Augen. Weitere Gestalten in Overalls strömten aus dem Hubschrauber wie eifrige Bienen aus einem Nest. In stummer Choreografie begannen sie auszuladen. Zelte wurden in Windeseile aufgebaut und der Container mit den Leichen abgesperrt. Zwischen all dem Gewusel liefen vermummte Personen und besprühten jeden Zentimeter großzügig mit dem Inhalt der Flaschen auf ihren Rücken.
Laura warf Ackermann einen nervösen Blick zu. Sie erkannte, dass es ihm nicht besser erging. Sein Körper war gespannt wie ein Bogen, und seine Lippen verzogen sich ärgerlich, als er sprach: »Was geht denn hier ab? Wer sind diese Leute?«
Laura schüttelte den Kopf. Ihr Blick klebte auf der Szenerie am Container. Der Mann hatte Elena erreicht. Sofort entstand eine hitzige Diskussion. Das war eindeutig zu erkennen. Über was auch immer die beiden sprachen, es schien ihm nicht zu gefallen.
»Was hat sie entdeckt? Wieso ist der Typ so sauer?«, fragte sie.
Falk Ackermanns Miene wurde unnachgiebig. »Tja, das hatte ich sie auch gefragt. Doch bevor sie antworten konnte, hast du angerufen.« Er schüttelte wütend den Kopf. »Das ist alles so … typisch für sie.«
Laura hatte absolut keine Ahnung, weshalb Falk so wütend war, und sah ihn verwundert an. Mit ihren eigenen Gedanken über den Leichenfund beschäftigt, war ihr sein Zustand nicht aufgefallen. Die Stimme des Notarztes hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. »Das ist eine Dekontaminationseinheit!«
»Eine was?« Sie wirbelte herum.
»Was ist in dem Container?«, fragte der Notarzt und ließ ihre Frage unbeantwortet. Sie zögerte und musterte die Männer, doch schließlich entschied sie, dass sie ihm antworten sollte.
»Leichen. Das Ding ist voller Leichen.«
Der Arzt starrte die Polizistin ungläubig an, und die beiden Sanitäter glucksten überrascht. »Das ist ein Witz, oder?«, rief er, und Laura erkannte einen Anflug von Spott in den grauen Augen des Mannes.
»Leider nicht!« Sie sprach es so aus, als würde sie keinerlei Bedenken dulden. Allerdings funktionierte das nicht.
»Wir sind von der Mordkommission«, sagte sie, um jede Ungewissheit auszuräumen.
Die Augenbrauen des Mannes schnellten in die Höhe. Sie merkte ihm an, dass er ihr nicht glaubte. »Wieso ist dann ein Seuchenschutztrupp aufgetaucht, wenn es sich um Mord handelt?«
Laura und Ackermann warfen sich stumme Blicke zu. Sie wollten keinesfalls Details preisgeben, andererseits hatten sie beide keine Antwort auf die Frage des Mannes.
Ackermann brach schließlich das Schweigen. »Dr. Salonis hatte etwas von einem Stufe-Vier-Verdacht erzählt.«
Diese Neuigkeit raubte dem Arzt schier den Atem. Seine Lippen wurden schmal, und doch presste er zwischen ihnen hervor: »Mein Gott! Sind Sie sicher?«
Auf Ackermanns stummes Nicken fügte er hinzu: »Waren Sie auch in dem Anhänger?«
»Nein. Was bedeutet Stufe Vier?«
Der Arzt sah in die Runde. An den aschfahlen Gesichtern der Sanitäter erkannte Laura, dass dem Rettungsteam schon lange bewusst war, was Elena vermutete. Allem Anschein nach tappten nur sie im Dunkeln. Ehe sich Ärger in ihrer Brust breitmachen konnte, raunte der Arzt: »Tödliche Erreger!«
»Geht das auch genauer?« Laura spürte, dass ihr langsam der Geduldsfaden riss. Tödliche Erreger. Was sollte das sein?
»Hochansteckende Viren wie zum Beispiel das Ebola- oder Marburg-Virus«, erklärte der Arzt.
»Ebola!«, echote Laura, und das Pochen in ihrem Kopf schwoll zu einem Hämmern an. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und das Entsetzen über diese Aussage direkt in jede ihrer Hirnzellen kroch. Ihr Blick schnellte zu dem Mann auf der Trage, den sie kurz vorher hier gefunden hatte. Vielleicht war er im Container gewesen und könnte nun infiziert sein?
Sie wich zurück und stellte sich die Frage, wie nahe sie ihm gekommen war. Sie beäugte ihre Hände. Hatte sie ihn berührt? Zur Sicherheit wischte sie sich die Hände an ihrer Hose ab. Sie wusste, dass das keine Wirkung hatte. Trotzdem konnte sie diesen Impuls nicht unterdrücken.
Doch dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Zwei vermummte Gestalten kletterten den Wall hinauf. Beide bepackt mit Flaschen und etwas, das aussah wie Schutzanzüge. Durch die Atemschutzmaske hörte sich die Stimme des Mannes seltsam dumpf an.
»Kommissarin Braun?«
Ohne Lauras Antwort abzuwarten, kam er sofort zur Sache. »Ich bin Karsten Hummel, Zugführer des ABC-Trupps. Wir übernehmen jetzt.«
»Das kommt nicht in Frage. Dies ist schließlich mein Tatort!«, sagte Laura und verschränkte die Arme vor der Brust. Nicht nur, dass man sie angewiesen hatte, auf dem Hügel auszuharren und sie somit von dem Container mit den Leichen fernhielt. Jetzt tauchte auch noch jemand auf, der meinte, die Regie übernehmen zu müssen.
»Ich diskutiere nicht!«, antwortete Hummel scharf.
Lauras Wangen brannten, und sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Wie konnte er so mit ihr reden? Sie war schließlich die leitende Ermittlerin. Sie war seit Stunden auf den Beinen, kämpfte mit Müdigkeit und der Kälte, und dann auch noch das. Sie schnaubte verächtlich und holte tief Luft. Doch dann fing sie Falk Ackermanns Blick auf und verstand. Offensichtlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Machtspielchen.
Sie ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen und bemühte sich um einen freundlicheren Ton: »Was ist eigentlich passiert, wieso bedarf es eines ABC-Trupps?«
Der Mann in dem Schutzanzug ignorierte ihre Frage und wandte sich an die Rettungskräfte: »Wie geht es der verletzten Person?«
»Der Mann muss dringend in ein Krankenhaus!«, sagte der Notarzt.
Hummel schenkte dem Verletzten keinen weiteren Blick. »Wir haben einen Stufe-Vier-Verdacht. Sie kennen ja das Prozedere, oder?«
Die Rettungssanitäter schlüpften kommentarlos in die Overalls. Doch die Aussage des Notarztes nagte immer noch an Lauras Verstand.
»Könnte es tatsächlich Ebola sein?«
»Es muss nicht zwangsläufig Ebola sein!«, sagte Hummel, und die Kommissarin wollte schon aufatmen, als er hinzufügte: »Es könnte auch ein anderes Hämorrhagisches Fieber sein. Auf jeden Fall ist es zwingend notwendig, dass Sie alle dekontaminiert werden. Bitte achten Sie darauf, dass Ihre Körper komplett bedeckt sind, und benutzen Sie die Überzieher und den Mundschutz.«
Verwirrt griff sie nach dem Overall. Das Kunststoffgewebe knisterte, und sofort verfing sich der Wind in dem Material. Mit dem Anzug kämpfend sah sie zu Falk Ackermann. Er bemühte sich um eine neutrale Miene, doch leider passte seine Gesichtsfarbe nicht dazu.
Ebola!, summte es in ihren Ohren. Sofort erschienen grausige Bilder von Reportagen aus Afrika vor ihrem inneren Auge. Fotos hoffnungslos überfüllter Auffanglager von Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, die verzweifelt versuchten, die Erkrankten zu retten. Ebola!
Sie sah zu den Rettungssanitätern, und ein seltsames Gefühl der Panik nahm ihr den Atem. Sie keuchte. Doch der Zellstoff ihres Mundschutzes machte ein tiefes Einatmen nahezu unmöglich.
Die Menschen auf dem Hügel erinnerten sie an die Helfer in den Krisengebieten. Eingemummt in weiße Kapuzenoveralls mit Atemschutz und Schutzbrille, die keinen Blick auf den Träger zuließen, pausenlos damit beschäftigt, Leichen in schwarzen Plastiksäcken in anonymen Gräbern zu verscharren. Ebola!
Der Abstieg in den Schutzanzügen erwies sich als äußerst schwierig. Die Schuhüberzieher waren glatt und für einen Steilhang nicht geschaffen. Sie drohte abzurutschen, denn nach jedem Schritt besprühten die Männer den vermeintlich kontaminierten Boden und verwandelten den Untergrund in eine schlammige Bahn.
Es kam, wie es kommen musste. Laura schlitterte. Aber Hummel packte sie und verhinderte, dass sie den Hang herunterpurzelte. »Danke!«, murmelte sie und sah verlegen an ihm vorbei.
Was den Container geradewegs in ihr Blickfeld schob. Vermummte Männer versiegelten den Stahlkoloss. Sofort erfasste sie wieder ein ungutes Gefühl. Wohin hatte man Elena gebracht?
Ihre Gedanken rasten, und ihr Puls galoppierte, als sie daran dachte, dass sie diejenige gewesen war, die die Freundin in den Schiffscontainer geschickt hatte. Sie und Ackermann hatten sich nur außerhalb des Unglücksfahrzeugs aufgehalten. Aber Elena war bei den Leichen gewesen, war direkt mit ihnen in Berührung gekommen.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker hämmerte ihr Herz gegen ihre Brust, und ein unangenehmes Gefühl von Schuld machte sich in ihrem Bauch breit. Wieder einmal hatte sie ihre Freundin in Gefahr gebracht. Sie hatte Elena ganz bewusst auf ihrem privaten Handy angerufen, weil sie sichergehen wollte, dass sich kein anderer Rechtsmediziner des Falls annehmen würde. Nun war sie es gewesen, die ihre Freundin in den Todesfrachter hineingeschickt hatte. In einen Container voller Leichen, die ein tödliches Virus in sich trugen.
5
Das Desinfektionsmittel hinterließ einen bitteren Geschmack auf Lauras Lippen, zudem brannten die Dämpfe in ihren Augen. Aber das war das kleinste Übel. Als hätte der Tag heute nicht schon schrecklich genug begonnen, so empfand Laura die Prozedur der Dekontamination als äußerst demütigend. Ihr war kalt. Im Dekontaminationszelt zog es erbärmlich, und das Desinfektionsmittel war eisig. Nur in Unterwäsche bekleidet stand sie in der engen Kabine und ließ sich erneut mit der stechend riechenden Flüssigkeit besprühen.
Der Mann war unter dem Kapuzenoverall und dem Mundschutz anonym, doch sie erkannte die Stimme, als er ihr ein Tuch reichte. Es war Hummel. Scham flackerte in ihr auf, und sie hoffte inständig, dass er sie durch die beschlagene Schutzbrille nicht eindeutig erkennen konnte. Schnell schlang sie das Leinentuch um ihren Körper und schaute verlegen zur Seite. Aber es gab kein Entkommen.
Eine weitere Person trat auf sie zu, gab ihr ein Zeichen und führte sie zu einer Duscheinheit. Froh, endlich das Desinfektionsmittel wieder abwaschen zu können, seifte sie sich gleich zwei Mal ab. Trotzdem blieb das unangenehme Gefühl, einem tödlichen Virus gefährlich nahegekommen zu sein. Diese winzigen Mikroorganismen konnte man nicht sehen, fühlen oder schmecken. Erst, wenn sie in einen Organismus eingedrungen und ihre unheilbringende Fracht abgeladen hatten, führten sie zu Krankheit oder Tod.
Ihren Gedanken nachhängend, trat sie aus der Duschkabine und schlüpfte schnell in einen weißen Overall und viel zu große Stiefel. Das Material des Anzugs war dünn, und sie fröstelte, während sie den Reißverschluss zuzog.
Ackermann wartete bereits. Seine Haare glänzten feucht, und auch er trug einen Anzug. »Meine Güte, dir steht das Ding genauso wenig wie mir!«, grunzte er, als er Laura sah.
Statt einer Antwort fragte sie: »Was passiert mit unseren Sachen?«
Ackermann zuckte ratlos mit den Schultern.
»Sollte sich der Verdacht auf hämorrhagisches Fieber bestätigen, werden Sie Ihre Kleidung nicht mehr zurückbekommen. Aber warten wir es erst einmal ab. Ich soll Sie zur Besprechung in die Kommandoeinheit bringen«, sagte Hummel.
Vor dem Zelt wartete bereits ein weiterer Mitarbeiter der ABC-Einheit. Er begleitete sie zu einem Trailer. Laura nutzte die Gelegenheit, sich auf der Autobahn umzusehen. Die Kollegen von Polizei und Feuerwehr hatten immer noch alle Hände voll zu tun, um das Chaos auf der A5 zu beheben. Sie fixierte den Container und dachte an die Menschen, die darin lagen. Waren sie tatsächlich an Ebola gestorben, und hatten sie wirklich die tödliche Seuche nach Deutschland eingeschleppt? Sie war sich der Tragweite dieses Problems nicht bewusst, aber ihr war klar, dass es einer Katastrophe gleichkam.
Ihre Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als laute Stimmen an ihre Ohren drangen. Eine kam ihr sehr vertraut vor, und langsam formten sich die Gesprächsfetzen zu zusammenhängenden Sätzen.
»Ich kann es gern wiederholen. Es ist meine Schuld, ich habe nicht sofort erkannt, dass es sich bei den Leichen um Afrikaner handelt, die vermutlich erkrankt waren. In dem Container war es schließlich dunkel.«
Laura und Ackermann betraten die Einsatzzentrale und fanden die Rechtsmedizinerin in einer heftigen Diskussion mit einem großen Mann.
»Du hättest da nicht reingehen dürfen! Du bist dir doch der Konsequenzen bewusst, oder? Was, wenn du dich infiziert hast?«, rief er aus.
Sein Tonfall war wütend. Und noch etwas schwang in seiner Stimme mit. Aber ehe ihr der Funke der Erkenntnis gekommen war, war er auch schon wieder verflogen.
Laura klopfte laut an den Türrahmen. Ihr war bewusst, dass sie damit den Streit der beiden unterbrach. Aber sie hatte das dringende Bedürfnis, ihre Freundin aus dieser hitzigen Diskussion herauszuholen. Elena drehte sich um. Wenn es einen weiteren Beweis brauchte, dass die Situation ernst zu nehmen war, dann war der Mundschutz, den die Rechtsmedizinerin trug, ein sichtbarer. Über den Rand des weißen Zellstoffes funkelten Elenas dunkle Augen wütend. Aber ihre Wut verebbte, als sie Laura erkannte. Auch sie hatte sich der Dekontamination unterziehen müssen, und der viel zu große Overall raschelte bei jeder Bewegung. Sie sparte es sich, die Polizisten zu begrüßen, und stellte den Mann direkt vor. »Das ist Dr. Sebastian Kevekordes, Leiter des Seuchenschutzes.«
Laura nickte ihm zu und wollte ihm die Hand reichen, doch er musterte sie nur mit argwöhnischem Blick. Seine Wut schien dem Raum den Sauerstoff zu nehmen, und sie atmete tief, ehe sie fragte: »Ist es wirklich ein Fall von Ebola?«
Die ohnehin schon angespannte Miene des Mannes wurde noch eine Spur ernster. »Meine Leute sind gerade dabei, die ersten Proben zu untersuchen.« Mit Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Das vorläufige Ergebnis sollten wir bald haben. Es sind schließlich sehr viele Leichen. Nicht auszudenken, wenn diese Menschen bereits weitere Personen infiziert haben. Angenommen, dass der Schnelltest auch nur bei einer Probe positiv ausfällt, dann haben wir ein ernstzunehmendes Problem.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Laura.
»Im Falle von Ebola oder einem anderen hämorrhagischen Fieber müssen wir die Leichen in situ, das heißt zusammen mit dem Container, von hier wegtransportieren.«
Er fuhr sich nervös durch das Haar, was Laura die Gelegenheit gab, ihn genauer zu betrachten. Er war etwa Ende vierzig, gut aussehend und nicht übel gebaut, mit zerzauster grauer Kurzhaarfrisur und dichten Bartstoppeln, die aus der Maske frech hervorlugten.
»Wie Sie sich sicher vorstellen können«, fuhr er fort, »ist das ungeheuer aufwendig. Außerdem muss ausnahmslos jeder in Quarantäne, der in irgendeiner Form Kontakt zu den Menschen hatte. Wir desinfizieren gerade das ganze Areal, und ein weiteres Team prüft, wer von der Rettungsmannschaft in dem Container war. Hinzu kommt, dass abgeklärt werden muss, wie diese Leute in unser Land gekommen sind und ob sie mit jemandem Kontakt hatten.
»Quarantäne? Wie lange kann das dauern?«, warf Ackermann ein. Er hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten und die Rolle des stummen Beobachters eingenommen. Jetzt fixierte er Kevekordes.
»Im ungünstigsten Fall könnte es bis zu zweiundvierzig Tage dauern! Das Problem ist, dass wir zurzeit noch nicht wissen, mit welchem Erreger wir es zu tun haben.« Er sah die Beamten an. »Wenn sich unser Verdacht bestätigt, brauchen wir eine Blutprobe von Ihnen.«
»Zweiundvierzig Tage!«, rief Laura entsetzt. »Ich habe einen Container voller Leichen. Ich muss einen Massenmord aufklären. Da kann ich nicht sechs Wochen tatenlos zusehen, bis ihr eure Testergebnisse habt. Was, wenn sich herausstellt, dass das Ebola-Virus nicht für den Tod dieser Menschen verantwortlich ist, dann sind die Mörder schon über alle Berge!«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass eventuell der Fahrer gefunden wurde! Ist er vernehmungsfähig?«, fragte Elena, und ihre Stimme klang durch das Vlies des Mundschutzes seltsam gedämpft.
»Wir wissen nicht, wer er ist«, gab Laura zu und sah Kevekordes an. »Falls es sich um den Fahrer handelt, können wir nur hoffen, dass er keinen Kontakt zu den Menschen im Container hatte.«
»Von ihm haben wir auch schon eine Probe genommen. Sind die Blutproben erst einmal im Labor, geht es relativ schnell. In der Regel dauert der Schnelltest dreißig Minuten. Aber meine Leute haben achtundvierzig Leichen gezählt. Es wird ein wenig dauern, bis wir alle Ergebnisse haben.«
»Achtundvierzig!« Kommissarin Laura Braun starrte den Leiter der Seuchenschutzbehörde entsetzt an. »Wirklich achtundvierzig?«
Kevekordes nickte düster, dann griff er nach einer Kladde und las vor: »Vierunddreißig Männer, sieben männliche Jugendliche, fünf Frauen, zwei Kleinkinder!«
»Achtundvierzig! Meine Güte!« Ungläubig schüttelte Laura den Kopf. »Unvorstellbar, dass so viele Menschen in einen Container passen.«
Kevekordes sah von der Kladde auf. »Ich vermute, dass es sich hier um Flüchtlinge handeln könnte. Vielleicht aus der Republik Kongo oder dem Sudan, wir wissen es nicht. Aber beten Sie, dass diese armen Seelen nicht an einem tödlichen Virus gestorben sind, und –«, er machte eine Pause, »dass kein Infizierter unwissentlich in Deutschland herumläuft. Denn sollte dem so sein, dann gnade uns Gott!«
6
Ist das wirklich notwendig?«
Dr. Elena Salonis sah von ihrem Instrumententablett auf. Laura hatte gerade zusammen mit Ackermann und dem Kollegen Christian Sommer den Obduktionssaal betreten. Alle trugen Schutzkleidung der besonderen Art, und Laura kam sich vor wie eine Mumie.
»Ja, auf jeden Fall!« Der Mann war unter dem Kapuzenoverall und dem Mundschutz kaum auszumachen, doch sie erkannte an der Stimme den Leiter der Seuchenschutzbehörde, Sebastian Kevekordes. Elena hatte heute seltene Zuschauer in ihrem Sektionssaal.
Laura warf der Leiche unter dem Tuch einen misstrauischen Blick zu. »Wie sicher bist du dir, dass die Menschen nicht an Ebola gestorben sind?«, fragte die Kommissarin, bemüht, ihre wachsende Nervosität zu ignorieren. Leichenöffnungen waren nicht ihr Ding.
»Die Tests waren bei allen negativ«, antwortete Elena.
Mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung Kevekordes raunte Laura: »Und warum ist dann er da?«
Sie musste seinen Namen nicht aussprechen. Sie sah der Freundin an, dass sie wusste, wer gemeint war. Elena warf ihr einen genervten Blick zu und sparte sich die Antwort.
»Und was ist mit den Blutungen des Toten?«, wechselte Laura das Thema.
»Auch negativ. Petechien sind nur eine Begleiterscheinung. Sie können harmlose Ursachen haben, aber auch Symptome ernsthafter Erkrankungen sein. Vermutlich finden wir die Ursache für seine Blutungsneigung bei der Obduktion.«
»Wie viele Obduktionen wirst du durchführen?«
»Ich hoffe, dass ich möglichst viele schaffe. Nimm dir für heute mal nichts mehr vor.«
Laura stöhnte. Diese ganze Ebola-Sache hatte sowieso schon so viel Zeit gekostet, und da sie als ermittelnde Beamtin bei jeder Obduktion zugegen sein musste, würde sie die nächsten Tage nur mit Leichenöffnungen beschäftigt sein.
Sie starrte den Leichensack auf dem Obduktionstisch an. Alle Leichen wurden mit höchster Vorsicht behandelt, und sie wappnete sich innerlich für die bevorstehende Prozedur. Sie trug den Anzug erst seit ein paar Minuten, und sie spürte jetzt schon, wie sich Schweiß auf ihrem Rücken bildete. Das konnte ein langer Tag werden.
Elena sah in die Runde. »Da wir nun vollzählig sind, können wir ja endlich anfangen.«
Obwohl die Atemmaske Elenas Stimme ebenso verzerrte wie die der anderen Anwesenden, registrierte Laura den gereizten Unterton. Es passte der Freundin nicht, dass ihr Obduktionssaal heute überfüllt war, denn Kevekordes war nicht allein gekommen. Er hatte einen jungen Arzt mitgebracht.
Dimitri, der Sektionsassistent, drängte sich an den Tisch, und Laura musste einen Schritt zurückgehen. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er den Reißverschluss des Spezialsackes, und mit einem Mal war sie dankbar für die Atemmaske. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich die üblen Gerüche in einem Leichensack sammelten und nur darauf warteten, freigelassen zu werden.
Während der Mann entkleidet wurde, beobachtete sie ihre Kollegen. Falk Ackermann, der gespannt jede Bewegung der Rechtsmedizinerin verfolgte. Christian Sommer. Über dem Mundschutz erkannte sie einen mürrischen Blick, der sich zu einem Ausdruck des Widerwillens vertiefte und ihr verriet, dass er im Moment überall lieber wäre als an diesem Ort.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Geschehen auf dem Obduktionstisch. Inzwischen hatte der Sektionsassistent die Kleidung komplett entfernt, und Laura sah zum ersten Mal den toten Körper. Ein junger Mann. Der kaffeebraune Farbton der Haut war jetzt einem schmutzigen Schwarz gewichen, und obwohl der Leib der Leiche durch die Bakterien stark aufgebläht war, ließen sich drahtige Sehnen und eine starke Muskulatur erahnen. Mit stoischem Blick verfolgte sie die äußere Leichenschau.
»Sämtliche Fingernägel sind abgebrochen, teilweise bis zur Nagelwurzel. An zwei Fingerkuppen fehlt die Haut«, sagte Elena und wies Dimitri an, die Hände des Mannes zu fotografieren. Sie inspizierte die Fingerbeeren des Zeigefingers und des Mittelfingers. »Die Wundränder zeigen noch keine Anzeichen eines Heilungsprozesses. Deshalb gehe ich davon aus, dass er sich die Verletzungen beim Versuch, aus dem Container zu entkommen, zugezogen hat.«
Stumm betrachtete Laura die aufgeschürften Hände des Toten und erwischte sich dabei, wie sie ihre eigenen Hände musterte. Eingezwängt in Nitrilhandschuhe fühlten sich ihre Hände seltsam beschützt und lebendig an.
»Es muss schrecklich eng und stickig in diesem Container gewesen sein. Wenn ihr mich fragt, ein grausamer Ort um zu sterben!«, sagte Elena und widmete sich den Verletzungen der anderen Hand. »Habt ihr Spuren an der Tür entdeckt?«
Ackermann übernahm das Antworten: »Ja, die Spurensicherung ist immer noch dabei. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass im gesamten Innenbereich des Containers deutliche Kratzspuren festgestellt wurden.«
Laura nickte, sie hatte die Bilder des Containers deutlich vor Augen, aber jetzt galt es erst einmal zu klären, was die Menschen getötet hatte. Zu ihrer Verwunderung begann die Freundin nun mit der Untersuchung des Kopfes. Diese Prozedur empfand Laura immer als die schlimmste, und sie war dankbar, dass der Anzug das Geräusch der Oszillationssäge dämmte. Sie wandte sich ab und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber alle Instrumente und Geräte im Obduktionssaal erinnerten sie an das, was den Leichen hier angetan wurde. Ihr Blick fiel auf die Waage, und sofort hatte sie das Bild im Kopf, wie Organe gewogen wurden. Sie versuchte, angenehme Bilder heraufzubeschwören, aber in diesem tristen Raum war es ihr unmöglich, nicht an den Tod zu denken. Zu sehr beschäftigte sie die Frage, warum achtundvierzig Tote in dem Container waren. Achtundvierzig Menschen! Achtundvierzig Leben! Sie konnte die Zahl noch so oft wiederholen, sie verlor ihren Schrecken nicht, und der Leichnam vor ihr war nur der Anfang.
»Wie lange wird es dauern, bis du alle Ergebnisse hast?«, fragte Laura.
Das Skalpell der Rechtsmedizinerin durchdrang mühelos die Haut der Brust und stoppte erst, als es das Schambein des Mannes erreichte. Elena sah die Polizistin nicht an, als sie antwortete: »Dr. Werner wird heute Nachmittag parallel arbeiten. Außerdem erwarten wir einen Kollegen aus Freiburg. Er wird morgen zu uns stoßen, um uns zu unterstützen.«
»Dann wirst du die ganze Woche mit den Opfern beschäftigt sein?«
»Ja«, antwortete Elena knapp und begann, mithilfe einer Zange die Rippen zu durchtrennen. Ein scheußliches Geräusch, das Laura durch Mark und Bein ging und ihr verdeutlichte, wie einfach es war, einen menschlichen Knochen zu durchschneiden. Sie schloss die Augen für einen Augenblick, und als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie ihre Freundin, ohne zu zögern, in die Brusthöhle der Leiche griff und mit souveränen Bewegungen des Skalpells die Lunge herauslöste.
»Oh Mann, mir bleibt heute aber nichts erspart!«
Sie wandte den Blick ab. Auch wenn sie häufig Gast in Elenas Obduktionssaal gewesen war – diese Prozedur erschreckte sie immer aufs Neue.
Sie musterte Kevekordes. Ihr fiel es schwer, nachzuvollziehen, wieso der Leiter des Seuchenschutzes bei der Leichenöffnung unbedingt dabei sein wollte. Normalerweise interessierten sich die Behörden nur für die Ergebnisse. Die hätte er jedoch auch per Mail haben können. Dieser Mann war aufdringlich und behinderte die Rechtsmedizinerin unentwegt. Gerade unterbrach er sie erneut. Elenas Stimme war gereizt, als sie antwortete: »Das wird das Labor herausfinden. Ich werde mich keinesfalls zu vorschnellen Ergebnissen verleiten lassen!«
Für Laura war klar, dass Kevekordes diese Wirkung auf Elena hatte. Die Spannung zwischen den beiden Medizinern war fast greifbar. Sie konnte ihre Freundin verstehen. Sein Team störte und verzögerte die Abläufe. Elena war es nicht gewohnt, Anweisungen zu folgen. Sie allein herrschte in ihrem Reich der Toten. Befände Laura sich an Elenas Stelle, wäre sie vermutlich auch wütend.
Sie sah, wie die Freundin ihre Arbeit wieder aufnahm. Mit stoischem Blick ließ sie Proben in einen Behälter fallen und reichte ihn Dimitri zur Beschriftung. Jeder hier im Saal konnte sehen, dass sie Kevekordes auswich. Elenas Reserviertheit erinnerte Laura an die unnahbare und überkorrekte Rechtsmedizinerin, die sie Anfang des Jahres kennengelernt hatte. Nicht an die Freundin, mit der sie letzten Monat eine Radtour gemacht hatte. Dieser Ausflug hatte ihnen beiden fast das Leben gekostet. Es war eine Tour, die die echte Elena gezeigt hatte. Eine Frau mit normalen Gefühlen und Ängsten. Als die Rechtsmedizinerin gestern am Unfallort eingetroffen war, hatte Laura gleich bemerkt, dass ihre Freundin immer noch leicht hinkte und ihr ohnehin schmales Gesicht erschreckend hohlwangig wirkte. Und obwohl Elena mit gewohnter Professionalität den Tatort betreten hatte, war Laura das Zögern der Rechtsmedizinerin aufgefallen, als sie die Leichen erblickt hatte. War es das, was ihre Freundin beschäftigte?
»Laura, hörst du mir eigentlich zu?«
Laura riss sich zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihre Gedanken abgeschweift waren. Offensichtlich war sie doch müder, als sie gedacht hatte.
»Entschuldigung. Ich habe nur nachgedacht.«
»Ich fragte, ob du mal fühlen möchtest?«, sagte Elena und fuchtelte mit der Hand vor Lauras Nase herum.
Laura starrte auf ein blutiges Stück Fleisch, welches feucht glänzend im Handschuh der Rechtsmedizinerin lag. Es war kaum größer als Elenas Handfläche, hatte eine glatte Außenhülle und unterschied sich nur in geringem Maße von dem blutbeschmierten Latexhandschuh. Laura hätte beim besten Willen nicht sagen können, um welches Organ es sich handelte, und fragte sich gerade, was Elena von ihr wollte. Ob sie es wagen konnte, der Frau zu gestehen, dass sie nicht wusste, was sie ihr vor die Nase hielt?
Doch diese Entscheidung musste sie nicht treffen, denn Elena sagte: »Steine! Dieser Magen ist voller Steine!«
»Wieso?«
»Ich zeige es euch.«
Ohne ein weiteres Wort trug Elena das Organ zu einem Tisch. Mit einem Skalpell schnitt sie tief in die Magenwand, und klirrend fiel der Inhalt des Magens in die Metallschüssel. Alle starrten auf die Schale. Laura konnte die Kieselsteine nicht einordnen. Keiner glich dem anderen, weder in der Farbe noch in der Form oder der Größe.
Sommer machte seiner Verwunderung zuerst Luft: »Das sind ja wirklich Steine! Ich dachte, Sie sprechen von Diamanten.« Er schüttelte den Kopf. »Der Typ ist doch verrückt!«
»Nein. Wäre das hier eine Leiche aus einem reichen Industrieland, dann hätte ich Ihnen vielleicht zugestimmt. Aber wie man hier sehen kann, befindet sich außer den Steinen nichts im Magen«.
Um ihre Aussage zu unterstreichen, schob Elena die Kiesel mit einer Pinzette auseinander. »Viele Menschen in Afrika praktizieren das Steine-Essen. Aus Hunger, Durst oder Mineralstoffmangel. So, wie es aussieht, hat dieser Mann schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Ich kann hier keine Reste von Nahrung erkennen.«
»Das ist doch sicherlich gefährlich?«, erwiderte Laura. Die Vorstellung, dass jemand freiwillig Steine essen würde, war ihr zuwider. Aber wenn ihr als Polizistin eines im Dienst klar geworden war, dann, dass Menschen zu allem fähig waren.
Elena nickte. »Ja, je nach Größe, Beschaffenheit oder Menge des aufgenommenen Gesteins kann es zu einem Darmverschluss oder Darmverletzungen kommen.«
»Meine Güte, da muss die Verzweiflung schon extrem sein, wenn jemand Steine isst!«, sagte Ackermann kopfschüttelnd.
»Das passt zum Allgemeinzustand dieses Mannes. Er ist unterernährt, und die Organe zeigen Anzeichen von jahrelanger Mangelernährung. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was ihn getötet hat. Er ist nicht verhungert, und einen Darmverschluss kann ich ebensowenig erkennen.«
Sie suchte Kevekordes Blick: »Ich werde Proben für eine toxikologische Untersuchung entnehmen, damit wir Gift ebenso ausschließen können. Ich würde die Leichenschau nun abschließen. Brauchst du noch etwas?«
Kevekordes kontrollierte seine Probenröhrchen. »Wir haben alles. Wie lautet deine Vermutung bezüglich der Todesursache?«
Die Rechtsmedizinerin sah in die Runde. »Tod durch äußerliche Gewalteinwirkung ist nicht festzustellen. Warten wir auf die Ergebnisse aus dem Labor. Die CO2-Konzentration im Blut wird uns verraten, ob es sich hier um ein hypoxisches Ersticken handelt.«
Laura verzog das Gesicht. »Kannst du das bitte so erklären, dass es die Nichtmediziner hier auch verstehen?«
»Hypoxisches Ersticken? Ganz einfach.« sagte Elena. »Hierbei handelt es sich um Ersticken infolge eines Sauerstoffmangels in der Atemluft.«
Als Laura nichts erwiderte, fügte Elena hinzu: »Machen wir ihn zu und schauen wir uns die nächste Leiche an. Vielleicht erfahren wir mehr.«
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf einen anderen Obduktionstisch in dem Raum. Dimitri, der Sektionsassistent, hatte die Leichenöffnung schon vorbereitet, sodass alle Anwesenden nur zum benachbarten Tisch gehen mussten.
»Das wird ein Obduktionsmarathon«, dachte Laura. Eigentlich hatte sie jetzt schon keine Lust mehr. Eine Leichenöffnung pro Tag war mehr, als sie verkraften konnte. Außerdem hatte sie noch jede Menge Papierkram zu erledigen und mit ihren Ermittlungen zu dem Fall kaum angefangen. Aber siebenundvierzig weitere Tote aus dem Container warteten darauf, dass Elena ihnen ihre Geheimnisse entlocken würde.
»Wie geht es eigentlich dem Verletzten? Habt ihr bereits feststellen können, ob er aus dem gleichen LKW kam, und ist er aus dem Koma erwacht?«, fragte die Rechtsmedizinerin, während sie nach neuen Latexhandschuhen griff.
Laura schüttelte den Kopf. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass es sich bei ihm um den Fahrer handelt. Leider ist er noch nicht aufgewacht, sodass er uns noch nichts erzählen konnte. Aber die Ärzte haben versprochen, sich sofort zu melden, falls es Neuigkeiten gibt!«
»Das kann Tage dauern, vielleicht sogar Wochen. Bei seinen Verletzungen können wir froh sein, wenn er überhaupt wieder aufwacht!«, erwiderte Elena und öffnete den Leichensack.
»Mal mir den Teufel nicht an die Wand! Wir brauchen seine Aussage.«
Laura wollte noch hinzufügen, dass es an ein Wunder grenze, dass der Mann trotz seiner Verletzungen das Fahrzeug hatte verlassen können, aber da wurde sie auch schon vom Anblick des Toten abgelenkt. Sie schluckte schwer. Es war nicht ihr erster Tag in einem Autopsiesaal, und trotzdem verschlug es ihr fast jedes Mal die Sprache, wenn der Reißverschluss geöffnet wurde. Es war wie der Auftakt zu einer neuen Tragödie.
7
Was ist denn mit dem passiert?«, rief Kommissar Christian Sommer und trat näher an den Sektionstisch heran.
Diese Frage stellte sich Elena auch und starrte auf das entstellte Gesicht, welches sie aus dem kleinen Ausschnitt in der schwarzen Folie anstarrte. Quälend langsam öffnete sich der Reißverschluss des Leichensacks und gab den Blick auf dessen Inhalt frei.
Ihr Nacken schmerzte, und ihre Füße fühlten sich schwer an, aber im Vergleich zu der Leiche auf dem Tisch ging es ihr wirklich blendend.
Stell dich nicht so an, sagte sie zu sich selbst und befreite mit Dimitris Hilfe den Toten vom Leichensack. Auch ohne medizinische Ausbildung waren die verdrehten Gliedmaßen der Leiche und die Vielzahl von Narben deutlich zu erkennen.
Ackermann ließ geräuschvoll die Luft entweichen. »Meine Güte, kommt das durch den Unfall?«
Elena schüttelte langsam den Kopf und sah kurz zu Kevekordes. Stumm und mit stoischem Ausdruck in den Augen musterte er den toten Körper.
»Sieht aus, als handelt es sich hier um ältere Traumata«, sagte sie und betrachtete die Brandnarbe, welche sich von der linken Wange bis zum Hals zog und irgendwo im Brustbereich endete. Doch ein Blick in Falks Ackermanns Gesicht sagte ihr, dass ihn nicht die Brandwunde so schockiert hatte. Entsetzt fixierte der Kommissar die Hände des Mannes, und Elena begriff. Die unnatürlich gekrümmten Finger, die in eigentümlicher Weise abstanden wie dünne, knorrige Zweige an einem trockenen Ast, hatten ihn so geschockt. An zwei Fingern war das letzte Glied regelrecht abgeknickt.
Behutsam befühlte sie mit Daumen und Zeigefinger die einzelnen Glieder. »Ich kann deutlich die Kallusbildung spüren. Das sind alte Frakturen.«
»Aber das ist ein junger Mann. Ich schätze ihn nicht älter als zwanzig«, warf Laura ein.
So alt hätte ihn Elena auch geschätzt, und sie verstand den Einwand der Freundin. »Ich wollte nur sagen, dass diese Knochenbrüche schon einige Monate, wenn nicht sogar Jahre alt sind.«
»Wie kann so etwas passieren?«, fragte Laura.
Elena nahm noch einmal die Hand in Augenschein. »Bei meiner Arbeit im Kongo habe ich ähnliche Verletzungen gesehen. Man berichtete uns von barbarischen Folterungen. Und für mich sieht das hier ebenfalls nach Foltermerkmalen aus. Die Finger und die Gelenke wurden willkürlich gebrochen. Mit einem harten Gegenstand, vielleicht einem Hammer oder einer schweren Eisenstange.
Sie lief zum Röntgenfilmbetrachter, wo Dimitri bereits die von ihm angefertigten Röntgenbilder aufgehängt hatte. Sie deutete auf die Knochen der Hand. Selbst für einen Laien war deutlich zu erkennen, dass kleine helle Knochensplitter im Gewebe steckten und ein wildes Muster bildeten. Es war wie bei einem Puzzle, bei dem die Teile einfach nicht zusammenpassen wollten.
»Wie ihr hier sehen könnt, sind die zertrümmerten Knochen falsch oder gar nicht zusammengewachsen.«
Laura Stimme klang entsetzt, als sie fragte: »Bist du dir sicher, was die Ursache betrifft?«
»Ich denke schon. Das ist nicht das erste Mal, dass ich es mit einem Folteropfer zu tun habe. In Afrika kommen Misshandlungen recht häufig vor, und auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel werden jährlich tausende afrikanische Migranten zu Tode gequält!«
Betretenes Schweigen machte sich breit, und die Gesichter der Ermittler über der Maske wirkten geschockt.
»Ein Beduinen-Clan hat damit eine erfolgreiche Einnahmequelle gefunden.«
Christian Sommer räusperte sich. »Einnahmequelle?«
Sie nickte. »Flüchtlinge aus Eritrea oder aus dem Sudan werden von Menschenhändlern aufgegriffen und über Ägypten in die Wüste des Sinais verschleppt. Hier wurden regelrechte Foltercamps eingerichtet, um von den Angehörigen hohe Summen zu erpressen.«
»Aber die Menschen in Afrika sind doch bettelarm, was will man von diesen Familien erpressen?«, schnaubte Sommer.
»Das ist es doch gerade. Diese Menschen fliehen vor Krieg, Hungersnot oder Diktatur. Oftmals verkauft die Familie Hab und Gut, um dem ältesten Sohn die Reise in ein europäisches Land zu ermöglichen. In der Hoffnung, dass er regelmäßig Geld nach Hause schickt. Wenn dann er oder sie in die Fänge der Menschenhändler gerät, muss sich die Familie hoch verschulden, um das Familienmitglied freizukaufen. Oftmals schaffen es die Angehörigen nicht, das Lösegeld rechtzeitig aufzubringen, und die Gekidnappten sterben an ihren Verletzungen.«
Elena lief zurück an den Obduktionstisch. »Dieser Mann hier hat einiges an Qualen und Misshandlungen erleiden müssen.«
Mit ihrem behandschuhten Finger deutete sie auf die Beine, wo die ehemals dunkle Haut jetzt schmutzig rosafarbigem, zerknittertem Pergament glich. Dicke narbige Wülste zogen sich über die Oberschenkel und verebbten in der Schienbeingegend. »Das sind die Spuren von Verbrennungen dritten Grades. Oft verursacht durch heißes Öl. Die Peiniger lassen sich einiges einfallen und kennen keine Gnade!«
»Stimmt!«, fügte Dr. Kevekordes hinzu, und seine Augen funkelten wütend hinter der Schutzbrille. »Wenn man die Kinder aus dem Clan nach ihrem Berufswunsch fragt, dann antworten diese: Afrikaner foltern. Selbst die Jüngsten haben keine Achtung vor dem Leben anderer!«
»Meine Güte!«, entfuhr es Laura, »das sind ja Bestien!«
Als Elena einige Stunden später das Halbdunkel ihres Apartments betrat, fühlte sie sich erschöpft bis ins Mark. Ihre Beine hatten sich irgendwann vor Feierabend in Blei verwandelt. Sie ließ die Tür mit einem tiefen Seufzer ins Schloss fallen und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Ihre Wohnung war mehr als nur ein Zuhause. Es war ein Zufluchtsort. Mit dem Schließen der Haustür sperrte sie einen Tag voller schrecklicher Schicksale aus. Heute war so ein Tag. Fünf Obduktionen im Zwei-Stunden-Takt.
Und dann noch Sebastian. Seine Anwesenheit war schwer zu ignorieren gewesen. Schon bald hatte sie es bereut, ihn angerufen zu haben. Immer wieder hatte er ihr dazwischengefunkt. Hatte die Organe auf Läsionen oder infektionsbedingte Nekrosen untersucht und separate Proben genommen.
Sebastian Kevekordes gab ihr das Gefühl, eine Anfängerin zu sein, deren Urteil er nicht traute. Sie konnte ja verstehen, dass er als Leiter der Seuchenschutzbehörde eine große Verantwortung trug. Und als erfahrene Medizinerin war ihr ebenfalls klar, dass insbesondere Geflüchtete des afrikanischen Kontinents Krankheiten in sich tragen konnten, die für Europäer gefährlich werden konnten. Infektionskrankheiten, die in Europa schon lange als ausgerottet galten, und Erkrankungen, gegen die Europäer keine Antikörper hatten, weil sie mit den Erregern nie in Kontakt gekommen waren. Eine Epidemie von Lassafieber oder Ähnlichem könnte mit Sicherheit zur Katastrophe werden.
Aber sie war schließlich die Rechtsmedizinerin. Es war ihr Sektionssaal, und es ärgerte sie, dass er ständig ihre Autorität untergrub. Verdammt, warum hatte ihr Vorgesetzter eingewilligt, ihn beiwohnen zu lassen? Sie hätte die Sektionen auch ohne Kevekordes geschafft. Vermutlich sogar um einiges besser.
Wütend auf die ganze Situation warf sie den Haustürschlüssel auf die Konsole im Flur. Die Anzeige ihres Anrufbeantworters blinkte hektisch. Sie ignorierte das Signal. Ihr Nacken war verspannt, und ihre Knöchel schmerzten vom langen Stehen. Ihr ganzer Körper sehnte sich nach einem heißen Tee und einem Bad.
Der dicke Teppich im Flur schluckte ihre Schritte und führte direkt zu den farblich abgestimmten Schieferfliesen, die einen wunderbaren Kontrast zu der weißen Hochglanzküche bildeten, dessen wohl eindrucksvollster Blickfang die Granitkücheninsel war. Manchem mochte die moderne, glänzende Küche zu steril erscheinen, und vielleicht war sie für einen Singlehaushalt etwas zu groß. Doch beim Einzug in die Eigentumswohnung war ihr Status ein anderer gewesen. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal allein an der Kücheninsel würde frühstücken müssen.
Sie ließ frisches Wasser in den Wasserkocher ein, holte einen Porzellanbecher aus dem Schrank und löffelte Teeblätter in ein Sieb. Sie musterte den Inhalt der Teedose und befand, dass sie dringend einkaufen musste. Aber dafür fehlte ihr in den letzten Tagen einfach die Zeit.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer fiel ihr Blick wieder auf den Anrufbeantworter. »Jetzt nicht!«, rief sie dem Apparat entgegen und verspürte einen Anflug von Stolz, dass sie die neuen Nachrichten vernachlässigen konnte. Sie warf ihre Kleidung aufs Bett und lief nackt zurück in die Küche, um den Tee aufzugießen. Mit der Tasse in der Hand schlurfte sie ins Badezimmer. Sie liebte diesen Raum, und wenige Minuten später ließ sie sich ins heiße Badewasser gleiten. Ihre Muskeln entspannten sich, und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.
Das fortwährende Ping, Ping von tropfendem Wasser drang in Elenas Bewusstsein. Kalt, war ihr erster Gedanke, als sie fröstelnd erwachte. Ihre Glieder fühlten sich steif an. Langsam öffnete sie die Augen, und die Dunkelheit, die sie umgab, raubte ihr fast den Atem. Wo war sie?
Panik überkam Elena, und sie keuchte. Ihr Puls raste, und in ihren Ohren hörte sie das Rauschen ihres eigenen Blutes. Sie war eingeschlossen! Im Bergwerk? Oder im Container?
Sie wedelte erschrocken mit den Armen, was zur Folge hatte, dass sie sich einen Schwall Wasser ins Gesicht spritzte. Ihr Keuchen ging in einen Schrei über, der von den Fliesen hallte. Ihre Hände fanden plötzlich den Rand ihrer Badewanne, und sie stemmte sich hoch. Fast wäre sie ausgerutscht und über den glatten Rand gestürzt. Sie hielt inne, und allmählich nahm sie die vertrauten Gerüche ihres Badezimmers wahr. Die dunklen Schatten verwandelten sich in die Silhouetten der Möbel.
Ich bin in meinem Badezimmer! In meiner Wohnung. In Sicherheit! Ein kehliger Laut entfuhr ihr und endete in einem hysterischen Lachen. Entsetzt über ihr Verhalten, rang sie um Selbstbeherrschung. Beruhige dich!, ermahnte sie sich und spürte, wie das Flattern ihrer Nerven allmählich nachließ. Doch das Déjà-vu hallte in ihr nach, und sie brauchte einen Moment, um zu verdauen, dass sie weder in einem eingestürzten Bergwerk noch in einem Container voller Leichen gefangen war, sondern in ihrer Badewanne lag.
Sie stieg aus der Wanne und fand den Lichtschalter. Als sie nach ihrem Bademantel griff, streifte ihr Blick ihr eigenes Spiegelbild. Überrascht hielt sie inne und betrachtete die fremde Frau. Wann hatte sie sich in dieses Schreckgespenst verwandelt? Die schwarzen Haare klebten feucht und strähnig an ihrer Stirn und hatten seinen natürlichen Glanz verloren. Aber mit der richtigen Pflege wäre das Problem schnell behoben.
Sie unterschied sich in keiner Weise von anderen Frauen und war mit ihrem Aussehen genauso unzufrieden, aber heute konnte sie ihrem Spiegelbild so rein gar nichts Positives abgewinnen. Wenn sie etwas an sich mochte, dann ihre feinen Gesichtszüge. Im Licht des Badezimmers wirkten sie eher knochig und ließen ihre Nase stärker hervortreten. Ebenso wie ihre Schultern. Sie war ein Schatten ihrer Selbst geworden. Bleich, ausgezehrt, gehetzter Blick, lautete ihre Selbstdiagnose.
Sie wandte sich ab und rubbelte sich trocken. In der Hoffnung, das beklemmende Gefühl loszuwerden, welches sie gepackt hatte, seit sie aus dem albtraumartigen Schlaf erwacht war.
Fröstelnd schlüpfte sie in ihren Schlafanzug und zog dicke Socken aus der Schublade. Auf dem Weg zum Wohnzimmer hatte sie ein Einsehen mit dem Anrufbeantworter und hörte die Nachrichten ab. Zwei davon waren von Falk, der um Rückruf bat, aber mit ihm wollte sie sich im Moment nicht befassen.
Mit einem Seufzer ließ sie sich auf die Ledercouch fallen und sah sich um. Der antike Holzschrank, die dicken Teppiche über dem Parkett, selbst die gerahmten Fotos auf der Kommode. Alles schien unverändert. Trotzdem kam ihr der Raum seltsam fremd vor.
Wann hatte sie sich das letzte Mal so rundherum wohl gefühlt?
Sie griff nach einer Zeitschrift und blätterte darin. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte und die gedruckten Worte keinen Sinn ergaben.
Sie seufzte und warf die Zeitschrift auf den Tisch. Dann schnappte sie sich die Fernbedienung und begann, sich durch die einzelnen Kanäle zu zappen. Halbherzig blieb sie an einer Talkrunde hängen.
8
Das kroatische Nummernschild war gestohlen, und der Name der italienischen Firma auf dem Container existiert nicht!«, sagte Armin Elszer. »Die Fahrgestellnummer wurde auch überschrieben. Das hat jemand ganz clever eingefädelt. Dadurch, dass alle Spuren in Europa verteilt wurden, können wir den Halter nicht ermitteln. Wir haben das ganze Wrack auf links gedreht.«
Er klopfte mit dem Zeigefinger auf eine Kladde, die vor ihm auf dem Tisch lag und die bisherigen Ermittlungsunterlagen enthielt.
»Außer einigen persönlichen Gegenständen haben wir von den Opfern nichts gefunden. Keine Ausweise, keine Papiere. Keine Handys. Nichts. Allerdings –«, Elszer machte eine bedeutungsvolle Pause und sah in die Runde. »Allerdings«, wiederholte er, »haben die Hundeführer das Gelände an der Unfallstelle abgesucht und tatsächlich einen Führerschein gefunden, dessen Fingerabdrücke mit denen aus unserem LKW identisch sind.«
Der Kriminaltechniker schlug die Kladde auf und reichte Laura eine Kopie. »Ist das der Kerl, den du gefunden hast?«
Laura musterte die Großaufnahme. Der Mann auf dem Foto war deutlich jünger als der, den sie auf dem Hügel gefunden hatte. Und doch durchfuhr sie der Funke des Wiedererkennens, als sie nach Ähnlichkeiten zwischen den beiden suchte. Eng zusammenliegende Augen, die ihr unverwandt entgegenstarrten. Darüber buschige Brauen und eine hohe Stirn mit einer groben Narbe unterhalb des Haaransatzes. Dazu eine gerade Nase und ein Mund mit vollen Lippen, den man fast schon als arrogant beschreiben konnte, wäre da nicht das Grübchen, das den Anblick des Mannes freundlicher wirken ließ. Sie dachte an den Verletzten, an das viele Blut und war sich trotzdem plötzlich sehr sicher, dass sie sein Foto in den Händen hielt. »Ja, das ist er, ich erkenne die Narbe!«
»Gut, dann hätten wir das auch geklärt«, sagte Elszer. »Passt übrigens zu dem Namen auf dem Fahrtenschreiber. Habe ich erwähnt, dass er Juri Ivanow heißt und 1973 in Duschanbe, Tadschikistan geboren wurde?«
Laura reichte die Aufnahme an Ackermann weiter. »Wir sollten dennoch das Foto mit dem Verletzten im Krankenhaus vergleichen. Kannst du dich darum kümmern?«
Falk Ackermann musterte das Foto, und Laura vermutete, dass auch er den Verletzten auf dem Foto erkannte. Wie zur Bestätigung nickte er und sagte: »Das könnte er sein. Schauen wir mal, wer da im Krankenhaus liegt.«
Laura sah zu, wie er das Foto mit seinem Handy abfotografierte, und fügte hinzu: »Die Rettungskräfte konnten sich nicht erinnern, dass ihn jemand aus dem Führerhaus geborgen hatte. Aber bei dem ganzen Durcheinander … Es waren unzählige Retter im Einsatz. Sollte der Mann im Klinikum nicht unser Gesuchter sein, werden wir das Foto an alle umliegenden Krankenhäuser faxen. Vielleicht ist er ja in einer anderen Klinik gelandet.«
Falk tippte auf seinem Handy herum, gab das Foto an Armin Elszer zurück und sagte: »Die Kollegen sind informiert und organisieren jemanden, der ins Krankenhaus fährt. Was ist eigentlich mit den Fahrzeugpapieren?«
»Hast du mir nicht zugehört? Wir haben keine Papiere gefunden. Wenn der Mann auf dem Führerschein der Fahrer ist, dann muss er die Papiere bei sich haben, oder er hat sie so versteckt, dass wir sie nicht finden konnten. Eine andere Möglichkeit wäre, dass es einen Beifahrer gab, der alles mitgenommen hat.«
»Gibt es Hinweise auf einen Beifahrer?«, brummte Falk.
»Nichts, was uns weiterbringen würde. Im Führerhaus wimmelt es nur so von Spuren wie Fingerabdrücke, Haare und Hautpartikel von mindestens zwei Personen, aber das System hat dazu keine Namen ausgespuckt. Diverse Vignetten lassen uns vermuten, dass der Transporter in Spanien und Frankreich unterwegs war.«
Laura horchte auf. »Na, das ist doch mal was und passt zu der Theorie, dass es sich um Menschen aus Afrika handelt. Man hört doch immer, dass Boote in Spanien an Land gehen. Sonst noch etwas?«
»Im Fahrerhaus gab es leere Flaschen, Essensreste, Kleidung und eine Zeitung in spanischer Sprache. Das übliche. Wir sind auf jeden Fall dran.«
»Gibt es von der Zeitung Aufnahmen?«
Elszer brachte ein müdes Lächeln zustande. »Selbstverständlich.« Er schob ihr ein Foto über den Tisch. »Die Zeitung ist erst ein paar Tage alt und könnte in Spanien gekauft worden sein.«
Sie sah den Kriminaltechniker an. »Können wir herausfinden, wo das Fahrzeug in Spanien gestartet ist?«
»Wir sind schon dabei.« Er las von seinen Notizen ab: »Was die Zeitung betrifft, so ist diese die zweitgrößte spanische Tageszeitung, mit Redaktionssitz in Madrid. Bei der Zeitung aus dem Führerhaus handelt es sich um eine regionale Ausgabe aus Sevilla in Andalusien. Ich würde mal behaupten, die Zeitung hat eine lange Fahrt hinter sich, bevor sie in Deutschland gelandet ist. Von uns aus gesehen sind es mehr als 2000 Kilometer bis nach Sevilla. Unter Berücksichtigung der Entfernung und der Straßenverhältnisse sowie der vielen Staus war der Lastwagen mindestens zwei Tage unterwegs.«
»Sevilla«, sagte Laura und zückte ihr Mobiltelefon. Sie startete den Routenplaner. »Laut Navi sind das gerade mal zweiundzwanzig Stunden.«
»Wenn es gut läuft und man ohne Unterbrechung durchfährt. Aber auf der Strecke gibt es Mautstellen, Tunnel und jede Menge Baustellen. Um bei einer Kontrolle nicht negativ aufzufallen, muss ein Brummifahrer die sogenannten Lenkzeiten einhalten. Das heißt maximal neun Stunden hinter dem Steuer, und dann ist erst einmal Pause angesagt«, antwortete Elszer.
»Was wiederum vermuten lässt, dass es einen Beifahrer gegeben hat. Zwei Fahrer könnten sich auf der Strecke abgewechselt haben«, murmelte Falk Ackermann und sah in die Runde. Niemand widersprach.
»Was ist mit dem Klebeband, das man am Container gefunden hat?«, warf Sommer ein.
»Hier handelt es sich um ein extrem haftendes Klebeband eines Schweizer Herstellers. Es wird normalerweise zum Verkleben im Dachausbau verwendet. Aber bevor einer von euch auf die Idee kommt, dass dies ein besonderer Hinweis wäre …« Er schüttelte mit dem Kopf. »Es ist in jedem Baumarkt erhältlich. Heutzutage bekommt man sowieso alles, notfalls im Internet. Fingerabdrücke gab es auch nicht mehr. Das Klebeband war so stark verwittert, dass es uns nichts mehr zu erzählen vermochte, außer dass es schon vor Monaten angebracht worden war.
Laura gähnte hörbar, und die Gesichter der Kollegen sagten ihr, dass sie nicht die Einzige war, die mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte. Der Fall raubte ihr bereits den Schlaf. Immer wieder hatte sie sich gefragt, warum jemand Leichen über eine stark befahrene Autobahn transportierte und sie nicht schon längst entsorgt hatte.
Sie rieb sich den verspannten Nacken. Für ihren Geschmack hatte man die Besprechung des Falls viel zu früh angesetzt. Die Uhr zeigte gerade mal kurz nach acht. Sie wünschte, jemand würde ein Fenster öffnen, denn die abgestandene Luft in dem Besprechungsraum wirkte auf sie wie ein Schlafgas. Um nicht einzunicken, griff sie zur Kanne auf dem Tisch und schenkte sich Kaffee nach. Vielleicht würde Koffein ihrem müden Gehirn auf die Sprünge helfen.
Laura bog den Rücken durch und sagte: »Das sind ja unschöne Aussichten. Bisher wissen wir nur, dass das Fahrzeug in Spanien und Frankreich unterwegs war. Das ist, ehrlich gesagt, nicht gerade viel. Nichts, womit wir etwas anfangen können. Ich kann nicht verstehen, warum jemand achtundvierzig Menschen in einem Container durch Deutschland schippert.«
Ackermann meldete sich: »Einen Menschenschmugglerring können wir ausschließen, denn die lassen erfahrungsgemäß die Flüchtlinge nicht absichtlich ersticken.«
»Wer sagt, dass es Absicht war? Ein Unfall wäre auch denkbar. Vielleicht sind die Menschen ja versehentlich erstickt, und man hat den Container im Nachgang zugeklebt, damit niemand den Leichengeruch riecht. Wie soll man fast fünfzig tote Flüchtlinge, die man eigentlich retten wollte, erklären?«, warf Sommer ein.
»Aber Armin hat doch gerade erzählt, dass das Band starke Verwitterungsspuren zeigt«, sagte Ackermann und sah Sommer an. »Folglich hat deine Hypothese einen Haken. Die Luftschlitze waren bereits zugeklebt, bevor die Menschen in den Container stiegen. Wir reden hier von Tötungsabsicht, ohne Zweifel.«
Doch auch an dieser Theorie gab es Elemente, die nicht zusammenpassten. Laura konnte sich nicht vorstellen, dass der LKW unbemerkt durch halb Europa fahren konnte.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe den Verdacht, dass die Menschen irgendwo in Deutschland eingestiegen sind. Auf Autobahnen gibt es Mautstellen für Tunnel und Zollkontrollen. Ich meine zu wissen, dass LKWs neuerdings elektronisch ins Mautsystem eingebucht werden. Ist da der Fahrzeughalter ermittelbar?«
Armin Elszer rutschte auf dem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Nö, es gibt die Möglichkeit, sich auch manuell über eine App oder via Internet einzubuchen. Das wird von den Speditionen genutzt, die eher selten ins Ausland fahren, und dann gibt es ja noch die ganz Cleveren, die die Autobahnen umfahren. Ich denke, Ivanow hat diese Variante gewählt. Dauert etwas länger, ist dafür unauffälliger.«
»Aber der Container wurde doch auf einer Autobahn gefunden«, hakte Laura nach.
»Das ist auch kein besonderer Hinweis.« Er seufzte. »Hier kommt uns der Datenschutz in die Quere, denn die für die Gebührenabrechnung erhobenen Daten werden anonymisiert. Er kann durchaus Maut bezahlt haben, ohne dass wir das verwerten können.«
Laura verzog das Gesicht. Eine Geste, die den anwesenden Ermittlern offensichtlich aus dem Herzen sprach. »Irgendwie kommen wir so nicht weiter. Wieso fährt jemand mit solch einer Fracht quer durch Deutschland, und wo sollte die Fahrt enden? Wieso gibt es keine Handys oder Ausweise oder sonstige Papiere? Das ist ja echt zum Verrücktwerden.«
»Wenn ich einen ganzen Container voll Menschen anonymisieren wollte, würde ich ihnen auch alle persönlichen Gegenstände abnehmen und bei der ersten Gelegenheit entsorgen. Vielleicht sogar verbrennen. Ständig hören wir davon, dass Leute ohne Papiere einreisen. Das stellt offensichtlich kein Problem dar, also sollten wir uns hier nicht lange aufhalten. Ich bleibe immer noch dabei, dass die Menschen vorsätzlich getötet wurden.« Er sah zu Elena.
Die Rechtsmedizinerin hatte sich bisher nicht zu Wort gemeldet. Jetzt waren nicht nur Falks Blicke auf sie gerichtet, und sie schien erleichtert, sich einbringen zu können, um ihn nicht direkt ansehen zu müssen. »Meine Kollegen und ich haben gestern Abend die letzten Obduktionen abgeschlossen. Es gibt keine offensichtliche Todesursache durch Gewalteinwirkung oder Ähnliches. Gift konnten wir ausschließen. Ebenso meinen anfänglichen Verdacht, dass sie an einer Infektionskrankheit gestorben sein könnten. Zum Zeitpunkt der Auffindung waren einige Leichen bereits stark verwest. Andere wiederum zeigten weniger Verwesungsmerkmale. Das heißt, sie sind erst später gestorben. Das war für uns wiederum ein Vorteil, da wir in ihrem Blut einen CO2-Anstieg nachweisen konnten, was die Theorie des hypoxischen Erstickens bestätigt.«
»Also gehst du von Mord aus?«, fragte Falk und musterte Elena.
»Ich kann nur die medizinischen Fakten liefern. Alles weitere überlasse ich euch.«
Letzteres unterstrich Elena mit Nachdruck, sodass Laura das Gefühl hatte, in das Gespräch einsteigen zu müssen. »Was würdet ihr machen, wenn ihr einen Anhänger voller toter Menschen hättet?« Sie sah die Kollegen an. »Kommt schon, lasst uns einfach mal ein paar Gedanken auf den Tisch werfen. Gehen wir davon aus, dass jemand die armen Menschen getötet hat. Aber warum? Wieso der Aufwand?«
Niemand sprach ein Wort, und selbst Laura fehlten die Ideen. »Was ist los, Leute?«, sagte sie schließlich. Doch im Raum herrschte nur Schweigen.
Armin Elszer zögerte, dann sagte er: »Seit einigen Monaten gibt es wieder eine neue Leichenwelten-Dauerausstellung in der Alten Mühle in Heidelberg. Ich war mit meiner Frau letztes Wochenende dort. Das war sehr beeindruckend. Ich denke, diese Leute könnten mit den Leichen einiges anstellen.«
»Echt? Aber das ist nicht dein Ernst! Hast du nicht genug Leichen im Berufsleben, als dass du deine Frau zu diesem Typ schleppen musst?«, prustete Laura.
Armin Elszers Blick wurde scharf. »Du wolltest doch, dass wir Ideen in den Raum werfen! Weißt du, woher er seine Leichen hat?«
Das wusste sie nicht. Trotzdem war ihr der Gedanke so zuwider, dass sie ihn nicht zulassen wollte. »Rechtlich gesehen ist das ein sehr heikles Thema. Ich denke, dafür gibt es Quellen. Leichenspenden oder so.«
»Kennt ihr jemanden, der seinen Körper der Wissenschaft gespendet hat? Ich denke, dass Leichen eine sehr ungewöhnliche Ware darstellen«, sagte Ackermann und warf Laura einen ironischen Blick zu. »Elena, weißt du woher er die Leichen hat?«
»Nein. Ich habe keinerlei Kenntnis über den Mann und seine Methoden. Er ist mir mal an der Uni begegnet, aber wir kennen uns nicht. Ich gehe aber davon aus, dass alles seine Richtigkeit hat.«
»Das bringt mich zu der Frage, wie kommen eigentlich die ganzen Universitätskliniken an all die Leichen für die Studierenden?«
Elena, überrascht von der Frage, zögerte: »Na, so einfach ist das nicht. Denkst du, die Universitäten machen einen Aufruf? Wir nehmen gern ihre Körperspende an! Nein, dieses Thema wird sehr diskret behandelt.«
»Du kommst doch von einer medizinischen Hochschule. Wie seid ihr an die Leichen gekommen?«
Elena zuckte mit den Schultern. »Darum mussten wir uns nicht kümmern, das war Aufgabe der Uni. Neuerdings werden die gespendeten Körper zuerst gescannt, um eine verlässliche Datenbank aufzubauen. Ziel ist es, die Studenten mit virtueller Anatomie vertraut zu machen. Allerdings ersetzt dieses Programm nicht die Präparation von Körpern. Im Moment dient es lediglich zur Vertiefung des Wissens. Andererseits sind virtuelle Leichen jederzeit verfügbar.«
»Hast du eine Idee, was man mit Leichen sonst so alles anstellen kann?«
Elena zögerte, doch dann begann sie ihre Gedanken in Worte zu fassen. »In den USA gibt es sogenannte Body Farms. Das sind gut gesicherte Gelände, auf denen Leichen im Rahmen von wissenschaftlichen Studien verwesen.«
»Igitt«, stieß Laura hervor und verzog das Gesicht. Natürlich hatte sie schon davon gehört. Aber für ihren Geschmack hatte sie schon genug verweste Leichen und Leichenteile gesehen, deren Anblick sie sich lieber erspart hätte.
»Das ist auch nichts anderes als in unserem Institut. Nicht nur wir Rechtsmediziner profitieren von den Erkenntnissen aus Tennessee.«
»Ach ja, wer noch?«
Elena zählte auf: »FBI-Agenten, Kriminalbiologen, Anthropologen. Sie alle studieren den Zerfall menschlicher Leichen. Untersucht werden zum Beispiel Einflüsse von Todesart, Witterung oder Leichenlagerung auf die Verwesungsgeschwindigkeit. Sie lagern die Toten an den unterschiedlichsten Stellen und dokumentieren den Verlauf der Verwesung. Je nach Beschaffenheit der Umgebung kann es sein, dass der Körper unversehrt bleibt, beziehungsweise mumifiziert. Das ist für Rechtsmediziner oder Kriminalbiologen äußerst wichtig.«
Sommer sagte: »Das ist ja wirklich widerlich!«
Elena grinste. »Die nächste Wasserleiche gehört euch. Versprochen!«
Lauras Miene wurde wieder ernst. »Eine Body Farm in Deutschland halte ich für so undenkbar, dass ich sie sogar ausschließen würde.« Mit dem Stift in der Hand ging sie noch einmal ihre Notizen durch, dann fragte sie: »Wer braucht außerdem tote Körper?«
Elena hielt inne, überlegte, welche Möglichkeiten sich sonst noch aufzeigen ließen, und zuckte mit den Schultern. Laura dachte schon, Elena würde nichts mehr sagen, als sie unvermittelt rief: »Crashtest Dummies.«
»Was?«
»Ich habe doch mal von Dr. Gérald Leclerc erzählt …«
»Der Franzose? Dieser Experte für Zugunfallopfer?«
Elena nickte. »Er ist eigentlich Verkehrsmediziner und Leiter des Instituts für angewandte Biomechanik in Straßburg. Für seine Unfallrekonstruktionen benötigt er auch Leichen. Bei einem Autounfall wirken massive Kräfte auf den menschlichen Körper. Die Art und Weise, wie Schultern brechen, Schädel aufprallen oder innere Organe Schaden nehmen, kann an Dummies aus Kunststoff und Stahl nicht nachgestellt werden.«
Laura sah die Rechtsmedizinerin von der Seite an und betrachtete das Profil der Freundin. »Was du so alles weißt.«
»Du hast gefragt.«
»Ja, und ich bereue jetzt schon meine nächste Frage. Hast du noch irgendeine Vorstellung, was man mit seinem Körper nach dem Tod tun kann?«
»Langsam gehen mir die Ideen aus. Die Forensiker untersuchen alles Mögliche an gespendeten Körpern. Das Militär hat auch ein gesteigertes Interesse daran.«
»Ach ja?«
»Schusssichere Westen werden an Leichen erprobt, oder willst du etwa auf dich schießen lassen?«
Laura schüttelte heftig den Kopf, ließ aber die Freundin ausreden.
»Die Waffenindustrie will wissen, welche verheerenden Verletzungen ihre Revolver verursachen. Auch die Hersteller von Schutzkleidung für das Bombenräumkommando müssen irgendwie die Tauglichkeit ihrer Produkte beweisen. Ansonsten …«
Ackermanns Mobiltelefon unterbrach die Unterhaltung der Frauen. Er sah auf das Diplay und gab ihnen ein Zeichen, dass der Anruf wichtig war. Nach wenigen Sekunden schaltete er den Lautsprecher ein, legte das Telefon vor sich auf den Tisch und rief: »Ich schalte Sie mal auf laut. Können Sie das bitte wiederholen, damit die anwesenden Kollegen gleich mithören können?«
Die Stimme aus dem Lautsprecher war jetzt das Einzige, was im Raum zu hören war. »Hier spricht Polizeimeister Trapp. Ich bin im Krankenhaus. Das Foto passt zu dem Patienten, und wie wir gerade erfahren haben, ist er heute morgen aufgewacht. Er ist noch nicht ansprechbar. Aber immerhin.«
Lauras Körper spannte sich sofort an. »Sie bleiben vor Ort und passen auf, dass uns der Mann nicht abhanden kommt. Wir sind schon auf dem Weg und übernehmen die Befragung.
»Nein!«, kam es zögerlich aus dem Lautsprecher. »Der Oberarzt lässt uns nicht zu ihm. Er meint, dass es noch zu früh sei für eine Befragung des Patienten.«
»Das war zu erwarten«, sagte Elena so leise, dass es nur die anwesenden Ermittler hören konnten. »Schließlich lag Ivanow im Koma. Wir können von Glück sprechen, dass er überhaupt aufgewacht ist.«
»Was meint der Doktor, wann dürfen wir zu ihm?«, fragte Laura in Richtung Mikrofon.
»Frühestens in zwei bis drei Tagen. So genau wollte sich Dr. Wellenreuther nicht festlegen.«
»Sie bleiben vor Ort und sorgen dafür, dass der Patient rund um die Uhr bewacht wird«, sagte Ackermann.
»Dirk Wellenreuther?«, rief Elena und schien die Frage sofort zu bereuen. Doch der Polizist hatte bereits aufgelegt.
»Du kennst ihn?«
»Wir haben zusammen studiert, und manchmal laufen wir uns im Klinikum über den Weg.«
Lauras Blick erhellte sich. »Klasse, dann übernimmst du die Befragung von Ivanow. Ein alter Freund tut doch einer ehemaligen Kommilitonin sicher einen Gefallen!«, sagte Laura und grinste Elena unschuldig an.
»Aber das ist nicht meine Aufgabe«, protestierte Elena. »Warum macht ihr das nicht?«
»Das hast du doch gehört. Wir dürfen nicht zu ihm. Aber du.«
Elena sah die Freundin mit einem Blick an, der genauso gut Verärgerung wie Verwunderung bedeuten konnte.
»Und was macht ihr?«
Laura deutete auf ihre Notizen. »Wir arbeiten die Liste der eben aufgezählten Möglichkeiten ab, um nicht tatenlos herumzusitzen. Ich würde gern mit dem Plastinator und seiner Leichenwelt beginnen. Laut Handy-Navi liegt sein Institut hier um die Ecke. Mal schauen, was wir da so herausfinden.«
Sie sah Ackermann an, der von dieser Aussage genauso überrascht schien wie Elena.
»Hier werden Leichen präpariert?«, sagte Laura und warf noch einmal einen Blick auf die Hausnummer, um zu prüfen, ob sie sich vor dem richtigen Gebäude befanden. »Ich habe es mir irgendwie anders vorgestellt. Größer, auffälliger!«
Tatsächlich schien es sich bei dem Areal vor ihnen mehr um ein ehemaliges Betriebsgelände zu handeln, mit zweckmäßigen Bürogebäuden und angrenzender Lagerhalle. Gardinen zierten die Fenster, und der gepflasterte Hof wirkte wie leergefegt. Vielleicht lag es daran, dass es noch früher Vormittag war.
Laura stieg aus dem Wagen und steuerte auf das schwere Rolltor zu. Nach der Besprechung war sie froh, einige Schritte gehen zu können. Obwohl es heute schon empfindlich frisch war, genoss sie die kühle Atemluft und blieb für einen Moment stehen. Dann spähte sie durch die Gitterstäbe.
»Sieht irgendwie verlassen aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier Menschen plastiniert werden!«, sagte sie und schielte zur Hausnummer, als müsste sie sich vergewissern, dass sie vor dem richtigen Gebäude standen. In dieser Ecke des Gewerbegebietes reihten sich die Firmengelände dicht aneinander. Sie waren an einem Malerbetrieb, einem Sanitärhandel und sogar an einer Kletterhalle vorbeigefahren. Nun standen sie zweifelsfrei vor der richtigen Adresse.
Falk trat hinzu und nahm das Gelände in Augenschein. »Was hast du dir denn vorgestellt? Ein Schild mit der Aufschrift: Leichenanlieferung hier?«
»Nein, aber etwas mehr hatte ich schon erwartet!« Doch im nächsten Moment forderte ein anderes Objekt ihre Aufmerksamkeit. »Sieh mal.«
Nicht weit vom Gebäude entfernt, fast verdeckt von aufgestapelten Chemikalienfässern, stand ein Schiffscontainer. Etwas kleiner als der, den sie vor Tagen auf der Autobahn gefunden hatten, aber zweifelsohne ein Überseecontainer. Sie straffte die Schultern und fügte hinzu: »Na, dann wollen wir mal Doktor Tod einen Besuch abstatten.«
Bevor Laura den Klingelknopf betätigen konnte, wurde die Tür des Bürogebäudes aufgerissen. Ein Mann trat ihnen mit schnellen Schritten entgegen. Er trug Jeans, ein T-Shirt, das irgendwann einmal schwarz gewesen sein musste, und schwere Lederstiefel. Das ist nicht von Dahl, war Lauras erster Gedanke. Dieser Mann war um einiges jünger.
»Was wollen Sie?«, blaffte er sie an.
Augenscheinlich hielt er nicht viel von Höflichkeiten. Was auch immer der Mann für ein Problem haben mochte, es war Laura egal. Ruhig erwiderte sie seinen Blick.
»Kriminalpolizei Mannheim-Heidelberg, wir möchten zu Dr. von Dahl.«
Die Miene des Mannes wechselte im Bruchteil einer Sekunde von Verärgerung zu Belustigung. Er lehnte sich gegen das Stahlgitter. »Der Chef ist nicht da.«
»Wann können wir ihn sprechen?«
Der Mann kratzte sich am Kinn. »Im Moment ist es etwas ungünstig. Der Chef plant eine große Wanderausstellung, bei der weit mehr als fünfzig gänzlich neue Exponate ausgestellt werden sollen. Da hat er richtig viel zu tun.«
Der plötzliche Ruck, der durch Laura ging, ließ den Mann sofort verstummen. Sein Gesicht wurde hart.
»Wo finden wir Dr. von Dahl?«, hakte sie nach.
Der Mann hatte sich wieder gefasst, und Laura glaubte jetzt, einen Anflug von leichtem Spott in seinen Zügen zu lesen. »Dr. von Dahl lebt in Berlin. Er kommt eher selten nach Heidelberg. Ich bin der Verwalter des Körperspendenbüros. Aber hier passiert schon lange nichts mehr. Dr. von Dahl hat schon vor Jahren ein weiteres Institut eröffnet.«
»Trotzdem würden wir uns hier gerne etwas umsehen«, sagte Ackermann und deutete auf den Container. »Was ist da drin?«
Der Mann hinter dem Tor kniff die Augen zusammen, und sein Körper versteifte sich. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
»Brauchen wir denn einen?«, fragte Laura und fügte hinzu: »Wir können gerne mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen, und Sie können sicher sein, dass wir dann jeden Stein auf diesem Gelände umdrehen.«
»Ja, machen Sie das.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Mann wieder um und warf krachend die Tür hinter sich ins Schloss.
»Was war das denn?«, fragte Ackermann.
Laura zuckte mit den Schultern. Das war wirklich ein seltsamer Typ. Die Feindseligkeit des Mannes war geradezu verdächtig.
Aber etwas anderes beschäftigte Laura weitaus mehr. Sie beäugte noch einmal den Hof mit den Chemikalienfässern und dem Container.
»Was denkst du? Warum steht hier ein Container, wenn hier keine Leichen mehr angenommen werden?«, fragte sie.
»Ich glaube nicht, dass von Dahl die Leichen in Containern anliefern lässt.« Ackermann musterte das Gelände. »Und hier sieht es wirklich etwas verwaist aus. Findest du nicht?«
Zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, ging sie nicht auf ihn ein und fragte stattdessen: »Du hast es nicht gesehen, stimmt’s?«
Seine Antwort bestätigte ihre Vermutung. »Was soll ich gesehen haben?«
»Das Klebeband.«
Jetzt sah Ackermann sie an, als hätte sie endgültig den Verstand verloren.
»Dieser sogenannte Verwalter hatte eine Rolle Klebeband in der Hosentasche«, erklärte sie.
Ackermanns Miene wurde noch eine Spur grimmiger. »Das ist nicht dein Ernst?«
»Doch. Ich konnte sehen, dass aus seiner rechten Gesäßtasche eine Klebebandrolle herauslugte.«
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783948736101
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (März)
- Schlagworte
- Ermittlerinnen Körperwelten Powerfrauen Mordkommission Leichen Krimi Weibliche Kommissare Leichenschau Heidelberg Gerichtsmedizin Cosy Crime Whodunnit