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Tageswandler 4: Shaun

von Al Rey (Autor:in)
232 Seiten
Reihe: Tageswandler, Band 4

Zusammenfassung

Unsterbliche zu jagen ist ein einträgliches Geschäft für Shaun. Er wurde für diesen Job mit den Stärken seiner Gegner ausgestattet, hat als Hybrid aber keine ihrer Schwächen. Wenn alles vorbei ist, wird er in sein normales Leben zurückkehren. So ist jedenfalls der Plan, bevor er auf die Vampire Mira und Anzheru stößt. Sie und alle ihre Verbündeten sind weit mehr, als es zu Beginn den Anschein hat... bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tageswandler 4

~Shaun~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

al-rey@gmx.de

Widmung

Für Jule

Prolog

Der Überwachungsmonitor flimmerte heftig. Shaun überlegte ernsthaft, ob es nicht sinnvoller war, selbst über den Flughafen zu marschieren. Schließlich war kaum etwas zu erkennen. Neben ihm drehte Hugh sich nun schon die dritte Zigarette, seit sie mit Keith ihre Schicht begonnen hatten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass auch er langsam die Geduld verlor. Irgendwo im Vereinigten Königreich vermutete ihr Auftraggeber ihre Feinde. Die drei Söldner und noch ein zweites Team warteten jetzt schon seit über drei Wochen auf dem Flughafen London Heathrow auf einen ersten Hinweis.

„Vielleicht fliegen sie gar nicht mit öffentlichen Linien“, murmelte Hugh mit der Zigarette im Mundwinkel und durchsuchte seine Taschen nach seinem Feuerzeug.

„Du weißt, wie egal diese Vermutung dem General ist“, blockte Shaun die Diskussion sofort ab. Befehl war Befehl.

„Shaun!“, meldete sich ihr dritter Kamerad über Funk, der gerade eigenmächtig einen Rundgang machte. „Da sind gerade zwei Subjekte aus Italien eingetroffen. Sie wollen weiter nach Schottland.“

Shaun suchte unter den zahllosen Videoübertragungen nach der einen, die das Gate für den entsprechenden Flug zeigte. Als er sie gefunden hatte, betrachtete er den überschaubaren Menschenstrom einen Augenblick, dann griff er zum Funkgerät. „Geht das etwas genauer, Keith? Wen meinst du?“

„Einen Mann und eine schwangere Frau. Ihn kannst du nicht übersehen, der ist ziemlich groß.“

Shaun entdeckte das Paar, das Hand in Hand über den Gang lief. Ihr gewölbter Bauch war ebenfalls unübersehbar.

„Bist du nah genug dran für den Scanner?“, fragte er ins Funkgerät hinein.

„Gib mir noch ein paar Sekunden“, gab Keith zurück. Einen Moment später meldete er sich wieder. „Also entweder haben sie beide ordentlich Fieber, oder es ist normal, dass ihre Temperatur bei 38 Grad liegt.“

„Gestaltwandler also.“ Shaun griff sich seine bereitliegende Ausrüstung. Hugh drückte zuvor noch seine Zigarette aus. „Dass die beiden keine Vampire sind, hätte ich dir gleich sagen können. Zu gesunde Gesichtsfarbe.“

Shaun schnaubte nur und sie machten sich auf den Weg. Am Eingang der Wartehalle trafen sie auf Keith. Shaun näherte sich dem verdächtigen Paar von vorn, Hugh und Keith machten einen großen Bogen, um ihnen die Fluchtwege abzuschneiden.

„Guten Tag. Würden Sie mir bitte folgen“, forderte er die beiden Gestaltwandler unmissverständlich auf, als er sie erreichte. Sie blieben ruhig sitzen und musterten ihn eindringlich.

„Was ist denn, Officer?“, fragte die Schwangere freundlich. Ihrem Gesicht nach war sie Anfang zwanzig. Shaun vermutete jedoch, dass sie schon wesentlich älter war.

„Ihr Gepäck ist bei der Kontrolle aufgefallen. Bestimmt nichts Ernstes, aber Sie wissen ja… die Vorschriften.“

„Außer dieser Tasche haben wir kein Gepäck“, erwiderte der kräftig gebaute Mann und wies auf die kleine Reisetasche zu seinen Füßen. „Sie müssen uns verwechseln.“

Shauns Miene wurde eisern. „Ihr zwei steht jetzt auf und folgt mir. Sonst seid ihr nämlich gleich zwei tote Terroristen. Und das ist immer noch wesentlich glaubwürdiger, als dass ihr euch in Tiere verwandeln könnt.“

„Wer bist du?“, knurrte der Gestaltwandler bedrohlich leise, doch die schwangere Frau legte ihm eine Hand auf den Arm. „Bitte, Marcus. Nicht hier unter hunderten von Menschen.“

Wenige Minuten später erreichten sie den Verhörraum, den ihnen die Flughafenpolizei für solche Fälle überließ. Keith und Hugh hatten zu ihnen aufgeschlossen und bewachten die beiden, während Shaun noch kurz in ihr Büro verschwand, um zu telefonieren. Die Nummer ihres Bosses war auf der ersten Kurzwahltaste eingespeichert.

„Ich hoffe, es ist wichtig“, meldete sich seine kratzige Stimme.

„Wir haben zwei Subjekte am Londoner Flughafen, General.“ Shaun wunderte sich im Stillen immer noch darüber, dass sein Boss darauf bestand, mit seinem militärischen Rang angesprochen zu werden. Schließlich war er seit Jahren nicht mehr im Dienst der Armee. Näheres über seine Entlassung wusste allerdings niemand.

„Und?“, fragte der General ungeduldig.

„Eins davon ist schwanger.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Shaun begann, mit den Fingerspitzen auf dem Rand eines Monitors zu trommeln.

„Das könnte höchst interessant sein. Bringt sie her. Das hat ab jetzt oberste Priorität!“ Der General legte ohne ein weiteres Wort auf. Shaun straffte die Schultern und marschierte in den Verhörraum hinüber. Die beiden Gestaltwandler fühlten sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Weder hatten sie Platz genommen, noch hatte der große Mann mit den dunklen Haaren die Reisetasche abgestellt. Es fehlte wohl nicht mehr viel und sie würden zum Angriff übergehen. Dennoch setzte Shaun sich gelassen auf die Tischkante.

„Was wollt ihr von uns?“, fragte der männliche Gestaltwandler ohne Umschweife.

„Ihr werdet mit uns kommen“, antwortete er kühl. „Macht kein Theater, dann wird es auch nicht ganz so schmerzhaft.“

Der Gestaltwandler fuhr sich mit der Zunge über die Zähne wie eine Raubkatze. Im Bruchteil einer Sekunde ließ er die Tasche fallen und sprang in einer riesigen schwarzen Panthergestalt auf Shaun zu.

Zu Marcus‘ Erstaunen wich ihm der seltsame Soldat mit Leichtigkeit aus. Dass diese drei Männer keine gewöhnlichen Flughafenpolizisten sein konnten, war ihm sofort bewusst gewesen, als ihr Anführer sie angesprochen hatte. Sie rochen fremdartig und sie bewegten sich nicht so plump wie Sterbliche. Auch Tove hatte sich verwandelt und griff einen der Männer an, doch auch ihre Attacke ging ins Leere. Einer der Soldaten warf eine Rauchgranate auf den Boden. Der leicht violette Rauch, der sich rasend schnell im Raum ausbreitete, brannte fürchterlich in der Kehle und vernebelte die Sicht. Marcus hustete unwillkürlich gegen das Kratzen in seinem Hals an, aber es schien nur noch schlimmer zu werden.

„Idiot! Der Frau darf nichts passieren!“, brüllte der Wortführer der Soldaten. Um Tove ging es also. Und um das Baby, das seit fast sieben Monaten in ihr heranwuchs, daran gab es für Marcus keinen Zweifel mehr. Blind vor Zorn ging er zum nächsten Angriff über. Dieses Mal erwischte er einen der Soldaten mit der Pranke. Sein Körper wirbelte durch die Luft und sprengte die Tür aus ihren Angeln. Wie viele Sterbliche in der Nähe sein mochten, interessierte Marcus nicht mehr. Sie mussten aus diesem fürchterlichen Rauch heraus. Er hörte Tove gequält husten. Hastig folgte er ihrer Stimme, bekam sie zu fassen und zerrte sie hinaus auf den Gang, auf dem der Rauch weniger dicht war. Marcus spürte, dass seine Kräfte zunehmend nachließen. Was auch immer in diesem violetten Gas enthalten war, es schwächte ihn und seine Geliebte. Die drei Soldaten schienen hingegen immun gegen seine Wirkung zu sein. Sie gingen von der Verteidigung zum Angriff über. Ihr Anführer schoss mit einer Handfeuerwaffe auf ihn, die anderen beiden stürzten sich auf Tove. Marcus verspürte brennende Schmerzen in der Brust. Die Kugeln waren nicht wieder ausgetreten, sondern von seinen Rippen gestoppt worden. Ihm blieb die Luft weg.

„NEIN!“, hörte er die Stimme seiner Gefährtin durch den dichten Schleier, der sich zunehmend über alles legte. Marcus sank auf die Knie.

„Schafft sie weg“, befahl der Soldat gelassen, der auf ihn geschossen hatte. „Um den hier kümmere ich mich.“

Marcus musste sich auf den Fäusten abstützen.

„Ich hab‘ dich ja gewarnt.“ Der Soldat beugte sich zu ihm herunter. „Aber Sturheit und Aggressivität ist unter den Unsterblichen sehr weit verbreitet, wenn ich mich nicht irre.“

„Was bist du?“, keuchte der Gestaltwandler angestrengt. Shaun verzog die Mundwinkel. „Nun, zum Teil bin ich wie du. Aber das verstehst du noch früh genug, Marcus. Jetzt nimm brav die Hände auf den Rücken.“

Stattdessen hustete er heftig, obwohl sich das Gas langsam verzog. Die Schwangere schrie nach ihm. Shaun wollte ihn gerade endgültig auf dem Boden festnageln, als der Gestaltwandler plötzlich hochschnellte. Er erwischte ihn mit voller Wucht unterm Kinn, wobei Shaun sich auf die Zunge biss. Ein zweiter unkontrollierter, wütender Schlag traf ihn an der Schulter. Shaun nahm ein leises Knacken wahr, als sein Schlüsselbein brach und er zu Boden ging. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er sich einen Knochen brach. Dennoch ließ es ihn die eine Sekunde innehalten, die der Gestaltwandler brauchte, um sich aus seiner unmittelbaren Reichweite zu entfernen. Shaun schmeckte Blut. Mit der Waffe im Anschlag stemmte er sich auf die Knie hoch. Wider Erwarten lief der Gestaltwandler nicht in die Richtung seiner schwangeren Frau. Sondern direkt auf die Flughafenpolizisten zu, die mittlerweile am anderen Ende des Ganges aufgetaucht waren. Shaun fluchte leise. Natürlich starrten sie Marcus nur entsetzt an und hielten ihn nicht auf. Und jetzt war es auch zu spät, um zu schießen. Der Gestaltwandler drängte sich an den Polizisten vorbei und ergriff die Flucht.

„Was zur Hölle ist hier passiert?“, rief einer der uniformierten Männer. Shaun erhob sich wortlos. Inzwischen hatte sich eine erstaunliche Menge Blut in seinem Mund gesammelt, daher antwortete er lieber nicht. Er winkte ihnen nur und lief in menschlicher Geschwindigkeit Keith, Hugh und der Schwangeren hinterher. Erst als Shaun die ungenutzte Einfahrt erreichte, in der sie ihren Van geparkt hatten, spuckte er das Blut aus. Keith beobachtete ihn dabei und hob die Brauen. „Hast du dir auf die Zunge gebissen?“

„Ja und wie“, brummte er.

„Verdammt kräftiger Bursche. Verfolgen wir ihn?“

„Nein.“ Shaun schüttelte entschieden den Kopf. „Wir haben die Frau, das genügt. Alles andere kann jetzt Team zwei übernehmen.“

Sie stiegen in den hinteren Teil des Vans. Keith hatte die Gestaltwandlerin an beiden Handgelenken angekettet. Sie sah ein wenig mitgenommen aus, doch auf den ersten Blick schien sie sich problemlos zu erholen. Hugh lenkte den Wagen bereits aus der Einfahrt, während Shaun und Keith sich noch anschnallten. Einige Minuten vergingen in tiefem Schweigen. Die Gestaltwandlerin musterte sie alle nacheinander. Letztendlich blieb ihr durchdringender Blick an Shaun hängen.

„Möchtest du etwas sagen?“, fragte er irgendwann, damit sie endlich aufhörte, ihn so anzustarren.

„Wie habt ihr uns gefunden?“

Selbstverständlich meinte sie nicht nur sich und ihren flüchtigen Gefährten. Shaun stützte die Ellbogen auf die Knie. „Ihr habt wirklich gut darauf geachtet, im Schatten zu bleiben oder Geschichten über euch zu Legenden zu machen. Aber es gab da eben jemanden, der es Leid war, sich zu verstecken.“

Ihre grünen Augen weiteten sich ein wenig. Die Erkenntnis verraten worden zu sein war nie schön, Shaun konnte ihr Entsetzen durchaus nachvollziehen. Sie fing sich allerdings recht schnell wieder.

„Und jetzt glaubst du, du weißt, mit wem du dich anlegst?“, fragte sie überraschend selbstsicher. Keith konnte sich ein belustigtes Schnauben nicht verkneifen. Shaun lehnte sich noch ein wenig weiter vor. „Ja, das wissen wir, meine Liebe.“

Sie schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf. „Du hast keine Ahnung.“

Nach einigen Stunden Fahrt nahmen sie die Fähre zum Festland. Die Gestaltwandlerin verhielt sich erstaunlich ruhig. Hin und wieder schloss sie die Augen, als würde sie lauschen. Shaun vermutete, dass sich der Fötus in ihrem Bauch bewegte. Es interessierte ihn normalerweise herzlich wenig, was aus gefangenen Subjekten wurde, aber was würde die Forschungsabteilung wohl mit einer Schwangeren anfangen? Dr. Morgan konnte es nicht ausstehen, wenn Söldner ihr Labor betraten. Shaun würde wohl nie etwas darüber erfahren, außer er zog sich in den kommenden Tagen eine nennenswerte Verletzung zu und musste im Labor verarztet werden. Aber das war sehr unwahrscheinlich. Sobald sie die belgische Grenze überquert hatten, dauerte es nur noch eine halbe Stunde, bis sie den Außenposten der Firma erreichten, in dem Dr. Morgan sich derzeit aufhielt. Shaun hatte nie geplant, als Söldner für eine Firma wie diese zu arbeiten. Nun war es eben so gekommen und sie bezahlten wirklich gut. Der General erwartete ihren Van persönlich auf dem Innenhof des alten Produktionsgeländes. Er begutachtete die schwangere Gestaltwandlerin, während Shaun, Keith und Hugh sie von der Ladefläche holten und ihr Handschellen anlegten. Das genügte dem General offenbar schon. Er nickte ihnen zufrieden zu und verschwand wieder in seine Kommandozentrale, von der aus er mit den Söldner-Teams weltweit kommunizierte. Dr. Morgan lief wie immer hastig von einem Labortisch zum anderen, als Shaun mit seinem Team in der Schleuse zum Labor ankam.

„Ihr braucht sie gar nicht erst herein zu bringen!“, rief sie ihnen mit ihrer hohen, nasalen Stimme entgegen. „Ich wechsle morgen den Stützpunkt.“

Shaun spürte, dass sich der Widerstand der Gestaltwandlerin erhöhte, während sie die Wissenschaftlerin in ihrem weißen Kittel auf sich zukommen sah. Sie hatten ihr die Arme auf den Rücken gedreht, um sie zu fesseln. Shaun verdrehte ihren linken Arm weiter im Gelenk. „Nicht bewegen.“

„Was du nicht sagst“, knurrte die Gestaltwandlerin angriffslustig. Die Wirkung des Giftgases konnte noch nicht verflogen sein, doch ihr Kampfgeist war offenbar schon wieder hell wach.

„Faszinierend!“, sagte Dr. Morgan mehr zu sich selbst als zu Shaun und seinem Team. Die Sicherheitsvorschriften für sie und ihre Assistenten bestimmten eigentlich, dass sie sich den Gefangenen nicht nähern durften, wenn sie wach waren. Dr. Morgan kümmerten die Vorschriften jedoch recht wenig. Gedankenlos streckte sie eine Hand nach dem Gesicht der schwangeren Gestaltwandlerin aus. Nur weil Shaun gerade noch reagieren konnte, gelang es der Leopardenfrau nicht, ihr die Finger abzubeißen. Mit aller Gewalt rang er sie zu Boden und fixierte sie zwischen seinen Knien. Keith setzte sich auf ihre Beine.

„Sie dürfen sie nicht unterschätzen, nur weil sie schwanger ist, Doktor“, ermahnte er die Wissenschaftlerin, obwohl er wusste, dass es ihr egal war. Dr. Morgan winkte nur ungeduldig ab und wies sie an, die Gestaltwandlerin in eine Transportzelle zu verfrachten. „In der Lagerhalle links vom Labor stehen ein paar. Ich untersuche sie frühestens morgen.“

Shaun und Keith schleiften die Gestaltwandlerin in besagte Richtung, während Hugh ihnen das Tor zur Halle öffnete. Die Leopardenfrau knurrte sie finster an, als sie die Transportzellen sah. Es handelte sich um Panzerglaswürfel. Shaun wusste nicht genau, woraus sie bestanden, aber sie waren unheimlich stabil. Allerdings waren sie auch relativ klein, die schwangere Leopardenfrau würde darin nur sitzen können. Hugh drückte auf die Taste am Deckel des vordersten Kubus, woraufhin sich der Verschluss mit einem lauten Zischen öffnete. Ein Laborassistent hatte Shaun einmal erklärt, dass sich zwischen der Membran des Deckels und dem Rand des Kubus ein Vakuum bildete, weshalb selbst die Unsterblichen die Transportzellen nicht aufbrechen konnten. Wie das funktionierte, hatte der Söldner nicht verstanden, es brauchte ja auch nur zu funktionieren. Sie steckten die Gestaltwandlerin wie befohlen in den Kubus, verschlossen den Deckel und verließen die Lagerhalle anschließend wieder. Shaun hatte zwar bemerkt, dass eine weitere Transportzelle belegt gewesen war, aber das Subjekt darin kannte er zur Genüge seit seinem letzten Ausbruchsversuch. Ihm brauchte er keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Neugierig folgte er Hugh und Keith in die Einsatzzentrale. Wahrscheinlich hatten sie neue Befehle und mussten nicht an den Flughafen von London zurück.

Tove tastete den Deckel ihres merkwürdigen Gefängnisses ab. Leider fand sich nirgendwo eine Schwachstelle, die Luftlöcher darin waren zu winzig, um hineingreifen zu können. Das Panzerglas ließ sich weder mit Tritten beschädigen, noch durch Druck auseinanderzerren. Resigniert lehnte sie sich zurück. Das Kind trat so fest wie noch nie gegen ihre Bauchdecke. Bestimmt spürte es ihre eigene Wut und auch ihre Furcht. Tove strich über ihren Bauch. „Hab keine Angst. Sie werden alles tun, um uns zu finden. Wir sind nicht allein auf der Welt.“

Ihr selbst half dieser Gedanke auch ein wenig. Schließlich besaß Asheroth ihre Signatur. Vielleicht hatte Marcus es schon bis zu ihm nach Aberdeen geschafft. Er war im Moment ihre größte Hoffnung. Mit zusammen gekniffenen Lippen warf Tove einen Blick nach rechts. Sie hatte befürchtet, dass noch mehr Unsterbliche hier sein würden und ausgerechnet in dem Kubus, der ihrem am nächsten stand, lag ein bleicher Körper. Dem Geruch nach handelte es sich um einen Vampir. Er war fast nackt und lag mit dem Rücken zu ihr, weshalb sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Dennoch kam er ihr irgendwie bekannt vor. Tove überlegte fieberhaft, um wen es sich handeln mochte. Auf seinem Glaskubus stand ein Gerät, auf dessen Bildschirm immer wieder eine gezackte Linie erschien. Einige dünne Kabel führten von dem Gerät durch die Luftlöcher zum Körper des Vampirs. Offenbar maß es seinen Herzschlag. Tove beschlich ein ungutes Gefühl, nachdem sie eine Minute lang mitgezählt hatte. Selbst für einen Vampir schlug sein Herz unheimlich langsam. Plötzlich zuckte er heftig zusammen. Dann drehte er sich quälend langsam auf den Rücken. Tove schluckte schwer. Über seinen gesamten Oberkörper zogen sich zahllose schnurgerade Narben in unterschiedlichen Heilungsstadien. War er etwa mit einem Skalpell aufgeschnitten worden? Sein Gesicht wirkte seltsam ausgemergelt wie Pergament. Dennoch erkannte sie den Vampir wieder, der damals die Garde der Leibwache gegen sie in den Kampf geführt hatte. Sein Name war Marek, er war der stellvertretende Hauptmann der Garde und er hatte nach Cinrics und Dragos Tod die Schlacht aufgegeben. Mehr wusste sie nicht über ihn. Das spielte auch keine Rolle, Tove empfand sofort Mitgefühl für ihn. Und das obwohl er ihr nicht unbedingt freundlich gesinnt sein würde. Leise flüsterte sie seinen Namen. Marek riss die Augen auf und starrte in ihre Richtung. Sie glühten eisblau, als wäre er mitten im Kampf um sein Leben. Vermutlich lag Tove damit gar nicht so falsch, seine Kräfte mussten fast völlig aufgezehrt sein. Nach ein paar Atemzügen schloss er die Augen wieder, bewegt hatte er sich keinen Millimeter mehr. Bedrückt lehnte Tove den Kopf gegen die Scheibe ihrer Transportzelle. Das Kind und die Nachwirkungen des Kampfgases machten sie unheimlich müde. Als sie am nächsten Morgen in aller Frühe in einen Transporter verladen wurden, nahm Tove nur noch verschwommen wahr, dass sie der Söldner begleitete, der auf Marcus geschossen hatte. Während der Fahrt schlief sie endgültig ein.

Erkenntnis

Bitter kalter Regen prasselte unaufhörlich auf ihn herab. Marcus hatte es nicht gewagt, noch einmal in die Nähe von Menschen zu gehen. Zu Fuß hatte er sich immer weiter nach Norden geschleppt. Nicht ein einziges Mal war er stehen geblieben, bis er endlich die Festung der Vampirältesten nahe Aberdeen gefunden hatte. Die Schusswunden in seiner Brust heilten nur sehr langsam, das Atmen fiel ihm schwer. Marcus tastete nach seinen unteren Rippen. Er war sich nicht mehr ganz sicher, wie lange er gebraucht hatte. Das Giftgas der Soldaten hatte noch eine ganze Weile nachgewirkt. Die Mauern der Vampirfeste schienen gar nicht mehr so weit entfernt, als Marcus über einen Stein stolperte und der Länge nach hinschlug. Seine Erschöpfung ließ nicht zu, dass er wieder aufstand. Trotzig streckte er die Arme vor und zog sich ein paar Zentimeter über den Boden. Da war plötzlich das Geräusch von Schritten, ein bekannter Geruch. Mühsam öffnete Marcus die Augen. Er wurde auf die Seite gedreht. Etwas unscharf erkannte er Asheroths Gesicht über sich. Wie immer bleich und starr. Seine dunklen Augen durchbohrten ihn wie Dolche.

„Du musst mir helfen“, würgte Marcus hervor. „Sie haben Tove!“

Der Vampir stellte überraschenderweise keine Fragen. Er wuchtete ihn auf seine Schultern und trug ihn den Rest des Weges in seine Festung. Marcus hielt die Augen geschlossen. Auch als Asheroth ihn bäuchlings auf einem kalten Metalltisch ablegte und begann, seinen Brustkorb abzutasten.

„Bring mir Skalpelle. Es stecken vier Kugeln in seiner Brust“, forderte der Vampirälteste von jemandem, den Marcus nicht sehen konnte. Bestimmt war es Leandros oder der Junge mit den markanten blauen Augen. Asheroth drückte auf einige Punkte an seinem Rücken, woraufhin Marcus endgültig die Besinnung verlor. Als er wieder zu sich kam, lag er mit nacktem Oberkörper auf einem Bett. Es war dunkel vor dem kleinen Fenster, aber immerhin hatte es endlich aufgehört zu regnen. Er setzte sich auf, atmete tief durch und zog das Shirt an, das neben seinem Bett bereitgelegt worden war. Offenbar hatte der Vampirälteste alle Kugeln gefunden und entfernt. Seine Wunden waren verheilt. Dennoch fühlte Marcus sich hundsmiserabel. Tove war verschleppt worden und er hatte sie nicht beschützen können. Wie sollte er Asheroth erklären, was vorgefallen war, wenn er selbst nicht wusste, von wem genau sie angegriffen worden waren? Nur eins wusste er mit Bestimmtheit. Es waren keine gewöhnlichen Sterblichen gewesen. Das Geräusch sich nähernder Schritte ließ Marcus aufhorchen. Asheroth und auch die beiden anderen Ältesten betraten wenige Sekunden später sein karges Quartier. Mit so großem Interesse hatte er nicht gerechnet.

„Nun? Was genau wolltest du mir sagen?“, begann Asheroth das Gespräch ohne jegliche Umschweife. Marcus schilderte ihnen die Ereignisse am Londoner Flughafen so genau wie möglich.

„Warum wollten sie nur Tove?“, fragte Asheroth, als er geendet hatte.

„Ich bin nicht sicher, ob sie sie wollen…“, setzte Marcus zögerlich an. „Sie ist schwanger.“

Das Ausgleichsgeschöpf seiner Geliebten schnaubte bedrohlich, wobei seine Mimik immer noch starr blieb. Marcus unterdrückte den kalten Schauer, der ihm den Rücken hinauf kriechen wollte. Achilleas rieb sich derweil die Stirn. „Warum kommt mir das so bekannt vor?“

„Dieses Mal kämpfen wir nicht gegen die Werwölfe“, mahnte Commodus an. „Was auch immer diese Geschöpfe genau waren, wir müssen die Situation ernst nehmen. Ich informiere die Clans und alle anderen Unsterblichen, die ich erreichen kann.“

Marcus erhielt keine Gelegenheit zu fragen, auf welchen Krieg mit den Werwölfen die Vampire anspielten. Asheroth stob aus dem Raum, Achilleas folgte ihm auf dem Fuß. Der Panthermann gab Commodus die Nummer von Vincent für den Fall, dass er sie nicht sowieso kannte, dann lief er Asheroth und Achilleas hinterher. Sie wollten doch nicht etwa ohne ihn aufbrechen? Erst in der großen Eingangshalle der Festung holte er die beiden Ältesten ein. Sie standen sich gegenüber, die anwesenden Leibwachen hielten gehörigen Abstand zu ihnen.

„Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren!“, grollte Asheroth.

„Verrate mir wenigstens, was du darüber denkst.“ Achilleas‘ Gelassenheit seinem Bruder gegenüber war beneidenswert.

„Wir wurden verraten! Oder wie erklärst du dir, dass diese Soldaten Kampfgas gegen Gestaltwandler besitzen?“

Marcus senkte den Kopf. Er teilte diese Befürchtung.

„Was bedeutet; zum Teil bin ich wie du?“, fuhr Achilleas unbeirrt fort. „Wie haben die Sterblichen es geschafft, ihre Soldaten so stark zu machen?“

Asheroth hob ungeduldig die Arme. „Das weiß ich, wenn ich einen von ihnen studiert habe. War das dann alles? Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren!“

„Großvater?“, rief eine weibliche Stimme. Marcus wandte sich irritiert um. Ein blondes Mädchen mit eisblauen Augen betrat die Halle aus dem Korridor gegenüber. Sie war recht zierlich für eine geborene Vampirin und äußerlich ungefähr sechzehn.

„Was ist geschehen?“, fragte sie verunsichert. Asheroth streckte ihr eine fahle Hand entgegen, die sie ohne das geringste Zögern ergriff. Marcus kam nicht umhin, verblüfft die Brauen zu heben.

„Es tut mir leid, aber ich muss fort. Sag Anzheru, er soll dich persönlich abholen und die öffentlichen Flughäfen meiden.“ Asheroth zog sie näher an sich und küsste sie auf den Haaransatz. „Ich muss nach Tove suchen.“

„Ich komme mit dir. Gib mir eine Minute, um meine Sachen zu holen.“ Achilleas setzte sich in Bewegung. Tatsächlich war er barfuß.

„Du hast eine halbe“, grollte Asheroth leise. Das Mädchen löste sich aus seinem Arm. Marcus dämmerte langsam, um wen es sich handeln musste.

„Bist du nicht die Kleine von Violetta und Konstantin?“, fragte er, um sicher zu gehen. Sie nickte sacht. „Sie wurden vor sechs Jahren getötet. Mira und Anzheru haben mich in ihre Familie aufgenommen.“

Davon hatte Marcus nichts gewusst. Tove hatte die Welt sehen wollen, nachdem sie sich die ersten siebzehn Jahre ihres Lebens immer hatte verstecken müssen. Seit sie damals nach dem Kampf gegen Dragos Hunde gemeinsam aufgebrochen waren, hatten sie sich nur ein einziges Mal telefonisch bei ihren verbündeten Vampiren gemeldet. Und das bevor es einen neuen Familienzuwachs unter ihnen gegeben hatte. Betreten erwiderte der Gestaltwandler den Blick der geborenen Vampirin. Er wollte lieber nichts dazu sagen.

„Anzheru wird ein paar Tage brauchen, um eine solche Reise vorzubereiten, oder?“, fragte Letizia wenig begeistert an Asheroth gewandt. Er nickte streng. „Du wirst auf ihn warten. Und bis dahin wirst du brav auf Commodus hören.“

Sie warf ihm noch einen trotzigen Blick zu, dann schwebte sie elfengleich hinaus. Letizia sah ihrer Mutter nicht nur äußerlich ähnlich, sie bewegte sich auch so anmutig wie sie.

„Ich komme auch mit“, sagte Marcus. Asheroth verneinte jedoch mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sein Wort automatisch Gesetz.

„Aber natürlich! Ich will meine Gefährtin zurück!“, hielt der Gestaltwandler fassungslos dagegen. Was fiel diesem Vampir eigentlich ein?

„Nein, du bleibst hier. Dein Körper hat sich noch nicht vollständig von dem Giftgas erholt.“ Asheroth verschränkte die Arme vor der Brust und würdigte ihn nicht einmal mehr eines Blickes.

„Du brauchst doch sowieso noch Zeit, um sie zu finden. Bis dahin hat sich das erledigt.“ Marcus war lauter geworden als nötig. Die Leibwachen rührten sich aber noch nicht. Offenbar würde sich niemand einmischen.

„Das kümmert mich nicht“, grollte der Vampirälteste bedrohlich. „Du wirst mir weder zur Last fallen, noch ein zweites Mal versagen.“

Der Panthermann fletschte zornig die Zähne. „Das kann nicht dein Ernst sein!“

Sobald er nur einen Schritt auf Asheroth zu gemacht hatte, erschien Leandros an seiner Seite und schob sich in seinen Weg. Ähnlich wie sein Gebieter verzog der Leibwächter keine Miene, dennoch lag eine unmissverständliche Drohung in seiner Haltung. Marcus schnaubte, was schon beinahe wie das Knurren seiner Panthergestalt klang. Asheroth beachtete ihn jedoch kaum. Achilleas kehrte mit einer länglichen Tasche in die Eingangshalle zurück, woraufhin die beiden Vampirältesten allein aufbrachen. Marcus blieb voller Zorn zurück. Er hatte geahnt, dass Asheroth ungehalten reagieren würde. Es überraschte ihn auch nicht, dass der Vampir ihm die Schuld an Toves Entführung gab. Aber nutzlos in der Festung zurückbleiben zu müssen, trieb ihn zur Weißglut. Leandros‘ eiserne Miene tat ihr Übriges.

„Stell seine Entscheidungen nicht in Frage“, sagte der Leibwächter überflüssigerweise. Marcus schnaubte erneut. „Was würdest du denn tun, wenn Kila in Gefangenschaft gerät?“

„Mich auf meinen Gebieter verlassen“, antwortete der stämmige Vampir prompt. „Wenn er mir nicht hilft, würde er mich immer noch von meinem Dienst freistellen, damit ich nach ihr suchen kann.“

Der Gestaltwandler marschierte kopfschüttelnd davon. Die Ergebenheit der Leibwachen gegenüber den Ältesten kannte wohl keine Grenzen. Er beschloss, die Festung der Vampire auf eigene Faust zu verlassen. Asheroth besaß seine Signatur nicht, dennoch wartete Marcus bis zum Morgengrauen, um ihm und Achilleas vorsichtshalber reichlich Vorsprung zu lassen. Lautlos schlich er in seiner Panthergestalt auf den Wehrgang hinauf. Das Tor der Festung war geschlossen, also musste er einen anderen Weg hinaus finden.

„Du verlässt uns?“, fragte plötzlich eine tiefe ruhige Stimme hinter ihm. Marcus fuhr herum. Commodus stand im Schatten eines Turmes in einigen Metern Entfernung. Widerwillig nahm er seine erste Gestalt an, um mit dem Vampir zu reden. „Ich kann nicht hier herumsitzen! Tove… Unser Kind!“

Der Hüne unter den Ältesten nickte bedächtig. „Ich kann deine Sorge nachvollziehen, aber bedenke, was mein Bruder gesagt hat. Dein Körper hat sich noch nicht vollkommen regeneriert.“

Marcus wandte sich kurz ab. Mit Asheroth zu streiten machte einen unfassbar wütend. Commodus hatte hingegen eine Art an sich, die es wesentlich schwieriger machte, lauthals zu widersprechen.

„Wo willst du hin?“, fragte der Älteste. „Ohne Pass. Ohne Geld.“

Der Gestaltwandler rieb sich die Stirn. „Aufs Festland. Ich glaube nicht, dass sie in Großbritannien geblieben sind.“

„Wie kommst du darauf?“

„Es ist nur so ein Gefühl!“, gab Marcus unwirsch zu. Der Vampirälteste schaute ihn skeptisch an, was durchaus berechtigt war. Trotzdem schwang er sich behände auf die Zinnen der Mauer, um sich endlich auf den Weg zu machen.

„Ich sehe, ich kann dich nicht umstimmen, Marcus“, sagte Commodus immer noch genauso ruhig wie zu Beginn ihres Gesprächs. „Aber nimm wenigstens das hier mit.“

Er warf ihm eine Rolle Geldscheine zu. Marcus fing sie auf und bedankte sich zögerlich.

„Meine Gemahlin reist derzeit quer durch Europa. Falls du sie zufällig treffen solltest, sag ihr, sie möge bitte nach Hause kommen“, fügte der Vampirälteste hinzu.

„Hast du sie nicht angerufen, um sie zu warnen?“, fragte Marcus ungläubig. Seines Wissens nach hüteten die Vampire ihre Gefährtinnen wie ihre Augäpfel.

„Natürlich habe ich das, aber… sie besitzt ein großes Talent dafür unauffällig zu bleiben und meint, dass sie ihre Reise wie geplant fortsetzen möchte. Vielleicht kann dein Bericht sie umstimmen.“

Wie ausgerechnet eine Frau wie Elvera unauffällig bleiben wollte, war Marcus vollkommen schleierhaft. Sie war damals kurz vor der Schlacht gegen Drago, Cinric und ihr gesamtes Gefolge auf der Bildfläche erschienen. Ihre Willensstärke hatte vielen ihrer Verbündeten Mut gegeben. Zudem war sie so wunderschön, dass man sie schlicht nicht übersehen konnte. Dennoch versprach Marcus dem hünenhaften Vampir, nach ihr Ausschau zu halten.

Asheroth drückte die Handflächen auf den Boden. Das Echo von Toves Schritten hatte ihn von London nach Belgien geführt. Achilleas kauerte direkt neben ihm im nassen Gras. Vor ihnen lag ein stillgelegtes Produktionsgelände, auf dem sich vier Geschöpfe befanden. Ihre Schritte waren fremdartig, nur eines spürte Asheroth deutlich. Sie waren stark und trotzdem noch sehr jung.

„Ist sie hier?“, flüsterte Achilleas.

„Nein, ihr Echo ist mehrere Tage alt. Sie haben sie fortgebracht.“

Ihre Spur führte nach Osten. Dennoch wollte Asheroth nicht sofort weiter. Eines der Geschöpfe entfernte sich gerade von den anderen.

„Lass uns herausfinden, womit wir es zu tun haben.“

Achilleas nickte grimmig, legte seine Tasche im Gras ab und folgte ihm lautlos in den Gebäudetrakt, in dem sich ihre Feinde aufhielten. Sie griffen ohne jede Begrüßung an, obwohl dies unter den Unsterblichen nicht üblich war. Der Soldat fuhr entsetzt zu ihnen herum und duckte sich gerade noch unter Asheroths erstem Hieb weg. Achilleas fiel ihm in die Seite und stieß ihn so heftig gegen die Wand, dass sie unter der Wucht des Aufpralls einbrach. Der Soldat rappelte sich wenig beeindruckt wieder aus den Trümmern auf und ging zum Gegenangriff über. Asheroth stellte nebenbei fest, dass er die Bewegungen ihres Gegners recht gut vorausahnen konnte. Wenigstens das hatte der Soldat mit anderen Geschöpfen gemein. Asheroth wich ihm mühelos aus und trat ihm seitlich gegen sein ungeschütztes Knie. Der Soldat strauchelte nur einen kurzen Moment. Achilleas rammte ihm, ohne zu zögern, einen Dolch ins Rückgrat, woraufhin Asheroth ihm die Kehle durch schnitt. Sein Blut roch wie erwartet fremd und sogar bitter, allerdings lag auch der unverkennbare Geruch eines Vampirs darin. Asheroth beschlich ein grausiger Verdacht. Durch den Lärm waren die übrigen Geschöpfe im Gebäude aufgeschreckt worden. Sein Tastsinn verriet ihm, dass sie bereits auf der Treppe zu diesem Korridor waren. Achilleas riss seinen Dolch aus dem Rückgrat ihres Gegners und stieß ein zweites Mal direkt neben den Halswirbeln zu. Mittlerweile ließen die Kräfte ihres Gegners merklich nach, aber er setzte sich immer noch zur Wehr. Achilleas wich einem unkontrollierten Schlag aus und zuckte zusammen. Ein kleiner, metallener Pfeil steckte in seiner Schulter. Die Wunde, die er verursacht hatte, war kaum der Rede wert. Das konnte jedoch nur eins bedeuten. Gift. Asheroth benutzte den schwer verletzten Soldaten als Schild, als die drei anderen am Ende des Korridors auch auf ihn schossen. Achilleas zog den Pfeil aus seiner Schulter und stieß ein durchdringendes Grollen aus, bevor er sich auf die Neuankömmlinge stürzte. In dem kurzen Moment, in dem sein Bruder die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, berührte Asheroth den schwer verletzten Soldaten im Gesicht, dann am Hals. Anschließend griff er in den klaffenden Schnitt und trennte seinen Kopf mit einem kräftigen Ruck vom Körper. Der erste Soldat war tot. Zufrieden stellte der Älteste fest, dass diese Geschöpfe wie er selbst diesem einen Grundsatz unterlagen. Die übrigen überwältigten die beiden Vampire effektiver, um Zeit zu gewinnen. Asheroth spürte nämlich, dass Achilleas langsamer wurde. Als wieder Stille herrschte, legte er die Hand auf die Schulter seines Bruders. „Ich denke nicht, dass es dich umbringen wird.“

„Wie beruhigend“, erwiderte Achilleas trocken. „Ich spüre meinen Arm kaum noch.“

Asheroth nickte. „Es lähmt, aber das sollte sich wieder geben.“

Der Spartaner machte eine wegwerfende Handbewegung mit dem anderen Arm. „Was zum Henker sind die?“

„Hybriden.“

Darauf hob Achilleas fragend die Brauen. „Aus uns und den Gestaltwandlern?“

„Ja.“ Asheroth ging in die Hocke, um einen der Toten näher zu untersuchen.

„Aber es müssen doch einige sein. Wenn so viele verbotene Hybriden geboren worden wären, wäre es dir doch mit Sicherheit nicht entgangen.“

„Da hast du Recht, Bruder.“ Er ertastete einen winzigen metallischen Gegenstand in der Brust des toten Hybriden. Mit Hilfe seines eigenen Dolches setzte Asheroth einen gezielten Schnitt, um ihn herauszuholen. Es handelte sich um eine Art Chip, aus dem zwei Drähte herausragten, die kaum dicker als Haare waren.

„Sie wurden nicht als Unsterbliche geboren. Irgendwie haben sie einen Weg gefunden, sich unsere Stärken künstlich anzueignen.“ Asheroth erhob sich. „Ich schlage vor, wir bitten Anzheru und Mira um Hilfe. Wenn das Interesse dieser Hybriden an Tove wirklich so groß ist, wie Marcus befürchtet, wird sie sicher gut bewacht.“

Achilleas nickte schwach. Inzwischen hatte sich sein Herzschlag auf den eines Schlafenden verlangsamt. Asheroth musste ihn auf dem Weg hinaus stützen. Glücklicherweise fand sich auf dem Innenhof ein Wagen. Er setzte seinen Bruder auf den Beifahrersitz und holte anschließend seine Tasche. Während Asheroth den Wagen vom Hof lenkte, wählte er die Nummer seines Sohnes. Bereits nach dem zweiten Freizeichen meldete sich Anzheru mit einem angespannten Unterton. „Commodus hat mir gesagt, was du vorhast. Seid ihr in Schwierigkeiten?“

„Das kann ich noch nicht genau abschätzen. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn ihr uns beisteht.“

„Ich bin schon auf dem Weg nach Aberdeen, um Letizia abzuholen. Mira wird euch helfen. Sofern diese Geschöpfe lichtempfindlich sind.“

Asheroth seufzte leise. „Auch das kann ich noch nicht sagen.“

„Aber mittlerweile bist du ihnen begegnet, nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Gegen wen kämpfen wir, Vater?“

„Gegen die Menschen.“ Asheroth biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben künstliche Hybriden erschaffen.“

Anzheru erwiderte nichts und unterbrach die Verbindung. Das Nötige war gesagt. Achilleas hielt sich immer noch mit aller Kraft wach. Asheroth überließ ihm das Gespräch mit Mira, um ihn zu beschäftigen. Sie verabredeten einen Treffpunkt, von dem aus sie gemeinsam mit der Tageswandlerin und ihrer Leibwache nach dem nächsten Stützpunkt ihrer Feinde suchen würden.

Vampirin

Ein paar recht ereignislose Tage waren vergangen, seit Shaun, Keith und Hugh die schwangere Gestaltwandlerin abgeliefert hatten. Wie üblich hatten sie seitdem die Teams und ihren Einsatzort gewechselt. Shaun hatte Dr. Morgan nur für eine Etappe ihrer Reise begleitet, nun saß er in einer kleinen unauffälligen Einrichtung der Firma mitten in Deutschland fest. Zu seinem Erstaunen hatte Dr. Morgan den Vampir, der unter der Bezeichnung VA1 geführt wurde, in diesem Stützpunkt zurückgelassen und nur die Leopardenfrau mitgenommen. Warum sie VA1 nicht mehr brauchte, hatte ihm niemand gesagt. Meistens erhielten die Teams ihre Befehle vollkommen unabhängig voneinander, weshalb Shaun nicht einmal wusste, was Keith und Hugh gerade taten. Den General hatten sie jedenfalls nicht begleitet, als auch er Belgien verlassen hatte. Über die Befehle der Laboranten erfuhr Shaun erst recht nichts. Als er gerade eine Runde um das alleinstehende Laborgebäude drehte, rief ihn eins seiner jetzigen Team-Mitglieder über Funk. „Komm sofort rein. Der General will dich sprechen.“

Shaun bejahte knapp. Mit diesem Team war nicht viel anzufangen. Das wusste er, seit sie es nicht einmal geschafft hatten, VA1 in seinem Gefängniskubus in Ruhe zu lassen. Vier erwachsene Männer hatten allen Ernstes an die Scheibe geklopft und Witze gerissen, bis die bleiche, ausgezehrte Kreatur aufgewacht war und entsprechend reagiert hatte. Hoffentlich würden ihm bei der nächsten Rotation wieder fähigere Männer zugeteilt werden. Er eilte hinauf in den Raum, der mit einem großen Bildschirm für Videokonferenzen ausgestattet worden war. Das leicht aufgedunsene Gesicht des Generals erwartete ihn bereits. Allerdings wirkte er seltsam zufrieden, während sie sich begrüßten.

„Sie können VA1 jetzt eliminieren, Subjekt 12. Wir haben heute großartiges Material erhalten.“

Shaun nickte. Das einzige, das er an diesem Job noch mehr verachtete als unfähige Söldner waren ihre Bezeichnungen. Der General und auch Dr. Morgan sprachen sie ausschließlich mit ihren Personalnummern an. Er besaß mit 12 tatsächlich die Niedrigste.

„Muss ich mich auf Lieferungen einstellen?“, fragte er mit aller Begeisterung, die er angesichts seines Teams aufbringen konnte. Der General überlegte einen Augenblick. „Das ist durchaus möglich. Wir…“

Ein schriller Alarm unterbrach ihn. Shaun wandte sich wortlos ab und stürmte hinaus. War etwa jemand auf die Idee gekommen, VA1 aus seinem Kubus zu lassen? Er stellte sich vor, wie er denjenigen zusammenfalten würde, als er die Überwachungsmonitore erreichte. Mit dem Gefangenen war alles in Ordnung. Das Team allerdings hatte sich geschlossen nach unten begeben. Die Außenkamera zeigte eine weibliche Gestalt, die vor dem leergeräumten Labor aufgetaucht war. Dieses Gebäude war im Gegensatz zu dem alten Produktionsgelände in Belgien bereits mit Temperaturscannern ausgerüstet worden. Der Alarm war offenbar ausgelöst worden, weil die Scanner sich bewegende Körper mit sehr niedriger Temperatur erfasst hatten. Aber die schwarzhaarige Frau konnte es nicht sein, sie besaß laut der Anzeige normale 36 Grad Körpertemperatur. Wenn die Vampire glaubten, sie mit einem menschlichen Köder überlisten zu können, hatten sie sich geirrt. Shaun übersprang die Treppe, die nach unten führte. Diese Fähigkeit gefiel ihm am besten an seinem Hybridenkörper.

„Da sind Vampire!“, zischte einer der Söldner, als er sie erreichte. Shaun warf ihm einen finsteren Blick zu. „Das weiß ich auch! Ihr zwei geht vor, wir geben euch Deckung.“

„Und die Frau?“

„Schont sie, wenn möglich“, knurrte Shaun und schluckte den sarkastischen Kommentar herunter, der ihm auf der Zunge lag. Als ob es nicht selbstverständlich wäre, Zivilisten nach Möglichkeit eben nicht zu erschießen. Mit entsicherten Waffen marschierten die beiden Söldner auf die schlanke Frau zu, während Shaun und die zwei übrigen Männer zurückblieben und die Umgebung sicherten. Bestimmt hielten sich die Vampire hinter den seichten Hügeln in Deckung.

„Alles in Ordnung?“, rief der größere der beiden Söldner, als sie nur noch wenige Schritte von der Frau entfernt waren.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie leise und griff sich an den Hals. Shaun vermutete, dass sie gebissen worden war. Das verwandelte sie nicht, aber wahrscheinlich war ihr schwindlig und sie fürchtete sich. Es rührte sich immer noch nichts außer den Grashalmen, die vom Wind niedergedrückt wurden. Shaun warf wieder einen kurzen Blick zu der Frau. Ihre Augen glühten.

„Sag du es mir!“, grollte sie und plötzlich war es vor dem Laborgebäude mitten in der Nacht taghell. Shaun konnte nicht anders, als eine halbe Sekunde lang ungläubig hinzustarren. Seine beiden Kollegen gingen sofort zu Boden, die anderen in seiner Nähe eröffneten blindlings das Feuer, trafen jedoch nichts. Der Mann rechts von Shaun wurde von einem Speer durchbohrt, der auch noch in die Gebäudewand einschlug. Hektisch machte Shaun einen Satz rückwärts. Hier konnte er nicht mehr gewinnen, aber er musste unbedingt Meldung an das derzeitige Hauptquartier des Generals machen. Er erreichte gerade einmal die obere Hälfte der Treppe, bevor ihn das gleißend helle Licht erfasste. Es war nicht wie Feuer, trotzdem hatte Shaun das Gefühl, lebendig zu verbrennen. Der Schmerz fraß sich durch seine Kehle in seine Lungen. Der Aufschlag auf den Betonstufen der Treppe kam ihm dagegen lächerlich vor. Das Licht verschwand so plötzlich, wie es sich ausgebreitet hatte.

„Sie haben dich tatsächlich nicht erkannt.“

Die männliche Stimme drang nur sehr undeutlich zu Shaun durch. Er versuchte, weiter nach oben zu kriechen, aber es war aussichtslos. Schritte näherten sich, dann packte ihn eine Hand, zerrte ihn auf den Treppenabsatz und drehte ihn auf den Rücken.

„Woher sollten sie auch wissen, dass ich eine Vampirin bin“, sagte die schwarzhaarige Frau über ihm. Jetzt waren ihre Augen normal wie die eines Menschen. Niemand würde vermuten, dass sie Licht erzeugen konnte. Sie wirkte so unschuldig. Und nebenbei war sie auch noch schön.

„Der hier lebt noch.“

„Ändere das. Wir durchsuchen das Gebäude“, rief ihr ein anderer Vampir zu. Sie musterte Shaun eindringlich. Erst jetzt registrierte er, dass er nicht atmen konnte. Unter großen Schmerzen und elend langsam winkelte er seinen Arm soweit an, dass er nach seiner Kehle tasten konnte. Sein bloß liegendes Fleisch fühlte sich immer noch grauenhaft heiß an, aber wenigstens schien er nicht mehr zu brennen. Die schwarzhaarige Vampirin packte ihn an den Haaren und schleifte ihn mit sich in den Konferenzsaal, aus dem die aufgeregte Stimme des Generals über die Lautsprecher zu hören war.

„Subjekt 12! Machen Sie sofort Meldung! Was geht da vor?“, brüllte er. Als die Vampirin für ihn auf dem Bildschirm erschien, blieb ihm sein nächster Befehl im Halse stecken. Shaun konnte sich kaum rühren. Sie hielt ihn immer noch gepackt. Wenigstens sein verbranntes Gesicht musste im Radius der Kamera liegen.

„Da Sie die angreifende Partei sind, schlage ich vor, Sie beginnen.“ Ihre Stimme war so weich und gleichzeitig so schneidend, dass sie keinen Widerspruch duldete. Shaun konnte trotz allem nicht umhin, zu erschaudern.

„Wir sind die Angreifer?“, wiederholte der General abfällig. „Ihr Parasiten versteckt euch seit Jahrhunderten und tötet unschuldige Menschen, wie es euch gefällt. Aber das hat jetzt ein Ende!“

Die Vampirin erwiderte nichts, sie neigte nur leicht den Kopf. Eine Ader an der Stirn des Generals trat bedrohlich hervor. „Für Monster wie euch ist kein Platz in dieser Welt.“

„Woher, glauben Sie, kommen wir?“, fragte die Vampirin.

„Was spielt das schon für eine Rolle?“, giftete der General zurück. Shaun war selbstverständlich nicht mit solchen Hintergrundinformationen versorgt worden. Ob sie überhaupt vorlagen?

„Ich werde nicht ruhen, bis ich euch alle ausgerottet habe!“

„Nun, hier liegt schon der entscheidende Unterschied zwischen uns. Wir trachten nicht danach, die Sterblichen zu vernichten“, setzte ihm die Vampirin entgegen.

„Natürlich nicht! Der Jäger rottet seine Beute niemals ganz aus, sonst verhungert er selbst.“ Der General schnaubte verächtlich. Die Vampirin blieb vollkommen ruhig. Shaun nahm erst jetzt bewusst wahr, dass ihre Fingerspitzen warm waren. Die Scanner hatten fehlerfrei funktioniert.

„Und wenn ihr uns alle vernichtet habt, was dann?“, fragte sie. „Was ist dann mit diesen Männern?“

Sie zog Shaun an den Haaren ein Stück in die Höhe. Er spürte, dass die verbrannte Haut an seiner Kehle weiter aufriss. Mehr als einen kratzigen Laut bekam er dennoch nicht heraus.

„Ihr werdet sie nicht mehr brauchen. Werdet ihr auch sie alle vernichten, bevor sie sich gegen euch auflehnen? Macht verführt.“

„Nein, das wird nicht nötig sein.“ Der General grinste sie selbstgefällig an. Dann beendete er die Übertragung, ohne ein einziges Mal auch nur angedeutet zu haben, dass sie Shaun gehen lassen sollte. Offensichtlich war er gerade aufgegeben worden. Als sie endlich seine Haare losließ, sank er kraftlos zu Boden. Ein weiterer Vampir betrat den Raum. Er war groß, blond und blutüberströmt.

„Der Rest der Anlage ist verlassen“, sagte er mit einem herablassenden Blick auf Shaun. „Er ist der letzte.“

„Ich will ihn mitnehmen. Ich werde ihn befragen, wenn er wieder atmen kann.“ Die Vampirin musterte Shaun erneut. „Er scheint der Stärkste in diesem Stützpunkt gewesen zu sein. Er heilt sogar aus eigener Kraft.“

Der Blonde nickte. „Das wird interessant werden.“

„Er ist mein Gefangener“, warnte ihn die warme Vampirin. „Asheroth und du werdet vorerst die Finger von ihm lassen.“

„Wie du wünschst, Liebes.“ Mit einem ergebenen Lächeln ging der Blonde an ihr vorbei und wuchtete Shaun auf seine Schultern. Auf dem Rasen vor dem Gebäude wurden sie schon erwartet. Einer der Vampire trug ebenfalls einen Mann über der Schulter. Shaun konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber es konnte sich nur um VA1 handeln.

„Wie geht es ihm?“, fragte die warme Vampirin besorgt.

„Sie haben ihn extrem ausgezehrt. Ich bekomme ihn nicht einmal dazu zu trinken“, antwortete eine harte erbarmungslose Stimme. Sehen konnte Shaun den zugehörigen Vampir nicht mehr. Der Blonde ließ ihn einfach fallen und er landete mit dem Gesicht im Dreck.

„Ich kümmere mich darum. Gib ihn mir“, hörte er die Vampirin sagen.

„Den hier nehmen wir mit.“ Offenbar verstanden die Vampire diese Aussage des Blonden gleichzeitig als Befehl. Mindestens drei Männer knieten sich auf Shaun und begannen, seine Arme und Beine zu verschnüren.

„Was ist das?“, fragte einer der Vampire und zerrte an seinem ohnehin schon verdrehten Arm. Er fuhr mit dem Finger über die Stelle, an der Shaun sein Peilsender eingesetzt worden war. Seine Verletzungen mussten ihn zum Teil freigelegt haben. Im nächsten Moment spürte Shaun einen brennenden Schmerz in seinem Unterarm. Er wollte aufschreien, doch es drang nur ein heiseres Röcheln aus seiner Kehle, während der Vampir seelenruhig den Peilsender aus seinem Arm herausschnitt. Danach hörte Shaun ein metallisches Knirschen. Der Sender war zerstört. Die Firma hatte keine Chance mehr, ihn zu finden. Falls der General denn überhaupt nach ihm suchen ließ. Ein paar Sekunden später konnte Shaun sich keinen Millimeter mehr rühren. Woraus auch immer dieses Seil bestand, selbst im vollen Besitz seiner Kräfte würde er es nicht zerreißen können. Die Vampire schleiften ihn mit sich. Darum, dass Shaun eine Infektion durch den Dreck in seinen offenen Wunden davontragen könnte, schienen sie sich nicht zu sorgen. Er wurde in den Fußraum eines Militärhubschraubers gewuchtet. Eine eisig kalte Hand zerrte ihn ins Sitzen und hielt seinen Kopf gepackt, während sie abhoben. Die warme Vampirin hielt Subjekt VA1 im Arm. Nachdem sie die Hand eine Weile auf seinen Brustkorb gedrückt hatte, schlug er die Augen auf. Sie glühten eisblau. Und richteten sich unmittelbar auf Shaun.

„Trink.“ Die Vampirin hielt ihm ihr Handgelenk hin. Ungläubig sah VA1 zu ihr auf. Shaun glaubte auch nicht ganz, was er da beobachtete. Es hatte immer geheißen, dass Vampire kaltherzig und gnadenlos waren. Nun halfen sie einander und waren sogar bereit, ihr Blut zu opfern.

„Marek“, ermahnte sie ihn nachsichtig. „Dein Körper ist so gut wie blutleer und Wärme allein wird dich nicht heilen.“

Zum Glück nahm der Vampir ihr Angebot an. Shaun war sich sicher, dass sonst er dran gewesen wäre. Sie schloss die Augen, während er aus ihrem Handgelenk trank. Zum einen war Shaun erstaunt darüber, wie kontrolliert es ablief, zum anderen widerte es ihn ungemein an, dabei zuzusehen. Als die warme Vampirin erschauderte, ließ VA1 abrupt von ihr ab.

„Meine Güte…“, murmelte sie entsetzt.

„Warum wollte ich wohl nicht, dass du dir das ansiehst?“, knurrte er. „Die wussten nicht, dass ich die meiste Zeit über wach war.“

Shaun zuckte zusammen, soweit sein Zustand und seine Fesseln es zuließen. Er hatte nur ein einziges Mal zufällig beobachtet, wie Dr. Morgan Zellproben aus dem Körper des Vampirs entnommen hatte. Im Grunde hatte sie VA1 lebendig aufgeschnitten und jedes seiner Organe beschädigt. Shaun warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Seine Haut regenerierte sich zusehends. Die Geschwindigkeit seiner Heilung war schon fast beunruhigend. VA1 starrte düster zurück. Betont langsam erhob er sich.

„Ich will ihn lebend!“, fuhr die warme Vampirin ihn an.

„Ja…“ Er kam trotzdem auf Shaun zu. Der Vampir hinter ihm zerrte seinen Kopf hoch. Trotz allem wagte er es, diesen Marek direkt anzusehen. Noch nie hatte er so tiefe Verachtung in den Augen eines anderen gesehen. Der Vampir schlug ihn unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Shaun registrierte noch, dass sein Kiefer gebrochen sein musste, bevor er das Bewusstsein verlor.

Marek setzte sich Mira gegenüber auf den einzigen freien Platz im Hubschrauber und tastete seine rechte Hand ab. Offenbar war sein Körper noch längst nicht wieder bereit zu kämpfen. Er hatte sich gerade zwei Mittelhandknochen gebrochen. Die Tageswandlerin schüttelte sacht den Kopf, schien ihm den kleinen Ausbruch aber nicht übel zu nehmen, nach allem, was sie in seinen Erinnerungen gesehen hatte. Wie gern er das Hybridengeschöpf auf der Stelle in Stücke gerissen hätte. Marek kannte ihn. Dieser Mann hatte seine einzige Chance vereitelt, aus dem Labor der grässlichen Frau im weißen Kittel zu entkommen. Dabei hatte sein Gesicht noch nicht einmal eine Regung verraten, der Hybrid hatte lediglich seine Arbeit getan. Achilleas saß neben Mira und musterte ihn eindringlich. „Kannst du wieder klar denken?“

Marek nickte.

„Wie lange warst du in Gefangenschaft? Ich dachte, ich höre nichts von dir, weil du bei Jacky bist.“ Sein Gebieter machte ihm tatsächlich keinen Vorwurf. Dennoch fühlte Marek sich hundsmiserabel, da er nicht einmal diese erste Frage beantworten konnte. „Nein, sie… hat mich abgewiesen“, stammelte er stattdessen.

„Das ist jetzt wirklich nebensächlich. Was wollten sie mit deinem Blut?“, fragte Asheroth ungeduldig. Der Leibwächter wandte ihm das Gesicht zu. Asheroth würde erfahrungsgemäß erst aufhören, wenn er alles Relevante erfahren hatte. Es war ratsam, ihm zu berichten, so demütigend es auch werden würde. Den Biss eines Ältesten wollte Marek in diesem Zustand wirklich nicht riskieren.

„Welcher Tag ist heute?“, fragte er trotzdem so ruhig wie möglich und erschauderte, als Mira ihm antwortete. Es waren über dreizehn Monate vergangen, seit er den Hauptsitz des Östlichen Clans enttäuscht verlassen hatte und auf dem Rückweg nach Aberdeen gefangen genommen worden war. Die Männer, die ihn am Flughafen von Moskau aufgegriffen hatten, hatten im ersten Moment wie Gestaltwandler gerochen. Um keinen Krieg zu provozieren, war Marek ihnen gefolgt und daraufhin in einen Hinterhalt geraten. Seine Erklärung stimmte Asheroth seiner Miene nach kaum milder. Der Älteste verurteilte ihn nur mit seinem Blick dafür, dass er nicht aufmerksamer gewesen war.

„Die Sterblichen wollten herausfinden, welcher unserer Zellen unsere Macht entspringt“, fuhr Marek etwas heiser fort. „Dass es unser Blut ist, war ihnen schnell bewusst, aber sie wollten unbedingt eine Alternative.“

„Um Männer wie ihn zu erschaffen?“ Achilleas wies auf den gefesselten Hybrid auf dem Boden des Hubschraubers.

„Ich nehme es an. Zeitweise hatte ich den Geruch von echten Gestaltwandlern in der Nase. Wahrscheinlich haben sie es mit ihnen genauso gemacht. Also Zellen herausgeschnitten und herumexperimentiert…“

Mira wandte den Blick ab. Marek ertrug ihre Gegenwart nicht besonders gut. Es beschämte ihn, dass sie sein Elend in seinen Erinnerungen gesehen hatte. Und natürlich wusste die Tageswandlerin auch, wie schuldig er sich fühlte. Hätte er sich bloß nicht so sehr von seiner Enttäuschung über Jackys Entscheidung ablenken lassen, dann wäre das alles nicht passiert und die Sterblichen hätten ihre Soldaten nicht zu halben Vampiren machen können. Als Verräter hingerichtet zu werden, erschien Marek nicht als die schlechteste Alternative. Da er Achilleas‘ oberster Leibwächter war, lag die Entscheidung jetzt allerdings bei ihm und nicht bei Asheroth. Marek presste gespannt die Lippen zusammen.

„Hoffentlich nimmt Vincent die Warnung unseres Bruders ernst. Werwolf-Hybriden will ich mir gar nicht erst vorstellen“, sagte sein Gebieter und rieb sich die Stirn, statt eine Verurteilung auszusprechen. Asheroth stimmte ihm mit einem Nicken zu. Marek würde wohl warten müssen. Ein leises Piepsen unterbrach die eingetretene Stille. Mira zog ein Handy hervor und nahm einen Anruf entgegen. „Ja?“

„Lass die anderen mithören“, sagte Anzheru am anderen Ende der Leitung, ohne seine Gefährtin zu begrüßen. Sie drückte auf ein Symbol im Display, damit der Lautsprecher des Telefons die Fluggeräusche übertönte.

„Aberdeen ist gefallen“, sagte Asheroths Sohn, wobei ihm sein Entsetzen deutlich anzumerken war. Marek wünschte sich, es wäre Tag und er könnte sich ins Sonnenlicht stürzen. Allerdings würde ihm selbst das im Moment nichts nützen. Dank Miras Heilung war er warm wie ein Mensch und würde trotz seines elenden Zustands nicht verbrennen.

„Die Leibwächter wurden besiegt. Sie werden gerade in durchsichtigen Würfeln auf einen LKW verladen. Ich glaube, sie leben noch.“

Marek nickte gezwungen. „Das machen sie so mit Gefangenen.“

„Wie viele Hybriden sind es?“, fragte Asheroth atemlos.

„Ich weiß es nicht genau. Bisher habe ich etwa 40 gezählt“, antwortete Anzheru. Er zwang sich offenbar, leise zu sprechen, um nicht entdeckt zu werden.

„Greif sie nicht allein an, sie haben Betäubungsgift! Wer weiß, was sie erst mit deinem Blut anstellen könnten. Siehst du Commodus?“, fragte Achilleas.

„Ihn haben sie schon weggebracht.“

Mira war mit dem Telefon in der ausgestreckten Hand zu einer Säule erstarrt. Jetzt bewegte sie leicht die Lippen. Marek sah das blanke Entsetzen in ihren Augen.

„Letizia?“, hauchte sie ängstlich.

„Ich weiß nicht. Sie habe ich nirgendwo gesehen.“ Anzheru schwieg einen Augenblick, während Achilleas Mira tröstend an sich zog. „Wir verschwinden jetzt von hier.“

„Wir?“, fragte Asheroth irritiert.

„Batiste ist bei mir. Nachdem du und Achilleas aufgebrochen ward, wollte er nach Marek suchen, hat ihn aber nicht gefunden.“

Der Leibwächter verzog die Mundwinkel. Batiste stand ihm näher als jeder andere in der Leibwache der Ältesten und kannte seine Rückzugsorte. Bestimmt fühlte er sich gerade ähnlich schlecht beim Anblick ihrer gefangenen Brüder.

„Ihn haben wir schon zurück. Sag Batiste, es geht ihm gut“, brachte Mira mühsam heraus. Ihre Tränen bewirkten das absolute Gegenteil, aber Marek schwieg lieber. Seine erbärmliche Entschuldigung würde ihr nicht helfen, solange ihr Kind vermisst wurde. Anzheru beendete das Telefonat daraufhin mit dem Versprechen, dass sie sich bei ihrem Clan treffen würden. Hoffentlich zögerte der geborene Vampir nicht, sein Schattenwesen gegen die Hybriden einzusetzen, wenn er unterwegs auf sie traf. Dagegen waren auch sie sicher nicht immun. Achilleas hielt Mira nach wie vor fest im Arm, aber das schien ihr nicht wirklich zu helfen. Vermutlich malte sie sich gerade aus, was mit ihrer Tochter in diesem grauenhaften Labor geschehen würde. Marek lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schloss die Augen, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Obwohl er seit Wochen nie richtig bei Bewusstsein gewesen war, war er unheimlich müde. Er hörte noch, wie Asheroth Elvera telefonisch darum bat, umgehend zum Hauptquartier des Nördlichen Clans zu reisen. Den Rest des Fluges verbrachten die Vampire in tiefem Schweigen. Erst als sie landeten, wurde Marek wieder wach. Anzherus Vampire erwarteten sie auf dem Platz vor ihrem Hauptquartier. Mira hatte sich mittlerweile halbwegs gefangen und teilte den Ältesten und ihm Gästequartiere zu. Marek mied es, ihr in die Augen zu sehen. Das würde er frühestens wieder fertig bringen, wenn sichergestellt war, dass Letizia noch lebte. Anschließend informierte Mira ihren Clan über das Geschehen und ließ die Wachen verdoppeln. Den gefangenen Hybriden ließ sie in den Keller verfrachten. Marek vermutete, dass selbst Anzheru ein paar Zellen in seinem Haus aufrechterhielt. Subjekt 12 hatte während der gesamten Reise keinen Laut mehr von sich gegeben. Dafür waren seine Brandwunden schon teils verheilt. Was Mira mit ihm vorhatte, interessierte Marek weniger, nur seine Hinrichtung wollte er sehen. Auf dem Weg in sein Quartier begegnete er Asheroth. Er lehnte auf dem Korridor an der Wand. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

„Du wünschst, Gebieter?“, fragte Marek tonlos.

„Du sagtest, es waren Gestaltwandler in diesen Laboren. Hast du sie gesehen?“ Der Älteste durchbohrte ihn erneut mit seinem Blick. Der Leibwächter schüttelte betreten den Kopf.

„Bist du ganz sicher? Mein Mündel ist nämlich ebenfalls in die Fänge dieser Hybriden geraten.“ In seiner Stimme lag keine Drohung mehr, nur die leise Hoffnung auf irgendein Lebenszeichen von dem kleinen Halbblut, das er vor Jahren in seine Familie aufgenommen hatte. Marek hielt den Atem an und suchte fieberhaft in seinen verschwommenen Erinnerungen nach einem Hinweis auf sie. Eine weibliche Stimme hatte seinen Namen gesagt, nicht seine Objektnummer.

„Ich glaube, ich habe sie gesehen“, sagte er zögerlich.

„Es kann nicht lange her sein. Und Tove trägt ein Kind in sich.“ Asheroth drückte sich von der Wand ab. Wieder einmal hatte er sich aus Vorsicht entschieden, barfuß zu sein, um ihre Feinde früher auszumachen. Marek betrachtete seine nackten Füße, um seinem Blick auszuweichen. Das Gesicht der Frau, die neben ihm in einem dieser Glaswürfel gesessen hatte, lag wie alles andere hinter einem dichten Vorhang. Aber an den gewölbten Bauch konnte er sich erinnern. „Ja, dann war sie es.“

„Gut“, gab Asheroth zufrieden zurück. „Und sieh mich gefälligst an.“

Marek hob ruckartig den Blick. „Gebieter, ich…“

Der Älteste gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. „Dass du dich schämst, ist mir klar. Aber wir werden jeden Vampir in diesem Krieg brauchen. Du wirst kämpfen.“

Der Leibwächter schluckte seinen Widerwillen herunter. Er hatte geschworen, den Ältesten zu dienen. Sein Stolz musste dahinter zurückstehen.

„Tove war in dem Gebäude, in dem wir dich gefunden haben“, fuhr Asheroth ungerührt fort. „Aber sie müssen sie schnell fortgebracht haben. Hast du eine Ahnung, wohin?“

Marek verneinte erneut. „Mich haben sie auch ständig von einem Labor zum anderen gebracht. Man könnte fast meinen, die Hybriden wissen, dass du dir bekannte Geschöpfe finden…“

Der Verdacht ließ ihn ins Stocken geraten. Asheroths Miene verhärtete sich. „Ja, meine Fähigkeit scheint bekannt zu sein. Commodus ist sofort sehr weit weggebracht worden, um fürs Erste seine Spur zu verwischen.“

Marek fluchte unwillkürlich in der Sprache seiner menschlichen Heimat. „Wer hat den Sterblichen das alles verraten? Außer mir war dort kein Vampir und die Gestaltwandler fangen sie doch auch!“

Der Älteste nickte grimmig. „Vielleicht weiß Miras Gefangener mehr. Du wirst allerdings nicht an den Verhören teilnehmen. Sie fürchtet, du erschlägst ihn bei der ersten Gelegenheit.“

„Da hat sie nicht ganz Unrecht“, gab Marek freimütig zu. Asheroth hob streng eine Braue. „Solange er von Nutzen ist, hältst du dich von ihm fern.“

„Ja, Gebieter.“ Irgendwann würde Subjekt 12 seinen Nutzen schon verlieren, da bestand für Marek kein Zweifel.

Chip

Die Luft war kühl und etwas feucht. Zuerst nahm Shaun den Geruch von altem Holz wahr, also hatte er sich wohl so weit regeneriert, dass er wieder atmen konnte. Er öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder gegen das grelle Licht zusammen. Direkt über ihm an der Decke war eine Neonröhre, die hell genug war, um eine Sporthalle auszuleuchten. Beim Versuch, nach seinem Kiefer zu tasten, stellte Shaun enttäuscht fest, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine Gliedmaßen waren überstreckt und festgebunden worden. Irgendwann mochte das seltsame Holzgerüst unter ihm einmal als Folterinstrument gedient haben. Das konnte ja heiter werden. In seiner Zeit als Berufssoldat und später als Söldner war er nie in Gefangenschaft geraten. Jetzt war er einer Horde aufgebrachter Vampire ausgeliefert, über die er offenbar längst nicht alles wusste. In der Begrüßungsansprache des Generals war damals nur die Rede von ihrem unstillbaren Blutdurst und ihrer Aggressivität gewesen. Von einer Frau, die Licht erzeugen konnte, hatte Shaun noch nie gehört. Wie hatte sie das bloß angestellt? Für einen Trick hatten sich die Brandwunden viel zu echt angefühlt. Dr. Morgan würde ihm diese Geschichte wohl kaum glauben, falls er sie denn je wieder traf. Das Geräusch von Schritten drang durch die Decke zu ihm durch. Es mussten sich einige Vampire in dem alten Gebäude befinden. Nun hörte Shaun auch Schritte, die näher kamen. Kurz darauf betraten zwei Vampire den Raum. Der eine blieb außerhalb seines Sichtfelds. Um ihn zu sehen, hätte Shaun den Kopf heben müssen, aber auch um seinen Hals lag ein fester Strick. Die warme Vampirin jedoch setzte sich keinen halben Meter von seinem Kopf entfernt auf einen Hocker. Ihre Züge waren noch einen Augenblick starr, dann lächelte sie ihn allen Ernstes an. „Du befindest dich im Quartier meines Clans. Ich bin Mira.“

Shaun erwiderte nichts. Sie wurde ihm immer unheimlicher.

„Es ist unhöflich, sich nicht vorzustellen. Selbst als Gefangener.“ Die Drohung in ihren Worten war unverkennbar. Shaun entschied, trotzdem noch nichts zu sagen. Er wollte testen, wie schnell sie Gewalt einsetzen würde, damit er den Mund aufmachte.

„Ich sehe, dass du atmest. Also benutze deine Stimme.“ Sie legte den Finger auf seinen Nasenrücken. Augenblicklich wurde ihre Fingerkuppe so heiß, dass Shaun mit aller Kraft den Kopf wegzog. Er kam allerdings nicht weit. Der Strick hielt ihn dicht an dem massiven Holzbalken.

„Du bist das erste Geschöpf, das solche Verletzungen aus eigener Kraft heilen kann. Also habe ich eine Menge Haut zur Verfügung“, sagte Mira kalt. Shaun bejahte mit zusammengebissenen Zähnen. Da hatte sie leider Recht.

„Hast du nur diese Nummer? Subjekt 12?“ Ihre Augen wurden schmal. „Hat man euch eure Namen genommen?“

„Ja“, gab Shaun tonlos zurück. Vielleicht brachte es ihm irgendeinen Vorteil, wenn diese Vampirin glaubte, er würde seine eigene Identität nicht mehr kennen. Der zweite Vampir im Raum scharrte leise mit dem Fuß. Er langweilte sich offenbar jetzt schon.

„Na dann, 12. Wie bist du ein Hybrid geworden? Etwas, das in unserer Welt übrigens streng verboten ist.“ Mira stützte ihr Kinn auf.

„Warum das?“, fragte Shaun verwundert. Es hieß zwar, die unsterblichen Rassen wären untereinander verfeindet, aber Ausnahmen gab es immer. Das wusste er aus Erfahrung. Die Vampirin schlug die Augen nieder. „Lass mich eins klar stellen, 12. Du bist noch am Leben, weil ich es so will. Bis jetzt hast du geschwiegen, gelogen und mit einer Gegenfrage geantwortet. Hältst du das mir gegenüber für klug?“

Shaun biss erneut die Zähne zusammen. Er war noch nie ein guter Lügner gewesen und auch wenn sie sich nicht kannten, hatte Mira ihn durchschaut. Möglichst emotionslos nannte er ihr seinen Vornamen. Der genügte ihr zum Glück.

„Also, woher kommen deine Kräfte?“, fragte sie. Natürlich interessierte das die Vampire am allermeisten. Wenn er schon jetzt darauf antwortete, war er nutzlos. Shaun musste irgendwie Zeit schinden und dieses Verhör in die Länge ziehen. Nur solange, bis sie ihn von diesem Foltergerüst herunter ließen, um eine Pause zu machen. Dann hatte er wenigstens eine Chance zu entkommen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob Mira ihn überhaupt je losbinden würde. Mächtige Vampire mussten nie schlafen, warum sollten sie Rücksicht auf einen Sterblichen nehmen? Seine Gedanken überschlugen sich.

„Shaun“, ermahnte ihn die warme Vampirin. Ihre Geduld mit ihm schien zu Ende zu gehen. Jetzt wünschte er sich, er hätte ihr seinen Namen nicht gesagt.

„Ich habe ein paar Eigenschaften von euch und auch von den Gestaltwandlern. Kraft, Schnelligkeit, Sinne…“, begann der Söldner zu erklären, obwohl diese Informationen überflüssig waren. Daraufhin strich Mira einmal mit der Fingerkuppe über ihre eigene Nase. Die Geste war unmissverständlich.

„Na ja… Es gibt da ein Forschungsteam“, plapperte Shaun weiter. Vielleicht konnte er von sich ablenken. Die Firma hing bekanntlich nicht so sehr an ihm und im Moment war er auf sich allein gestellt, also konnte er belanglose Dinge über sie erzählen.

„Ich vermute, sie verstehen sich sehr gut auf Physiologie und Zellen.“ Mira klang nicht sonderlich interessiert.

„Ja, die leitende Wissenschaftlerin gilt als wahre Koryphäe auf diesem Gebiet. Aber mehr kann man auch nicht mit ihr anfangen.“

Die Vampirin hob kurz den Blick. Offenbar gab der zweite Vampir im Raum ihr ein Handzeichen oder Ähnliches.

„Du bist nicht von ihr überzeugt?“, fragte sie anschließend. Shaun versuchte ein Nicken. „Sie verbrennt mir nicht das Gesicht, aber besonders nett ist sie auch nicht. Frag mal VA1.“

„VA1? Du meinst den Vampir, den wir in deinem Stützpunkt gefunden haben.“

„Genau.“ Langsam fühlte er sich wieder etwas sicherer. Solange er redete, setzte Mira nicht dieses fürchterliche Licht gegen ihn ein. Es wunderte Shaun sowieso, dass es ihn verletzen konnte. Mit Tageslicht hatte er nie ein Problem gehabt.

„Werden diese Nummern wiederholt vergeben?“, fragte sie jetzt.

„Natürlich nicht.“

„Wie viele VA-Nummern gibt es noch?“

Shaun zögerte. Er wusste es nicht, da der General ihm nichts darüber gesagt hatte. Fest stand nur, dass es neue Gefangene gab, die er als großartiges Material bezeichnet hatte.

„Ein paar“, gab er ausweichend zur Antwort.

„Wie viele?“, wiederholte Mira mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme.

„Sieben“, gab Shaun trotzig zurück, woraufhin wieder ein leises Scharren ertönte. Die Vampirin hob die Hand über sein Gesicht. „Lüg mich nicht an!“

„Ich weiß es nicht!“ Shaun zerrte mit aller Kraft an seinen Fesseln. Hatte sie einen Lügendetektor, von dem er nichts spürte? „Und ich würde es auch nicht erfahren!“

Sie stand auf und krempelte die Ärmel ihrer schneeweißen Bluse hoch. Auf Handrücken und –gelenken hatte sie stark verblasste Tätowierungen, die ein sehr aufwendiges Muster ergaben. Zumindest glaubte Shaun, eine Art Muster darin zu erkennen. Seelenruhig zog sie ein Messer hervor und schnitt sein Shirt vom Hals bis zum unteren Saum auf.

„ICH WEISS NICHT, WIE VIELE GEFANGENE ES GIBT!“, brüllte er, auch wenn es aussichtslos war. Am Ende dieses Verhörs würde er aussehen wie ein verbranntes Steak.

„Das sagtest du bereits“, gab Mira kühl zurück und berührte ihn mit den Fingerspitzen knapp unterhalb seiner Rippen. „Woher stammt diese Narbe?“

Es war eine seiner alten Narben aus seiner Zeit als richtiger Soldat. Shaun zwang sich, ruhiger zu atmen. „Ich wurde angeschossen. Im Irak.“

„Du warst Soldat?“

„Ja.“ Warum interessierte sie sich plötzlich so sehr für seine persönliche Geschichte? Diese Befragung ergab zunehmend weniger Sinn. Aber solange Mira sich von ihren wichtigen Fragen ablenken ließ, sollte es Shaun recht sein.

„Und jetzt bist du ein Söldner, der Befehle ausführt und sonst nichts?“

„Ja!“ Es war nie sein explizites Ziel gewesen, bei dieser Firma zu arbeiten. Besonders stolz war er auch nicht darauf, aber wenigstens die Bezahlung stimmte, und an dieser Stelle brauchte er nicht zu lügen.

„Nach Gestaltwandlern brauche ich dann wohl nicht zu fragen“, fügte Mira seltsam tonlos hinzu. Es waren mindestens zwei, das wusste Shaun. Er hielt den Atem an, während sie die Operationsnarbe an seiner Brust nachzog. Darunter war der Hauptchip eingesetzt worden, der über Impulse zwei winzige Dispenser in seinem Körper steuerte. Diese gaben regelmäßig die Stoffe in sein Blut ab, die ihm seine Kräfte verliehen. Davon musste er sie ganz dringend ablenken. „Willst du dir meinen gesamten Körper so genau ansehen?“, fragte Shaun und versuchte, es unverfänglich klingen zu lassen. Mira hob eine Braue, statt zu antworten.

„Ich meine ja nur…“ Es gelang ihm tatsächlich, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. „Es wäre leichter zu ignorieren, wenn du nicht so verdammt hübsch wärst.“

Der zweite Vampir im Raum schnaubte belustigt. „Der Junge hat Nerven.“

Shaun erkannte die Stimme wieder. Es handelte sich um den großen blonden Vampir, der Mira auch schon bei seiner Gefangennahme begleitet hatte. Sie warf ihm einen ironischen Blick zu und wandte sich damit tatsächlich von seinen Narben ab.

„Ich bin siebenunddreißig. Zähle ich da wirklich noch als Junge?“, brummte der Söldner. Vielleicht ging er damit zu weit, aber alles war ihm recht, um Zeit zu schinden.

„Im Vergleich zu ihm bist du sehr jung.“ Mira lächelte sanft.

„Und du?“, fragte Shaun vorwitzig. „Wen hast du alles aufsteigen und sterben sehen? Elisabeth die Erste, Karl den Großen?“

Sie antwortete nicht, sondern sah wieder zu dem blonden Vampir hinüber. „Wo, sagtest du, hat Asheroth diesen Chip in dem toten Söldner gefunden?“

Shaun unterdrückte mit aller Macht einen Aufschrei oder sonst irgendeine Regung. Diese Vampirin raubte ihm langsam den letzten Nerv. Und sie brachte es tatsächlich fertig, dabei vollkommen unschuldig zu klingen.

„In der Brust, auf Höhe der fünften Rippe.“

Niemand hier würde Mitgefühl für ihn aufbringen, das war Shaun bereits bewusst gewesen. Allerdings ließ ihn die Leichtfertigkeit erschaudern, mit der der blonde Vampir gerade seinen Schwachpunkt offenbart hatte. Der Chip war recht empfindlich, sonst hätte Dr. Morgan ihn nicht unter die Rippen der Söldner setzen müssen. Das war natürlich unter Narkose geschehen. Mira würde ihn doch nicht genauso aufschneiden, wie sie es mit seinem Hemd getan hatte? Erneut fuhr sie mit den Fingern über die Operationsnarbe. Wer Asheroth sein könnte, spielte in Shauns rasenden Gedanken schon gar keine Rolle mehr. Trotzdem hörte er noch die Schritte auf dem Gang, die sich ihnen schnell näherten. Die Tür schabte über den Boden, woraufhin eine Stimme nach einem Gebieter rief. „Elvera ist eingetroffen. Asheroth bittet dich, nach oben zu kommen.“

Der blonde Vampir erhob sich dem Geräusch nach. „Kommst du mit, Liebes?“

„Ja, sofort.“ Mira warf Shaun einen letzten Blick mit ihren undurchdringlichen dunklen Augen zu. „Denk solange besser über deine Antworten nach. Ich werde sie nicht mehr lange von dir fernhalten können.“

Sie verließ den Raum und Shaun war allein. Er hatte es nicht über sich gebracht zu fragen, wen sie im Moment noch von ihm fernhielt. Am liebsten wollte er es gar nicht wissen, aber das würde ihm wohl kaum erspart bleiben. Shaun testete, ob er sich nicht doch irgendwie von diesen Fesseln befreien konnte. Losbinden würden die Vampire ihn schließlich nicht, bis sie mit ihm fertig waren. Darauf zu hoffen, war sinnlos. Resigniert starrte er in die grelle Lampe an der Decke. Die Stricke ließen sich nicht einen Millimeter verschieben.

Mira erreichte hinter Achilleas den oberen Treppenabsatz. Ihre Vampire bedeuteten ihnen, direkt in den alten Empfangssaal zu gehen. Der Älteste wirkte nicht mehr ganz so gelassen wie während des Verhörs.

„Sie weiß noch nicht, was mit Commodus geschehen ist, oder?“, wisperte Mira. Achilleas schüttelte den Kopf und hielt ihr die schwere Saaltür auf. Mit Elvera war auch Marcus hergekommen. Er schien sich allein unter den vielen Vampiren auf dem Gelände nicht ganz wohl zu fühlen. Mit verschränkten Armen hatte er sich an einem Fenster postiert. Asheroth würdigte ihn offenbar keines Blickes. Der Älteste nickte Achilleas kurz zu, dann schaute er wieder konzentriert Elvera an.

„Würde mich jetzt jemand gütigerweise darüber aufklären, was geschehen ist?“, fragte die älteste aller Vampirinnen ungewohnt barsch. Ihr Sanftmut, den Mira so sehr an ihr bewunderte, war restlos verschwunden.

„Es ist den Sterblichen gelungen, künstliche Hybriden zu erschaffen, die alle unsere Stärken besitzen. Laut ihrem Anführer wollen sie uns restlos auslöschen. Allerdings erforschen sie uns auch, deshalb töten sie uns nicht sofort. Unsere Festung in Aberdeen wurde besetzt. Sie haben die Leibwächter und auch Commodus gefangen genommen“, sagte Asheroth emotionslos. Allerdings wirkte er ähnlich wie sein Bruder etwas angespannt.

„Wo ist er?“, wollte Elvera nach einem schier endlosen Moment der Fassungslosigkeit wissen.

„Sie haben ihn sofort weit fortgebracht, ich vermute in die USA. Mehr kann ich im Moment nicht ertasten. Mein Sinn ist den Hybriden oder besser gesagt den Menschen, die sie erschaffen haben, offenbar bekannt. Sie transportieren die Gefangenen ständig von einem Ort zum anderen.“

Die Erklärung genügte ihr offensichtlich nicht. „Und wann gedenkst du, ihn aufzuspüren?“

„Elvera…“

„Finde ihn! Oder suche jemanden, der die Transportrouten kennt“, forderte sie, wobei sie ein paar Schritte auf Asheroth zuging. Mira beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung. Sie hatte nicht erwartet, dass die sonst so besonnene und gütige Vampirin plötzlich so zornig werden würde. Die wenigen Vampire im Saal schufen vorsichtshalber mehr Abstand zwischen sich und Asheroth und Elvera. Nur Marek rührte sich nicht von der Stelle.

„Wir dürfen nichts übereilen, so sehr es auch schmerzt, Commodus in diesem Konflikt nicht an unserer Seite zu haben“, versuchte der Älteste, sie zu beschwichtigen. „Wir brauchen eine Strategie, um gegen…“

„Wir vernichten sie alle! Sie dürften doch sowieso nicht existieren!“, fuhr Elvera ihn an. „Das ist unsere Strategie.“

„Das ist ein Ziel“, kommentierte Achilleas, was ihm einen sehr undankbaren Blick von Asheroth einbrachte. Die älteste Vampirin wirbelte zu ihm herum, wobei ihr ellenlanges Haar anmutig wie eh und je um ihr Gesicht fiel. Es stand im Moment in einem merkwürdigen Kontrast zu ihrer düsteren Miene und schien sie zum ersten Mal zu stören.

„Diese Hybriden besitzen effektive Gifte gegen die Gestaltwandler und auch gegen uns.“ Langsam gingen dem Vater ihres Gefährten wohl die Argumente aus. Mira traute sich nicht, sich in ihr Gespräch einzumischen. Ein bisschen Wärme würde Elvera auch nicht gegen ihre Angst um ihren Gemahl helfen.

„Das hat mir der Panther auch schon gesagt.“ Sie wandte sich wieder zu Asheroth um und streifte fahrig ihre Haare zurück. „Dann müssen wir ihnen eben zuvorkommen. Rechnen sie mit Gegenangriffen von unserer Seite?“

„Da wir bereits zwei ihrer Stützpunkte vernichtet haben, kann ich das nicht ausschließen“, gestand Asheroth. „Bitte sei vernünftig und…“

„Ich bin zwei Jahrtausende lang vernünftig gewesen! Was hat es mir genützt?“ Mittlerweile sprach Elvera so laut, dass sie das gesamte Hauptquartier hören musste. „Wenn du unsere Feinde nicht jagen willst, tue ich es eben.“

„Sie haben Tove und wahrscheinlich auch Letizia! Was glaubst du, was ich seit Stunden tue, wenn mich niemand ablenkt?“, erwiderte Asheroth genauso gereizt. „Ich fürchte, unsere Feinde sind näher, als uns lieb ist!“

„Gut!“

„Wenn ich etwas einwenden dürfte…“, setzte Achilleas an, doch Elvera schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab. „Du darfst nicht!“

Wieder folgte ihr Haar nur schwerfällig ihrer ruckartigen Kopfbewegung. Mit einem wütenden Schnauben fasste Elvera sie wie zu einem Zopf zusammen und schnitt sie kurzerhand mit einem Dolch ab, der irgendwo unter ihrer Kleidung verborgen gewesen sein musste. „Ich werde kämpfen, ob es euch passt oder nicht!“

Die beiden Ältesten betrachteten mit geweiteten Augen ihre abgeschnittenen Haare, die wie kastanienbraune Seide zu Boden glitten. Elveras Entschlossenheit würden sie definitiv nie wieder anzweifeln. Mira vermutete, dass es der erste Schnitt seit ihrer Verwandlung gewesen sein mochte. Vampirisches Haar wuchs extrem langsam.

„In welche Richtung muss ich gehen?“, fragte Elvera ungerührt, als wären ihre Haare wertloser Abfall gewesen. Asheroth fing sich sofort wieder. „Du gehst nirgendwo hin.“

Die älteste Vampirin packte ihn mit eisblauen Augen am Kragen. „Du erteilst mir keine Befehle. Sag es mir!“

Sie würde ihn beißen, um sich die Antwort in seinem Blut zu holen, daran hegte Mira nicht den geringsten Zweifel. Asheroth wand sich aus ihrem Griff und musste sofort ihrem nächsten Angriff ausweichen. Achilleas versuchte, sie von hinten zu packen, kassierte aber nur einen schweren Treffer gegen sein Jochbein. Sie waren beide sichtlich bemüht, die Gefährtin ihres ältesten Bruders nicht ernsthaft zu verletzen. Einige Stühle, Tische und achtlos stehen gelassene Gläser gingen zu Bruch, bevor die beiden Ältesten Elvera halbwegs unter Kontrolle bekommen hatten. Asheroth drückte blitzschnell auf einige Nervenpunkte an ihrem Rücken, woraufhin sie betäubt in Achilleas‘ Armen zusammensank. Der Spartaner legte sie über seine Schulter. Mit der freien Hand wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. „Wenn sie aufwacht, bist du dran.“

Asheroth nickte gezwungen. „Bis dahin brauchen wir dringend Antworten. Ich werde sie nicht in Ketten legen.“ Sein Blick wanderte zu Mira. Natürlich spielte er damit auf ihren persönlichen Gefangenen an.

„Sie bringt ihn immerhin dazu, Dinge auszuplaudern, von denen er glaubt, sie seien unwichtig“, sagte Achilleas ruhig. „Gib ihr noch etwas Zeit.“

„Elvera wird kaum bis heute Abend schlafen.“ Asheroth durchbohrte Mira nun regelrecht mit seinem Blick. „Mehr Zeit hast du nicht.“

Sie wandte sich wortlos ab und ging zurück in die Eingangshalle ihres Hauptquartiers. Bisher war Shaun den wichtigen Fragen ausgewichen. Was sollte er auch sonst tun, er befand sich im Feindeslager und schien nicht besonders viel über die Unsterblichen und noch nicht einmal seinen eigenen Auftrag zu wissen. Es gab nicht mehr viele Möglichkeiten, ein paar Informationen aus ihm heraus zu bekommen. Achilleas trug Elvera in ein freies Gästezimmer in der ersten Etage, solange wollte sie warten. Das Fahrgeräusch eines Autos ließ Mira aufhorchen. Anzheru und Batiste betraten nur wenige Atemzüge später die Eingangshalle. Ihr Gefährte kam direkt auf sie zu und schloss sie in die Arme. Mira wurde ein zweites Mal von der Angst um ihr gemeinsames Mündel überrollt. Seine Umarmung erwiderte sie nur zögerlich, Zärtlichkeit war jetzt irgendwie fehl am Platz. Schließlich würde sie wieder in den Keller hinuntergehen, um Shaun im schlimmsten Fall zu foltern, so sehr es sie auch anwiderte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Anzheru ihr ins Ohr. „Ich kam zu spät.“

„Du trägst nicht die Schuld daran.“ Mira schob ihn sanft von sich und wischte die eine Träne fort, die sie nicht hatte unterdrücken können. Dabei fiel ihr auf, dass Batiste ähnlich wie Marek angestrengt an ihr vorbei starrte. Offenbar fühlte sich nicht nur Anzheru schuldig. Marek begrüßte seinen alten Waffenbruder, nachdem er den Saal verlassen hatte, und sie gingen nach draußen. Anzheru nahm Miras Gesicht in beide Hände, obwohl sie sich ein wenig sträubte. „Ich nehme an, du hast Vater schon längst gefragt, ob er sie finden kann.“

Sie nickte. „Er sagt, er hat ihre Signatur nicht neu aufgenommen, seit sie ihren letzten Wachstumsschub hatte. Sie lebt, mehr weiß er nicht.“

Anzheru ließ enttäuscht die Schultern sinken. Als sich ihnen Achilleas näherte, wurde sein Blick ernster. „Habt ihr außer Marek noch etwas gefunden?“

„Ich habe einen Gefangenen.“ Mira löste sich von ihm.

„Eines dieser Hybridengeschöpfe?“ Sein Interesse war zweifelsohne geweckt.

„Ja, aber du kommst bitte nicht mit nach unten.“ Je weniger Vampire sie bei dem Verhör direkt beobachteten desto besser. Nur auf Achilleas‘ Gehör wollte Mira nicht verzichten. Der Spartaner hatte sich bereits als sehr hilfreich erwiesen. Es verunsicherte Shaun ungemein, dass seine Lügen sofort durchschaut wurden.

„Ihr habt eins davon?“, fragte Marcus ungläubig. Er stand noch in der Tür zum Saal. „Kannst du seine Gedanken in seinem Blut lesen?“

„Ich besitze diese Fähigkeit nicht“, gab Mira kühl zurück. Egal, wessen Blut sie trank, sie sah nichts darin. Nebenbei hatten die Wunden dieses Hybriden widerlich bitter gerochen.

„Was tust du dann mit ihm?“ Es klang nach einer Erwartung. Mira antwortete nicht. Mareks Reaktion auf ihren Gefangenen hatte ihr schon genügt. Bei allem Verständnis für die Wut des Panthermanns, ihn konnte sie jetzt genauso wenig brauchen wie den aufgebrachten Leibwächter.

„Tötet es lieber sofort.“ Marcus erweckte den Eindruck, dies nur zu gern persönlich zu übernehmen. Mira schüttelte abweisend den Kopf. „Du wirst dich wie Marek da heraus halten.“

Bevor er widersprechen konnte, wandte sie sich ab und stieg die Treppe in den Keller hinunter. Nur Achilleas folgte ihr.

Marcus ballte zornig die Fäuste. Niemand schien Mira in diesem Fall in Frage zu stellen. Ihr Gefährte rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte ihn durchdringend an. Seine immer eisblauen Augen riefen einen leisen Abwehrreflex in Marcus wach, doch er hielt seinem Blick verbissen stand.

„Du solltest lieber gehen. Lauere ihr nicht auf“, riet ihm der geborene Vampir.

„Darum geht es mir nicht“, erwiderte Marcus gereizt. „Was verspricht sie sich davon?“

„Es ist nicht falsch zu erfahren, was genau unsere Gegner sind. Irgendeinen Schwachpunkt werden sie haben.“

„Abgesehen davon, dass Köpfen sie umbringt?“, fragte der Panthermann sarkastisch. Anzheru brachte er damit natürlich nicht aus der Fassung.

„Ja“, sagte der Vampir ruhig und sogar nachsichtig. Das machte es für Marcus aber nicht erträglicher. Anzheru bedeutete ihm, mit ihm nach oben in die erste Etage zu gehen. „Ihr wart auf dem Weg nach Aberdeen?“

„Ja… Tove wollte Asheroth gern einen Überraschungsbesuch abstatten. Soweit das bei ihm möglich ist.“ Sobald Marcus nur ihren Namen aussprach, wurde sein Mund seltsam trocken. Seit er die Festung der Vampirältesten verlassen hatte, war keine Minute vergangen, in der er nicht an sie und ihr ungeborenes Kind gedacht hatte. Zuerst war er zum Hauptsitz der Europäischen Gestaltwandler gereist und unterwegs tatsächlich Elvera begegnet. Geduldig hatte sie abgewartet, bis er sein ergebnisloses Gespräch mit dem Oberhaupt der Gestaltwandler beendet hatte. Darius‘ Clan hatte weder etwas Auffälliges beobachtet, noch vermissten sie Angehörige. Dann hatte Asheroth sie angerufen und sie hatten den schnellsten Weg her genommen.

„Es gibt noch keinen Hinweis auf Tove, oder?“, fragte Marcus, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte. Andernfalls wäre der Vampirälteste wohl so gnädig gewesen, ihn darüber zu informieren.

„Nein, aber Vater wird sie finden“, gab Anzheru zuversichtlich zurück. Die Sorge um sein adoptiertes Vampirmädchen konnte er allerdings nicht verbergen. Wie der Geborene es fertig brachte, überhaupt noch so ruhig zu bleiben, war Marcus schleierhaft. Er bekam ein Zimmer zugewiesen und zog sich dankbar zurück. Zu seinem Ärger waren die Nachwirkungen der Vergiftung immer noch nicht völlig abgeklungen. Er fühlte sich kampffähig, wurde aber immer noch verhältnismäßig schnell müde.

Der flache Atem des Söldners verriet seine Anspannung, als sie den Raum betraten. Mira betrachtete seinen Brustkorb einen Moment, der sich hob und senkte.

„War ganz schön laut da oben“, bemerkte er beiläufig. „Wurde jemand verletzt?“

„Warum interessiert dich das?“, gab Mira tonlos zurück. Selbst wenn kein Vampir mehr im Haus war, der ihn bewachte, könnte Shaun nicht entkommen. Asheroth persönlich hatte seine Fesseln kontrolliert, als er noch bewusstlos gewesen war. Seine Brandwunden waren zu diesem Zeitpunkt bereits verheilt gewesen und er hatte selbstständig wieder angefangen zu atmen. Seine Hybrideigenschaften waren bemerkenswert. Shaun musste atmen, um sich bewegen zu können, er starb allerdings nicht davon, wenn er es eine ganze Weile nicht tat.

„Nur so“, gab er zu und starrte zur Decke. In den Minuten, die Mira fort gewesen war, waren ihm offenbar keine neuen Ablenkungsmanöver eingefallen.

„Von wie vielen gefangenen Gestaltwandlern weißt du?“, fragte sie, da er zuvor nicht auf ihre Bemerkung eingegangen war. Seiner Miene nach zu urteilen hatte Shaun schon gehofft, um diese Frage herum gekommen zu sein. „Keine Ahnung.“

„Er lügt“, sagte Achilleas, was Mira nicht wirklich überraschte. Der Söldner schaute verwirrt zu ihr auf. „Woher zum Teufel weiß er das immer?“

„Er hört es“, gab sie schlicht zurück. Näher erklären konnte auch der Spartaner es nicht. Shaun biss die Zähne zusammen. Offenbar hatte er sich nun für die Strategie entschieden, überhaupt nichts mehr zu sagen. Mira drückte unvermittelt ihre gesamte Handfläche auf seine Brust und ließ dem Licht freien Lauf. Shaun schrie auf vor Schmerz und stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Fesseln, doch sie hielten. Der sengende Handabdruck sah grässlich aus. Würde es nicht um Tove und Letizia gehen, hätte Mira niemals darauf bestanden, dieses Verhör selbst zu führen.

„Antworte mir“, sagte sie mit Nachdruck. „Glaub mir, du willst nicht, dass jemand anderes die Fragen stellt.“

Achilleas hob die Brauen, verkniff sich aber den Kommentar, der ihm wohl auf der Zunge lag. Shaun zwang sich, ruhiger zu atmen, und wandte ihr das Gesicht zu. Erneut spiegelte sich in seinen Augen, dass er nicht ganz glauben konnte, wozu sie in der Lage war.

„Es sind mindestens zwei“, presste er hervor.

„Hast du sie gesehen?“ Miras Augen wurden schmal.

„Nur eine.“

„Und weiter?“, bohrte sie ungeduldig nach und streckte eine Hand nach seinem Ohr aus.

„Die andere ist die Grundlage für das Forschungsteam!“

„Danach habe ich nicht gefragt.“ Sie versengte sein Ohr, obwohl sie nun wusste, dass das erste Forschungsobjekt weiblich war. Ob der Verrat von einem ganzen Clan ausging, der eine seiner Frauen geopfert hatte, würde sich noch zeigen. Nachdem Shaun es endlich aufgegeben hatte, nach seinem Ohr tasten zu wollen, sah er müde zu ihr auf. „Die, die ich gesehen habe, ist eine Leopardenfrau.“

„Wo wurde sie hingebracht?“, grollte Mira.

„Ich weiß es nicht.“

Achilleas verdrehte die Augen, also war es wieder nicht die ganze Wahrheit. Bevor die Vampirin seine Wange berührte, wandte Shaun hastig den Kopf. „Von da, wo ihr mich geschnappt habt, ist der Konvoi nach Süden gefahren, aber ich kenne den Zielort nicht!“

Dieses Mal nickte Achilleas. Dennoch hatte Mira das Gefühl, dass ihr Gefangener noch nicht alles preisgegeben hatte. Sie bohrte die Fingernägel direkt unter seinem Kinn in seine widerstandsfähige Haut und überstreckte seinen Kopf. Die Andeutung genügte, um ihn in Panik zu versetzen.

„Wir haben sie am Londoner Flughafen aufgegriffen und sie ist schwanger“, keuchte Shaun. „Ihr Gefährte ist uns entkommen. Mehr weiß ich wirklich nicht!“

„Du warst dabei?“, fragte die Vampirin eher perplex als gebieterisch.

„Ja.“ Der Söldner sah sie wieder an. Natürlich hatte er die Änderung in ihrem Tonfall bemerkt. Daher konnte sie sich auch angestrengt die Stirn reiben. Es machte keinen Unterschied.

„Und da waren seine Überlebenschancen bei null“, kommentierte Achilleas diese Erkenntnis. Vor ihnen lag einer der Entführer von Tove. Sobald Asheroth davon erfuhr, war er der Meinung des Spartaners nach tot.

„Hol ihn bitte“, sagte Mira trotzdem. Achilleas warf ihr einen ungläubigen Blick zu, dann trat er ein paar Mal mit dem linken Fuß auf der Stelle. Offenbar hatten die beiden Ältesten Zeichen vereinbart, mit denen sie sich rufen konnten. Denn es dauerte kaum fünf Sekunden und Asheroth stemmte die Tür zum Verlies auf. Mira erklärte ihm auf phönizisch, was Shaun soeben gestanden hatte. Erwartungsgemäß wurden seine Augen schlagartig eisblau und er bewegte sich auf Shaun zu, obwohl Mira zwischen ihnen stand. Sie legte die Hände so sanft wie möglich gegen ihn. „Töte ihn nicht. Wir können noch von ihm lernen.“

„Was?“, grollte Asheroth.

„Er hat Angst um den Chip.“ Dieses moderne Wort konnte sie natürlich nicht übersetzen und tatsächlich horchte Shaun merklich auf, als er es aus ihrem Dialog heraushörte.

„Nimm ihn heraus“, schlug Mira vor. „Vielleicht ist er die Quelle seiner Kräfte und wir können sehen, was geschieht.“

Asheroth ergriff ihre Hände, führte die Rechte an seine Zähne und biss in ihr Handgelenk. Er gab sich keine Mühe, ihr möglichst wenig wehzutun. Und das obwohl Achilleas neben ihnen stand. Mira spürte seinen grenzenlosen Zorn. Der Älteste ließ sich auf ihren Vorschlag ein, allerdings bezahlte sie gerade den Preis für Shauns Aufschub. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, trat Asheroth neben das alte Holzgerüst. Seine Aura war vor Jahren restlos verschwunden, dennoch stockte dem Söldner der Atem. Auch er schien ein Gespür dafür zu haben, ob er einem Vampirältesten begegnete. Zu Miras Erstaunen legte Asheroth zuerst die Fingerspitzen gegen seinen Hals und schob sie dann gewaltsam unter Shauns Schulterblätter.

„Er ist tatsächlich weit genug von einem Menschen entfernt. Ich kann sie aufnehmen“, sagte der Vampir, dessen Stimme Shaun auch schon einmal gehört hatte. Er hatte es sich nicht eingebildet. Dieser Unsterbliche hatte etwas beunruhigend Gnadenloses an sich. Was auch immer mit sie gemeint war, der Söldner ahnte, dass dieser Vampir es gegen ihn verwenden konnte. Als Nächstes zückte er einen Dolch. Shauns Herz schlug hart gegen seine Rippen. Von Narkose hatte dieser Vampir bestimmt noch nichts gehört.

„Asheroth“, sagte Mira leise. „Er hat genug geschrien.“

Obwohl die warme Vampirin ihm große Schmerzen zugefügt hatte, war Shaun ihr tatsächlich dankbar für den Versuch. Asheroth warf ihr einen Blick über die Schulter zu, dann schob er die Fingerspitzen in seinen Nacken. Sie kamen Shaun gar nicht mehr so kalt vor, aber vielleicht spielten ihm seine Nerven nur einen Streich. Der Vampir drückte zu und er spürte nichts mehr. Weder den langsam abklingenden Schmerz an seinem Ohr, noch den auf der Brust. Wenn er die Finger bewegte, war da kein raues Holz. Der Vampir bewegte die Lippen, aber Shaun konnte ihn nicht hören. Nur sehen konnte er noch und das gestochen scharf wie seit der ersten Behandlung mit den Gestaltwandlerstoffen. Einen Atemzug später war da immerhin ein leichtes Druckgefühl in seiner Brust. Shaun wünschte sich, er hätte die Augen geschlossen. Dann hätte er nicht gesehen, wie Asheroth seinen Hauptchip betrachtete und dann dem blonden Vampir an seiner Seite reichte. Dr. Morgan hatte ihm und den anderen Subjekten ausführlich erklärt, dass die Chips nicht beschädigt werden durften, geschweige denn entfernt. Ohne ihre Impulse wurden keine Stoffe mehr aus den zwei kleinen Dispensern ausgeschüttet und seine Kräfte würden schwinden, bis er wieder ein einfacher Mensch war. Asheroth war noch nicht fertig. Als hätte er ein Röntgengerät, fand er die beiden Dispenser sofort und entfernte sie ebenfalls. Shaun wollte ihn anflehen aufzuhören, aber er war sich nicht sicher, was aus seiner Kehle drang. So ähnlich musste sich VA1 gefühlt haben, wenn Dr. Morgan ihn aufgeschnitten hatte. Asheroth warf ihm einen mehr als geringschätzigen Blick zu, dann verschwand er endlich aus seinem Sichtfeld. Daraufhin löste der blonde Vampir seine Fesseln, rühren konnte Shaun sich aufgrund des seltsamen Nervenblocks aber nicht. Vollkommen machtlos musste er über sich ergehen lassen, von dem Verhörraum in eine mittelalterlich anmutende Zelle geschleift zu werden. Sie bestand aus fensterlosen Steinwänden, einem breiten Eisengitter, in das die Tür eingelassen war, und nacktem Boden. Mehr nicht. Er wurde in der Mitte abgelegt, immerhin mit dem Gesicht nach oben. Ein paar Atemzüge lang lag Shaun einfach nur da, dann löste sich der Nervenblock elend langsam. Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um zur hinteren Wand zu kriechen und sich aufzusetzen. Die Schnittwunden an seiner Brust und knapp über seinem Beckenkamm hatten schon aufgehört zu bluten. Noch war die Wirkung der künstlichen Hybridstoffe nicht abgeklungen, aber das war nur eine Frage der Zeit. Als der Söldner den Kopf hob, entdeckte er zu seiner Überraschung Mira, die mit den Ellbogen an seinem Eisengitter lehnte.

„Was willst du noch?“, würgte er kraftlos hervor.

„Was geschieht jetzt? Du weißt es doch, oder?“ Ihr Tonfall war nicht mehr feindselig, einschätzen konnte Shaun sie trotzdem nicht richtig. Ihm gegenüber stand ein echtes Monster, trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass sie ein winziges Fünkchen Mitgefühl für ihn übrig hatte. So unwahrscheinlich es ihm zuvor auch erschienen war. Shaun wäre gern aufgestanden, um ihr direkt in die Augen zu sehen.

„Ich werde wieder ein Mensch“, flüsterte er. „Sonst hätte ich mich doch nie auf diese Operation eingelassen.“ Die Vampire würden in den kommenden Tagen bemerken, dass sich sein Geruch veränderte und er immer schwächer wurde. Daher konnte er es auch gleich verraten. Wieder ein Mensch sein zu können, war Shaun nur recht, aber doch nicht jetzt! Wenn er so langsam wie ein Mensch war, konnte er nicht wegrennen. Vorausgesetzt die Vampire töteten ihn nicht sowieso. Er hing an seinem Leben, er durfte hier nicht sterben. Schließlich gab es noch jemanden, der ihn brauchte. Aber das würde wohl kaum jemanden interessieren. Mira musterte ihn noch einen Augenblick, dann ließ sie ihn in dem finsteren Kerker allein. Nur sehr schwach drang ein bisschen Licht von einer entfernten Lampe zu Shaun.

Flucht

Zwei Nächte und der folgende Tag vergingen und keiner der Vampire schaute nach dem Gefangenen. Marcus wurde ungeduldig. Mira und die Ältesten hatten ihm und einigen anderen erklärt, was es mit den Hybriden auf sich hatte und auch, worauf sie nun warteten. Asheroth saß einige Schritte entfernt vom Hauptsitz des Clans und drückte die Handflächen auf den Boden, die anderen verhielten sich ruhig. Der Panther streifte fahrig durchs Haus. Das Warten trieb ihn langsam zur Weißglut. Bisher hatte er sich den Gefangenen wie befohlen nicht angesehen, um Streit mit den Vampiren zu vermeiden. Jetzt führte sein Weg am Durchgang zum Keller vorbei. Marcus blieb stehen und atmete tief durch. Was würde ihm eine Auseinandersetzung mit dem Herrn des Hauses im schlimmsten Fall einbringen? Ein paar Knochenbrüche wären nicht so schlimm, eingesperrt werden würde er hingegen nicht aushalten. Der Panther wollte sich gerade abwenden, als er bemerkte, dass der Geruch aus dem Keller eine bekannte Spur enthielt. Marcus vergaß seine Vernunft und lief hinunter. Erst hinter einigen verschlossenen Räumen fand er zwei sich gegenüberliegende Zellen. Die linke war leer. In der rechten kauerte der Söldner, der ihm am Londoner Flughafen mehrfach in die Brust geschossen hatte. Als er Marcus erblickte, sprang er auf und hob zur Verteidigung die Arme, obwohl sie durch das schwere Eisengitter getrennt waren.

„Ausgerechnet du!“, grollte der Panther. Im nächsten Moment stand er in seiner menschlichen Gestalt direkt vor dem Gitter und umklammerte die Stahlstreben. „WO IST SIE?“

„Ich weiß nicht, wo sie deine Frau hingebracht haben“, sagte der Söldner. Seine Stimme war ziemlich kratzig. „Frag den, der Lügen hören kann! Genau weiß ich es nicht.“

„Marcus!“

Widerwillig wandte er den Kopf. Nach kaum einem Atemzug erschien Anzheru auf dem Gang. Der geborene Vampir starrte ihn ausdruckslos an. „Einen Schritt zurück!“

Der Gestaltwandler stieß sich von dem schweren Eisengitter ab. „Er hat Tove verschleppt!“

„Das weiß ich. Es wurde dir nicht gesagt, um genau diese Eskalation zu vermeiden.“

„Weiß Asheroth es auch?“ Marcus konnte nicht fassen, wie gelassen der Vampir blieb.

„Ja und auch er hat zugestimmt, ihn zu beobachten“, sagte er kühl.

„Kaum zu glauben, nicht wahr?“, fragte eine weitere männliche Stimme von weiter vorn im Keller, bevor Marcus etwas erwidern konnte. Marek kam mit den Händen in seinen Hosentaschen auf sie zu. „Selbst die Ältesten hören auf seine Tageswandlerin.“

Das hatte der Panthermann sich gedacht, seit sie ihm befohlen hatte, sich von dem Gefangenen fernzuhalten. Normalerweise entschieden die Ältesten über alles. Warum sie dieses Mal davon abwichen, interessierte ihn nicht. Sein Blick zuckte zu dem gefangenen Söldner, der sich rücklings gegen die Wand presste. Bis auf sein zerrissenes Hemd und ein bisschen Schmutz war er unversehrt.

„Hat Asheroth ihn nicht aufgeschnitten? Dafür scheint es ihm ja prächtig zu gehen!“, knurrte er voller Abscheu. Anzheru musterte den Gefangenen kurz. „So scheint es. Wir wissen nicht, wie lange die künstlichen Stoffe in seinem Körper ihm noch unsere Kraft geben. Wenn es abflaut, wird er wahrscheinlich schwächer.“

„Will Mira ihn dann als Blutsklaven behalten?“, fragte Marcus mit einem gehässigen Blick auf Subjekt 12. „Ihm würde ich es gönnen.“

„Die Idee ist nicht übel“, kommentierte Marek seinen Vorschlag. „Dann versteht er, was Ohnmacht bedeutet.“

„Du solltest jetzt lieber gehen“, sagte der Rothaarige mit den blau glühenden Augen, der Asheroth verdächtig ähnlichsah. Shaun krallte die Finger in die bloßen Steine hinter sich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Gestaltwandler unter den Vampiren auftauchen würde. Und dann war es auch noch ausgerechnet der Panther vom Londoner Flughafen. Katzen konnten sich angeblich überall durchzwängen. Wenn er nicht solchen Lärm gemacht hätte, hätte Marcus ihn vielleicht sogar angreifen können. VA1 hätte sich offensichtlich prächtig darüber amüsiert. Die Verachtung in seinem Blick hatte sich kein bisschen verändert.

„Ihr lasst ihn nicht davon kommen!“, forderte der Panther mit einem dumpfen Knurren. Der Rothaarige blieb immer noch vollkommen ruhig. „Das liegt nicht allein in meinem Ermessen. Du wirst jetzt wieder nach oben gehen.“

Marcus wirkte sehr unzufrieden mit dieser Antwort, aber er zog endlich von dannen. VA1 und der Rothaarige blieben noch. Sie warteten, bis der Panther den Keller verlassen hatte. Es war sogar eine Tür zu hören, die zugeschlagen wurde. Dann war es wieder still.

„Ich kann den Jungen verstehen“, brummte VA1. „Bring dein Weib zur Vernunft, Anzheru. Und die Sache erledigt sich für dich von selbst.“

Der Rothaarige schüttelte sacht den Kopf. „Wie oft haben wir Seite an Seite gekämpft, Marek?“

VA1 überlegte kurz. „Die Kriege kann ich zählen, die Schlachten nicht.“

„Gab es auch nur eine, in der du dich nicht auf mich verlassen konntest?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134247
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Vampir-Jäger Verrat Überlebenskampf Lichtaura Hybriden Romance Fantasy

Autor

  • Al Rey (Autor:in)

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen und lebt derzeit im schönen Rheinland.
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Titel: Tageswandler 4: Shaun