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Die Geister der Weihnacht gehen in Rente

von Haike Hausdorf (Autor:in)
170 Seiten
Reihe: Funtasy, Band 1

Zusammenfassung

Wer kennt sie nicht: Die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht, die Mitte des 19. Jahrhunderts Ebenezer Scrooge heimgesucht und auf den rechten Weg zurückgeführt haben? Mehr als einhundertsiebzig Jahre sind seither vergangen und die Geister sind müde. Da es aber noch immer sehr viele Menschen gibt, die den Geist von Weihnachten mit Füßen treten, suchen sie Nachfolger für ihr Lebenswerk. Auf die Stellenausschreibung bewerben sich jüngere, moderne Geister, die alle persönliche Eigenarten und Probleme mitbringen. Werden die drei Alten geeignete Auszubildende finden und endlich in den wohlverdienten Ruhestand gehen können? 276 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Aller Anfang ist schwer

 

Die erste Nacht

 

Zu spät! Wieder einmal zu spät.

Tardy schwebte in Höchstgeschwindigkeit durch die nächtlichen Straßen. Seine grauen Jogginghosen und das weite Sweatshirt flatterten im Wind. Als er den gewaltigen Gebäudekomplex des Tower of London vor sich auftauchen sah, verklang der letzte Glockenschlag der umliegenden Kirchen. Die Geisterstunde hatte begonnen und er würde es nicht mehr rechtzeitig in die Kellergewölbe schaffen. Rasant durchquerte er den Burggraben und visierte ungebremst die massive Außenmauer an. Zu seiner Rechten schimmerte das Wasser der Themse im fahlen Mondlicht. Zur Linken blitzte das künstliche Eis der vorübergehend errichteten Schlittschuhbahn. Lautlos passierte Tardy die uralten Steine und näherte sich seinem Ziel. Endlich in den Kellerverliesen unterhalb des Towers angekommen, schnaufte er aus dem letzten Loch. Natürlich war er sich im Klaren darüber, keinen allzu ästhetischen Anblick zu bieten.

Verflixt und zugegeistert!

Warum nur hatte er verschlafen?

Im Gewölbe angekommen, richteten sich zwölf Augenpaare auf Tardy, der eiligst das farblose Sweatshirt glattstrich und sich unbeholfen aufrichtete, um seine pummelige kleine, Gestalt imposanter wirken zu lassen.

Die Geister der Weihnacht schwebten an der Stirnseite des Raumes und blickten ihn fragend an. Neun andere, die einen Halbkreis bildeten, musterten Tardy neugierig, belustigt oder kritisch. Ein leises Kichern ertönte, ebenso ein abfälliges Schnauben.

Er verzog das bleiche Gesicht zu einem unsicheren Lächeln. „‘Tschuldigung, bin etwas spät …“

„Was du nicht sagst, junger Mann.“ Der Bass des bärtigen Alt-Geistes ließ Tardy zusammenzucken. Er passte hervorragend zur imposanten Statur des Sprechers, wodurch sich der Junge noch kleiner vorkam, als er ohnehin war. Allerdings wirkte der Riese keineswegs beängstigend, sondern eher freundlich. Er trug ein weites, bodenlanges grünes Gewand, unter dem seine bloßen Füße hervorlugten. Tardys Blick wanderte von den Zehen über das rostzerfressene Schwert, das der Geist um die Taille gegürtet hatte, weiter zur nackten Brust, die zwischen grünem Stoff und weißem Pelzbesatz zu sehen war. Zuletzt betrachtete der Neuankömmling das von dunkelbraunen Locken und Bart umrahmte, freundliche Gesicht sowie die ungewöhnliche Kopfbedeckung: einen Stechpalmenkranz, der mit glitzernden Eiszapfen besetzt war. In der Hand trug der Riese eine brennende Fackel in Form eines Füllhorns. Mit amüsierter Stimme fuhr er fort: „Hättest du die Güte, dich einzureihen, damit wir beginnen können?“

Tardy erwachte aus seinen Tagträumen. „Verzeihung.“ Schnell huschte er an den Rand des Halbkreises. Neben ihm ertönte erneut ein Kichern, das einem Schlaks mit wirrem, rötlichem Haar und komplett grüner Kleidung entschlüpfte. Er überragte den gemütlichen Tardy um mindestens drei Fuß, unabhängig davon, wie sehr sich dieser auch in die Höhe reckte. „Cooler Auftritt“, murmelte der Rotschopf und verneigte sich, wobei er in Ermangelung eines Hutes kurz den Kopf vom Hals hob.

Rechts neben dem Riesen erblickte Tardy eine stattliche, schwarzgekleidete Gestalt, deren Gewand den Kopf, das Gesicht und den Körper verbarg. Seine Dunkelheit strahlte auf die Umgebung ab und schien sogar das flackernde Licht der Fackel zu verschlucken. Ehrfurchtgebietend hob der Geist eine Hand. In der ihn umgebenden Finsternis wirkte sein bleicher Unterarm noch heller und die Geste ließ die Runde verstummen. Kein Kichern, kein Atmen, nicht einmal das Rascheln der Kleidung war zu hören.

Der linke Geist ergriff das Wort. „Willkommen, meine lieben, jungen Freunde! Wir sind erfreut, euch so zahlreich zu erblicken.“ Tardy blinzelte in seine Richtung. Der Sprecher schien Kind und Greis in einem zu sein: eine ungewöhnliche Erscheinung – keine Frage. Er hatte die Größe eines Knirpses, aber die muskulösen Arme und kräftigen Hände eines Mannes. Sein faltenloses, jugendliches Gesicht stand wiederum im absoluten Gegensatz zum langen schlohweißen Haar. Die gleichfarbige, kurze Tunika war mit Sommerblumen verziert und wurde von einem leuchtenden Gürtel gehalten, von dem ein wunderbarer Glanz ausging. In einer Hand trug er einen winterlichen Stechpalmenzweig, in der anderen eine dunkle Mütze. Gleichwohl war die Krone auf seinem Kopf das Ungewöhnlichste an ihm. Von ihr ging ein überirdisch klares und helles Licht aus, das alles in der näheren Umgebung deutlich sichtbar machte. Im Gegensatz zu dem schwarzen Pendant auf der anderen Seite des Riesen, der das Licht regelrecht absorbierte.

Nun setzte der jugendlich wirkende Greis wieder zu sprechen an: „Ich bin der Geist vergangener Weihnachten. Seit zweitausend Jahren sorge ich mich um das Wohlergehen der Menschen in dieser Stadt. Doch es ist an der Zeit, diese Aufgabe in jüngere Hände zu legen. Deshalb, meine lieben, jungen Gefährten, seid ihr heute hier.“ Er lächelte sanft, was den leisen, freundlichen Klang seiner Stimme unterstrich. Die Sprache des Geistes war klar und deutlich und trotzdem glichen seine Worte einem Windhauch, der die Seele der Umstehenden streichelte.

Ein lautes Poltern und unterdrücktes Fluchen unterbrachen die harmonische Stimmung. Auf der gegenüberliegenden Seite waren zwei Bewerber aneinandergeraten. Streitlustig schwebten sie voreinander und taxierten sich.

„Nicht doch, meine Lieben!“ Der Geist vergangener Weihnachten tadelte die beiden verhalten. Dessen ungeachtet brachte erst eine energische Handbewegung des stummen Gastgebers sie zur Vernunft. Alle wandten sich wieder dem Trio an der Stirnseite zu, als der Riese das Wort ergriff: „Auch von mir, dem Geist der diesjährigen Weihnacht, ein herzliches Willkommen.“ Sein Blick glitt zügig über die erwartungsvollen Gesichter. „Wie bereits in unserer Ausschreibung erwähnt, gedenken wir, uns zur Ruhe zu setzen, sobald geeignete Nachfolger gefunden sind. Meine Gefährten“, er deutete auf den weißen und den schwarzen Geist, „verrichten seit zweitausend Jahren ihren Dienst und auch für mich, den Letzten in einer langen Reihe von Brüdern, ist die Zeit gekommen, dem Beistand für die Menschen Lebewohl zu sagen. Nun ist es an euch, die Botschaft weiterzutragen. Deshalb bitten wir um eine kurze Vorstellungsrunde und das Motiv eurer Bewerbung.“

Die bleiche Hand des Kapuzenträgers schnellte empor und deutete auf einen der beiden Streithähne am anderen Ende des Halbkreises.

Tardy atmete erleichtert auf. Er hoffte auf einen Geistesblitz hinsichtlich seiner Beweggründe. Genau genommen wusste er gar nicht, weshalb er hier war. Nein, das war gelogen. Er war auf Wunsch seiner Mutter zu dem Bewerbungsgespräch geschwebt. „Tardy“, hatte sie vor einigen Tagen vorwurfsvoll gesagt, „so kann es nicht weitergehen! Das Geisterleben besteht aus mehr als Schlafen und Faulenzen. Du brauchst eine Aufgabe.“

Tardy hatte das naturgemäß anders gesehen, denn er war sehr zufrieden mit seinem gemütlichen Dasein. Weil man jedoch mit seinen Eltern unmöglich diskutieren konnte, hatte er sich widerstrebend auf den Weg gemacht. Zu spät zwar – aber immerhin.

 

Ein grauer, mottenzerfressener Wollumhang umwehte den hageren Körper, des mürrisch dreinblickenden, jungen Geistes, der den Anfang machen sollte. Er räusperte sich. Nach unten gebogene Mundwinkel und zu schmalen Schlitzen verengte Augen kennzeichneten sein Gesicht. Oberhalb der Nasenwurzel befanden sich zwei senkrechte Falten. Seine Haut wirkte fahl und grau. Durch das helle Licht des Geistes vergangener Weihnachten waren sein dunkles, strähniges Haar und die verdrossene Miene weithin sichtbar. Unwirsch stieß er hervor: „Mein Name ist Grumble und ich bin hier, weil es dringend nötig ist, diese undankbaren Sterblichen in die Schranken zu weisen.“

Neben Tardy kicherte der Schlaks. „Grumble – was für ein passender Name. Das ist der nörgeligste Typ, den ich seit Langem getroffen habe. Verglichen mit ihm ist selbst mein Großonkel Grumpy eine wahre Stimmungskanone.“

Der schwarze Geist gebot ihm energisch zu schweigen und Tardys Nachbar verstummte augenblicklich.

Der Geist vergangener Weihnachten wandte sich mit sanfter Stimme an Grumble: „Es geht nicht um Zurechtweisung, mein Sohn, sondern darum, die Fehlgeleiteten auf den rechten Weg zurückzuführen. Möchtest du uns noch etwas über dich mitteilen?“ Da er jedoch nur ein verdrießliches Kopfschütteln erntete, fuhr er fort: „Wie schade. Nun denn: Der Nächste bitte.“

„Das bin dann wohl ich.“ Ein junger, blauhaariger Geist machte eine weitausholende Armbewegung und traf Grumble versehentlich mit dem Ellbogen. Dieser wollte sofort zurückschlagen, was der Schwarzverhüllte mit einer ausdrucksstarken Handbewegung vereitelte. Der Verursacher zuckte gleichmütig mit den Schultern und stellte sich vor. „Trouble. Ich heiße Trouble.“ Ein belustigtes Raunen ging durch die Reihe und der rothaarige Schlaks wisperte: „Und wieder ist der Name Programm.“

„Nun, mein Junge. Was führt dich zu uns?“ Der Riese musterte Trouble eingehend. „Weshalb möchtest du ein Geist der Weihnacht werden?“

Trouble wirkte mit einem Schlag nicht mehr so selbstbewusst. Verlegen schob er die bläulich schimmernden Hände in die Taschen seiner alten, verwaschenen Jeans. „Ähm. Ich weiß nicht … die letzten drei Jobs waren nichts für mich und da dachte ich: Probiere ich es halt mal …“

Grumble schnaubte abfällig. „Das ist ja eine herausragende Qualifikation: Unfähigkeit in allen Lebenslagen.“

Diese Aussage machte Trouble wütend, weshalb er ihm erneut den Ellbogen in die Seite rammte – dieses Mal allerdings mit voller Absicht und ebensolcher Wucht. „Du hast es nötig, rennst herum wie ein alter Putzlappen!“, schleuderte er Grumble entgegen.

Wie zu erwarten war, wollte der Angegriffene weder die Handgreiflichkeit noch die Beleidigung auf sich sitzen lassen. Bevor allerdings eine handfeste Schlägerei ausbrechen konnte, schwebte der Kapuzenträger heran und hielt direkt vor den Kontrahenten an. Allein mit einem erhobenen Zeigefinger und seiner ehrfurchtgebietenden Aura brachte er beide zur Vernunft.

„Sachte, sachte, meine lieben jungen Kollegen.“ Der Geist vergangener Weihnachten wirkte ein wenig überfordert mit dem überschäumenden Temperament der ersten beiden Bewerber.

„Mein langjähriger Wegbegleiter – der Geist der zukünftigen Weihnachten – wird euch wohl besser trennen.“

Das schien der Schwarzverhüllte ebenso zu sehen, denn unversehens fand sich Trouble an Tardys Seite wieder.

Die Vorstellungsrunde konnte weitergehen und der Riese nickte einem hübschen Geistermädchen zu.

Sie lächelte und ergriff das Wort: „Ich bin Pretty.“

Alle reckten die Hälse, um einen Blick auf die Sprecherin zu erhaschen, die ein sehr ebenmäßiges, wenn auch geisterhaft bleiches Gesicht hatte und hüftlange, blonde Locken. Pretty wirkte unschuldig, leuchtete beinahe engelhaft und Tardy fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Das bodenlange Kleid schimmerte perlmuttfarben und betonte ihre anmutige Erscheinung. „Ich kann sehr überzeugend sein. Deshalb bin ich die Richtige, um schlechte Menschen auf den Pfad der Tugend zurückzubringen!“

„Das glaube ich sofort!“ Der Spaßvogel neben Tardy nickte zustimmend. „Vor allem die Männer werden begeistert von ihr sein …“ Er selbst warf ihr bewundernde Blicke zu und raunte: „Sie ist außergewöhnlich hübsch. Ich glaube, ich zerfließe.“

Zu Tardys Überraschung begann er sich tatsächlich zu verflüssigen, sodass am Boden eine grüne Pfütze entstand.

„Lass das!“, zischte Tardy.

Der Schlaks nahm wieder eine feste Gestalt an und lachte. „Verstehst du keinen Spaß?“

Vom Geist der diesjährigen Weihnacht erhielt Pretty ein wohlwollendes Lächeln, der Kapuzenträger blieb weiterhin stumm. Doch der jugendliche Greis in der römischen Tunika hatte Bedenken. „Sehr schön, sehr schön. Nichtsdestotrotz bist du ein Mädchen …“

Pretty lächelte ihn abwartend an. Sie schien nicht zu verstehen, was er damit sagen wollte.

Ein weibliches Skelett aus der Mitte der Reihe hatte offenbar eine schnellere Auffassungsgabe. „Ist das etwa ein Problem? In der Bewerbung stand nichts davon, dass ausschließlich männliche Geister qualifiziert seien, um den Menschen den Geist der Weihnacht zu vermitteln.“ Mit glühenden Augen, die in leeren Höhlen saßen, sah sie den Alten angriffslustig an, während aus ihren Mund- und Nasenöffnungen Qualm entwich.

„Aber, aber, meine Liebe. Selbstredend sind wir lediglich von männlichen Bewerbern ausgegangen. Es ist mitunter keine leichte Aufgabe. Manches Mal mussten wir sehr nachdrücklich werden, wenn du verstehst, was ich meine …“ Er lächelte entschuldigend. Seine Hoffnung, diese Tatsache würde die vier weiblichen Kandidaten zum Rückzug bewegen, erwies sich indes als Irrtum. Die pinkgefärbten und seitlich des Schädels kurz rasierten Haare des Skeletts stellten sich unversehens senkrecht auf, während sie ihre knöchernen Hände empört in die Hüften stemmte. Flammen schossen in ihrem hohlen Brustkorb empor. Das Innere des Schädels loderte. Sie versprühte mit jeder nicht vorhandenen Pore ihres knochigen Körpers puren Kampfgeist. „Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und ich werde mit ein paar aufmüpfigen Kerlen auf jeden Fall fertig!“ Breitbeinig stand sie da. Nackte Kniegelenke blickten herausfordernd aus zerschnittenen Hosenbeinen hervor und der Geist vergangener Weihnachten hegte keinen Zweifel daran, dass sie auch schwierigen Exemplaren der menschlichen Gattung Paroli bieten würde.

Nachdenklich kratzte er sich am Kopf.

Der Riese hingegen lachte dröhnend. „Und du bist?“

„Stubborn“, antwortete sie knapp.

Das Lachen wurde lauter. „Fräulein Eigensinn. Scheinbar passt das ja dann. Was ist deine Motivation?“

„Gleichberechtigung! Zweitausend Jahre lang war diese Aufgabe in Männerhand. Es wird Zeit, das zu ändern!“

Der Rotschopf zeigte sich beeindruckt. „Wow, die traut sich was. Ob sie hochkant rausfliegt?“ Er nahm vorübergehend eine rechteckige Körperform an. Doch nichts dergleichen geschah.

 

Der Riese wandte sich dem nächsten Mädchen zu und Tardy gähnte gelangweilt. Es war zu ärgerlich, dass er sein gemütliches Bett so abrupt hatte verlassen müssen. Teilnahmslos ließ er den Blick über die Jahrhunderte alten, unterirdischen Mauern gleiten. Meist verschlief er die Geisterstunde im Winter ohnehin, weil er keinen Sinn darin sah, sich im nasskalten London herumzutreiben. In der Ferne schlug eine Kirchglocke und Tardys Füße begannen, sich gemächlich zu heben, während sein Kopf nach unten sank, bis er in waagerechter Position leise schnarchend durch das Kellergewölbe schwebte. Eine laute Stimme holte ihn zurück in die Wirklichkeit.

„Junger Mann! JUNGER MANN!“

Erschrocken riss Tardy die Augen auf und fand sich umringt von den Geistern der Weihnacht in der Mitte des Raumes. Hinter sich hörte er Gelächter und wild durcheinander geworfene Bemerkungen seiner Altersgenossen.

Verdammt! Er war tatsächlich eingeschlafen! Das war wirklich die Krönung eines überaus peinlichen Auftritts.

Der Geist der diesjährigen Weihnacht beugte sich über Tardys Gesicht. Sein brauner Vollbart kitzelte den Jungen an der bleichen Wange. „Es ist an dir, dich vorzustellen. Dürfen wir vielleicht erfahren, wie unser schläfrigster Kandidat heißt?“

Sofort kehrte Tardy in die Senkrechte zurück und räusperte sich verlegen. „Ich bin Tardy.“ Es war unnötig, den Kopf zu wenden, um zu wissen, dass das Kichern dem Rotschopf entschlüpft war, dessen Namen er selbst im Gegenzug leider verpasst hatte. Er musste tatsächlich von allen guten Geistern verlassen sein, um sich ausgerechnet heute Nacht derartig gehen zu lassen!

„So, so! Dürfen wir den Grund deines Erscheinens erfahren?“ Der Geist vergangener Weihnachten runzelte die Stirn.

Tardy war nicht sicher, ob er diese Frage wahrheitsgemäß beantworten wollte, andererseits fiel ihm keine geistreiche Ausrede ein. „Um ehrlich zu sein: Meine Mutter fand, ich bräuchte eine Aufgabe“, gab er zögernd zu.

„Du meinst, außer zu schlafen?“ Der Schlaks verwandelte sich umgehend in ein schwebendes Himmelbett und die anderen grölten.

Der Geist der zukünftigen Weihnachten sandte eine Kältewelle aus, die alle augenblicklich zur Ordnung rief. Anschließend befahl er ihnen mit einer unmissverständlichen Handbewegung, den Keller zu verlassen.

„Nun denn, wir ziehen uns zur Beratung zurück. Bitte wartet im Hof, ohne jedoch etwas anzustellen.“ Der letzte Hinweis des Greises galt Trouble und Grumble, die in größtmöglicher Entfernung zueinander zur Treppe huschten.

 

Im weitläufigen Hof verteilten sich die zehn Bewerber großflächig. Die wuchtigen Mauern und Türme des Tower of London ließen nur wenig Mondlicht bis zum Boden vordringen. Tardy verharrte im Halbdunkel neben dem White Tower. Die kalte Nachtluft weckte seine Lebensgeister.

Umgehend tauchte der Rotschopf bei ihm auf. „Hey, hast du Lust, ein wenig herumzugeistern?“ Er verwandelte sich für einige Sekunden in ein kleines, lakenbehängtes Gespenst mit Rasselkette und sah Tardy aus großen, dunklen Augen treuherzig an.

Grumble schwebte heran. „Bist du irre?“

„Nein, Ire und im Gegensatz zu dir stets gut gelaunt.“

„Geisteskranke Nervensäge!“ Grumble wandte sich mit beleidigter Miene ab.

Der grüngekleidete Rotschopf packte Tardy am Schlabbershirt und zog ihn um die Ecke des Turmes. „Ich bin übrigens Funny. Du scheinst ja die halbe Vorstellungsrunde verschlafen zu haben.“

„Stimmt.“ Tardy nickte verlegen. „Der Name passt zu dir. Du bist wohl niemals ernst, oder?“

„Wozu? Ich arbeite schließlich nicht in der Geisterbahn.“ Der Schlaks zuckte mit den Schultern. Ein schwaches grünes Leuchten ging von ihm aus. „Aber du bist der Hammer!“ Funny verwandelte sich in ein überdimensionales Werkzeug. „Beim Bewerbungsgespräch einzuschlafen … also ehrlich!“

„Das war keine Absicht. Ich bin einfach eingedöst. Sobald es dämmert, werde ich müde. Keine Ahnung, warum.“

Funny lachte laut heraus. „Unter den Umständen fallen Schlossgespenst und Poltergeist als Berufswunsch natürlich weg. Vielleicht solltest du dich im Orient bewerben. Nach meiner Kenntnis haben Flaschengeister die längsten Ruhephasen. Im Gegenzug stelle ich mir die Wohnsituation recht beengt vor.“ Funny schwebte in Form einer handlichen Öllampe vor Tardy auf und ab.

„Vielen Dank für die Berufsberatung. Ich komme schon klar.“ Um von sich abzulenken, fragte Tardy: „Du wohnst also in Irland?“

Funny schüttelte seinen roten Schopf. Die Wirbel knackten herausfordernd. „Meine Vorfahren sind Iren. Ich wohne seit einiger Zeit in London, allerdings in einem Irish Pub.“

„In einem Pub?“

„Ja, unter dem Tresen.“

„Und du redest von beengten Wohnverhältnissen?“ Tardy grinste breit.

Ein rot-karierter Kilt mit Rüschenhemd, schwarzer Lederjacke und weißen Strümpfen sowie blank polierten Schuhen schwebte heran. Außer der festlichen Herrenausstattung war allerdings nichts zu sehen. Der Besitzer schien vollständig unsichtbar zu sein.

„Pah! Ein Tresen – wie erbärmlich! Meine Familie residiert seit Generationen in einem Schloss in Schottland.“

Tardy blickte zu dem spitzenbesetzten Kragen, aus dessen Richtung die arrogant klingende Stimme gekommen war. „Und wer bist du?“, fragte er respektvoll.

„Gestatten: Proud. Alter schottischer Adel. Wenn du es nicht vorgezogen hättest, vorhin ein Nickerchen zu machen, wüsstest du das bereits. Keine Manieren, so viel steht fest, wie bei DER Kleiderwahl nicht anders zu erwarten war.“

Unruhig zupfte Tardy an seinem grauen Schlabberpulli. Es machte ihn nervös, mit jemandem zu sprechen, den er nicht sehen konnte. „Würdest du dich bitte sichtbar machen?“

„Wozu? In niederen Kreisen sehe ich dazu keine Veranlassung.“ Der Kilt schwebte davon. „Netter Kerl!“ Funnys Stimme triefte vor Ironie. „Falls ich den Job bekomme, hoffe ich, dass du ebenfalls ausgewählt wirst. Wer will schon mit einem unsichtbaren Schnösel, einem grantelnden Wollmantel oder einer in Flammen stehenden Knochenfrau zusammenarbeiten?“

 

Die Geister der Weihnacht halten Rat.

 

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht. So recht überzeugen konnte mich keiner der sechs Bewerber.“ Der Geist vergangener Weihnachten kräuselte gedankenversunken die Stirn.

Der Geist der zukünftigen Weihnachten hob indes zehn bleiche, knochige Finger in die Höhe.

„Zehn Kandidaten? Nein, mein Freund. Du wirst doch nicht ernsthaft die Mädchen als Nachfolger in Erwägung ziehen?“ Dem Greis stand sein Unmut deutlich ins Gesicht geschrieben.

Beschwichtigend mischte sich der Riese ein. „Lieber Gefährte. Wir müssen mit der Zeit gehen. Die Dinge ändern sich!“

„Gewiss. Ungeachtet dessen ist die Welt kein besserer Ort geworden. Im Gegenteil! Gewalt und Probleme wohin man schaut. Das ist keine Aufgabe für junge Damen.“

„Pretty scheint mir recht qualifiziert zu sein. Ihre Beweggründe sind überzeugend.“

Der Schwarzverhüllte riss die Arme empor.

„Du hältst Stubborn für geeignet? Sie wird die Sünder in Flammen setzen, anstatt sie zu bekehren. Sie scheint mir das an Temperament zu viel zu besitzen, was der kleinen Shy fehlt.“

Der Geist der zukünftigen Weihnachten gestikulierte ausdrucksstark.

„Nein, nein. Ich denke, wir sollten eine Vorauswahl treffen. Allen eine Einarbeitung zu gewähren, war nicht abgesprochen.“ Der Geist aller vergangenen Weihnachten legte sein jugendliches Greisengesicht in Faltenberge. „Bedenkt, welch einen Aufwand dies darstellen würde. Alle zehn! Sie sind so unterschiedlich. Wo sollen wir da anfangen?“

Die Antwort erfolgte prompt in Form mehrerer mit bleichen Fingern dargestellter Zahlenkombinationen.

Der Riese nickte zustimmend. „Er hat Recht. Wir lassen sie in der Vorweihnachtszeit in kleineren Gruppen verschiedene Sterbliche besuchen. Dabei beobachten wir, wie sie sich anstellen und wer Kameradschaftsgeist besitzt.“

Die Kapuze nickte bestätigend und der strahlend weiße Skeptiker lenkte ein. „Also gut. Wenn ihr meint. Lasst uns die Bewerber rufen und erste Gruppen zum Üben einteilen. In ein paar Tagen werden wir beginnen: Eine Gruppe könnte die Downing Street übernehmen. Dem Premierminister müsste dringend jemand ins Gewissen reden. Da er hart im Nehmen ist, werden ihm ein paar Anfänger die Haare nicht mehr als üblich zu Berge stehen lassen.“

Der erhobene Daumen des Geistes der zukünftigen Weihnachten signalisierte Zustimmung und der Riese ergriff das Wort: „Ein Hedgefonds-Manager könnte ebenso für den ersten Probelauf herhalten. Bei ihm können sie nicht allzu viel anrichten.“

„Sehr gut, sehr gut. Wie wäre es außerdem mit einem uneinsichtigen Drogendealer? Dem notorischen Taschendieb aus dem Regent‘s Park? Dem unhöflichen Taxifahrer aus East End, der seine Frau und Kinder schlägt? Dem tyrannischen Französischlehrer aus Greenwich? …“ Der Geist vergangener Weihnachten kam gerade in Fahrt, wurde jedoch durch eine beschwichtigende Handbewegung seines bärtigen Kollegen unterbrochen. „Wie Recht du hast. Auswahl gibt es tatsächlich genug. Lasst uns die Gruppen einteilen.“

 

 

 

 

Auf Geheiß des Geistes der diesjährigen Weihnacht versammelten sich die zehn Bewerber zum zweiten Mal in dieser Nacht im Gewölbe. Spannung lag in der Luft. Selbst Tardy hatte die Sehnsucht nach seinem Bett inzwischen beiseitegeschoben. Er fühlte erwartungsvolle Ungeduld in sich aufsteigen, obwohl er aufgrund seines publikumswirksamen Mitternachts-Schläfchens sicher keine Chance hatte, zum erlesenen Kreis der zukünftigen Geister der Weihnacht zu gehören.

„Willkommen zurück, meine Lieben.“ Der Riese ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Keiner der jungen Geister schien auch nur annähernd hundert Jahre zu zählen. Keine Spur von Lebenserfahrung weit und breit.

„Wie ich sehe, sind wir vollzählig. Niemand ist verloren gegangen oder eingeschlafen.“

Tardy schrumpfte peinlich berührt in sich zusammen.

„Keiner hat sich bei einem der Tower-Kollegen Ärger eingehandelt.“

Grumbles Mundwinkel rutschten ein Stück weiter hinab.

„Oder mit Lady Jane oder Anne Boleyn angebandelt.“

Funny kicherte belustigt.

„Außerdem scheint niemand von euch die Absicht zu hegen, seine Bewerbung zurückzuziehen.“ Bei dieser Bemerkung warf der Geist vergangener Weihnachten einen hoffnungsvollen Blick auf die vier Kandidatinnen, seufzte jedoch resigniert, als er sah, wie Stubborns Schädel erneut zu qualmen begann. Sofort verwarf er die Illusion einer rein männlichen Auszubildendenschar.

Der grüngewandete Riese strahlte in die Runde. „Also: Schreiten wir zur Tat! Wir haben beschlossen, allen die Möglichkeit zu geben, sich zu beweisen. Ihr werdet in den kommenden Nächten zunächst eingewiesen und danach zu dritt oder viert einige Londoner Bürger auf den Pfad der Tugend zurückbringen. Führt ihnen die Irrwege ihres bisherigen Lebens vor Augen und lasst sie den wahren Geist der Weihnacht erkennen, auf dass sie geläutert seien!“ Euphorie machte sich auf dem bärtigen Gesicht breit. Als Tardy seine Hingabe für die Arbeit mit den fehlgeleiteten Hauptstadtbewohnern erkannte, fühlte er sich noch unqualifizierter und unbedeutender als zuvor.

„Starker Auftritt“, brummte Funny neben ihm. Er schien ebenfalls beeindruckt.

Der Geist vergangener Weihnachten schwebte unterdessen würdevoll den Kreis der Bewerber ab. „Die vier Damen folgen bitte dem Geist der diesjährigen Weihnacht ins Nachbargewölbe. Drei der Herren kommen mit mir, die anderen werden vom Geist der zukünftigen Weihnachten unterwiesen.“

Tardy flog nah an den Alten heran, in der Hoffnung, bei ihm bleiben zu dürfen. Der Geist der zukünftigen Weihnachten war ihm eindeutig zu wortkarg veranlagt und außerdem fürchtete er seine raumerfüllende Finsternis.

Funny gesellte sich zu seinem neuen Freund, ebenso ein braungewandeter Mönch, der seinen kugelrunden Kopf mit von einem Haarkranz umgebener Halbglatze lässig unter dem rechten Arm trug.

„Tardy, Funny und Aid, nicht wahr?“ Der jugendliche Greis winkte sie in eine Ecke des Kellers hinüber. „Zeigt mir zunächst bitte eine Kostprobe eurer Darstellung gegenüber Menschen.“

Tardy war geschockt. „Welche Darstellung?“

„Wie erscheinst du gewöhnlich vor Sterblichen, mein Junge?“

„Äh …“ Hilflosigkeit machte sich auf Tardys bleichem Gesicht breit.

Der dicke Mönch hob seinen Kopf mit beiden Armen vor Tardy in die Luft. Auge in Auge schwebte er ihm gegenüber. Freundlich erklärte er: „Der Geist vergangener Weihnachten möchte wissen, ob du den Schlabberlook beibehältst, wenn du dich materialisierst. Oder nimmst du eine andere körperliche Gestalt an?“

„Ich, äh, …“ Die Frage ließ Tardy verstummen. Er hatte schlichtweg keine Ahnung, wie er physischer werden konnte. Panik erfüllte ihn von den nachlässig gebundenen Turnschuhen bis zum ausgeleierten Halsausschnitt des grauen Sweatshirts.

„Also ich zeige mich, wie ich bin.“ Aid klemmte seinen Kopf wieder unter den Arm und nahm dabei lebendige Konturen an. Seine braune, bodenlange Kutte, die am beachtlichen Bauchansatz von einer schlichten Kordel gehalten war, wurde gegenständlich und greifbar. Kopf, Hals und Hände nahmen ein fleischiges Aussehen an. Man hätte Aid beinahe für einen Menschen halten können, hielte er seinen Kopf nicht auf Nabelhöhe in Händen. Lächelnd sah der Mönch zu Tardy auf. „Jetzt lass mal sehen.“ „Ich kann nicht …“

Der Geist vergangener Weihnachten lächelte milde. „Keine falsche Bescheidenheit, mein Sohn. Es ist gleichgültig, wie du in Erscheinung trittst. Du glaubst nicht, was ich in den letzten zweitausend Jahren schon alles erlebt habe.“

„Sie verstehen nicht … ich habe keine Ahnung, wie das … äh … funktioniert …“

Funny sah Tardy belustigt an. „Du meinst, du kannst dich nicht für Sterbliche seh- oder hörbar machen und bewirbst dich trotzdem um einen Job mit permanentem Publikumsverkehr?“

Dem Alten klappte krachend die Kinnlade herunter. „Mit Sorge stelle ich fest, dass ich wohl noch nicht alles erlebt habe. Mein lieber Junge, das ist ja nicht zu glauben. Du beliebst sicher zu scherzen?“

„N-n-nein“, stotterte Tardy hilflos. „Ich wollte eigentlich nie ins Spuk-Business einsteigen, deshalb …“ Er zuckte resigniert mit den Achseln. Was sollte er weiter dazu sagen?

Funny kicherte fasziniert. „Du bist wirklich ein Kracher, weißt du das?“ Aus Rücksicht auf den ohnehin schwer angeschlagenen Alten unterließ er eine bildliche Untermalung dieser Aussage.

Der Greis rang um Fassung. „Nun denn. Es ist, wie es ist. Ich denke, wir besprechen zunächst die unterschiedlichen Aufgaben und üben, wie man die Sterblichen in ihre Vergangenheit zurückführt oder sie im Falle von Uneinsichtigkeit mit einer düsteren Zukunft konfrontiert. Danach werde ich dich in die Grundkenntnisse der Materialisierung einführen, mein Sohn.“

Geraume Zeit später wurden die anderen neun Bewerber aus den Kellern des Towers entlassen. Sie erhielten Weisung, sich am späten Abend zur selben Zeit am selben Ort wieder einzufinden. Im Anschluss an das erste Geist-der-Weihnacht-Training bemühte sich der jugendliche Greis um Tardys Sichtbarkeitsproblem. Als er den Jungen endlich gehen ließ, war er selbst äußerst erschöpft. Die Möglichkeit, einige weitere Jahre im aktiven Dienst zu bleiben, erschien ihm, verglichen mit der mühsamen Einarbeitung der neuen Rekruten, nach dieser Nacht deutlich attraktiver.

 

Die zweite Nacht

 

Tardy verschlief den darauffolgenden Tag. Seine Mutter hatte äußerste Mühe, ihn schließlich zu wecken, um etwas über das Bewerbungsgespräch in Erfahrung zu bringen. Erfreut über das Wenige, das sie zu hören bekam, schickte sie ihren Sohn erneut zum Tower. Da er unterwegs übte, sich sichtbar zu machen, kam er auch an diesem Abend zu spät. Schnell murmelte er eine Entschuldigung und erntete ungläubiges Kopfschütteln. Der Geist der zukünftigen Weihnachten scheuchte ihn mit einer energischen Handbewegung zum Kreis der übrigen Bewerber.

Dann ergriff der Riese das Wort: „Nachdem wir nun vollzählig sind …“, sein Blick ruhte auf Tardy, der umgehend wünschte, er wäre gänzlich unsichtbar wie Proud, „… können wir also beginnen. Wir fahren mit unseren Übungen zur Mitnahme der Sterblichen in ihre Vergangenheit und Zukunft fort. Außerdem besprechen wir heute den Umgang mit den Fehlgeleiteten. Wir behandeln sie stets freundlich, bleiben ruhig und trotzdem beharrlich. Dies wollen wir in einem Rollenspiel veranschaulichen.“

Der Kapuzenträger deutete auf Stubborn und Tardy und der Riese fuhr fort: „Stubborn, stell dir vor, du seist der Geist vergangener Weihnachten und müsstest Tardy auf den rechten Weg zurückführen. Bitte erkläre ihm, dass du ihn mitnehmen wirst auf eine Reise in sein früheres Leben.“

Stubborn packte Tardy mit ihrer knochigen Hand am Kragen. „Hör zu! So geht es nicht weiter! Du wirst für alle Zeiten in der Hölle schmoren, wenn du dich nicht änderst. Ich zeige dir jetzt, was du bisher alles angerichtet hast, du Versager. Komm mit!“

Vom Schwarzverhüllten erntete sie zwar einen erhobenen Zeigefinger und ein Kopfschütteln, trotzdem schien er nicht halb so bestürzt zu sein wie der hellstrahlende Geist vergangener Weihnachten. „Nicht doch, nicht doch, mein Kind. Bleibe stets sachlich und höflich. Keine Beleidigungen und Kraftausdrücke. Probiere es gleich noch einmal.“

Stubborn stöhnte genervt und baute sich erneut vor Tardy auf. Ihre knochigen Hände hatte sie in die Hüfte gestützt. Sie dachte kurz nach, dann legte sie in einem etwas ruhigeren Ton los: „Sterblicher, hör mir zu! Dein bisheriges Leben war ein absolutes Desaster. Ich werde dir zeigen, was du angerichtet hast. Folge mir.“ Tardy erhielt einen unsanften Knuff und sie schwebte erhobenen Hauptes vor ihm her.

Der Riese nickte bedächtig. „Das war viel besser. Trotz allem denkt bitte daran: keine Handgreiflichkeiten. Wir verschaffen uns allein durch unser Auftreten den nötigen Respekt.“

„Das ist bestimmt kein Problem für Stubborn. Sobald sie anfängt zu qualmen und brennen, wissen die Sterblichen schon, was ihnen blüht.“ Funny schwebte in Form einer bunten Blumenwiese durch den Raum.

Das Skelett warf ihm einen feurigen Blick zu, der durch aufsteigenden Rauch unterstrichen wurde.

„Was habe ich gesagt? Ist sie nicht gruselig?“ Funny grinste selbstzufrieden.

„Es gibt noch einige wichtige Punkte, die ihr lernen müsst.“ Die Stimme des Geistes der diesjährigen Weihnacht hallte durch den riesigen Raum. „Zum einen: Wie ihr einen Sterblichen in seine Vergangenheit zurückführt oder ihm das gegenwärtige Weihnachtsfest präsentiert. Zum anderen: Wie ihr ihm eine möglichst düstere Prognose für seine Zukunft gebt, sofern er uneinsichtig bleibt. Und zuletzt müsst ihr die Technik beherrschen, die Zeit für die Menschen zurückzudrehen, denn unsere Besuche finden nacheinander und dennoch immer zur selben Stunde in der Weihnachtsnacht statt.“

In den Reihen der Kandidaten ertönte leises Murren und Stöhnen. Einige, wie Tardy und Shy, blieben stumm, sahen jedoch ziemlich verschreckt aus.

„Natürlich wissen wir, dass es viel zu lernen gibt, ihr Lieben.“ Der Geist vergangener Weihnachten fingerte an seinem Gürtel herum und schickte eine Welle besonders heller, wohltuender Lichtstrahlen aus. „Sorgt euch nicht. Wir haben zwei Wochen Zeit, um all dies zu vertiefen, bevor unsere Nachfolger auf sich allein gestellt sein werden.“

„Nur zwei Wochen?“ Trouble taumelte vor Schreck rückwärts, stieß an eine Säule und bückte sich eilig, um seinen linken Fuß wieder zu befestigen, der sich beim Aufprall gelöst hatte.

„Passiert dir das öfter?“, erkundigte sich Aid mitfühlend.

„Leider ja. Ist eigentlich nicht weiter schlimm, außer wenn ich vergesse, meine Körperteile gleich wieder anzubringen. Denn manchmal bekommen sie ein Eigenleben und das Einfangen raubt mir den letzten Nerv.“

„Großartig!“ Grumbles Stimme klang höhnisch. „Also ich werde diesem Chaoten seine Eingeweide nicht hinterhertragen. Ist ja wie im Kindergarten hier.“

Pretty starrte ihn schockiert an. „Das verstehe ich nicht. Welche Eingeweide meinst du? Er hat bloß seinen Fuß verloren.“

„Das war eine Metapher, Fräulein Super-Schön. Falls es einen Schalter für deinen Verstand gibt, solltest du ihn jetzt einschalten, bevor die Ausbildung vorbei ist.“

Wütend schwebte Funny heran. „So spricht man nicht mit einer Dame, du ungehobelter Klotz!“

„Ruhe! Ruhe! Nicht so hitzig, ihr Lieben.“ Obwohl sie noch ein straffes Programm vor sich hatten, sah der jugendliche Greis bereits recht erschöpft aus. „Verteilt euch bitte im Raum. Wir fangen mit dem Zurückstellen der Uhr an. Im Grunde ist es ein Leichtes. Man braucht lediglich ein wenig Übung …“

 

Am frühen Morgen waren die drei Alten der Meinung, dass die theoretische Einarbeitung fürs Erste abgeschlossen sei. Tardy hatte vor aller Augen immerhin eine halb transparente Materialisierung zustande gebracht und die Abläufe einer normalen Bekehrung waren mehrfach besprochen worden. Alle zehn Kandidaten hatten es mehr oder weniger erfolgreich geschafft, die Zeit zurückzudrehen und einen Mitbewerber in seine Vergangenheit zu schicken. Lediglich Proud hatte sich standhaft geweigert, dorthin zu reisen – und so hatte Shy ihn schließlich mitgenommen in die Zukunft.

Erleichtert besprachen sich die Geister der Weihnacht kurz, während die Auszubildenden im Halbkreis warteten.

Schließlich instruierte der Riese die erste Gruppe für die nächste Nacht. „Funny, Stubborn, Trouble und Shy, ihr trefft euch um zehn Minuten vor zwölf in der Downing Street. Seid pünktlich und überzieht die Geisterstunde nicht. Der Premierminister braucht seinen Schlaf. Wenn er übernächtigt ist, könnte er sonst etwas anrichten.“

Mit einigen Handbewegungen gruppierte der Geist der zukünftigen Weihnachten die zehn neu.

„Bin ich ein Glückspilz!“ Funny schaute sich um. „Ich habe die explosive Knochenfrau, den tapsigen Volltrottel und die unscheinbare Durchsichtigkeit in meiner Gruppe. Houston, ich habe ein Problem!“

Der weiße Greis räusperte sich ungehalten. „Mein langjähriger Weggefährte, der Geist der zukünftigen Weihnachten, wird euch begleiten.“

Funnys Stöhnen wurde um einige Nuancen lauter, bis ihn ein äußerst kalter Windhauch aus der Kutte seines zukünftigen Betreuers traf. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte der Ire einen riesigen Eiszapfen dar, dann fügte er sich in sein Schicksal.

Der jugendliche Greis übernahm die weitere Einteilung. „Pretty, Aid und Pleasant, ihr trefft den Geist der diesjährigen Weihnacht um kurz vor Mitternacht am Victoria Station.“

Der Riese zwinkerte den dreien ermutigend zu.

„Grumble, Proud und Tardy, ihr seid bitte morgen Abend pünktlich um fünfzehn Minuten vor Mitternacht auf der anderen Flussseite am Fuße der Tower Bridge.“ Bei dem Wort ‚pünktlich‘ warf der Geist vergangener Weihnachten Tardy einen beschwörenden Blick zu. Der überaus gemütliche Bewerber indessen überlegte, ob es ein Zufall sei, dass sich der jugendliche Greis selbst eine rein testosterongesteuerte Gruppe zugeteilt hatte. Offenbar hatte er ein Problem mit Frauen in der Arbeitswelt.

„Tardy!“ Funny deutete auf den Geist der zukünftigen Weihnachten, der sie allesamt energisch hinauswinkte. Einer nach dem anderen entschwebte dem Gewölbe. Im Hof lehnte der Rotschopf an einer Mauer und wartete auf den Pummel.

„Du bist also mit dem ewigen Nörgler und dem arroganten Schotten eingeteilt. Auch nicht gerade die erste Wahl, wenn du mich fragst. Aber immerhin sind wir noch im Rennen.“

„Ja. Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Tardy wirkte überrascht, weil alle Kandidaten eine Chance erhalten hatten. Er selbst hielt sich für völlig ungeeignet für die Aufgabe, seine Eltern hingegen würden damit fürs Erste zufrieden sein. Er musterte Funny. „Du darfst morgen den Premierminister bekehren. Ich bin mal gespannt, wohin uns der Geist aller vergangenen Weihnachten schleppen wird. Hoffentlich müssen wir nicht zu weit fliegen, sonst schlafe ich womöglich wieder ein.“

 

 

Eine bläulich-weiße Erscheinung, die ihren Kopf unter dem Arm trug, kam ihnen entgegen und verschwand in einer Mauer. Funny starrte ihr nach. „War das nicht Anne Boleyn? Sie sieht gut aus, oder?“

„Hast du nicht gehört, was der Geist der diesjährigen Weihnacht gestern gesagt hat? Finger weg von den Alteingesessenen.“

„Oh, du hast ihm tatsächlich deine Aufmerksamkeit geschenkt? Hätte ich nicht gedacht. Aber keine Sorge: Sie ist mindestens vierhundert Jahre zu alt für mich. Diese Pretty ist eher mein Typ. Sie sieht aus wie ein Engel, findest du nicht?“

„Wer? Anne Boleyn?“

„Nein. Ich rede von Pretty. Ist sie nicht bildschön?“

„Etwas zu hell, finde ich.“

„Zu hell?!“

„Sie schimmert so. Alles an ihr strahlt und leuchtet. Ich könnte in ihrer Nähe kein Auge zu tun.“

„Neben einem hübschen Geistermädchen schläft man ja auch nicht. Du bist ein hoffnungsloser Fall.“

Vor ihnen drehte sich ruckartig die Schottenbekleidung um. „Eins sollte euch klar sein: Keine der Ladys aus dem Tower würde sich jemals mit solch hoffnungslosen Fällen wie euch abgeben. Hier leben einzig und allein blaublütige Edeldamen und Herren.“

„Wer zum Beispiel?“ Tardy gähnte herzhaft.

Neben ihm tauchte Grumble in seinem zerschlissenen Wollumhang auf. „Es ist allgemein bekannt, dass Prinz Eduard der Fünfte, sein Bruder Richard, die Gräfin von Salisbury und Thomas Beckett, der ehemalige Erzbischof von Canterbury, im Tower wohnen.“ Ein herablassender Blick traf Tardy, dem die Augen zuzufallen drohten. „Außerdem, wie bereits erwähnt, Anne Boleyn und Lady Jane Grey. Vermutlich weißt du nicht einmal, dass du soeben einer ehemaligen Königin begegnet bist, oder?“

Tardy wehrte sich halbherzig. „Doch. Klar. Ich weiß, wer das ist.“

„Wirklich? Mit welchem König war Anne verheiratet?“ Der unsichtbare Schotte hatte sich direkt vor Tardy aufgebaut und versperrte ihm mit seiner Kleidung den Blick auf Funny, der vergeblich acht Finger in die Höhe reckte.

„Äh …“, Tardy überlegte. Als er Funnys linke Hand neben dem Rüschenhemd auftauchen sah, improvisierte er. „Eduard, der dritte.“

„Tatsächlich?“ Grumble ließ das Wort einen Moment im leeren Raum schweben, bevor er genüsslich nachsetzte: „Um etwa zweihundert Jahre verschätzt. Probier’s einfach nochmal.“

Tardy begann zu schwitzen. „Richard, der dritte?“

„Schon viel besser, jetzt liegst du nur noch wenige Jahrzehnte daneben.“

Funny verwandelte sich kurzzeitig in eine Ganzkörper-Acht und entkam dem schottischen Sichtschutz.

„Heinrich, der achte?“, legte Tardy verunsichert nach.

Grumble musterte ihn verächtlich. „Stimmt. Herzlichen Glückwunsch. Man merkt sofort, mit dir einen echten Kenner der englischen Geschichte vor sich zu haben.“

Der Kilt-Träger wandte sich ab. Beim Davonschweben hörte man ihn höhnisch zu Grumble sagen: „Frag ihn lieber nicht, wer Jane Grey war. Die Antwort könnte ich vermutlich nicht ertragen.“

Funny hielt Tardy am Sweatshirt fest. „Nimm es nicht so schwer. Das sind echte Idioten.“

„Mit den beiden muss ich morgen einen Sterblichen bekehren. Das wird ein Albtraum.“

„Halt dich einfach im Hintergrund und lass die Besserwisser machen. Mal sehen, ob sie im Umgang mit Menschen halb so versiert sind wie in britischer Adelskunde.“

„Hm.“ Tardy klang nicht sehr überzeugt.

„Hey, komm mich doch morgen Nacht in meinem Pub besuchen. Nach der Sperrstunde haben wir den Laden für uns und machen einen drauf!“

„Mal sehen. Wie heißt das Pub?“

„Skeleton Inn.“

Tardy lächelte. „Dorthin solltest du eher Stubborn einladen. Der Name würde ihr sicher gefallen.“

„Bist du verrückt? Ich stehe auf Pretty.“

„Wie du meinst.“

Jenseits der nächsten Straßenbiegung erklang klägliches Maunzen und Schreien.

„Was ist denn da los?“ Tardy bog ab und sah sich zwei Jugendlichen gegenüber, die eine heftig protestierende Katze am Schwanz gepackt hatten und hin und her schleuderten. Er rief empört: „Lasst sie sofort los!“

Die beiden schienen ihn jedoch weder zu hören noch zu sehen, sondern ließen sich bei ihrem niederträchtigen Treiben nicht stören. Plötzlich erschien ein übergroßer Tigerkopf hinter den Jungen und zwei mächtige Vorderpranken tippten ihnen auf die Schultern. Sie sahen sich um, erblickten ein weit geöffnetes Maul mit gelben Reißzähnen, schrien erschreckt auf und rannten davon, schneller als ihre Füße sie jemals getragen hatten. Das geschundene Haustier verschwand wie der Blitz in der Dunkelheit. Der Tiger hingegen verwandelte sich in Funny zurück. „Mit solchen Kerlen kannst du nicht diskutieren“, sagte der Ire kopfschüttelnd zu Tardy. „Denen musst du zeigen, wie der Hase läuft.“ Ein weißes Kaninchen sauste für einige Momente vor Tardys Augen im Zickzackkurs durch die Londoner Nachtluft. „Für einen Geist hast du recht wenig Erfahrung mit nächtlichen Ausflügen, nicht wahr? An deiner Materialisierung musst du dringend arbeiten.“

Tardy nickte verlegen.

„Um als Geist der Weihnacht zu arbeiten, wirst du dich ziemlich umstellen müssen, nicht nur, was deine Schlafgewohnheiten angeht. Wenn du magst, helfe ich dir dabei.“

Tardy lächelte unbeholfen. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte ihn. „Warum bist du für die Menschen sofort sichtbar, ich aber nicht?“

„Du musst es wirklich wollen!“, verkündete Funny mit Nachdruck. „Die Sterblichen nehmen uns nur wahr, wenn wir es zulassen. Stell‘ dir bloß vor, sie könnten uns immer sehen. Dieses Chaos! Man könnte niemals ungestört herumgeistern.“ Funny schüttelte sich voller Abscheu. Sein kaum wahrnehmbares grünes Leuchten ging in ein hektisches Flackern über. Es erinnerte Tardy an eine defekte Leuchtreklame am Piccadilly Circus. Nach kurzer Zeit flachte das Flimmern ab. „Probier‘s erstmal bei einigen Haustieren. Die reagieren gelassener verglichen zu den Menschen. Oder teste es an einem Betrunkenen.“

Auf Höhe der St. Paul’s Cathedral hob Tardy die Hand. „Ich muss dort rüber. Bis morgen vielleicht.“

„Bye und lass dich von den Spaßbremsen Proud und Grumble nicht unterkriegen.“ Funny sah seinem Gefährten nach, der zwischen einigen Bäumen verschwand.

 

Die dritte Nacht

 

Am frühen Abend wurde Tardy von seiner Mutter geweckt.

„Aufwachen, Langschläfer!“

Er rollte sich unwillig auf die andere Seite und wischte sich ein paar Spinnweben aus dem bleichen Gesicht.

„Wie ist es gestern gelaufen? Als ich vom Spuken heimkam, hast du bereits fest geschlafen. Erzähl mir alles!“

Obwohl er äußerst wortkarg antwortete, war sie mit dem Verlauf des vorangegangenen Abends hochzufrieden und ließ ihn schließlich in Ruhe. Erfüllt von guten Vorsätzen machte sich Tardy rechtzeitig auf den Weg. Im Vorbeischweben erblickte er einen schlafenden Obdachlosen. Sofort fiel ihm Funnys Ratschlag ein. Er konzentrierte sich und tippte den Mann energisch an. Da der Schläfer aber durch nichts aufzuwecken war, gab er schließlich auf. „Betrunken hin oder her, ohne Feedback nützt es rein gar nichts“, brummte Tardy unzufrieden.

Als eine Katze seinen Weg kreuzte, beschloss er, sich ihr zu zeigen. Insgesamt brachte er jedoch nur ein nebeliges, kaum sichtbares Abbild seines Selbst zustande. Das Tier allerdings fauchte herausfordernd, was Tardy frohen Mutes weiterschweben ließ. Pünktlich kam er am Fuß der Brücke an.

„Sehr schön, sehr schön“, begrüßte ihn der Geist aller vergangenen Weihnachten überschwänglich. Proud und Grumble näherten sich aus verschiedenen Richtungen der Tower Bridge. „Folgt mir, liebe Freunde!“ Die Stimme des Greises schwebte wie eine sanfte Brise an ihnen vorbei und wurde von den Nebelschwaden, die über der Themse hingen, beinahe verschluckt. Grumble setzte sich mit missmutiger Miene in Bewegung, von Proud war wie üblich nichts außer seiner Festtagskleidung zu erkennen. Seufzend schloss sich Tardy der eigenartigen Gruppe an. Gemeinsam steuerten sie einem unbekannten Ziel entgegen und stoppten abrupt vor einem Wohnhaus.

„Im zweiten Stock wohnt Familie Miller. Ihre Tochter Sue ist siebzehn und wurde“, der Alte hüstelte befangen, „vom Nachbarssohn geschwängert.“

Proud schnaubte verächtlich. „Immer das alte Lied! Die Menschen lernen einfach nie dazu.“

„Ihr Vater Peter drängt sie zur Abtreibung, Sue hingegen möchte das Kind behalten. Ihr Freund Jacob würde ihr helfen, darf sie jedoch nicht mehr sehen. Eure Aufgabe ist es, Peter ins Gewissen zu reden, damit er die jungen Leute unterstützt, anstatt ihnen Steine in den Weg zu legen.“

„Unsinn! Es gibt sowieso viel zu viele Menschen auf der Erde, ein paar weniger schaden nicht. Wir sollten ihn unterstützen!“ Grumble sah herausfordernd in die Runde.

Tardy entgegnete erschrocken: „Aber … nein!“ Er überlegte, was er sagen sollte. Schließlich fasste er sich ein Herz. „Sie möchte das Baby bekommen, deshalb sollte er ihr beistehen. Sie ist schließlich seine Tochter!“

Der Geist vergangener Weihnachten warf Tardy einen erfreuten Blick zu.

Grumble widersprach. „Fast acht Milliarden Menschen! Der Planet ächzt unter ihrer Last. Wir sollten ihnen helfen, sich zu dezimieren, anstatt für unnötige Vermehrung zu sorgen!“

Diese Bemerkung ließ den Alten nach Atem ringen. „Nicht doch! Nicht doch! Du verstehst unsere Aufgabe grundlegend falsch. Die Geister der Weihnacht sind für die Menschen da. Wir zeigen ihnen den Weg der Liebe und eines friedlichen Miteinanders.“

Ein verächtliches Schnauben ließ ihn zusammenzucken. Prouds Stimme drang aus dem rüschenbesetzten Kragen seines altmodischen Hemdes hervor. „Dummheit – das ist es, was die Sterblichen auszeichnet. Andererseits ist dieses Mädchen mit siebzehn durchaus im heiratsfähigen Alter. Bringen wir sie also unter die Haube und verschwinden.“

„Das ist nicht der Punkt.“ Tardy fühlte Ungeduld in sich aufsteigen. „Es geht um das Baby. Versteht ihr das nicht?“

„Elende Gefühlsduselei! Und ich sage euch: Wehret den Anfängen. Sie werden immer mehr.“

Tardy vergaß seine übliche Zurückhaltung. „Grumble, warum willst du eigentlich ein Geist der Weihnacht werden? Dir liegt doch gar nichts an den Sterblichen.“

„Aufhören!“ Der jugendliche Greis raufte sich fassungslos das schlohweiße Haar. „Wir müssen gemeinsam für das Wohl der Menschheit kämpfen. Natürlich sind sie sehr viele, mein Junge, und sie werden von Tag zu Tag mehr. Gleichwohl ist das nicht das Problem. Sie sind verblendet, egoistisch und konsumorientiert und verleugnen den wahren Geist des Weihnachtsfestes. Unsere Aufgabe besteht darin, sie zur Umkehr zu bewegen, ihre Moral zu stärken, nicht ihre Population zu mindern.“ Erschöpft wandte er sich an Tardy: „Was schlägst du vor, mein Sohn? Wie können wir Peter überzeugen?“

Tardy überlegte kurz. „Wir sollten ihn an seine Liebe zu Sue erinnern und daran, dass es um seinen Enkel geht. Außerdem wäre es gut, wenn Sues Freund ihr helfen dürfte.“

Die Züge des Geistes der vergangenen Weihnachten entspannten sich. „Genauso machen wir es! Wer von euch möchte Peter die Vergangenheit zeigen? Wer die Gegenwart oder seinen Blick auf die möglichen Folgen für die Zukunft richten?“

Sie einigten sich darauf, Tardy zuerst ins Rennen zu schicken, um Sues Vater in die Zeit ihrer Kindheit zurückzubegleiten. Grumble wurde ausgewählt, Peter vor Augen zu führen, wie dringend seine Tochter ihn im Moment brauchte. Zu guter Letzt sollte Proud ihm die Zukunft mit und ohne Enkel präsentieren.

„Eine winzige Kleinigkeit wäre da noch: Zeigt mir bitte eure Darstellung vor den Sterblichen. Und bedenkt: Wir wollen sie nur mäßig erschrecken.“

Grumble manifestierte sich brummend vor ihren Augen. Tardy bemerkte kaum eine Veränderung, außer dass er menschlicher wirkte – irgendwie greifbarer. Auch Prouds Kleidung wurde handfester. Die Fasern des Stoffes waren plötzlich klar erkennbar ebenso das Leder seiner Schuhe. Von ihm selbst war nach wie vor nichts zu sehen.

Der Alte betrachtete ihn abwartend. „Zeigst du dich den Menschen nicht?“

„Als Anwärter für den Geist der kommenden Weihnachten unterstreiche ich die nebulöse Zukunft der Fehlgeleiteten durch meine optische Körperlosigkeit“, erwiderte Proud unbeugsam.

Dem Alten entwich ein resigniertes Seufzen. Er wandte sich an Tardy: „Aber du, mein Sohn, die Vergangenheit liegt klar auf der Hand. Dich müssen die Menschen deutlich erkennen, zumal du der Erste bist, der ihnen begegnet. Du hast gewiss fleißig geübt, hoffe ich?“

Panik flutete Tardys Gemüt. Sein schemenhafter Auftritt vor der Hauskatze war sicher nicht das gewesen, was hier von ihm erwartet wurde. Er blähte sich mächtig auf, blieb allerdings recht blass und farblos. Insgesamt hob er sich kaum von seinem grauen Shirt und der schlackernden Jogginghose ab.

„Nun? Du darfst beginnen“, ermunterte ihn der jugendliche Greis liebenswürdig.

„Ich glaube, er ist bereits beim Höhepunkt seiner Darbietung angekommen.“ Grumble schnaubte verächtlich.

Tardys Gesicht begann Farbe anzunehmen, so sehr bemühte er sich um klare irdische Sichtbarkeit.

Der Alte schöpfte Hoffnung.

„Gut so! Konzentrier dich.“

Der Schottenrock baute sich empört vor Tardy auf. „Das kann nicht dein Ernst sein! Obwohl du es nicht schaffst, dich sichtbar zu machen, willst du einen Job im Außendienst übernehmen?“

„Das sagt ja der Richtige!“ Grumbles Stimme triefte vor Ironie. „Von dir sehen die Sterblichen lediglich einen Haufen Polyester und selbst uns – deinen Kollegen – zeigst du deine ach so edle Halbglatze nicht!“

Ein Schlag aus dem Nichts traf den Spötter im bleichen Gesicht. „Ich habe volles Haupthaar und trage feinste schottische Wolle! Von Hand gewebt! Selbst ein Blinder erkennt deine mangelnde Modekenntnis. Du bist lediglich ein mit mottenzerfressenen Lumpen behängter Besserwisser!“

„Sofort aufhören! Wo bleibt euer Mannschaftsgeist?“ Der Geist vergangener Weihnachten drängte sich zwischen die beiden Streithähne.

Grumble warf Proud wutentbrannte Blicke zu. Dieser verschränkte die berüschten Unterarme vor seinem Oberkörper und schwieg.

Tardy war vor Schreck wieder vollständig geisterbleich geworden und versuchte sich krampfhaft zu sammeln.

„Versuche es ein zweites Mal.“ Die beruhigende Stimme seines Ausbilders holte ihn in die Realität zurück. „Ich spüre deinen Wunsch, etwas zu bewegen. Der Geist der Weihnacht lebt in deinen Worten. Zweifellos kannst du viel bewirken, sofern du dich den Menschen sichtbar und verständlich machst.“

Tardy schloss die Augen und konzentrierte sich. Dieser Versuch gelang etwas besser als der vorangegangene, woraufhin der Alte sie allesamt durch die schwere Eingangstür und die Treppe hinaufscheuchte.

 

 

In Peter Millers Schlafzimmer angekommen gruppierten sie sich um das Ehebett. „Leise!“, mahnte der Greis. „Wir wollen keinesfalls seine Frau aufwecken.“

Mit einer ausladenden Handbewegung schuf er eine unsichtbare Mauer zwischen den Eheleuten. „Nun kannst du beginnen“, ermunterte er Tardy. „Sie kann uns nicht mehr hören.“

Tardy starrte unschlüssig auf den Schlafenden. Schließlich streckte er den Arm aus, um ihn wachzurütteln. Dieser allerdings ging durch den Hausherrn hindurch. Nichts geschah. Der Geist vergangener Weihnachten übernahm kopfschüttelnd und Tardy fand sich Auge in Auge mit Peter wieder, der verschlafen aufblickte, ihn jedoch gar nicht wahrnahm. Den Alten hingegen sah er und schreckte auf. „Wer sind Sie?“

„Ich bin der Geist vergangener Weihnachten“, erwiderte der jugendliche Greis freundlich. Seine sanfte, leise Stimme glitt wie ein Hauch über Peter hinweg.

Dieser sank auf sein Kissen zurück. „Schon der zweite Albtraum heute Nacht. Zuerst mein verstorbener Großvater, der mir den Besuch eines weiteren Geistes ankündigte und nun das. Ich muss etwas Verdorbenes gegessen haben. Erzeugt eine Lebensmittelvergiftung Halluzinationen?“

„Woher sollen wir denn so etwas wissen?“, schimpfte Grumble ungehalten. „Diese Sterblichen haben absolut kein Taktgefühl!“

Peter sah erschrocken in seine Richtung. Langsam, ganz langsam schärften sich die Konturen einer mürrisch dreinblickenden Gestalt. Während er sich noch die Augen rieb, schoss Grumbles Gesicht auf ihn zu. „Buh!“, rief er gehässig und Peter zuckte zurück.

Der weiße Greis beugte sich beschwichtigend zu ihm hinunter. „Immer mit der Ruhe, mein Lieber. Sie leiden keineswegs unter Wahnvorstellungen. Im Gegenteil! Ich bin der Geist Ihrer vergangenen Weihnachten.“

Peter griff nach seinem Mobiltelefon. „Ich rufe jetzt die Polizei!“

„Nicht doch, nicht doch. Ich – besser gesagt wir – wollen Ihnen helfen. Es ist unsere Aufgabe, Sie auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.“ Er deutete auf die Bewerber, woraufhin Grumble Peter weitere wütende Blicke zuwarf und Proud wortlos seine Kleidung präsentierte. Tardy blieb aller Mühe zum Trotz eher milchig.

„Sie brechen mitten in der Nacht in meine Wohnung ein, um mich zu missionieren? Das ist eine bodenlose Frechheit! Diese Sektierer kennen keine Grenzen mehr.“ Peter begann hektisch, auf seinem Mobiltelefon herumzutippen. Bevor er Hilfe herbeirufen konnte, schwebte das Smartphone durch die Luft und verschwand zwischen Prouds Rüschenärmeln.

„So ein Ding wollte ich schon lange haben“, murmelte der Schotte zufrieden. „Hoffentlich hat er eine gescheite Flatrate!“

Tardy erzeugte unter höchsten Anstrengungen ein Flackern.

„Na los“, zischte der Kilt spöttisch. „Dein Auftritt, du Versager.“

„Wie bitte? Wie haben Sie mich gerade genannt?“ Peters Stimme klang äußerst verärgert.

„Sie habe ich nicht gemeint, obwohl wir wohl kaum zu dieser Stunde hier wären, wenn bei Ihnen alles rund laufen würde.“

Grumble knurrte zustimmend. „Ich sag’s nicht gern, aber er hat ausnahmsweise Recht!“

Tardy flackerte etwas intensiver und hauchte kaum hörbar: „Guten Abend, Peter.“

Dieser starrte ihn fassungslos an. „Nie wieder Alkohol! Ich schwöre es. Schlaflosigkeit, schwindendes Sehvermögen und Geistererscheinungen. Dabei waren es nur zwei Bier.“

„Verzeihung, Sir. Es liegt nicht daran. Ich bin bloß noch sehr ungeübt.“ Tardy bemühte sich redlich, so dass Peter, der mit weit aufgerissenen Augen im Bett saß, ihn zunehmend besser wahrnehmen konnte.

Der Greis ergriff das Wort: „Ich muss mich entschuldigen. Meine Begleiter sind recht unerfahren. Es ist ihr erster Einsatz …“

 

 

Als sie das Haus einige Zeit später wieder verließen, wirkte der Alte erschöpft. „Für heute Nacht lassen wir es gut sein. Bitte findet Euch bis Mitternacht im Gewölbe unter dem Tower ein, damit wir neue Gruppen einteilen können.“ Er verschwand ohne ein weiteres Wort.

Tardy hielt verunsichert an. „Waren wir so schlecht?“

Proud lachte gehässig. „Nein wir waren fantastisch, geradezu phänomenal. Besonders du! Peter konnte dich kaum sehen oder hören. Deine Botschaft verhallte quasi im Nirwana. Und Grumbles Vortrag über das Problem der Überbevölkerung war ebenfalls großartig. Der gute Peter wusste gar nicht, wie ihm geschah.“

„Ha!“ Grumble schnaubte. „Wie gut, dass deine Ergüsse zur Ehetauglichkeit einer Siebzehnjährigen so überaus passend waren. Falls das mit dem Weihnachtsjob nicht funktionieren sollte, könntest du jederzeit bei einer Partnervermittlung anheuern. Die nehmen dich mit Handkuss, McProud!“

„Halt deinen Mund, du wandelnder Betriebsunfall!“

Tardy konnte die beiden keine Sekunde länger ertragen und schwebte geknickt davon. Ziellos geisterte er durch die Nacht, bis er innehielt und sich unerwartet vor einem Irish Pub namens „Skeleton Inn“ wiederfand.

Ausgezeichnet!

Funnys Unterkunft!

Tardy konnte wahrlich eine Aufmunterung gebrauchen. Vorsichtig streckte er den Kopf durch die Wand und sah sich im Schankraum um. Sein neuer Freund war nirgends zu sehen. Plötzlich erhielt Tardy einen derben Schlag auf den Rücken und wurde quer durch den Raum geschleudert.

„Tardy, alter Plagegeist. Schön, dich zu sehen.“ Ein breit grinsender Smiley schwebte vor seinem Gesicht und verwandelte sich schlagartig in Funnys schlaksige Gestalt. Der Rotschopf machte eine einladende Geste. „Welcome to my castle! Wartest du schon lange? Nur nicht so schüchtern, erzähle mir von deinem nächtlichen Ausflug mit dem mürrischen Wollmantel und dem eitlen Schottenrock. Was hat die Kleiderkammer angerichtet?“

Tardy seufzte abgrundtief. „Wie ich es befürchtet hatte: Es war ein absolutes Desaster. Ich schätze, wir sind alle drei raus. Ich glaube nicht, dass die arme Sue ihr Baby behalten darf. Es sei denn, Peter hat entgegen unserer Anweisung die Polizei gerufen und sie haben ihn mitgenommen, weil er ein derart wirres Zeug geredet hat …“ Er holte tief Luft, um ein weiteres Mal zu seufzen. Dabei griff seine Verzweiflung auf die Umgebung über. Der Teil des Tresens, an dem er lehnte, bekam Risse.

„Was machst du da?“

„Keine Ahnung. Das wollte ich nicht.“

Funny sah seinen Kumpel mitleidig an. „Ich versteh zwar nur Geisterbahnhof, aber hey, trag es mit Fassung.“ Eine riesige altmodische Glühbirne mit glänzendem Gewinde erschien vor Tardy. Er lächelte schwach und die Risse schlossen sich umgehend.

Wieder ganz der Alte, betrachtete Funny die Einrichtung des Schankraums. „Du kannst den Zustand von Dingen verändern, wie es scheint. Wusstest du das nicht?“

„Und wenn schon. Wozu soll das gut sein?“

„Wer weiß …“

„Du hast bisher gar nichts vom Premierminister erzählt. Ich wette, ihr habt ihm ordentlich eingeheizt …“

Funny lachte düster. „Wie Recht du hast! Stubborn hat ihn beinahe gegrillt, weil sie sich wahnsinnig über seine Bemerkungen geärgert hat.“

„Wirklich?“ Tardys bleiche Miene hellte sich auf. Vielleicht war es den anderen nicht viel besser ergangen als ihnen?

„Oh, ja. Shy dagegen hat sich die meiste Zeit hinter einem Vorhang versteckt. Sie hat keinen Mucks herausgebracht.“

„Und Trouble?“

„Frag nicht! Er hat die halbe Etage zerlegt, nicht zu vergessen sich selbst. Der Geist der zukünftigen Weihnachten hatte alle Kapuzen voll zu tun, um das Chaos zu beseitigen.“

„Was in aller Geister Namen ist denn passiert?“

„Trouble muss über einen Stuhl gestolpert sein. Wir hatten erhebliche Mühe, seine Körperteile wiederzufinden. Ein paar Minuten lang sind wir alle kopfüber herumgeschwebt und haben die fehlenden Gliedmaßen gesucht. Der Alte war stinksauer. Es ging eine arktische Kälte von ihm aus, nachdem wir Trouble wieder zusammengesetzt hatten.“

Tardy hatte Funnys Erzählung atemlos gelauscht.

„Und der Premierminister?“

„… hat von alledem glücklicherweise nichts bemerkt. Es passierte im Nebenzimmer. Dieses Gebäude in der Downing Street ist ein verflixtes Labyrinth. Von außen sieht es aus wie ein Reihenhaus, von innen hingegen …! Keine Ahnung, wie viele Räume es im hinteren Bereich gibt. Ein Wachmann hatte etwas gehört, deshalb haben wir blitzschnell aufgeräumt und uns alle unsichtbar gemacht. Schließlich ist er wieder abgezogen. Nur der Kater ließ sich nicht so leicht austricksen. Erst als sich Stubborn ihm mit qualmendem Schädel und rotglühenden Augen präsentiert hat, ist er auf und davon. Wahrscheinlich haben die Mäuse heute eine friedliche Nacht.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948592301
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Geist Weihnacht Geister London Weihnachten Humor Urban Fantasy

Autor

  • Haike Hausdorf (Autor:in)

Haike Hausdorf wurde am 6. April 1973 in Münster/Westfalen geboren. Inzwischen wohnt die gelernte Groß- und Außenhandelskauffrau mit ihrem Mann und drei Kindern in Süddeutschland und schreibt seit 2016 Geschichten für große und kleine Leseratten. Ihre Schwerpunkte liegen bisher in den Bereichen Humor, Romantik, Fantasy und Kinderbuch, aber sie probiert auch gerne andere Genres aus.
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Titel: Die Geister der Weihnacht gehen in Rente