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Die Fuchsjagd

Kommissar Weidlichs Fall Null

von Kasimir Peng (Autor:in)
138 Seiten

Zusammenfassung

Ein Kommissar ohne Gewissen. Ein Verdächtiger im Clinch mit einer Riesenratte. Ein herrlicher schräger Krimi. Der mit zweifelhaften Methoden arbeitende Kommissar Weidlich ist überzeugt von der Schuld eines Verdächtigen. Doch dieser bestreitet, die Tat begangen zu haben. Entgegen aller Bestimmungen nimmt Weidlich den vermeintlichen Gauner mit auf eine Reise, um ihm die Wahrheit zu entlocken. Doch stattdessen entdecken die beiden ein unvorstellbares Grauen. Witzig, absurd, abenteuerlich: Begebt euch gemeinsam mit Kommissar Weidlich auf ein unvergessliches Unterfangen!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Die Fuchsjagd

Kommissar Weidlichs Fall Null

Kasimir Peng

 

Kapitel 1

Kommissar Weidlich war ein ebenso gelangweilter wie langweiliger Ermittler. Er war dick, faul und auch sonst eine durch und durch bürgerliche Erscheinung. Aber er war zufrieden mit dem, was er hatte. Und das war nicht viel. Die Alte hatte vor kurzem die Biege gemacht, wesentlich früher als Weidlich damit gerechnet hatte. Zwar wusste er selbst gut genug, dass er kein einfacher Mensch war. Umso mehr überraschte es ihn im Nachhinein, dass seine Alte, die er seit der Trennung nur noch die blöde Kuh nannte, jemals Interesse an ihm gehabt hatte.

Zugegeben, auch ein Kommissar Weidlich hatte seine Qualitäten. Er war ein Haudegen der alten Schule, der keinen Schmerz kannte - es sei denn, er verletzte sich beim Zehnagelschneiden, dann jaulte er wie ein gebissener Hund. Er war ein wahrer Gentleman in Gegenwart einer Frau. Und er vergötterte die legendären Krautnudeln seiner Frau. Sie verstand es vorzüglich, Teig, Kümmel, Butter, Knacker, Weißkohl, Salz und Pfeffer ins richtige Verhältnis zu bringen, das musste Weidlich ihr lassen. Besser schmeckten ihm nur noch Skandalnudeln. Doch der wahre Grund aus dem Weidlich einen unwiderstehlichen Sog auf Frauen ausübte, verbarg sich in der Persönlichkeit des charismatischen Kommissars: Er war zum Brüllen komisch. Stets überraschte er seine Zuhörer mit Geschichten, die unerwartete Wendungen nahmen.

So verzwickt ist auch die folgende Geschichte, in der Kommissar Weidlich, seine Krautnudeln-kochende Frau, ein wahnsinniger Militärwissenschaftler und eine gefräßige Riesenratte eine Rolle spielen. Stellen Sie sich vor, wie der dicke Weidlich Ihnen gegenüber sitzt, das Unterhemd auf halb Acht, die Hose – naja, reden wir lieber nicht drüber, das Pistolenhalfter mit der geladenen Waffe auf dem Nachtschränkchen, der Lauf bedrohlich präzise auf Sie gerichtet. Schnuppern Sie das herbe, an Buttersäure erinnernde Aroma seiner beigefarbenen Socken. Ja, das ist der Charmebolzen Weidlich, den Sie lieben werden! Lassen Sie sich von diesem Tausendsassa der Kriminalkunst eine Geschichte erzählen, die Ihnen die Schuhe ausziehen wird. Falls es nicht schon sein Sockenaroma tut.

Kapitel 2

»Es war einmal ein Fuchs«, begann Weidlich und beugte sich über den grünspanzerfressenen Tisch.

 

Seit Tagen hatte der Kommissar kaum geschlafen, doch vom Sliwowitz ließ er die Finger. Dennoch waren ihm die Spuren der durchdachten Nächte anzusehen – dunkle Augenringe hatten sich wie Halbmonde unter seine blassblauen Augen gelegt, die Stirnfalten wirkten im fahlen Licht des Verhörraumes wie Gesteinsfurchen unter einer archäologischen Untersuchungslampe. Die verengten Pupillen wanderten langsamer als sonst durch den Tag, gesättigt von den Eindrücken einer Welt, die dem einsamen Kommissar keine Reize mehr bieten konnte.

 

Ihm gegenüber saß ein junger Mann mit schuldhafter Miene. Er war von schmaler Statur und blickte fahrig im Raum umher, als suche er einen Ausweg. Seine Hände hatte er ineinander verschränkt und seine Beine wippten unter dem Tisch auf und ab. Der letzte Verdächtige für heute!, frohlockte Weidlich. Wehe, der Kerl verlangt seinen Anwalt. Niemand sollte dem Kommissar heute mehr dumm kommen! Gleich war Feierabend und die Alte hatte einen Braten in der Röhre. Die Alte! Sie war doch schon seit zwei Wochen fort, schoss es Weidlich durch den Kopf. Er sehnte sich nach dem Duft ihres Halses, Kölnisch Wasser, er vermisste den Klang ihrer klickernden Stricknadeln, wenn sie am Abend gemeinsam auf der Couch saßen und Wer Wird Millionär? schauten.

Weidlich behauptete dann immer, dass er gar kein Millionär sein wolle, auch wenn er den Jauch locker in die Pfanne hauen würde. Er sei zufrieden damit, Polizist zu sein. Im Grunde sei er ja mehr als das, schließlich arbeitet er beim BKA! Da sei man kein einfacher Streifenpolizist, genau wie ein Streifenhörnchen kein Eichhörnchen sei. Nein, das könne man nicht vergleichen. Frau Weidlich nickte ihrem Mann stets wohlwollend zu und sagte, sie wolle auch gar keinen Streifenpolizisten, oder schlimmer noch, einen Millionär zum Mann. Geld würde sowieso den Charakter verderben, doch solange sie beide sich hätten, sei doch alles in Ordnung. Aber nun war Frau Weidlich fort und nichts war mehr in Ordnung.

Kapitel 3

»Wissen Sie, was ein Fuchs ist?«, fragte Weidlich, den Oberkörper über den Tisch gebeugt. Die Worte des Kommissars waren die einzigen Laute, welche die Stille im Verhörraum durchbrachen.

Der Verdächtige kniff seine Glubscher zusammen und wollte unvermittelt antworten, wie übereifrige junge Männer das eben so tun, doch Weidlich fuhr ihm dazwischen: »Natürlich wissen Sie, was ein Fuchs ist. Sind ja selber einer. Ich habe ein Auge für sowas, mich können Sie nicht austricksen!«

Weidlich redete sich in Rage. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, der dumpfe Knall der Knöchel ließ den Verdächtigen hochschrecken. Normalerweise wurde der Kommissar im Dienst nicht so emotional wie seine Kollegen, die beim kleinsten Raub gleich an die Decke gingen. Meine Güte, so ein Raub kommt doch in den besten Familien vor!, dachte Weidlich sich dann. Aber das hier war ein gesonderter Fall. So müde und abgekämpft der Kommissar auch war, alle privaten Probleme mussten wie ein treuer Hund vor der Eingangstür der Polizeiwache angeleint und erst nach Dienstschluss wieder abgeholt werden.

 

»Ich-« holte der Verdächtige aus.

 

»Nix hier, ich!«, fuhr Weidlich ihm dazwischen. Seine Stimme wurde kehliger. »N‘ Fuchs sind Sie, das wissen Sie. Also, kommen wir zur Sache. Wo waren Sie am 29. Februar dieses Jahres um Mitternacht?«

 

Eine schlaue Fangfrage, die Weidlich für alle Verhöre nutzte - führte sie den mutmaßlichen Täter gleich auf zwei falsche Fährten. Mit Ausnahme eines Schaltjahres gab es nämlich gar keinen 29. Februar und Weidlich informierte sich selbstredend, wann die besagten Schaltjahre waren. Nicht, dass er sich bei der Befragung selbst noch ein Bein stellte und das betreffende Jahr tatsächlich ein Schaltjahr war!

Die zweite List hing mit der Uhrzeit zusammen. Weidlichs Logik zufolge konnte es die Uhrzeit 0:00 Uhr für einen Tag gar nicht geben. Schließlich wäre dann ja der nächste Tag angebrochen, doch auch das war strenggenommen falsch, denn dann hieße es 0:00 Uhr am 30. Februar, was ja aus zweierlei Gründen nicht möglich war und deshalb war 0:00 Uhr eine Anomalie im Universum, auf die der mutmaßliche Täter unmöglich anders antworten konnte als mit: »Was für ein Unsinn, Herr Weidlich!« Jede andere Reaktion ließ den geschulten Kommissar aufhorchen. Und diesen Burschen würde er auch noch knacken.

Kapitel 4

Der Verdächtige im Verhörraum 101 schwieg und betrachtete Kommissar Weidlich wie einen zu fett geratenen Frosch. Düstere Erinnerungen stiegen in Weidlich auf. Er war wieder neun Jahre alt und schmeckte Schulspeisungskartoffeln, die unter verzweifeltem Drücken seiner Gabel vom Teller hinfort glitschten. Gleich würde Micha kommen, ein gehässiges Sport-As, das mit seiner frechen Art und dem muskulösen Körper einen Schlag bei den Klassenkameradinnen hatte. Micha würde eine dieser glitschigen Kartoffeln von Kommissar Weidlichs Teller nehmen, um sie ihm ins Maul zu stopfen.

Freilich war Weidlich damals kein Kommissar, sondern träumte davon, Herzchirurg zu werden. Das hatte sich jedoch schnell erledigt, als bei Weidlich eine Psychose diagnostiziert wurde. Wenn Kommissar Weidlich nur noch ein einziges Mal die Gelegenheit hätte, Micha heute zu treffen, er könnte sich auf was gefasst machen! Dann würde er ihm seine Kartoffeln in den Arsch schieben! Doch Micha war schon lange verschwunden und vielleicht war das auch gut so.

 

»Dieser Fuchs – was passierte mit dem Fuchs?«

 

Der Verdächtige sprach! Die Worte kamen stockend und von einer bebenden Stimme begleitet, aber immerhin – sie kamen.

 

»Die Fragen stelle ich, Freundchen!«, fuhr es Weidlich heraus. Immerhin stellte er hier die Fragen!

 

»Na schön. Und was wollen Sie wissen?«

 

Der Verdächtige wurde frech. Eine Eigenschaft, ja, eine Unsitte, die Kommissar Weidlich missfiel.

»Komm mal mit«, duzte er ihn.

 

»Bin ich verhaftet? Werden mir jetzt meine Rechte vorgelesen?«

 

»Komm mal mit«, wiederholte Weidlich stoisch.

 

Er packte den Verdächtigen, dessen Namen er nicht nennen wollte, fest am Arm. Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, irgendwelche Faxen zu versuchen!

Wäre die Welt nicht einfacher, wenn jeder statt eines Namens eine Nummer bei seiner Geburt verpasst bekommen würde?, ging es Weidlich durch den Kopf. Ab und an hatte er diese philosophisch-erhellenden Momente. Dieser Typ hier war eine Null, ganz klar für Kommissar Weidlich. Deswegen beschloss er, den Verdächtigen nun nicht mehr den Verdächtigen oder den Fuchs zu nennen, sondern Null.

 

»So, Null, da ist der Wagen. Steig ein.«

 

»Hey, ist ja gut, kein Grund beleidigend zu werden.«

 

»Ruhe jetzt, der Kommissar muss nachdenken.«

 

Während Kommissar Weidlich Nulls Kopf herunterdrückte und ihn in den Wagen schob, wie er es in Polizeiserien gesehen hatte, dachte er darüber nach, wann er sich das letzte Mal bei jemandem entschuldigt hatte. Vielleicht hätte eine aufrichtige Entschuldigung seine Alte davon abgehalten, zu gehen. Vielleicht wäre aus der Alten nie eine blöde Kuh geworden. Und aus der wunderschönen Frau, die er einmal geheiratete hatte, keine Alte. Weidlich konnte manchmal ein ziemliches Ekel sein, aber so war er nun einmal und vielleicht war das auch gut so.

 

Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Wenn Weidlich über eine Situation nachdachte, dann gründlich. Er betrachtete jedes Detail, wendete jeden intellektuellen Stein, bis sämtliches Geröll von der Wiese der Erkenntnis hinweggeschoben war. Aus Kommissar Weidlich hätte ein klasse Philosoph werden können, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Na Weidlich, wer ist denn der Gast in deinem Auto?«

 

Immer dieser neugierige Schnüffler Ruckert! Stand da wie ein Graf, der auf seine Kutsche wartete. Kommissar Weidlich war selbst ein Schnüffler, aber nicht so ein unerträglich penetranter wie Ruckert. Dieser Arschkriecher! Der hatte es innerhalb weniger Jahre zum Hauptkommissar geschafft, und das, obwohl er jünger als Weidlich war. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

Dieser Vegetarier, Alkoholabstinenzler und Nichtraucher war einfach ein übler Workaholic.

Aber hin und wieder machte er die Drecksarbeit, auf die Weidlich keine Lust hatte: Akten sortieren, Berichte schreiben, ballistische Untersuchungen anordnen, zu Tatorten fahren (das konnte zwar hin und wieder ganz nett werden, wenn es so richtig blutig war, aber meistens war es ziemlich öde) und – die lästigste aller Polizeitätigkeiten – mit Angehörigen sprechen. Weidlich kamen die heuchlerischen Beileidsbekundungen einfach nicht über die Lippen.

Wenn jemand ermordet wird, dann hat das immer einen Grund - das hatte Weidlich sich aus seinen Lieblingskrimis behalten. Und warum sollte er um jemanden trauern, den er gar nicht kannte und der irgendeinen Blödsinn angestellt hatte, der einen anderen Menschen mörderisch wütend gemacht hatte? Nein, das ging nun wirklich nicht in Kommissar Weidlichs Kopf.

 

»Ein alter Freund. Wir fahren in den Wald, Pilze sammeln«, log Weidlich und war stolz auf seinen Erfindungsreichtum.

 

»Aber es ist doch so neblig. Findet ihr da überhaupt etwas?«

 

»Ja, ja, auf jeden Fall. Meine Frau hat mir vor kurzem einen von diesen neumodischen Pilz-Detektoren geschenkt, die funktionieren wunderbar, auch bei Nebel! Die kann man sogar mit dem Handy synchronisieren.«

 

Auf dem Revier wusste niemand, dass der Haussegen bei den Weidlichs schief hing. Offiziell blieben sie verheiratet, aber dieses Miststück saß wahrscheinlich just in diesem Moment bei ihrem Anwalt und ließ die Scheidungspapiere aufsetzen. Bisher war Weidlichs Briefkasten in der provisorisch gemieteten Einraumwohnung leer geblieben, doch er rechnete jeden Tag mit unromantischer Post.

 

»Na dann viel Spaß! Dein alter Freund sieht aber nicht so aus, als hätte er große Lust auf Pilze sammeln.«

 

Schnüffler!, dachte Weidlich und rang sich ein bemühtes Lächeln ab, obwohl er viel lieber den Stinkefinger gezeigt hätte. Dabei zog er seine buschigen grauen Augenbrauen derart angestrengt hoch, dass ihm das Gesicht schmerzte. Weidlich setzte sich neben Null auf die Rückbank des Wagens, schloss die Tür und holte seine Pistole hervor, eine SIG Sauer P229 in tadellosem Zustand. Er drückte die Mündung fest in die Hüfte von Null, der zusammenzuckte.

 

»Keinen Mucks, oder ich gehe auf Fuchsjagd, hast du verstanden?«

 

Null, der jetzt bedrohlich blass aussah, nickte.

 

»Wunderbar. Wir machen jetzt Folgendes: du steigst aus – LANGSAM – und gehst in Richtung Fahrertür. Aber keine Faxen! Dann steigst du vorn schön wieder ein, lässt den Motor an und fährst los.«

 

»Wohin soll ich denn fahren?«, fragte Null mit zittriger Stimme.

 

»Wer stellt hier die Fragen?«

 

»Sie.«

 

»Genau. Ich sage dir dann, wohin es geht. Erstmal bringen wir das hinter uns. Wie gesagt, keine Faxen oder Fisimatenten! Einfach ganz ruhig zur Fahrerseite hin, kein hysterisches Gejaule von wegen Hilfe, Hilfe! Glaubt dir sowieso keiner, denn ich bin hier der Kommissar und du nur ein Verdächtiger.«

 

Null nickte und nahm von Kommissar Weidlich die Schlüssel entgegen. Er öffnete die Seitentür und hangelte sich auf wackeligen Beinen am cremefarbenen Wagen entlang. Für einen Moment sah es so aus, als würde Null an Flucht denken. Das war nicht ratsam – Weidlich würde ihm die Hammelbeine langziehen! Null erreichte die Fahrertür und stieg ein.

 

»Augenblick mal!«

 

Verdammt, dieser Schnüffler Ruckert! Was wollte der denn noch?

 

»Ruckert mein Name. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Sie sind?«

 

»Galilei. Galilei mein Name. Ich-«

 

»So wie Galileo Galilei? Ein großartiger Mann! Dem hätte ich gern mal die Hand geschüttelt! Sie sind nicht zufällig mit ihm verwandt, oder?«

 

Null schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Tut mir leid.«

 

Ruckert schien enttäuscht, sagte aber trotzdem:

 

»Guter Mann, sie können doch nichts dafür. Wenn Sie mit Galileo Galilei verwandt wären, dann würde man sie wahrscheinlich kennen und dann könnten Sie nicht so entspannt mit dem guten Weidlich hier Pilze sammeln gehen. Waidmannsheil wünsche ich, oder wie man das so sagt.«

 

»Danke.«

 

Langsam hatte Kommissar Weidlich die Faxen dicke. Wenn Ruckert nicht bald abzischte, würde er ihn und Null auf der Stelle plattmachen.

 

»Na dann, ich gehe mal wieder zurück an den Schreibtisch – es warten noch eine Menge Zeugenaussagen auf mich. Ein Kerl soll auf dem Oktoberfest ein paar Besoffene ausgeraubt haben.«

 

Ruckert lachte, es war ein herzhaftes Lachen wie das eines Kindes, vor dem ein Erwachsener Grimassen schneidet. Dann zog er von dannen.

 

Weidlich spannte den Hahn seiner P229 in die Ausgangsposition zurück. Um Haaresbreite hätte es hier ein Blutbad gegeben. Null zitterte am ganzen Leib.

 

»Ruhig Brauner, ruhig«, versuchte Weidlich ihn zu besänftigen. »Das hast du wirklich gut gemacht.«

 

Er klopfte Null auf die Schulter, wie es ein stolzer Fahrlehrer es bei einem Schüler zu tun pflegte, der die praktische Prüfung mit Ach und Krach im zweiten Anlauf bestanden hatte.

 

»Nimm mal Kurs auf die Autobahn. Es wird eine etwas längere Fahrt. Aber keine Angst – wir begehen keine Republikflucht!«

 

Weidlich lachte über seinen Gag. Schließlich war die DDR nur noch Stoff für Bestseller und kein real existierender Sozialismus mehr. Warum um alles in der Welt sollte man also noch Republikflucht begehen? Dann müsste es ja mittlerweile – wenn schon denn schon – BUNDESrepublikflucht heißen.

Weidlich wollte dem ernst dreinblickenden Null den Gag erklären, weil dieser ihn offensichtlich nicht kapiert hatte, doch er kam gar nicht mehr aus dem Lachen heraus. Die ganze Zeit lachte und lachte er und Tränen flossen ihm die runden Wangen hinunter, während der Wagen in einem Halbkreis den Parkplatz des Polizeireviers verließ.

Kapitel 5

Zwei Stunden später waren sie von der Autobahn runter. Der Wagen schlängelte sich auf breiten Alleen mit schattenspendenden Kastanienbäumen entlang. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen. Weidlich blickte in die Wipfel der vorbeiziehenden Bäume und geriet ins Träumen. Was, wenn die blöde Kuh gar nicht so blöd war? Wenn sie sich nicht scheiden lassen wollte, es nie vorhatte? Vielleicht bestand ja doch noch die Chance auf einen Neuanfang? Bei dem Gedanken daran bekam Kommissar Weidlich gute Laune und er begann eines seiner Lieblingslieder zu trällern: Dieselknecht von Gunter Gabriel, dem Hamburger Hafencowboy (so nannte er sich selbst).

 

Ich bin ein Diiieselknecht, und mach es keinem, keinem, keinem recht!

 

Weidlich geriet in Stimmung und schwang seine Hände wie ein Dirigent auf und ab. Es störte ihn nicht, dass Null entgeistert in den Rückspiegel starrte.

 

»Siehst du die Kassette, die blaue neben der Gangschaltung? Mach die mal rein, die ist gut.«

 

Null gehorchte und stöpselte die Kassette in den passenden Schlitz. Schon trällerte Gunter Gabriels rauchige Stimme durch das Auto, diesmal aber mit Ich lieb‘ die Bullen. In diesem Lied schildert er sein problematisches Verhältnis zur Polizei.

Der flotte Ufftata-ufftata-Beat ließ das Blech des Wagens vibrieren. Dann kam Weidlichs Lieblingsstrophe:

 

Ich seh‘ sie, wie sie lauern, hinter Brücken, hinter Mauern, Tag und Nacht. Wie sie Radarfallen stellen, und uns richtig einen verpellen, Tag und Nacht.

 

Und dann folgte Weidlichs Lieblingsstelle:

 

Sie haben Stil – Gefüüüüühl, Sexappeal!

 

Beim Wort Sexappeal geriet der Kommissar außer Rand und Band und stimmte in das süffisante Lachen von Gunter Gabriel mit ein. Null zuckte zusammen.

 

»Immer schön Augen auf die Straße richten, mein Junge!«

 

Der restliche Song handelte davon, dass Polizisten nur in Uniform eine gute Figur machten – eine freche Bemerkung, die Weidlich durchaus unterstützte. Wie die meisten Männer in den 50ern hatte auch er eine ordentliche Plauze. Das hatte er nicht zuletzt den hervorragenden Krautnudeln seiner Noch-Frau zu verdanken.

Kommissar Weidlich war ein Mensch, der über sich selbst lachen konnte. Natürlich hatte er schon beim ersten Hören des Songs gemerkt, dass Gunter Gabriel die Bullen überhaupt nicht liebte, sondern total genervt von ihnen war. Aber Weidlich war sich sicher, dass er als fescher Kommissar für Gunter eine Ausnahme gewesen wäre. Sie hätten an einer Trucker-Raststätte zusammen einen gehoben und sich an der Pissrinne auf die Schulter geklopft. Vielleicht hätten sie noch eine Spritztour mit dem Dienstwagen gemacht. Manchmal fragte Weidlich sich selbst, wie er es so weit innerhalb des BKA gebracht hatte.

 

»Sind wir schon da?«

 

»Nicht so ungeduldig, Sportsfreund. Ist noch ein Stück.«

 

Jetzt nannte Weidlich ihn schon Sportsfreund. Allzu herzlich wollte er mit Null nicht umgehen – schließlich konnte er nicht einschätzen, wie der Typ so tickte. Gerade bei den vermeintlich Gehorsamen musste man besonders aufpassen. Die konnten einen voll aus der Kalten erwischen, wenn man nicht auf der Hut war! Die warteten nur auf eine Gelegenheit wie diese, um ihre Psychosen auszuleben. Aber Kommissar Weidlich machte man so schnell nichts vor. Er hatte die Ungeduld in Nulls Stimme genau bemerkt. Was führte er im Schilde?

 

»Okay, soll mir recht sein. Es gibt da nur ein Problem.«

 

Weidlich fragte nicht nach. Stattdessen starrte er mit zusammengekniffenen Augen in den Rückspiegel. Er fixierte Null, dieser sollte merken, dass er permanent unter Beobachtung stand.

 

»Ich müsste mal dringend. Aufs Klo, meine ich. Schon seit Stunden, aber ich habe mich nicht getraut. Können wir rechts ranfahren?«

 

»Und dann?«, fragte Weidlich. Er wollte das Lügengebäude zum Einsturz bringen.

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Was meinst du damit, du Fuchs? Du führst doch irgendwas im Schilde.«

 

Null stöhnte auf, es klang genervt.

 

»Hören Sie – was immer Sie glauben, ich kann Ihnen versichern, dass ich unschuldig bin. Ich habe keine Ahnung, was Sie oder Ihre Kollegen gegen mich haben. Aber eins weiß ich, Sie können mir den Toilettengang nicht verbieten.«

 

Weidlich sah rot. Er zückte seine Pistole und presste sie Null an den Nacken. Dieser fuhr daraufhin einen entsetzlichen Schlenker.

 

»Mein Gott, nehmen Sie die Knarre da weg!«

 

Ruckartig zog Weidlich die Pistole zurück. Mit Widerstand von Null hatte er nicht gerechnet. Auch wenn es niemand wusste, aber im tiefsten Inneren war Weidlich kein harter Knochen. Wenn ihn jemand anschrie, wich er zurück. Er wusste nicht, ob er das Kartoffel-Micha aus der Schule zu verdanken hatte oder ob dieses Verhalten in seinen Genen verankert war. Fest stand, dass Weidlich eine Schwachstelle besaß und die hatte Null sich soeben zunutze gemacht.

 

»Na gut, du kannst aufs Klo. Aber ich entscheide, wo wir halten.«

 

»Schon klar«, blaffte Null.

 

Klar war Weidlich nur eines: Dass er Null bei der nächsten Gelegenheit zeigen musste, wo der Hammer hing.

Kapitel 6

Sie hielten an einer heruntergekommenen Raststätte. Genau genommen war es keine Raststätte, sondern eine lose Ansammlung von Trucks, in denen die pastellfarbenen Gardinen der Fahrerkabinen zugezurrt waren. Auf einer Picknickbank, direkt neben dem muffelnden Toilettenhäuschen, saß eine vierköpfige Familie und ließ sich Sandwiches, aus denen der Scheibenkäse herauslugte, schmecken. Der Junge, klein und fett, erinnerte Kommissar Weidlich an seine eigene Figur in dem Alter. Er hätte sich gern so eine Familie gewünscht, die mit ihm auf einer Raststätte picknickte. Weidlich wäre ein klasse Familienvater gewesen, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Fahr rechts ran«, brummte Weidlich. Hastig schlug Null das Lenkrad ein, die Reifen quietschten. Als der Wagen zum Stehen kam, gurtete Null sich in Windeseile ab.

 

»Aber keine Fisimatenten!«, konnte Weidlich gerade noch hinterherrufen, bevor Null aus dem Wagen hechtete und die Metalltür zum Toilettenhäuschen aufschlug.

 

Null hatte direkt davor geparkt, sodass Weidlich nur den Haupteingang sehen konnte. Das war ihm zu unsicher und außerdem wollte er sich kurz die Beine vertreten. Also stieg er aus und lief in Richtung der Familie. Da kam ihm ein schlauer Gedanken – warum sollte er nicht diese braven Bürger mit in die spannende Mission einbeziehen? Immerhin war er als Polizeibeamter Freund und Helfer!

Gesagt, getan. Weidlich marschierte auf den Vater, zu, der ihn misstrauisch musterte. Das kann ich verstehen!, dachte Kommissar Weidlich. Für ihn war er nur irgendein fremder, dicker Typ und nicht der lange Arm des Gesetzes.

 

»Schönen guten Tag. Weidlich mein Name, Kommissar des Bundeskriminalamtes.«

 

Der Kommissar holte seinen Ausweis hervor, ein erhabener Moment. Schon klebten sie ihm an den Lippen, wie Weidlich es gewohnt war. Selbst die Kinder hatten ihr nervtötendes Fangspiel unterbrochen, um dem Onkel Polizisten zuzuhören. Weidlich hätte ein klasse Schauspieler werden können, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Sie sehen mir aus wie Bürger, die fähig sind, an einer spannenden und aufregenden Mission teilzunehmen.«

 

Vater und Mutter warfen sich einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich wieder dem Kommissar zuwandten und nickten.

 

»Wir helfen gern, wenn wir können.«

 

»Gut, das freut mich. Diese Mission unterliegt strengster Geheimhaltung. Sie müssen Stillschweigen darüber bewahren und dürfen niemandem etwas davon erzählen. Auch nicht meinen Kollegen, selbst, wenn die Fragen stellen sollten. Es ist wie bei ihrer Bank: Die fordert Sie auch nie dazu auf, Ihre PIN irgendwo preiszugeben. Genauso ist es bei uns von der Polizei. Ein echter Polizist wird Sie nie zu den Missionen des Kommissar Weidlich befragen. Sie können dann davon ausgehen, dass es sich dabei um einen Betrüger handelt.«

 

Wie gebannt las die Familie jedes Wort von Weidlichs Lippen ab. Sehr gut, denn er hatte sich schön warm geredet.

 

»Ich beauftrage Sie mit der Observation eines gefährlichen Gefangenen, der gegenwärtig seine Notdurft in dem backsteinummantelten Toilettenhäuschen hinter mir verrichtet. Ich muss nochmals betonen, dass der Gefangene als ausgesprochen gefä...«

 

Plötzlich durchbrach ein markerschütternder Laut Weidlichs Ansprache. Dieses Reifenquietschen kannte er genau – Null versuchte, mit seinem Wagen zu türmen! Schnell wie eine Eidechse auf Futterjagd drehte Weidlich seinen Körper Richtung Auto, zog seine P229 und schoss instinktiv auf die Windschutzscheibe, die in zahllose Einzelteile zerbarst. Dies hielt den Aufmüpfigen hinter dem Steuer jedoch nicht davon ab, weiter kräftig auf die Tube zu drücken.

Für einen Augenblick hatte Weidlich Null sicher im Visier und hätte er abgedrückt, so hätte eine Kugel diesen Nichtsnutz durchbohrt. Doch Kommissar Weidlich wusste, wie scheiße viel Arbeit der anschließende Bericht machen würde. Ruckert, dieser Schnüffler, würde sich auf ihn stürzen wie ein gieriger Karpfen auf umherirrende Kaulquappen. Nein, Null musste anders gestoppt werden. Etliche Szenarien, wie dies zu geschehen hatte, blitzten durch Weidlichs Kopf, doch da eilte ihm der Zufall zur Hilfe.

Mit einem beherzten Satz sprang der kahlköpfige Familienvater in das Loch, das vor wenigen Sekunden noch von einer intakten Windschutzscheibe ausgefüllt wurde. Der Mann schrie wie ein Berserker und wickelte seine Pranken um Nulls Hals. Null fuchtelte wild am Lenkrad herum und versuchte, den parasitär an ihm haftenden Widersacher mit Zickzack-Kurven abzuschütteln. Die frei liegenden haarigen Unterschenkel des Vaters knallten auf die Motorhaube. Der Wagen stoppte.

Kommissar Weidlich hatte sich breitbeinig, mit vorgehaltener Waffe, in den Weg gestellt und brüllte:

 

»Stop!« Das zog!

 

Abgesehen von den Würggeräuschen, die Null durch den engen Griff des wütenden Familienvaters von sich gab, herrschte Stille. Das Rauschen vorbeiwuchtender LKW und dröhnender Familienkutschen hatte längst Weidlich ausgeblendet. Der Kommissar zupfte seinen beigen Mantel zurecht und prustete wie ein Otter, der nach Luft ringend aus dem Wasser emporsteigt. Dann näherte er sich dem Wagen und klopfte dem zornigen Vater, dessen Gesicht von geschwollenen Äderchen durchzogen war, auf die Schulter.

»Ruhig, Brauner, ruhig.«

 

Der Mann löste seinen Griff und starrte hilflos in der Gegend umher. Null keuchte und ehe Weidlich ihn hinausziehen konnte, kotzte er auf den Fahrzeugboden.

 

»Das machst du nachher schön selber wieder weg!«

 

Eigentlich wollte der Kommissar nicht so barsch sein, doch Null hätte ihm unmöglich abgekauft, welch abstrusen Plan Weidlich zu dessen Rettung im Sinn hatte. Obwohl es nur zu Nulls Bestem war, hätte er sich dagegen gewehrt.

 

»Vielen Dank, Sie waren Deutschland eine große Hilfe!«, sagte Weidlich herzensfroh und schüttelte dem mit Schrammen und Schürfwunden gezeichneten Familienvater die Hand.

 

Dieser starrte ihn nur entgeistert an und brabbelte ein paar für Weidlich unverständliche Laute.

 

»Mein lieber Scholli, das sollten Sie verarzten lassen. Mit Gesundheit ist nicht zu spaßen! Die ist das A & O, nicht nur das Tüpfelchen auf dem i!«

 

Erst jetzt bemerkte Weidlich das Wimmern der Kinder, die sich unter den Armen ihrer Mutter eingekrümmt hatten. Das Bild erinnerte ihn an eine Greifvogel-Doku, die er am Sonntag verkatert im Fernseher laufen ließ, während er Spiegeleier briet. Die Frau hatte jetzt denselben Gesichtsausdruck aufgesetzt wie ihr Mann. Meine Güte, das kann doch an jeder Raststätte mal vorkommen! dachte Weidlich. Er verachtete diese Familie, ihre Weichheit und Naivität. Ihren Glauben an das Gute im Alltag, denn anders konnte Weidlich sich das völlig unnötige Risiko, an einer schmierigen Raststätte Sandwiches zu futtern, nicht erklären. Es widerte ihn regelrecht an, wie diese Spießer ihren Freund und Helfer jetzt betrachteten. Dabei hatte dieser Freund und Helfer sie gerettet! Wer hatte sich denn unter Einsatz seines Lebens vor den Fluchtwagen des Kriminellen gestellt?

Es war an der Zeit, den nächsten Zauberspruch eines wirklich guten Polizisten aufzusagen: »Weg hier, zurücktreten, es gibt nichts zu sehen! Treten Sie zurück, es gibt hier nichts zu sehen!«

 

Wenn Weidlich etwas noch mehr verabscheute als Kriminelle, dann waren es Gaffer, die diesen Kriminellen ein williges Publikum boten. Widerlich fand Weidlich das, aber so sind nun mal die Menschen. Entgegen seiner bisherigen Erfahrung wich die Familie keinen Meter zurück. Stattdessen starrten sie ihn nach wie vor entgeistert an.

 

»Mein Gott, geht es ihnen gut?«, fragte der Familienvater.

 

Weidlich wollte schon antworten, als er bemerkte, dass die Frage nicht an ihn, sondern an Null gerichtet war. Null hatte seinen Kopf an die Nackenstütze gepresst. Langsam gewann sein Gesicht wieder an Farbe.

 

»Es tut mir leid, es tut mir leid! Ich wollte sie nicht verletzen, ich ...«, stotterte der Mann. »Sie müssen in ein Krankenhaus!«

 

»Kommt nicht in Frage!«, widersprach Weidlich.

 

»Dieser Mann ist nicht wie Sie und ich. Er ist ein Krimineller und gehört hinter Schloss und Riegel!«

 

»Ja, meine Fresse, sind sie überhaupt ein richtiger Kommissar? Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, man!«

 

Dass die meisten Bürger sich respektlos gegenüber den Hütern des Gesetzes verhielten, war er zu seinem Leidwesen gewohnt. Dass sie jedoch in dieser Art und Weise mit ihm schimpften, ihn rügten wie ein kleines Kind, ging definitiv zu weit. Plötzlich strömten Bilder wie eine Giftgaswolke in sein Gehirn. Weidlich sah Kartoffel-Micha wieder vor seinem geistigen Auge, glasklar, zähnefletschend, danach gierend, einen der schleimigen Erdäpfel zu fassen und sie dem kleinen Weidlich ins Maul zu stopfen. Und da war Kunibert, ein kräftiger Junge und Michas bester Freund, mit kurzgeschnittenen rabenschwarzen Haaren, der lachte und lachte, während Micha die Kartoffeln an den Wangen des kleinen Weidlich zu Mus zerdrückte.

 

»Nein, nicht schon wieder! Lass mich in Ruhe, Kartoffel-Micha!«, schrie Weidlich hysterisch über den Parkplatz.

 

In einigen LKW-Kabinen waren die Vorhänge inzwischen zurückgezogen. Bärtige Gesichter, verdeckt durch Käppis, klebten an den Seitenscheiben und beobachteten das für diesen Rastplatz ungewöhnliche Geschehen.

 

Alle um Kommissar Weidlich herum wichen einen Schritt zurück, während dieser wie ein Klischee-Indianer im Kreis umher tanzte. Dabei fuchtelte er wild mit seiner Waffe herum. Jederzeit konnte sie losgehen und einen Vogel oder, wenn die Kugel lang genug durch die Gegend pfiff, ein Flugzeug treffen. Doch es kam alles ganz anders. Null stieg aus dem Wagen und näherte sich Weidlich von hinten an.

Ehe der Kommissar sich herumdrehen konnte, packte Null den beleibten Körper und riss ihn zu Boden wie ein geübter Ringer. Null kniete nun über ihm, die Pistole in der Hand. Weidlich hustete und krümmte sich, aber mehr war nicht drin. Null hatte ihn in eine Art Bein-Schwitzkasten eingeklemmt. Die kräftigen Oberschenkel fühlten sich warm und wohlig an, befand Weidlich. Innerhalb dieser sehnig-starken Beine fühlte er sich sogar ein wenig geborgen.

 

»Geh‘ runter von mir, du Fuchs!«, brachte Weidlich mit letzter Kraft hervor. Er stieß die Atemluft jetzt aus wie ein Buckelwal eine Wasserfontäne.

 

Doch Null blieb auf dem niedergestreckten Gegner hocken. Er lächelte süffisant und hielt die Waffe über Weidlichs Kopf wie die sprichwörtliche Karotte über dem Esel. Der Kommissar versuchte, danach zu greifen, doch der Weg war zu lang für seine Arme. Sie schwangen hilflos in der Luft wie abgehangener Schinken.

 

»Werden Sie mich gehen lassen?«

 

»Ja, ja doch!«, keuchte Weidlich. Sein rotes Gesicht ließ sich inzwischen mit einem STOP-Schild verwechseln.

 

Null stand auf und hielt Weidlich den Griff der Pistole entgegen. Weidlich nutzte die Gelegenheit und schnappte sich die Waffe.

 

»So du Aas, und jetzt, auf den Boden!«

 

»Aber sie sagten doch ...«

 

»Auf den Boden, sage ich! Runter mit dir, du kriminelles Subjekt! Oder es klatscht gleich, aber keinen Beifall!«

 

Null, der unter Fluchen bereute, Kommissar Weidlich vertraut zu haben, breite sich auf dem Boden aus, als wolle er einen Schneeengel zeichnen.

 

»Hände auf den Rücken!«

 

Weidlich fuchtelte mit der P229 herum, das Magazin darin klapperte bedrohlich. Nein, mit dem Kommissar spielte man keine Spielchen. Niemand kam gegen den mehr oder weniger langen Arm des Gesetzes an. Bevor Null etwas sagen konnte, hatte Weidlich seine Handschellen hervorgeholt. Eigentlich waren es keine richtigen Polizei-Handschellen. Die echten Handschellen, Modell Hamburg 8, hatte Kommissar Weidlich irgendwann mal irgendwo verlegt, wahrscheinlich in der Cafeteria der Wache. Und weil er die Sache nicht an die große Glocke hängen wollte, hat er den rosa Plüsch von den Liebesspiel-Handschellen einfach abgezupft. Fünf geschlagene Abende hatte er gebraucht, bis jeder rosafarbene Fussel restlos vom Metall abgelöst war. Zwar hatten diese Handschellen einen kinderleichten Mechanismus, den der Angekettete selbst betätigen konnte. Aber das brauchte Null ja nicht zu wissen. Außerdem konnte er seine Hände nicht sehen, wenn sie auf dem Rücken zusammengeschnürt waren. Das satte Klicken der Handschellen verschaffte Kommissar Weidlich eine gehörige Portion Autorität.

 

Der Familienvater trat einen Schritt heran und sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich wollte nicht-«

 

»Jaja, schon gut«, winkte Weidlich ab.

 

In Wahrheit war überhaupt nichts gut. Dieses Arschloch da unten auf dem Boden hatte versucht zu fliehen und dieses Arschloch neben ihm hatte seine Kompetenz angezweifelt. Gab es denn auf der ganzen Welt nur noch Arschlöcher?

Der Kommissar duldete keine weiteren Vorkommnisse. Das Wichtigste war jetzt, den Verdächtigen so schnell wie möglich in den Wald zu kriegen.

 

»Hoch mit dir, mein Großer«, sagte Weidlich stiefväterlich zu seinem Schützling und packte ihn an den Oberarmen.

 

Gott war dieser Kerl schwer! Null stand wieder auf den Beinen, das Gesicht verhärtet vor Zorn. Sie näherten sich dem Wagen und Weidlich wollte schon einsteigen, als er die Sauerei roch. Die Kotze von Null hatte sich krakenartig auf dem Fahrzeugboden verteilt. Der Anblick erinnerte an eine geplatzte Tintenpatrone. Kleine Stückchen schwammen herum, aber Weidlich wollte lieber nicht so genau wissen, woher sie kamen oder was sie einmal waren.

Drogen!, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht waren das kleine Drogenkügelchen! Die meisten Drogenschmuggler schoben sich heutzutage keine kokaingefüllten Kondome mehr in den Hintern, nein, nein. Viele schluckten die zweckentfremdeten, zusammengeknoteten Präservative runter und kotzten sie zu gegebener Zeit wieder aus. Ein Trend, der aus Mexiko nach Europa geschwappt war und wie allen Trends konnte der Kommissar diesem überhaupt nichts abgewinnen. Das war doch bescheuert! Drogen ließen sich heutzutage viel einfacher und vor allem gesünder schmuggeln. Der Kommissar wusste unzählige Möglichkeiten, doch er möchte sie an dieser Stelle lieber nicht verraten, denn er weiß, dass unter seinen begeisterten Lesern viele junge Menschen sind.

 

»Sind das Drogen?«

 

»Was? Wie bitte?«

 

»Ob das Drogen sind, frage ich.«

 

»Sie können höchstens high von der Kotze werden.«

 

Das genügte Kommissar Weidlich als Antwort. Schon hatte Null den Schaft der Pistole im Nacken.

 

»Au!«, schrie er und taumelte vom wutschnaubenden Weidlich weg.

 

»Hast du jetzt genug, du kriminelles Subjekt?«, fragte Weidlich mit bebender Stimme.

 

Null hustete und war mit seinen Schmerzen zu beschäftigt, um zu antworten.

 

»Hab ich es mir doch gedacht. Rein da und saubermachen!«

 

Null lachte laut auf. Selbst jetzt war der Kerl noch trotzig. Dieses junge Gemüse glaubte wohl, es könne sich alles erlauben! Aber Gemüse konnte faulen, das wusste Kommissar Weidlich nur zu genau.

 

»Womit soll ich das denn sauber machen?«, fragte Null in demselben genervten Ton, den er auch schon während der Fahrt an den Tag gelegt hatte.

 

Weidlich starrte in die schwarz-blauen Augen seines Verdächtigen, die ihn an vom Mondlicht beschienene Bergseen erinnerten. Apropos, der Mond! Weidlich überlegte für einen Moment, Null das Mond-Geheimnis zu verraten. Doch dann würde er die Überraschung vorwegnehmen. Auch wenn der Kommissar beim besten Willen nicht wusste, warum er Null die Freude einer Überraschung machen sollte. Verdient hatte er sie aufgrund seines momentanen Verhaltens jedenfalls nicht.

Kommissar Weidlich zückte seine Pistole und deutete wie mit einem Laserpointer auf den stämmigen Oberkörper von Null.

 

»Ist jetzt nicht mehr so lustig, was? Wenn der Onkel Polizist mal ernst macht, dann kuschen sie alle. Auch die Frechsten.«

 

Der Kommissar spürte seine Halsschlagader puckern. Das passierte immer, wenn er sich aufregte.

 

»Herr Kommissar.« Null versuchte es nun auf die respektvolle Tour. Besser, als mir frech zu kommen!, dachte Weidlich.

 

»Es ist einfach so, dass ich beim besten Willen nicht weiß, wie ich das wegmachen soll. Sehen Sie hier irgendwo einen Lappen?«

 

»Allerdings, ja«, antwortete der Kommissar und brach in Gelächter aus.

 

Was für ein Wortwitz! Endlich hatte er es Null heimgezahlt, mit seinen ganzen dummdreisten Demütigungen. Natürlich meinte er Null, aber der verstand wieder einmal nur Bahnhof. Kommissar Weidlich war es gewohnt, dass niemand über seine Witze lachte. Er wäre trotzdem ein klasse Alleinunterhalter gewesen, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Zieh dein Hemd aus.« Null tat wie ihm geheißen, schnaubte aber protestierend.

 

Weidlich riskierte einen Blick nach hinten und stellte fest, dass die Sandwich-futternde Familie inzwischen die Biege gemacht hatte. Null hielt sein Hemd wie eine provisorische Türwurst zusammengerollt in beiden Händen.

 

»Dann leg‘ mal los«, giftete der Kommissar. Manchmal konnte er ein richtiges Arschloch sein, aber das wusste Weidlich selbst. Und er genoss es, die Bestie in ihm von Zeit zu Zeit rauszulassen. Polizisten sind schließlich auch nur Menschen, die mal richtig auf die Kacke hauen müssen.

 

Null näherte sich dem Wagen mit angewidertem Gesicht. Er schien zu zögern und gerade als Weidlich ihm noch einmal auf die klassische Tour ein wenig nachhelfen wollte, rollte er das Türwurst-Hemd wie einen Empfangsteppich in der Fahrzeugkabine aus. Es klang, als wäre ein Regenschirm in eine Pfütze gefallen. Der Geruch wehte bis zu Weidlich rüber, obwohl der Kommissar auf der anderen Seite des Wagens stand und sich ein wiederverwendbares Herrentaschentuch an die Nase presste.

 

»Wird das heute noch was?«

 

Zugegeben, er wollte Null aus der Reserve locken. Verdächtige verraten sich immer durch ihre Emotionen, erinnerte sich Weidlich. Man musste sie auf die Palme bringen, sie demütigen, einfach unter ein bisschen Stress setzen. So funktionieren auch Lügendetektortests. Man kann sich darauf vorbereiten, seinen Puls zu kontrollieren, aber wenn der Kommissar erst einmal mit seinem lückenlosen Kreuzverhör anfing, bekam jeder noch so abgebrühte Ganove Schweißperlen auf der Stirn. Null stand auf, das Hemd triefte.

 

»Ja, na wunderbar! Es geht doch. Komm mal her, mein Junge.«

 

Jetzt konnte der Kommissar die Papa-Rolle spielen. Das war natürlich alles in Weidlichs Programm so vorgesehen: ein hektischer Wechsel zwischen Erniedrigung und Belobigung. So baute er eine Vertrauensbeziehung zum Verdächtigen auf. Weidlich hatte einmal vom Stockholm-Syndrom gelesen: Einem Phänomen, von dem Geiseln betroffen sind, die sich in ihren Geiselnehmer verlieben. Weidlich wäre ein klasse Psychiater geworden, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

Selbstredend wollte Weidlich nicht, dass Null sich in ihn verliebte. Der Junge stand noch voll im Saft und nichts hätte Weidlich mehr gefreut, als wenn er eine Frau, die auch voll im Saft stand, bespringen würde. Null ließ sein durchnässtes Karohemd auf den Asphaltboden fallen und schaute zum Kommissar herüber. Weidlich stieg auf der Beifahrerseite ein und rümpfte die Nase.

 

»Himmel, das stinkt ja zum Himmel!«, stellte er fest.

 

Zögernd setzte Null sich neben Weidlich, nicht ohne vorher eine Plastiktüte zwischen sich und das feuchte Sitzpolster zu platzieren. In diesem Moment fragte Weidlich sich, woher der Kerl die Tüte her hatte und mit welchen Überraschungen er noch rechnen musste.

 

»Los jetzt, die Sonne hat nicht den ganzen Tag Zeit.«

 

Da war er wieder, der lustige Weidlich. Er lachte, so laut, dass sich das Sitzpolster unter ihm quietschend bewegte. Der Kommissar war zurück auf der Bühne des Lebens. Und Teufel, er würde so schnell auch nicht wieder davon hinunter gehen.

Kapitel 7

Sie gelangten zu einem Mischwald mit einer Corona aus Kiefern, an die sich ein Kranz aus Birken, gefolgt von einer kleineren Caldera mächtiger Eichen anschloss. In der Mitte des Waldes war eine kleine Lichtung, zu der Kommissar Weidlich seinen Zögling hinzulotsen gedachte.

 

»Jetzt links«, brummte Weidlich und Null riss das Lenkrad hastig herum, denn der Kommissar hatte natürlich extra lange gewartet, bevor er diese Anweisung gab.

 

Und so lachte er – wieder einmal war es ihm gelungen, Null eine Lektion zu erteilen. Dieser Jungspund würde noch lernen, was es hieß, einen Chefermittler herauszufordern! Auf dem schmalen Schotterweg, der durch den Wald führte, war wenig zu erkennen. Die Sonne spendete nur noch ein schwaches Abendlicht, das Weidlichs Profil schärfte, wie er selbstzufrieden mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte.

 

»Wo fahren wir hin?«, fragte Null. In seiner Stimme lag nichts Genervtes, nur Angst.

 

»Keine Sorgen, du wirst hier schon nicht abgeknallt!«

 

Wieder lachte der Kommissar, weil nur er in diesem Augenblick die Doppeldeutigkeit seines Witzes verstehen konnte. In abgeknALLt steckte schon der Hinweis auf Nulls Schicksal, doch dieser würde, so sehr er sich auch bemühte, jenen Hinweis nie entschlüsseln können.

Sie erreichten die Lichtung und der Kommissar brüllte »Stop!«, woraufhin Null voll in die Eisen ging und der Kommissar mit seinem Bauch so heftig gegen das Handschuhfach stieß, dass dieses aufklappte und allerhand Krimskrams herausfiel. Kurz über seinem Bauchnabel blieb ein längliches Ding hängen, welches das geschulte Kommissarenauge als Drogenpfeife identifizierte. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck nahm er die Pfeife zwischen die Finger, die seiner Meinung nach schon wieder ein bisschen dicker geworden waren, und betrachtete sie von allen Seiten.

 

»Aha, soso, wir rauchen also Crack, ja?«

 

»Das ist eine Dope-Pfeife, Herr Kommissar. Für Gras, verstehen Sie?«

 

Natürlich verstand der Kommissar, er war ja nicht doof.

 

»Natürlich verstehe ich, bin ja nicht doof«, antwortete er.

 

»Naja, wollen wir mal nicht so sein. Den Kommissar kennt man ja als toleranten Zeitgenossen«, sagte Weidlich und warf die Pfeife in hohem Bogen aus dem Seitenfenster.

Er war sicher, so ein paar Sympathiepunkte bei Null gesammelt zu haben, doch dieser schien nicht einmal Notiz von dieser Geste kriminologischer und moralischer Blindheit zu nehmen. Stattdessen blickte er starr in die Ferne, als wäre er lieber am Horizont als hier, direkt neben dem coolsten und lockersten Kommissar der Welt. Dass Weidlich auch ganz anders konnte, dass diese Toleranz gegenüber Drogen eine absolut bewusst getroffene und gegen seine Prinzipien verstoßende Großzügigkeit war, ahnte Null nicht.

Üblicherweise ging der Kommissar rigoros gegen Junkies und Dealer vor, auch gegen Jugendliche, die waren die Schlimmsten. Immerhin waren sie die Hauptabnehmer, mit ihren paar lausigen Taschengeld-Kröten, wie Heuschrecken und an jedem Wochenende musste der Kick her. Weidlich kannte doch die Jugend von heute, von gestern und er würde auch die künftige Jugend kennen. Er war keiner dieser Erwachsenen, die mit Anfang-Mitte Fuffzig den Draht zu den Kiddies verloren. Weidlich verglich sich gern mit Rock- und HipHop-Stars, die auch altern konnten wie sie wollten, ohne dass die Jugend sie uncool fand. Im Gegenteil – Rapper wie Eminem oder Bushido wurden mit der Zeit immer erfolgreicher. Und so war der Kommissar auch. In seiner Statur vielleicht ein älterer Herr, doch mit dem Herzen stets bei der Jugend.

 

»Und was jetzt?«, fragte Null.

 

»Was jetzt, was jetzt? Bin ich deine Mama oder was? Aussteigen, wenn du so klare Anweisungen brauchst.«

 

Null schüttelte den Kopf und Weidlich beschlich das Gefühl, dass dieser Typ langsam durchdrehen würde. Wer weiß, was er sich noch vor seiner Verhaftung durch die komische Pfeife reingeknallt hatte. Weidlich zückte seine Waffe und richtete sie auf Null. Der zeigte sich unbeeindruckt, erschöpft von dem ganzen Affentheater, das er auf der Polizeiwache, im Auto und an der Raststätte hatte ertragen müssen. Er folgte den Anweisungen dieses fetten Tunichtguts, aber ihm bestätigend zuzunicken war dann wohl doch zu viel verlangt.

 

»Da vorn ist es«, sagte der Kommissar und deutete auf die kreisrunde Lichtung, die von vereinzelten, nach Futter pickenden Raben bevölkert war. Als sie im Zentrum der konzentrischen Lichtung angelangt waren, holte Weidlich eine quadratisch zusammengefaltete Isomatte hervor und klappte sie behutsam auseinander.

 

»Damit uns nicht an den Füßen kalt wird«, wisperte Weidlich zu Null.

 

Null hatte im Grunde genommen bereits kapituliert. Sollte Weidlich doch seine Spielchen abziehen. Wichtig war, den Kommissar in Sicherheit zu wiegen. Dann würde er dieses abgewrackte Kriminalschlachtschiff im passenden Moment überwältigen.

Kapitel 8

Die Nacht brach herein und Kommissar Weidlich schaltete seine aus besseren Zeiten erhalten gebliebene ARTAS-Signallampe ein. Ein mintgrünes Licht strahlte Null, den Kommissar und die Isomatte an. Nulls Gesichtszüge wirkten in dem schummerigen Licht verhärmt, fast schon extraterrestrisch. Während die beiden Männer von verschluckender Dunkelheit umhüllt wurden, erwachte der Wald.

Ein Uhu gab nicht weit entfernt seine Laute von sich. Auf der anderen Seite der Lichtung grunzte, knirschte und fiepte es. Auch wenn der Kommissar mit allem fertig wurde, spürte er die Angst in sich hinauf kriechen. Ein paar Schüsse aus seiner Waffe könnten einen rasenden Eber sicherlich aufhalten, aber wohin sollte man zielen, wenn kaum etwas zu sehen war?

 

»Meine Güte, wer benutzt denn heute noch sowas?«, fragte Null und deutete auf Weidlichs ARTAS-Signallampe.

 

Der Kommissar ließ sich nicht von den Sticheleien seines Gefangenen aus der Ruhe bringen und wechselte das Licht der Signallampe von Grün auf Orange. Null würde es nie zugeben, doch barg dieses Spiel der Farben eine gewisse Schönheit.

 

»Herr Kommissar, ich ...«

 

»Pssst«, unterbrach ihn der Kommissar. »Es geht gleich los!«

 

Weidlich starrte in den Himmel, die Lampe in der einen, die Waffe in der anderen Hand. Er wirkte dabei verloren, angreifbar. Null hätte ihn genau jetzt, in diesem träumerischen und schwachen Moment überwältigen, ihm die Pistole aus der Hand reißen und den verrückten Kommissar der Herrschaft des Waldes, die sich langsam um die beiden formierte, überlassen können. Wenn einer verdient hatte, in der Finsternis unterzugehen, dann dieser Weidlich, dachte Null sich. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Eine schützende Aura hatte sich um den Kommissar gehüllt, ein unsichtbares Kettenhemd, undurchdringlich wie Mithril.

 

»Da!«, rief Weidlich aufgeregt und deutete auf den mit Sternen gesprenkelten Nachthimmel.

 

Null blickte angestrengt nach oben und scannte die Sternenbilder: dort war der Große Wagen, da das markante W der Kassiopeia, und dort erstrahlte sein Lieblingssternenbild in voller Pracht, der Bärenhüter. Doch nun sah er im Nachthimmel etwas, das einem schnell heranrasenden Kometen glich. Ein grell leuchtender Strahl, der sich wie eine öffnende Blüte in alle Richtungen ausdehnte. Weidlich wollte noch etwas sagen, doch da wurden sie bereits von einem gleißenden Licht geblendet.

Kapitel 9

»Wo sind wir?«, fragte Null und blickte sich um.

 

Der Boden fühlte sich staubig an, eine silbrige Kraterlandschaft, in deren Staub seine Schuhe verschwanden. Über sich sah Null ein endloses, explodierendes All voller Planeten, Kometenschweifen, der Milchstraße, ein schillerndes Fest tanzender Sterne und Wunder. Dort erblickte er den Jupiter, und hier die Erde, die er noch nie zuvor so umfassend, leuchtend blau und vollkommen gesehen hatte. Sie schlummerte, als würde endloser Frieden auf ihr herrschen und Null verlor das Bewusstsein, und während er fiel, ungewöhnlich sanft und langsam, hörte er Weidlichs Lachen. Warum fallen sie alle in Ohnmacht?, fragte sich der Kommissar.

Er tätschelte Nulls Wange. Langsam kam er wieder zu sich und als er die Augen öffnete, tat sich das gleiche unendliche Meer von Himmelskörpern vor ihm auf, das er vor seinem Blackout gesehen hatte. Es war ein atemberaubender Anblick: kein Horizont, keine Grenzen, nur Schwärze und Licht in unaufhörlichem Tanz, bunte Formen, umherhuschende Satelliten und der Mond, auf dem Weidlich und er standen.

 

»Sind wir ...«

 

»Auf dem Mond, correctamente«, bestätigte Weidlich. In seinem Gesicht lag Zufriedenheit.

 

»Aber warum ...«

 

»Hier wartet deine Lektion, Freundchen.«

 

Null verstand nur Bahnhof. Wie konnten sie auf dem Mond sein und dazu auch noch ohne Schutzanzug? Weidlich war in seinem gewöhnlichen Mantel unterwegs und Null trug dieselben Klamotten wie auf der Erde. Der Kommissar bemerkte den ratlosen Blick seines Schützlings und tätschelte ihm den Arm.

 

»Nur keine Sorge, ich bin ja da, Freundchen. So, nun machen wir uns aber mal auf den Weg zu deiner Rettung, hm?«

 

Null fragte nicht mehr, nicht einmal sich selbst, was dieser Scheiß schon wieder zu bedeuten hatte. Er trottete hinter dem Kommissar her, der leichtfüßige Sprünge machte.

 

»Das ist das Schönste an diesen Mondbesuchen«, sagte Weidlich. »Dass ich mich so leicht fühle. Auf der Erde stört mich mein Gewicht, es zieht mich wortwörtlich runter. Ja, ich bin eine fette Sau, das weiß ich. Aber meine Fälle, die löse ich mit Bravour!«

 

»Wohin gehen wir?«, fragte Null.

 

»Schnauze«, antwortete Weidlich schroff. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«

 

Der Kommissar drückte Null den Pistolenlauf fest in den Rücken und marschierte los.

Kapitel 10

Kriminalhauptkommissar Ruckert klimperte mit den Fingerspitzen auf das Holz seines Schreibtisches. In der Wache war es still geworden und er fragte sich, wo Kommissar Weidlich wohl steckte. Hatten Sie sich nur verpasst und er war schon längst im Feierabend?

Mit leerem Blick betrachtete Ruckert das zu seiner Rechten stehende Familienfoto: Seine Frau schmiegte sich lächelnd an seine Schulter, ihre blonden Strähnen streiften sein kariertes Hemd, in seinem anderen Arm hielt er die nur widerwillig posierende pubertäre Tochter mit geschürzten Lippen. Für einen Außenstehenden mochte Ruckert auf dem Foto wie ein stolzer und glücklicher Familienvater wirken. Er selbst jedoch erkannte die Unzufriedenheit in seinem Gesicht. Warum nur haderte er mit seinem Leben? Die Karriere war glatt verlaufen, wie der Schnitt eines Skalpells. Und auch seine wunderschöne Frau hielt ihm seit Jahren sowohl die Treue als auch die Stange. Ruckert hatte nicht einmal ein Alkoholproblem, was unter Kriminalbeamten fast schon zum guten Ton gehörte. Jeder soff, der eine mehr, der andere weniger, aber alle hatten sie ihre Flaschen zu Hause. Je höher der Dienst, desto härter wurden die Spirituosen.

Ruckert war des Öfteren in die Wache gekommen und hatte einen süßlich-fauligen Geruch, ähnlich dem vergorener Früchte, vernommen. Am deutlichsten fiel ihm dieser Geruch bei Kommissar Weidlich auf. Anfangs hatte Ruckert sich noch darüber gewundert. Schließlich kam Weidlich jeden Tag pünktlich zur Arbeit und schien seinen Job gut zu machen. Bis er eines Tages Zeuge eines ungeheuerlichen Vorfalls wurde.

Zwei Beamte hatten einen jungen Mann festgenommen, der ein Tütchen Ecstasy bei sich trug. Weidlich übernahm das Verhör. Eigentlich war es die Aufgabe eines Vernehmungsbeamten, die Hintermänner, die Ticker und Dealer im Verhör zu ermitteln. In Ausnahmefällen und mit einem guten Strafverteidiger konnten auf diese Art sogar bessere Bedingungen für den Junkie herausspringen. So kamen manche, die eigentlich einfahren sollten, mit einem blauen Auge in Form einer Bewährungsstrafe davon. Doch Kommissar Weidlich interessierten die Hintermänner nicht. Er nahm das Päckchen Ecstasy und zwang den Beschuldigten, sämtliche Pillen (es waren 30 an der Zahl) hinunterzuschlucken. Was übrig blieb, war ein epileptisch zuckendes, menschliches Wrack, das nur durch das schnelle Eintreffen des Krankenwagens gerettet werden konnte. Seitdem hatte der junge Mann irreparable Schäden. Weidlich wurde damals nur aus einem Grund nicht gefeuert: Es ließ sich nicht nachweisen, dass er dem jungen Mann die Drogen direkt eingeflößt hatte.

Der Kommissar hatte behauptet, der Beschuldigte hätte sich die Drogen in einer Pinkelpause selbst einverleibt. Weidlich sei nur für ein paar Minuten aus dem Raum verschwunden (für diese Dienstverletzung erhielt der Kommissar eine Verwarnung) und diese Zeit habe der Junkie genutzt, um sich die letzten Pillen, die er angeblich in seiner Unterhose versteckt hielt, zu schlucken.

 

Auf die Frage, warum der Mann das getan haben sollte, antwortete Weidlich: »Na damit die Beweise verschwinden.«

 

Kommissar weidlich war ein ausgezeichneter und sehr überzeugender Redner. Er hätte ein klasse Politiker werden können, doch nun war er eben Kommissar, derzeit auf dem Mond, und das war auch gut so.

Ruckert erschrak, als jemand an seine Bürotür klopfte. Insgeheim hoffte er, dass Weidlich sich hinter der Tür befinden und das Rätsel um sein Verschwinden auflösen würde. Nicht, weil er den Kommissar so sehr mochte, davon konnte nun wirklich nicht die Rede sein. Im Gegenteil, für diesen aufgeschwemmten, lügenden, unseriösen, alkoholsüchtigen und machtmissbrauchenden Kerl hatte Ruckert nicht mehr als Verachtung übrig, die er im Lichte des Revieralltags gut zu verbergen wusste. Aber dann hätte er als Dienstherr eine Sorge weniger.

Ruckerts Bürotür flog auf und eine aufgebrachte junge Frau mit hochhackigen Schuhen und kajalverschmiertem Gesicht stürzte herein. Hinter ihr kam der fette Karsten angerannt. Aus seinem puterroten Gesicht blubberten einzelne Wörter, während er sich außer Atem auf seinen eigenen Oberschenkeln abstützte. »Konnte – sie – nicht – aufhalten.«

»Schon gut Karsten. Die junge Dame hat offensichtlich etwas Wichtiges mitzuteilen.«

 

Der fette Karsten nickte und humpelte aus dem Raum, als würden seine Hände an seinen Oberschenkeln festkleben. Ruckert kannte den fetten Karsten nur als den fetten Karsten, einen anderen Namen hatte dieser wandelnde Cholesterinberg in der Wache nicht gehabt. Wahrscheinlich kam er schon als der fette Karsten zur Welt, dachte Ruckert sich, doch dann erinnerte er sich an eine Geschichte, die er neulich von einem Kollegen aus der Rechtsabteilung gehört hatte. Der fette Karsten soll früher einmal ganz dünn gewesen sein, schmächtig und hager wie ein ausgemergelter Kriegsgefangener. Mit dem Ende seiner Teenager-Zeit musste der Körper vom fetten Karsten urplötzlich entschieden haben, alles zu speichern, was ihm zugeführt wurde. Es war, als würde die Luft jedes Atemzuges wie in einen Ballon gepresst und tatsächlich fragte Hauptkommissar Ruckert sich von Zeit zu Zeit, ob der fette Karsten irgendwann einfach abheben und in Richtung Mond schweben würde.

 

»Sind Sie Kommissar Ruckert?«

 

Hauptkommissar Ruckert hätte sich jetzt großkotzig zurücklehnen und der jungen, verzweifelten Frau seelenruhig den bedeutenden Unterschied zwischen einem Kommissar und einem Hauptkommissar erklären können. Aber er war kein Weidlich, der sich genau so verhalten würde, also beschränkte er sich auf einen kleinen Witz, um die Situation aufzulockern:

 

»Das steht fast genauso an dem Schild draußen dran.«

 

»Was steht wo dran?«

 

»Mein Name. An dem Schild draußen an der Wand.«

 

Schlagartig schien die Frau ruhig und gefasst. Sie verließ das Büro, betrachtete das Schild, auf dem in weißen Lettern »Hauptkommissar Ruckert, Abteilung Raub-, Mord- und Sexualdelikte« stand und trampelte zurück in Ruckerts Büro.

 

»Schön für Sie, dass das dort steht.«

 

Na wunderbar, dachte der Hauptkommissar. Der Versuch, die Situation aufzulockern, war nach hinten losgegangen. Stattdessen war Ruckert nun angespannt, unsicher darüber, wie er diese Frau vor sich einzuordnen hatte.

 

»Also, was ist Ihnen passiert?«

 

»Geheult hab ich. Wie ein Schlosshund. Alles nur wegen diesem Mistkerl. Einsperren müssen Sie den!«

 

»Nun mal langsam, eins nach dem anderen«, antwortete der Kommissar und bemühte sich, zu seiner ruhigen und beschwichtigenden Art zurückzufinden.

 

»Also – was ist passiert?«

 

»Ronny, mein Freund, hat mich betrogen, das ist passiert! Mit dieser Schlampe von Hausfrau, die endalt ist!«

 

»Endalt?«

 

»Naja, megaalt halt. Bestimmt um die 70 oder so. Ich wusste ja, dass Ronny sich hin und wieder diese Oma-Pornos ansieht, aber dass er es wirklich mit einer treibt – ich kotz gleich!«

 

Hauptkommissar Ruckert hielt dies für eine Phrase, doch tatsächlich schoss im nächsten Moment eine ockerfarbene Fontäne aus dem Mund der jungen Frau hinaus, direkt auf den flauschigen, marineblauen Büroteppich.

 

»Großer Gott, das ist ja ekelhaft! Karsten!«

 

Der fette Karsten wuchtete energisch seinen klapprigen Schreibtischstuhl zurück und die Lehne knallte an die mit Fahndungsfotos und Pressemeldungen übersäte Wand dahinter.

 

»Ja, Herr Hauptko...«

 

Karsten stockte beim Anblick der in die Zotten des Teppichs hineinsickernden Lache. Die kleinen hellgelben Brocken blieben unverändert liegen, als wollte der Teppich sie aufgrund ihrer Grobschlächtigkeit nicht in sich hineinkriechen lassen. Nun kotzte auch Karsten, doch war er geistesgegenwärtig genug, sein Uniformhemd aus der unter den Bauch gespannten Hose zu ziehen und es zu einer trapezförmigen Auffangplane vor seinem Gesicht auszubreiten.

 

»Meine Güte, was ist denn heute bloß los!«, stieß Ruckert aus.

 

Scheinbar spielte das ganze Polizeirevier verrückt oder der Scherz-Geist Beetlejuice zog durch die Räume und stiftete Unheil.

 

»Es tut mir Leid, Herr Hauptkommissar, ich bin untröstlich. Ich werde gleich einen Eimer holen und ...«

 

»Schon gut, schon gut«, sagte Ruckert und winkte ab. Er wollte den fetten Karsten einfach nur noch aus seinem Büro haben und selbst aus dieser stinkenden Kammer, die mal sein geliebter, beinahe schon heiliger Arbeitsplatz war, verschwinden.

 

»Kommen Sie«, sagte Ruckert zur Frau, die ihm mit einem vor den Mund gehaltenen Taschentuch gegenüber saß und wie eine nachreifende Tomate eine rötliche Farbe im Gesicht erlangte.

 

»Nebenan ist zum Glück noch ein Raum frei.«

 

»Es tut mir Leid«, sagte die junge Frau gedämpft durch das Taschentuch.

 

Ruckert ahnte nun, dass die Ursache ihrer Rötung Scham war.

 

»Muss es nicht, wirklich. Wir erleben hier die dollsten Sachen, gute Frau«, beschwichtigte Ruckert, doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann passierte in diesem Scheißkaff überhaupt nichts.

 

Natürlich hatte das auch seine Vorteile. Gestern hatte der Hauptkommissar in einem der unzähligen Ruhemomente des Tages die Zeitung aufgeschlagen und von Krawallen vor dem Hauptgebäude der Europäischen Zentralbank gelesen. Sieben Polizeiwagen wurden angezündet, eine Wache wurde in Brand gesteckt und mindestens 80 Beamte fanden sich mit Platzwunden und schweren Verbrennungen im Krankenhaus wieder.

Ganz so heiß musste es hier natürlich nicht hergehen, da war Hauptkommissar Ruckert überhaupt nicht scharf drauf. Aber ein bisschen mehr Action, ein Hauch von Nervenkitzel, ein Windstoß von Adrenalin, der durch die miefigen, nach Kotze stinkenden Büros wehte und den Karstens dieses Reviers ein bisschen Dampf machte, wäre nicht verkehrt gewesen.

Ruckert erhob sich von seinem Lederstuhl und wies mit einer zur Schöpfkelle geformten Hand in Richtung der Tür, die zum Nebenraum führte. Die Frau mit dem Taschentuch vor dem Mund hustete und Ruckert wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Husten gekünstelt war. Sie nahm ihre sorgsam neben dem Stuhl geparkte Handtasche, zog sie sich gekonnt über die Schulter und erhob sich mit einem Knacken in den Knien. Der Nebenraum war anders als Ruckerts Büro, das vor Akten, Gesetzeswälzern und stolzen Polizeifotos nur so barst, kalt und leer. In der Mitte des Raumes stand ein quadratischer Tisch mit einer metallisch anmutenden Oberfläche, zwei Stühle so eng daran geschoben, als würden sie über die Hereinkommenden tuscheln.

 

»Also, was ist geschehen, junge Dame?«, fragte Ruckert, nachdem er einen der beiden Stühle weit genug nach hinten geschoben hatte, dass die junge, kotzfreudige Dame Platz nehmen konnte.

 

»Mein Freund, dieser Scheißkerl. Wir wollten heiraten, wissen Sie. Richtig schön mit Traumhochzeit, Kleid und allem drum und dran.«

 

Ruckert bemerkte, dass die junge Dame einen rheinischen Akzent hatte.

 

»Und dann lässt der mich einfach sitzen. Knall auf Fall, dieser Arsch! Ich wusste, ich hätte auf meine Freundinnen hören sollen, die haben den gleich durchschaut!«

 

Die junge Frau hatte die provisorische Atemschutzmaske namens Taschentuch nun von ihrem Gesicht genommen und zerknüllt auf den quadratischen Tisch gelegt. Dieses kümmerliche Bazillenhäufchen, wie es dort zusammengeknickt herumlag und sich ähnlich einer Blütenknospe Millimeter um Millimeter öffnete, stieß dem Hauptkommissar übel auf. Er fragte sich, welche Keime wohl im Inneren dieser bösen Tempo-Blüte versteckt sein würden, die sich bereits auf seinem schönen Büroteppich tummelten.

 

»Junge Dame, das mit ihrem Freund tut mir leid. Aber warum kommen Sie damit zu mir? Das ist schließlich keine Straftat.«

 

Die junge Frau blickte schniefend zu Boden, ohne zu antworten.

 

»Hören Sie, ich möchte wirklich nicht unsensibel sein. Es ist nur so, dass wir eine Sondereinheit sind, wir klären hier schwere Verbrechen auf. Wenn Sie geschlagen oder vergewaltigt wurden, dann – wurden Sie geschlagen?«

 

Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf und blickte mit starren Augen wieder auf, ganz so, als wäre ein vernünftiger Geist wieder in sie zurückgekehrt. Ihre Pupillen funkelten wie die Sterne in einer klaren Sommernacht. Sie hatte die Lippen geschürzt, bereit dazu, ein schreckliches Geheimnis gleich einem aus ihrer Mundhöhle hervorquellenden Bienenschwarm freizugeben.

 

»Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, der steckt da in was ganz Komischem. Mein Ex, meine ich. Der dreht irgendein krummes Ding, da bin ich mir sicher.«

 

Ruckert lehnte sich zurück und warf der jungen Dame einen skeptischen Blick zu. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er im Laufe seiner Karriere wirre Anschuldigungen, empörte Beschimpfungen, haltlose Verleumdungen, eifersuchtsinduzierte Intrigen und ans Blasphemische grenzende Lügen gehört hatte.

Die meisten dieser Rufschädigungen entpuppten sich schnell als Hirngespinste gekränkten Stolzes von Menschen, die auf Rache sannen. Doch irgendetwas sagte dem Hauptkommissar, dass es bei dieser Frau anders sein könnte. Vielleicht war es ihre authentische Aufregung. Vielleicht lag eine Wahrheit in ihrer Stimme, vibrierend und betörend wie der Gesang eines Vogels am ersten Frühlingsmorgen nach Monaten der schneebedeckten Kälte und Dunkelheit. Oder – eine Möglichkeit, die der Hauptkommissar trotz seiner zuverlässigen Intuition zumindest in Erwägung zog – die junge Frau konnte hervorragend schauspielern. Was auch dahinter steckte, Ruckert war von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, sich die ganze Geschichte anzuhören.

 

»Es geht –«, setzte sie an, »um Kommissar Weidlich«.

Kapitel 11

Hauptkommissar Ruckert nickte, während er die gerade gehörte Geschichte sacken ließ, als wollte er sie Brocken für Brocken hinunter schlucken.

 

»Das ist ja wirklich eine ganz schön starke Geschichte. Sie wissen, dass Kommissar Weidlich seit vielen Jahren bei uns arbeitet?«

 

Die junge Dame nickte nun auch. Während der gesamten Geschichte war nicht einen Moment lang die Spur einer Lüge im Gesicht der Frau zu erkennen gewesen. Entweder hatte sie die Wahrheit gesagt, auch wenn es eine wilde, verrückte, geradezu hanebüchen klingende Wahrheit war – oder sie hatte dem gestandenen Kriminalbeamten so gekonnt und eiskalt die Tasche vollgehauen wie es noch kein Mensch zuvor geschafft hatte.

 

»Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass der Herr Kommissar nichts für das Verhalten seines Sohnes kann, denn der ist erwachsen. Aber ich glaube, er hat ihn da in etwas hinein gezogen. Wissen Sie denn, wo Kommissar Weidlich gerade ist?«

 

Ruckert wusste es nicht und diese Unwissenheit hatte ihn schon am frühen Vormittag gequält, als die übrigen Beamten geschäftig und nichtsahnend über die Flure wuselten, Telefongespräche entgegennahmen und über die nur widerwillig arbeitende Kaffeemaschine meckerten. Manchmal hatte der Hauptkommissar den Eindruck, dass seine gesamte Abteilung einer Art Selbsterhaltung folgte. Die Uniformierten trugen Uniformen, weil sie sich damit mächtig und einflussreich fühlten, nicht weil sie eine Justiz auf zwei Beinen verkörperten.

Die höheren Beamten schnürten sich den wie aus einer Al Capon‘schen Zeit stammenden Pistolengürtel aus hellem Leder über die Schulter, um Eindruck zu schinden und nicht, um im Falle des Falles schneller mit der Hand bei der Dienstwaffe sein zu können als ein in die Ecke getriebener und zu allem bereiter Bankräuber. Die Profiler profilierten sich und die Streifenpolizisten streiften sich die Fusseln von der glattgebügelten Hose. Manchmal erschien Ruckert der gesamte Polizeiapparat, obwohl er ihn im Kriminalkommissariat nur noch fragmentarisch kannte, wie ein einziges aufgeblähtes Ego, zergliedert in viele kleine Egos, die geltungssüchtig in die Welt ausschwärmten.

Vom logischen Standpunkt her wusste Ruckert genau, dass nicht alle Beamten so waren, er war schließlich der beste Beweis dafür: ehrlich, loyal, aufrichtig und fleißig. Aber dann gab es auch noch die anderen Kaliber, die 45er-Magnum-Geschosse wie Kommissar Weidlich, bauchig, schwerfällig und großkotzig, eine Kanonenkugel, die sich selbst auf Spatzen abschoss und die Schwäche vermeintlich Vogelfreier für sich nutzte. Und bei solchen Typen konnte er sich gut vorstellen, dass ihnen die Sicherungen gelegentlich durchschmorten.

Insofern konnte die Geschichte der jungen Frau mit den krausen schwarzen Locken, dem leicht hervorstehenden Kiefer und dem Namen Ludmilla Karlsson durchaus wahr sein. Ruckert würde dem auf den Grund gehen, doch zunächst einmal müsste er Weidlich dafür finden. Die letzte Begegnung mit ihm hatte Ruckert auf dem Parkplatz mit einem Mann, der verstört dreinblickte.

 

»Herr Hauptkommissar, das Erbrochene wurde beseitigt!«

 

Der fette Karsten war hineingepoltert und hatte Ruckerts Gedankengang unterbrochen. Fehlt nur noch der Salut zum Kadavergehorsam, dachte Ruckert und nickte dem nach Anerkennung lechzenden Karsten zu.

 

»Gut gemacht, Kollege.«

 

Eine Träne floss aus Karstens rechtem Augenwinkel und kullerte wie Morgentau von einem Lotusblatt zügig und zielstrebig die rundliche Wange hinunter.

 

»Danke, Herr Hauptkommissar. Habe ich bei meinem Bruder geübt.«

 

»Ist ihr Bruder Vielkotzer?«

 

»Er geht oft Feiern. Ein richtiger Partyhengst.«

 

»Vielleicht sollte er sie mal mitnehmen.«

 

Der fette Karsten verformte sein Gesicht zu einer unverständigen Grimasse.

 

»Wie meinen Sie, Herr Hauptkommissar?«

 

»Nichts, schon gut. Wegtreten.«

 

Eine Formulierung, die im Polizeidienst normalerweise nicht verwendet wurde, schon gar nicht innerhalb der kriminologischen Abteilung, doch hier erschien sie Ruckert passend. Der feste Karsten knallte die Spitzen seiner Schnürschuhe peinlich laut an den Hacken zusammen und nickte entschlossen. Dann drehte er sich in Richtung Ausgang.

 

»Vielen Dank für Ihren Besuch, Frau Karlsson. Wir werden der Sache nachgehen.«

 

Ludmilla Karlsson erhob sich, reichte Hauptkommissar Ruckert die Hand und folgte dem fetten Karsten, der seinen wuchtigen Körper in einem Marsch hinausschob, zum Ausgang.

 

»Schließen sie die Tür!«, rief Ruckert hinterher und er hörte, wie der fette Karsten, bereits auf seinem Drehstuhl sitzend, aufsprang und zurückeilte, um den Befehl des Herrn Hauptkommissars Folge zu leisten.

 

Als die Tür geschlossen war, wurde Ruckerts Büro von einer wohltuenden Ruhe erfüllt. Ein paar Staubkörner tanzten in den honiggelben Sonnenstrahlen über dem Teppich, der nach Terpentin und altem Bleichmittel roch. Ruckert öffnete eine Schublade seines schwarzen Mahagonischreibtisches und holte ein kleines Büchlein mit schimmerndem Schlangenmustereinband hervor. Jenes Büchlein hatte ihm seine Tochter zum 60. Geburtstag geschenkt. Er schlug die dritte Seite des Büchleins auf und las die schwungvoll geschriebenen Worte auf dem cremefarbenen, von der Sonne angestrahlten Papier:

 

Und sind die Tage trüb und schwer,

wie Nebelschwaden zwischen Wipfeln,

kommt irgendwo ein Lichtlein her,

vom Morast bis zu den Gipfeln.

 

Es gab nichts, das Ruckert mehr Hoffnung und Zuversicht gab als dieses selbstverfasste Gedicht seiner Tochter. Es wirkte wie eine intravenöse Injektion, ein Sedativum, das seine Seele streichelte wie Hände den Bauch eines an Menschen gewöhnten Katers. Ruckert lehnte sich zurück. Wieder fragt er sich, was sein Kollege Weidlich wohl gerade tun würde. Doch diesmal hatte er dabei ein Lächeln auf den Lippen.

Kapitel 12

»Wir sind gleich da«, presste Kommissar Weidlich heraus. Er wäre ein klasse Mondführer geworden, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Wohin führen Sie uns?«, fragte Null, doch der Kommissar antwortete nicht.

 

Mit jedem Schritt wirbelte der dicke Mann Staub auf, er sprang nun nicht mehr vergnügt von einer Stelle zur anderen, sondern ging behäbig wie ein angeschlagenes Walross. Wie verrückt, dachte Null, ein Walross auf dem Mond. Doch dieser Weidlich hatte Biss, das musste man ihm lassen. Plötzlich fing der behäbige Kommissar an, wirres Zeug zu stammeln. Es klang wie eine fremde Sprache, die er sonor von sich gab.

 

»Herr Kommissar? Alles in Ordnung?«

 

Der Kommissar blieb stehen, zwischen ein paar Kratern, mitten im bläulich schimmernden Sand. Null nutzte die Gelegenheit und schaute sich eine Weile im unendlichen All um. Da war der Jupiter, dort der Saturn mit dem markanten Ring und da hinten schwebte der Planet, dessen Namen Null immer wieder aufs Neue amüsierte: Uranus. Nun begann Weidlich wie ein Junge im Sportunterricht auf und ab zu springen, die Beine und Arme im Sprung zu spreizen, um sie im Anschluss wieder an den Körper zurückschnellen zu lassen. Null fragte besser nicht nach, er würde mit Sicherheit keine befriedigende Antwort bekommen.

 

»Auwililalalakamuratalawaaaaaa!«

 

Der Kommissar schrie vor sich hin, es war fürchterlich anzuhören. Was zur Hölle trieb er da?

 

»Umbaltumbaaaaaaaa! Hrwna!«

 

Kommissar Weidlich schmiss sich zu Boden und verharrte regungslos im Mondstaub.

 

»He-Herr Kommissar?«, fragte Null zögerlich, während er stärker an Flucht dachte als jemals zuvor.

 

Doch wohin sollte er flüchten? Hier gab es weder ein Fahrzeug noch ein Space Shuttle, das ihn zurück auf die Erde bringen konnte. Und selbst wenn, würde er es wohl kaum bedienen können. So wenig ihm dieser Gedanke gefiel, doch er war auf den guten Weidlich angewiesen.

Kapitel 13

»Hauptkommissar Ruckert!«

 

Der fette Karsten stand wieder im Büro, stramm auf dem von Kotze befreiten Teppich mit ernstem Gesichtsausdruck. Seine Wangen zitterten.

 

»Was gibt es, Karsten?«

 

»Die Beamten sind von der Suche nach dem Kollegen Kommissar Weidlich zurückgekehrt.«

 

»Aha, aha. Und?«

 

»Nichts. Der Kollege scheint wie vom Erdboden verschluckt.«

 

Natürlich ist er das, dachte Ruckert plötzlich bei sich. Wie in aller Welt hatte er das Mondprogramm vergessen können? Im Rahmen eines streng geheimen Abkommens mit den USA hatte Deutschland sich dazu verpflichtet, Terrorverdächtige an die USA auszuliefern. Das war an sich nichts Neues, doch seit Guantanamo Bay waren die Augen der Öffentlichkeit und der Presse überall.

Also beschlossen die Amerikaner, ein geheimes Gefängnis auf dem Mond zu errichten, denn dort kam der Durchschnittsjournalist, der froh war, wenn er noch Treppen steigen konnte ohne einen Herzinfarkt zu erleiden, nicht hin. Das Mondprojekt, natürlich! Ruckert hatte sich nicht weiter damit befasst, da er es ohnehin für idiotisch hielt. Zwar war die Technik dahinter, eine ausgefuchste Teleportationsmaschine in der sagenumwobenen Militärbasis Area 51, eine erstaunliche Leistung. Angeblich war es den Amerikanern möglich, Menschen von der Erde aus auf den Mond zu teleportieren. Doch ärgerte Ruckert sich darüber, dass eine so vielversprechende Technologie für einen derart aufgeblähten CIA-Quatsch genutzt wurde, dem sich die amtierende Bundesregierung willfährig hingab.

Woher in Herrgotts Namen konnte Weidlich von diesem Projekt wissen? Nur die obersten Dienstchefs hatten Kenntnis von der streng geheimen Mondbasis und Ruckert als gründlicher (seine Ehefrau würde sagen pedantischer) Polizist hatte sicherlich nichts achtlos auf seinem Schreibtisch herumliegen lassen, was mit diesem Projekt zu tun hat. Ohnehin mussten alle Eingeweihten sich schriftlich dazu verpflichten, strengste Geheimhaltung zu wahren. Andernfalls würden sie, so stand es deutlich und unverblümt in der Abschrift, ebenfalls auf dem Mond landen, um sich die Einrichtung aus nächster Nähe anzusehen.

Kalter Schweiß trat auf die Stirn des Hauptkommissars. Wenn Weidlich davon wusste und den Verdächtigen dorthin verschleppt hatte, würde dieser Verdächtige auch davon wissen. Und wer war noch informiert? Ruckert spürte, wie sein Herz raste und sein Verstand damit begann, sich eine plötzliche Verschleppung auf den Mond auszumalen. Wie Männer mit Totengräberanzügen und Sonnenbrillen in sein Büro stapfen und ihn in einem Militär-Humvee abführen würden. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, wie viel Weidlich wusste und wer noch davon wissen könnte. Hauptkommissar Ruckert musste sofort Kontakt zu seinen amerikanischen Kollegen aufnehmen und auf eigene Faust zum Mond reisen. Dort würde er früher oder später ohnehin landen, wenn die Homeland Security herausbekäme, dass es eine Lücke in der deutschen Polizeikette gab. Also buchte er einen Flug nach Carson City, Nevada.

Kapitel 14

»Das kam dir jetzt bestimmt etwas seltsam vor, was?«, fragte Weidlich.

 

Null sparte sich eine Antwort.

 

»Hach, die Jugend von heute – für nichts mehr zu begeistern. Ihr habt doch nur noch Facebook und Pornos im Kopf. Na gut, manches davon kann ich auch auf meine alten Tage verstehen«, sagte der Kommissar und zwinkerte Null zu.

 

Null war zu müde, um den Kopf zu schütteln. Er wollte nur noch nach Hause und in sein Bett fallen. Aber vielleicht lag er ja längst drin? Ja, vielleicht träumte er diesen ganzen absurden Scheiß ja nur? Vielleicht gab es Kommissar Weidlich nur in seinen Träumen, eine verworrene, aus Erinnerungen, Fernsehfilmen, Ängsten und Eindrücken zusammengeflickte Fantasiegestalt. Skurril genug war er jedenfalls und mal ehrlich – ein Teleport auf dem Mond? Ohne irgendwelche Apparaturen? Dann spazierten sie auch noch ohne Anzug und Sauerstoffgerät zwischen den Kratern umher.

Null lachte auf. Ja, es musste sich ganz einfach um einen Traum handeln, jede andere Erklärung war vollkommen absurd. Als er dieser Erkenntnis Raum gab, fühlte Null sich beschwingt und begann, auf dem Mond umher zu hüpfen. Er wollte diesen absurden Traum mit seinen Querwegen und verschlungenen Pfaden genießen.

Er konnte nicht sterben, im Traum starben Menschen nie und so sprang er immer höher und weiter, er wollte im freien Raum umher schweben, in Richtung Erde treiben und dabei die Novas, die umherfliegenden Kometen, den wie ein Fötus im Mutterbauch ruhenden Jupiter betrachten und mit der Unendlichkeit verschmelzen. Null sprang immer höher, so hoch, dass er sich wie die Spore von der Mutterpflanze löste. Weidlich bemerkte den ungebührlichen Fluchtversuch und stürzte aus seiner Scheinschlafposition heraus in Nulls Richtung.

Im letzten Augenblick bekam er Nulls rechten Knöchel zu fassen und holte ihn zurück auf den Boden der Tatsachen. Dann verpasste er dem dümmlichen grinsenden Ausreißer ein paar saftige Ohrfeigen, doch der grinste einfach weiter. Null schien in eine andere Welt abgedriftet zu sein, eine Welt, in der es keinen Schmerz mehr gab und in der er jeglichen Respekt vor Kommissar Weidlich verloren hatte.

Es wurde wirklich Zeit, dass Null seine Lektion lernte und so schrie der Kommissar:

 

»Du hast es hier mit einem Profi zu tun, du Fuchs! Wenn du denkst, Klaus Kinski war schlimm, dann hast du mich noch nicht kennen gelernt!«

 

Null schaute drein wie ein Fall in der Obduktion. Ließ er sich denn gar nicht mehr vom Kommissar beeindrucken? Weidlich holte einen länglichen Gegenstand aus seiner Manteltasche hervor, den er in Hüfthöhe an Nulls Körper drückte. Ein surrendes Geräusch war zu hören, dann begann Null zu zittern und sackte in sich zusammen.

Kapitel 15

Hauptkommissar Ruckerts Flugzeug war sicher in Carson City gelandet. Die Luft schmeckte sandig und trockener Staub wehte in seine hellblonden Haare, als er aus der Maschine stieg. Ruckert wurde von einem hageren Mann mit kreisrundem Haarauswahl und ernstem Gesichtsausdruck begrüßt.

 

»Welcome to the United States, Mister Ruckert« sagte er und löste sich von seiner Entourage, ein paar bulligen Typen in dunklen Anzügen, die vor gepanzerten schwarzen Jeeps standen, um den Hauptkommissar aus Deutschland zu begrüßen.

 

»Wir hatten telefoniert?«, fragte Ruckert auf Deutsch.

 

»Yes, wir haben. Ich bin Major Samuel Collins. Möchten Sie etwas essen?« Der hagere Mann tat sich schwer damit, das »ö« auszusprechen, es klang niedergebügelt.

 

Ruckert war enttäuscht darüber, keinen sprachlich versierteren Empfangsmann bekommen zu haben, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

 

»Danke, ich habe im Flugzeug gegessen. Es gab Lasagne.«

 

»Lasagne? My god, schmeckt die im Flugzeug?«

 

»Wie ein alter Hundefurz«, antwortete Ruckert und wartete auf einen Lacher, der jedoch ausblieb.

 

Stattdessen musterte Samuel Collins den aus Deutschland eingereisten Hauptkommissar skeptisch, als hätte er einen Trickbetrüger vor sich stehen.

 

»Allright, wollen Sie in ein Hotel?«

 

»Danke, aber ich glaube, wir sollten uns die Sache gleich ansehen. Wenn meine Theorie stimmt, dann dürfen wir keine Zeit verlieren. Dieser Weidlich ist ein unberechenbarer, gefährlicher Mann.«

 

»I see, I see. In den USA haben wir ein Sprichwort: Gibt es keine Chemiewaffen, musst du trotzdem welche suchen.«

 

Jetzt wartete Collins seinerseits auf einen Lacher, doch Ruckert schüttelte nur den Kopf. Es würde eine anstrengende Zusammenarbeit werden, das wurde beiden allmählich klar.

Ein Gorilla mit übergroßer Pilotensonnenbrille öffnete die hintere Tür eines Jeeps und nickte bedeutsam. Ruckert bedankte sich beim Gorilla, indem er ihm eine Banane, die er eigentlich auf dem Flug verspeisen wollte, hinhielt. Der Gorilla lachte, weil er den Witz verstand, und nahm die Banane dankend entgegen. Dazu machte er äffische Geräusche, die von Collins mit einem bösen Blick abgestraft wurden. Collins nahm im selben Jeep wie Ruckert Platz und reichte ihm einen Ordner mit der Aufschrift Top Secret.

 

»Das Meiste davon wissen Sie bestimmt. Nur zur Auffrischung, you know.«

 

Ruckert blätterte durch den dicken Ordner und betrachtete die Fotografien der Mondoberfläche in aller Ruhe, während die Jeeps als rasende Kolonne mit gebieterischer Rücksichtslosigkeit über die staubige Landepiste donnerten.

 

»Was ist das?«

 

Kommissar Ruckert tippte mit seinem Zeigefinger, der von einem Thailandurlaub angenehm gebräunt war, auf das Foto eines futuristisch anmutenden Geräts, dessen Funktion er sich selbst bei intensivem Nachdenken partout nicht erklären konnte.

 

»Das ist ein Skipping Tool. Secure developement, you know. Eine Art Mini-Teleporter, mit dem Sie von jedem Ort der Welt aus auf den Mond reisen können.«

 

»Was? Warum benutzen Sie dann noch diese monströse Apparatur in der Area 51? Sie hätten mir dieses nützliche Tool doch einfach mit der Post schicken können, dann hätte ich mich nicht auf den weiten Weg machen müssen.«

 

Ruckert war wütend. Er fühlte sich von seinem amerikanischen Kollegen betrogen. Der Gorilla, dem er kurz zuvor die Banane gegeben hatte, lachte am Steuer und kaute vergnüglich auf dem gelben Obst herum. Dabei machte er wieder äffische Geräusche, woraufhin Collins einen Knopf in der Seitentür des Autos drückte, der eine schalldichte Scheibe zwischen dem Fahrer und ihnen hinauffahren ließ.

 

»What a freak. OK, let’s face it: Wir haben das Tool nicht mehr. Es wurde gestohlen. Ihre Behörden haben wir darüber nicht informiert, weil wir nicht wollten, dass überhaupt jemand in ihrem Land von der Existenz eines solchen Tools weiß. Wir haben das Tool über Airmail nach Germany geschickt, von dort aus sollte es von einem Kontaktmann abgeholt und zu einer Airbase gebracht werden. But it never happened.«

 

Collins machte eine Kunstpause und wartete auf Ruckerts Nachfrage.

 

»Was ist passiert?«

 

»Das Paket war weg. Die Post hatte es nicht mehr. Wir haben den Verantwortlichen auf der Poststelle gedroht. Verhör, Guantanamo, and so on. Aber niemand wusste etwas. Unser Kontaktmann ist ein Experte im Verhören. Ihm wäre es aufgefallen, wenn einer der Postbeamten gelogen hätte.«

 

Ein mulmiges Gefühl beschlich Ruckert. Er erinnerte sich daran, dass Kommissar Weidlich übergangsweise in einer Postannahmestelle gearbeitet hatte. War Weidlich womöglich auf die Art an das Tool gekommen, mit dem er sich und den Verdächtigen auf den Mond teleportiert hatte? Von diesen irren Gedanken bekam Ruckert Kopfschmerzen und so begann er, mit jeweils zwei Fingerspitzen seiner gut gebräunten Finger seine Schläfen zu massieren.

 

»Is everything okay?«, fragte Collins und Ruckert nickte kurz aber heftig.

 

Vorerst behielt er seine verrückte Theorie für sich, erst recht, weil er nicht wollte, dass seine Dienststelle in irgendeinen Zusammenhang mit dem Diebstahl eines streng geheimen, hochgradig gefährlichen Tools der CIA geriet.

 

»Okay. Meine Tochter hat auch oft Kopfschmerzen. Sie sagt immer: Daddy, du bist so doof. Sie weiß natürlich, dass ich nicht doof bin. Doofe Leute arbeiten nicht bei der CIA. Sie sagt das, wenn ich Pancakes anbrennen lasse oder einen Joke über ihren Freund mache, you know.«

 

Hauptkommissar Ruckerts Kopfschmerzen wurden angesichts dieses sinnlosen Gequatsches noch heftiger. Warum waren Amerikaner immer der Meinung, so viel quasseln zu müssen?

 

»Wollen Sie das Fenster aufmachen? Eine fresh breeze tut immer gut.«

 

Ohne die Antwort des Hauptkommissars abzuwarten, drückte Collins einen weiteren Knopf auf seiner endlos wirkenden Armatur und das Fenster zu Ruckerts Rechten fuhr herunter. Ein Geruch von Kuhmist und staubiger Wüste drang herein und tatsächlich half die Landluft gegen die Kopfschmerzen.

 

»Danke«, sagte Ruckert und rieb sich weiterhin die Schläfe.

 

Er hoffte, Collins würde nun die Lust auf eine einseitige Konversation verlieren, doch da hatte er falsch gehofft.

 

»Ich muss es wohl nicht noch einmal betonen, sie sind ein loyaler und verschwiegener Mann, das wurde mir versichert. Aber das Protokoll will es so. Sie dürfen über nichts sprechen, was sie heute sehen. Das Projekt ist top secret. Ich weiß, sie kennen es längst, but that’s the law.«

 

Ruckert nickte schwach und fragte sich, ob Collins absichtlich beide Sprachen durcheinander würfelte, oder ob er einfach nur ein miserables Deutsch sprach.

 

»Seien Sie versichert, Mr. Collins, dass ich diskret bleiben werde. Auch ich habe kein Interesse daran, dass dieser Besuch der Öffentlichkeit bekannt wird.«

 

Collins lächelte zufrieden und holte eine kleine weiße Pappschachtel unter dem Ledersitz hervor. Behutsam öffnete er den Deckel und präsentierte ein mit schaumigem Topping und bunten Streuseln verziertes Gebäck.

 

»Cupcake?«

 

»Nein danke, ich bin nicht so ein Süßer.«

 

»What? Hard to believe«, sagte Collins mit einer samtenen Stimme, die Hauptkommissar Ruckert nicht gefiel. War das hier ein Flirt oder eine supergeheime Mission international zusammenarbeitender Ermittlungsbeamter?

 

»Meine Frau hat die gebacken. Bitte, einen, sie war so gespannt darauf, was der deutsche Herr Hauptkommissar zu ihren Cupcakes sagen wird.«

 

Angewidert tatschte Ruckert in die Cupcakemasse und zog eine der mächtigen Kalorienbomben hervor. Im Bemühen, sich nicht das komplette Gesicht mit dem klebrigen Zeug vollzuschmieren, biss der Hauptkommissar vorsichtig in die Seite des Gebäcks. Der Brei schmeckte süß und schwer, wie teigiger Zucker, der Alptraum jedes Diabetikers.

 

»What do you say?«

 

Es schmeckte den Herrn Hauptkommissar, das musste er zugeben. Zwar war der Cupcake extrem süß, aber auch lecker. Allerdings blieb ein merkwürdig-säuerlicher Nachgeschmack zurück, den Ruckert sich nicht so recht erklären konnte. Vielleicht lag es am amerikanischen Mehl, das sein deutscher Gaumen nicht gewohnt war? Oder Collins Frau hatte einen Schuss Zitronensaft mit in den Teig hineingeträufelt?

 

»Es schmeckt wirklich g-g-g-gu ...«

 

Der Herr Hauptkommissar wollte höflich antworten, doch er brauchte einfach kein vernünftiges Wort mehr zustande. Alles um ihn herum verschwamm zu einer grauen Masse, ähnlich teigig wie der Cupcake und das letzte, was Ruckert hörte, bevor er in Ohnmacht fiel, war ein fern klingendes I have no choice des über ihn gebeugten Collins.

Kapitel 16

Hauptkommissar Ruckert kam nur langsam zu sich. Sein Mund war trocken und an seinem Gaumen klebte der Geschmack von billigem Raffinade-Zucker. Er schaute sich um und stellte fest, dass er sich in einem Raum befand, der von schlohweißem Licht aus Neonröhren an der Decke erhellt war. Neben ihm stand ein Mann im Kittel über einen Schreibtisch gebeugt. Ruckert hörte ein metallisches Klimpern und befürchtete, in einem Folterkeller des US-Militärs gelandet zu sein. Was hatte ihn hierher geführt? Welche neuen Erkenntnisse versprachen sich die Geheimdienste von ihm?

Wenn sie herausfinden wollten, ob ein 62-jähriger Deutscher mit chronischer Bewegungsfaulheit und einer Leidenschaft für Schichtnougat unter massiver Herzverfettung litt, dann hätten sie jeden anderen Mann in seinem Alter entführen können. Nein, es musste einen anderen Grund haben, weshalb er sich hier in diesem Bunker befand. Durch eine Glasscheibe konnte er eilig umherlaufende Soldaten erspähen.

 

»Wie geht es Ihnen, Mister Ruckert?«

 

Der Mann im weißen Kittel drehte sich um und lächelte.

 

»Sie meinen, abgesehen davon, dass ich hier eingesperrt bin?«

 

»Sie sind nicht eingesperrt, Mister Ruckert. Oder sehen Sie Fesseln an ihren Handgelenken?«

 

Der schneidig grinsende Arzt mit Schwarzrahmenbrille hatte recht – weder waren Ruckerts Hände noch seine Schienbeine gefesselt. Auch seinen Kopf konnte er frei bewegen. Was hier gespielt wurde, würde der Hauptkommissar schon noch herausfinden.

Der Arzt holte einen schmalen schwarzen Stift, der sich als Taschenlampe entpuppte, aus seiner Hemdtasche hervor und leuchtete Ruckert damit in die Augen.

 

»Sehr gut. Und jetzt schauen Sie bitte einmal nach links – ja, genau so, und nun ganz langsam nach rechts – great! Alles in Ordnung.«

 

Dr. Smythe, dessen Namen Ruckert auf einem Namensschildchen am Revers erkannte, löschte das Licht der Taschenlampe und setzte sich neben den irritiert dreinblickenden Hauptkommissar.

 

»Wo bin ich hier?«

 

»Auf einer Militärbasis. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid.«

 

Ruckert wollte sich empören, da flog die dunkelgrüne Tür auf und Major Collins stand mit strahlendem Lächeln in der Schwelle. Er hatte seinen schwarzen Anzug gegen eine mit Orden behangene, azurblaue Uniform getauscht. Ein rotes Barett steckte zusammengefaltet in der linken Schulterklappe.

 

»Mister Ruckert, es geht Ihnen gut! Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, aber wir mussten Sie betäuben. Dieser Ort« - er deutete durch die Scheibe auf die eilig umher laufenden Soldaten – »dieser Ort ist streng geheim. Sie dürfen sich geehrt fühlen, als einer der wenigen Menschen auf der Welt hier zu sein.«

 

»Geehrt?«, platzte es aus Ruckert heraus. »Sie haben mich ins Koma gebracht und ich soll mich geehrt fühlen?«

 

»Bitte beruhigen Sie sich, Herr Hauptkommissar. Diese Vorsichtsmaßnahme ist Bestandteil eines Katalogs der CIA. Natürlich weiß ich, dass Sie ein diskreter Mann sind und unseren Feinden nie verraten würden, wie sie an diesen Ort gelangen.«

Collins trat näher an Ruckert heran und setzte sich neben ihn.

 

»Aber nun stellen Sie sich vor, Gott bewahre, Sie werden gefangen genommen, by our enemies. Und sie werden verhört. Glauben Sie mir, irgendwann werden Sie denen alles sagen, was die wissen wollen. Und dieses Risiko kann die amerikanische Regierung nicht eingehen.«

 

»Bin ich jetzt Ihr Gefangener?«

 

»Aber bitte, Herr Hauptkommissar. Natürlich ist es Ihnen freigestellt, diese Basis zu verlassen, wann immer Sie wollen. Sie arbeiten freiwillig mit uns zusammen.«

 

»Bekomme ich dann wieder einen Ihrer tollen Knock-Out-Cupcakes?«

 

»Keine Sorge, von der Basis aus können wir Sie teleportieren. Sie benötigen also keinen Rückflug mehr – es sei denn, sie wollen nochmal die Bord-Lasagne im Flugzeug genießen.«

 

»Nein, ganz sicher nicht«, sagte Ruckert und schüttelte den Kopf. Langsam aber sicher kehrten die Kräfte in seinen Körper zurück.

 

»Awesome. Dr. Smythe wird sie noch ein paar Minuten hierbehalten, um sicherzugehen, dass Sie ok sind. Wenn Sie sich gut genug fühlen, kommen Sie einfach zu mir. Sie finden mich an der Dekontaminationsstation, Level C, Block A. Dr. Smythe wird Ihnen den Weg erklären.«

 

Der Doktor nickte freundlich und holte sein Stethoskop aus einer Schreibtischschublade. Dann bat er den noch angesäuerten Hauptkommissar, sein Hemd aufzuknöpfen. Der gehorchte widerwillig und erschrak leicht ob der Kühle des an seine Brust gedrückten Metalls. Doktor Smythe hüpfte mit dem Ende des Stethoskops von Stelle zu Stelle, dann lächelte er zufrieden.

 

»Wie gesagt, alles okay. Möchten Sie ein Glas Wasser, Sir?«

 

»Ein starker Kaffee wäre mir lieber.«

 

Dr. Smythe lächelte.

 

»Das kann ich verstehen, aber glauben Sie mir – der Kaffee hier unten schmeckt fürchterlich. Wir haben hier nur die billigen Automaten. Aber ich kann Ihnen eine Koffeintablette geben, na, wie klingt das?«

 

Ruckert nickte und der Doktor kramte ein Schächtelchen aus der Tischschublade hervor, das er dem noch immer betäubten Hauptkommissar in die Hand drückte.

 

»Sie können es behalten, ich habe einen unendlichen Vorrat von diesen Dingern.«

 

Ohne zu antworten, knöpfte Ruckert sich sein Hemd wieder zu. Dann nahm er einen kräftigen Schluck Wasser aus einem Pappbecher, den ihm Dr. Smythe Sekunden zuvor gereicht hatte, und spülte eine der trockenen Tabletten herunter. Sie schmeckte wie Kommissar Weidlich unter den Achseln.

 

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Sie hinmüssen.«

 

Dr. Smythe wollte den schwächelnden Hauptkommissar unter den Armen packen, doch der hatte sich dank des Koffein-Schocks erholt und sprang auf wie ein Ampelmännchen.

 

»Ja! Na los, doch! Hurtig!«

 

Ruckert konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt das Wort hurtig verwendet hatte. Doch er war aufgedreht, euphorisiert, kein gesetzter Beamter mehr, sondern eine Kampfmaschine, der man besser nicht dumm kam.

 

»Your wish is my command«, sagte Dr. Smythe, der die Nervosität seines deutschen Patienten wahrnahm und vorsorglich eine Spritze, gefüllt mit einem neuen starken Benzodiazepin und einen dunklen, metallenen Gegenstand in seiner Hosentasche versteckte.

 

Dr. Smythe öffnete die Tür und lief voraus, Ruckert hinter ihm. Er hatte Mühe, den stämmigen Soldaten mit ihrem festen Schritt auszuweichen. Eilig ließ er seinen Blick schweifen und entdeckte Hebebühnen, auf denen martialische Gefährte von darunter operierenden, an Geburtshelfer erinnernden Mechaniker kauerten und Schrauben festzogen. Ein mit goldenen Sternen auf den Schultern bespickter General kreuzte ihren Weg und Dr. Smythe salutierte ehrfürchtig.

Ruckert hielt es für klug, es ihm gleich zu tun, und zog seine flache Hand an die Stirn. Der General warf einen kurzen Blick auf die beiden exotischen Vögel, der eine in Arztkluft, der andere mit bis zur Brusthöhe aufgeknöpftem Hemd, blass, schwitzend und mit geweiteten Pupillen.

 

»Who are you?«, fragte er Ruckert in schneidigem Ton. Seine dunklen Lippen zitterten.

 

»A friend from Major Collins.«

 

»Major Collins?«

 

Der General kniff die olivschwarzen Augen zusammen und scannte jeden zuckenden Gesichtsmuskel seines deutschen Gegenübers.

 

»Who the fuck is Major Collins?«

 

Dr. Symthe stellte sich zwischen den General und Ruckert, dessen Augen funkelten wie Edelsteine auf einer Esoterikmesse. Dr. Smythe flüsterte ein paar Worte in das handtellergroße Ohr des Generals, der anschließend auflachte.

 

»So, that’s the guy?«, fragte der bullige Befehlshaber.

 

Dr. Smythe grinste.

 

»Okay, Sie können durch, mein deutscher Herr«, sagte der General in ernstem Ton zu Hauptkommissar Ruckert, doch dieser hatte das Gefühl, gerade mächtig verarscht zu werden.

 

Nichtsdestotrotz wusste er, dass er sich auf einer streng geheimen US-Basis befand und jeder Fehltritt sein letzter sein konnte. Wie gern hätte er Uncle Sam jetzt einen deftigen Tritt in die Nüsse gegeben!

Dr. Smythe schaute nervös zwischen dem General und seinem deutschen Gast hin und her. Er hatte Antennen für Spannung und gerade schlugen diese heftig aus.

 

»Mr. Ruckert, hier entlang«, sagte er und winkte mit seiner Hand in der Hoffnung, die unangenehme Bewegung auflösen zu können. Ruckert gehorchte und ging am General vorbei, der wie zur Salzsäule erstarrt im Weg stehen blieb.

 

»Der Vater des Generals hat Söhne im Zweiten Weltkrieg verloren. Nichts für ungut, Herr Ruckert, aber der General hat ein ziemliches Problem mit Deutschen.«

 

»Sein Verlust tut mir leid, aber was kann ich dafür? Ich habe nicht in diesem Krieg gekämpft. Und ich heiße ihn auch nicht gut.«

 

»Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, manche Amerikaner glauben, dass die Deutschen – nichts für ungut – eine genetische Kriegslust haben.«

 

»Das ist rassistisch!«, empörte sich der Hauptkommissar.

 

»Ja, das ist es in der Tat«, stimmte Dr. Smythe zu, während er eine Plastikkarte durch einen neben einer Panzerglastür befindlichen Schlitz zog und sein Gesicht im Anschluss an einen Retina-Scanner presste.

 

»Ich glaube auch nicht daran, schließlich kommt niemand auf die Welt, um Krieg zu führen. Naja, manche vielleicht.«

 

»Wen meinen Sie?«

 

»Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot, Mugabe, Franco ...«

 

Dr. Smythe wollte die Liste mordlüsterner Diktatoren noch weiterführen, doch Ruckert unterbrach ihn.

 

»Jaja, schon gut, ich habe es verstanden. Aber glauben Sie allen Ernstes, diese Leute haben ein Kriegs-Gen?«

 

»Nein. Aber wir entwickeln gerade eins«, sagte Dr. Smythe und lachte, dass es Ruckert eiskalt den Rücken herunter lief.

 

»Das war ein Scherz, Mister Ruckert.«

 

Ruckert antwortete nicht. Er misstraute Dr. Smythe, der von einer Sekunde auf die andere von todernst auf zynisch-heiter schalten konnte.

 

»Kommen Sie, wir sind gleich da.«

 

Ruckert und Dr. Smythe liefen einen schmalen, kopfhohen Gang entlang, niemand kreuzte ihren Weg. An der Decke waren schwarze Augen befestigt, Rundhalskameras, die jeden Eindringling scannten.

 

»Dieser Bereich ist very secure. Hier dürfen nur wenige Leute hin«, flüsterte Dr. Smythe, als könnten die Kameras mithören, was sie wahrscheinlich auch taten.

 

»Sie können sich geehrt fühlen.«

 

Warum sagten alle Leute zu Ruckert, dass er sich geehrt fühlen konnte? Er hatte einen wirklich ätzenden Langstreckenflug hinter sich, mit einer widerlichen Lasagne, stinkenden Passagieren und im Anschluss gab es fetttriefende Cupcakes, von denen er ohnmächtig wurde, damit er auf eine geheime Militärbasis verschleppt werden konnte. Wie zur Hölle sollte er sich da geehrt fühlen?

Sie gelangten an einen mit Stahlgittern versperrten Aufzug. Dr. Smythe hielt sein Gesicht in einen weiteren Retinascanner, während er zeitgleich seinen Namen sagte. Ruckert vermutete eine Stimmerkennungskontrolle hinter dieser seltsam anmutenden Maßnahme. Eine rote Warnleuchte sprang an, die zwei gleichförmige, kreisende Lichtkegel im Raum rotieren ließ. Eine neben dem Fahrstuhl gelegene Tür öffnete sich und zwei Marines in Uniform, stämmig, doch mit intelligenten Augen, traten hervor.

 

»Dr. Smythe, schön Sie zu sehen«, sagte einer von ihnen in klarem, beinahe schon britisch klingendem Englisch.

 

»Danke, ich freue mich auch, Sie zu sehen. Wie geht’s den Kindern, Lou?«

 

»Gut. Mein Großer will Soldat werden, hat er gestern Abend gesagt.«

 

Marine Lou strahlte stolz bis über beide Ohren.

 

»Na, dann passen Sie mal besser auf, dass er es nicht wird, sonst landet er irgendwann hier«, sagte Ruckert, der sich einen flapsigen Spruch angesichts der skurrilen Situation einfach nicht verkneifen konnte. Lou blickte unverständig und wechselte sogleich in seine Verhör-Stimmlage.

 

»Dr. Smythe, es ist nicht gestattet, Fremde mit auf Level C zu nehmen.«

 

»Aber mein lieber Lou – der Mann zu meiner Linken ist ein angesehener Hauptkommissar aus Deutschland. Major Collins hat ihn persönlich eingeladen.«

 

»Wer ist Major Collins?«

 

»Sie kennen Major Collins nicht? Lou, also da bin ich doch sehr enttäuscht. Major Collins leitet Project Placement.«

 

»Davon habe ich nie gehört.«

 

»Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, Lou, aber ich fürchte, das ist nicht Ihre Sicherheitsstufe.«

 

»Augenblick, ich muss das überprüfen.«

 

»Natürlich, mein Lieber, sie leisten wirklich gute Arbeit«, sagte Dr. Smythe verständnisvoll.

 

Marine Lou machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Überwachungsraum. Dr. Smythe lächelte kalt und holte unter seinem Kittel einen schwarzen, kantigen Gegenstand hervor. Diesmal war es keine Taschenlampe. Ruckert wollte aufschreien, doch da hatte er bereits den Lauf des länglichen Gegenstandes an der Schläfe.

 

»Sie halten schön die Klappe, oder Sie sind als nächster dran«, flüsterte Dr. Smythe.

 

Dann schlich er zur offen stehenden Bürotür. Von drinnen erklangen dumpfe Stimmen. Dann hörte Hauptkommissar Ruckert gedämpfte Schüsse und sah für zwei kurze Augenblicke das Mündungsfeuer aufleuchten. Nun herrschte Stille vor dem Aufzug, der inzwischen auf ihrer Etage angelangt war und dröhnend in seiner metallenen Halterung versackte.

 

»So, Freundchen, wir machen jetzt einen kleinen Ausflug in Level C«, sagte Dr. Smythe, der nun einen irren Ausdruck im Gesicht hatte.

Kapitel 17

Als Null erwachte, unter ihm kalter, glatter Stahl, da wusste er, dass das hier kein Traum war. Nicht einmal ein Alptraum, denn der hätte nicht annähernd so grotesk sein können wie die Realität. Eine solch hanebüchene Geschichte, ein psychotischer Kommissar, der sich zusammen mit ihm auf den Mond teleportierte, um ihm einen Elektroschock zu verpassen, hätte sein Fantasievermögen bei Weitem überstiegen.

Null versuchte, sich zu bewegen, doch er war gefesselt. Dicke Striemen waren um seine Handgelenke und die Knöchel gewickelt.

 

»Hallo? Haaaallooo? Ist irgendjemand hier?«, rief er fragend ins hallende Nichts.

 

Was war das schon wieder für ein Scheiß? Null wandte sich wie ein unter dem Brennglas sadistischer Grundschüler gefangener Wurm, doch die Fesseln gaben keinen Millimeter nach.

 

»Weidlich? Sind Sie hier irgendwo?«

 

Lediglich sein Echo gab Null eine schwache, widerhallende Antwort. Dann hörte er ein Pfeifen, beschwingt und heiter, wie ein übergewichtiger Familienvater Ende Fünfzig sie auf der Kirmes nach dem dritten Bockbier vor sich hin trällern würde.

 

»Weidlich?«, fragte Null in die verschluckende Einsamkeit.

 

Vielleicht, so dachte er, träumte er ja doch. Vielleicht hatte seine Fantasie sich im Laufe der Zeit sehr viel weiter entwickelt, als ihm bewusst war. Er hatte täglich Sudokus gelöst, das Online-Quiz der ZEIT mitgemacht und Bilderrätsel in der GEO gelöst.

 

Kommissar Weidlich trat herein. Null erkannte ihn anhand seiner kürbisartigen Umrisse.

 

»Schön, ist unser Mimöschen aus seinem Dornröschen-Schlaf erwacht, ja?«, witzelte der Kommissar.

 

»Was haben Sie getan, Sie krankes Schwein? Lassen Sie mich augenblicklich frei!«

 

Kommissar Weidlich lächelte und holte den Taser aus seiner Tasche, mit dem er Null wenige Stunden zuvor betäubt hatte. Er hielt ihn dicht vor Nulls Gesicht.

 

»Benimm dich besser. Ansonsten wird das hier ein sehr, sehr unangenehmer extraterrestrischer Aufenthalt für dich.«

 

Null keuchte. Die letzten Stunden hatten ihm sämtliche Kräfte geraubt.

 

»Wo bin ich hier?«

 

»Na auf dem Mond natürlich, wo sonst?«

 

Null schüttelte den Kopf. Er wollte und konnte einfach nicht glauben, was mit ihm geschah.

 

»Sie sagen das, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt!«

 

»Das ist es nicht«, antwortete Kommissar Weidlich. »Denn wir sind nicht auf der Erde. Wir sind wie gesagt auf dem Mond. Und da ist nichts selbstverständlich!«

 

Kommissar Weidlich wäre ein klasse Wortakrobat geworden, aber nun war er eben Kommissar und das war auch gut so.

 

»Ich weiß«, sagte Null mit leiser Stimme. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. »Herr Kommissar, lassen Sie mich gehen. Bitte.«

 

»Mein Lieber, ich will doch nur das Beste für dich«, sagte er und fummelte an einem Plastikbeutel herum.

 

»Weißt du, Null, wenn ich meine Arbeit nicht gründlich mache« - der Plastikbeutel öffnete sich mit einem lauten Ratschen – »dann habe ich nichts. Ich meine, wirklich nichts. Das habe ich noch niemandem erzählt, aber so ist es nun einmal.«

 

»Sie haben nichts? Das kann ich mir nicht vorstellen, Herr Kommissar«, versuchte Null einzulenken.

 

Vorerst würde er es mit Schmeicheleien versuchen, das machte Psychopathen laut einer Doku, die er gesehen hatte, selbstgefällig und unvorsichtig.

 

»Es ist aber so, mein lieber Null. Kämpfer für die Gerechtigkeit sind immer einsam. Hast du einmal Geschichten aus 1001 Nacht gelesen?«

 

Null wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und so behielt er seine Gedanken lieber für sich. Sie pendelten irgendwo zwischen Was für ein bemitleidenswerter Idiot hin zu Du musst ihn töten. In der Mitte des Pendels lauerte der leidenschaftliche Wunsch nach Flucht. Verdammt, es musste doch einen Weg hier raus geben!

 

»Ja, ich meine, meine Mutter hat mir Geschichten daraus vorgelesen.«

 

»Ihre Mutter, interessant«, sagte der Kommissar und räusperte sich. »Was wissen Sie noch über ihre Mutter?«

 

»Sie war Sekretärin. Ist mit Ende 50 an Krebs gestorben. Es war schwer, für unsere Familie, wir haben ...«

 

Null wollte weitersprechen, konnte es aber nicht. So sehr er sich bemühte, die Erinnerungen an diese schwierige Zeit wollten nicht zurückkehren.

 

»Stimmt etwas nicht? «

 

»Ich weiß nicht. Ich erinnere mich kaum an diese Zeit.«

 

»Seltsam, seltsam, oder?«, konstatierte der Kommissar. »Dass du dich nicht daran erinnern kannst, mein lieber Null. Ich würde dir ja gern erklären, warum das so ist. Aber du würdest es mir einfach nicht glauben, weißt du? Du würdest denken, der liebe, gutmütige Herr Kommissar Weidlich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Deswegen werde ich gar nicht erst versuchen, dir die ganze Wahrheit zu erklären. Ich werde etwas viel, viel Besseres tun.«

 

»Und was soll da sein?«, fragte Null.

 

»Ich werde dein Leben retten«, antwortete Weidlich, ohne seine Miene zu verziehen.

Kapitel 18

Dr. Smythe drückte das noch warme Ende des Schalldämpfers in Ruckerts Rücken. Seine andere Hand hatte den Hauptkommissar fest an der Schulter gepackt.

 

»Los, rein da!«, rief er in barschem Ton und schubste Ruckert auf die quadratische Plattform des Fahrstuhls. Dr. Smythe folgte sogleich und drückte eine große rote Taste. Wieder sprang das Warnlicht an und der fragil erscheinende Fahrstuhl fuhr hinunter.

 

»Also, es läuft folgendermaßen – Sie tun, was ich sage, und niemand wird verletzt.«

 

»Niemand wird verletzt? Sie haben gerade zwei Menschen getötet. Familienväter!«

 

»Ach, die waren Marines, die wussten, worauf sie sich einlassen. Und nur Lou war Familienvater, sein Sohn ist ein unerzogenes Balg, den müssten Sie mal erleben! Richard hatte keine Kinder, der war einfach nur einsam. Und was gibt es Schöneres für einen einsamen Menschen, als schnell und unvermittelt abzutreten, hm?«

 

Dr. Smythe lachte dreckig, doch der Hauptkommissar wollte diese ungeheuerlichen Behauptungen nicht einfach im Raum bzw. im Fahrstuhl stehen lassen.

 

»Sie wollen mir weismachen, dass einsame Menschen den Tod verdient haben? Und dass Sie entscheiden, wer leben und wer sterben darf? Sie sind wahnsinnig!«

 

Dr. Smythe lachte nun noch heftiger.

 

»Nein, mein Guter, wahnsinnig bin ich nicht. Ich bin ein Genie, und ich weiß, dass das nah beieinander liegt, aber ich habe wirklich Unglaubliches erreicht! Weit mehr als Ihnen klar ist, Sie kleiner Beamtenwurm!«

 

»Major Collins wird sich von Ihnen nicht einschüchtern lassen!«, entgegnete Ruckert wütend. Ja, dieser aufrechte Diener Amerikas würde dem größenwahnsinnigen Smythe gehörig den Marsch blasen.

 

»Major Collins, hahaha, mein Guter, das ist es, was ich meinte. Ich habe Major Collins erschaffen. Major Collins existiert nicht, er ist nicht real.«

 

»Wie meinen Sie das?«, fragte Ruckert. Er spürte, wie die aufputschende Wirkung der Koffeintablette nachließ.

 

»Na schön, Sie haben eine Erklärung verdient. Also fange ich mal mit dem an, was real ist. Spüren Sie die Knarre in Ihrem Rücken? Also die ist verdammt real, das kann ich Ihnen versprechen. Und mein Finger am Abzug, der ist auch verdammt real, wie Sie gesehen haben. Also drehen Sie mir bloß nicht durch. Major Collins ist das, was ich ein Meat Hologramm nenne.«

 

»Meat Hologramm?«

 

»Unterbrechen Sie das Genie nicht, wenn es spricht!«, wetterte Dr. Smythe. »Ein Meat Hologramm ist eine künstliche Projektion, die täuschend echt wirkt. Man kann sie berühren, mit ihr sprechen, man kann sogar mit ihr Sex haben, verdammt, ich habe es ausprobiert.«

 

Hauptkommissar Ruckert versuchte, die in ihm aufwallenden Bilder eines nackten, keuchenden Dr. Smythe zurück in sein Unterbewusstsein zu pressen.

 

»Sie sind meine Erfindung, die Meat Hologramme, meine allein!«

 

»Sie wollen mir also sagen, dass Major Collins nur ein Hologramm ist? Und wer hat mir dann die Cupcakes gegeben?«

 

»Hören Sie mir überhaupt zu? Natürlich hat Major Collins Ihnen die Cupcakes gegeben, er ist eine fleischliche Hülle, so wie Frankenstein, nur bedeutend intelligenter. Diese Fleisch-Hologramme sind uns Menschen täuschend ähnlich, zum Verwechseln! Und ich habe diesen Major Collins, wie ich ihn getauft habe, auf Sie angesetzt. Ihn und seine Gorillas. Zugegeben, die Gorillas sind etwas dümmlich geraten, das ist Ihnen sicherlich auch aufgefallen. Aber naja, was ist schon perfekt abgesehen von mir?«

 

Dr. Smythe lachte laut auf.

 

»Aber, aber – warum?«

 

»Na endlich! Ich dachte schon, Sie fragen nie.«

 

Ruckert schüttelte den Kopf. Er konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln, angesichts der wirren Gedanken, die durch seinen Kopf schossen.

 

»Mal ehrlich, Major Collins war ein ganz schöner Klischee-Ami. Aber das gefällt euch Europäern ja – strahlend, patriotisch, militaristisch und natürlich mit einer gehörigen Portion Familiensinn. Major Collins war der perfekte Prototyp.«

 

»WARUM?«, fragte Ruckert aufgebracht. »Sagen Sie mir endlich, weshalb Sie mich hier gefangen halten!«

 

Dr. Smythe atmete tief ein, sein Lachen war einer ernsten Miene gewichen.

 

»Sie sind wertvoller als Sie ahnen. Sie und Weidlich sind Anomalien. Das Placement Project – es funktioniert bisher nur bei ihnen beiden.«

 

»Sie meinen...«

 

»Ja. Bisher wart ihr die einzigen Menschen, bei denen der Teleport auf den Mond geklappt hat.«

 

»Ich war doch nur in einer Simulation, man sagte mir, ich sei nicht wirklich gereist.«

 

»Das war ein Vorwand, damit Sie glauben, das Projekt würde nicht funktionieren.«

 

Hauptkommissar Ruckerts schlimmster Verdacht hatte sich bestätigt. Sein zwielichtiger Kollege, Kommissar Weidlich, spazierte just in diesem Moment auf dem Mond herum. Moment - was war denn mit dem Verdächtigen? Der war schließlich auch dabei!

 

»Der Kommissar ist aber nicht allein auf dem Mond. Er hat jemanden bei sich.«

 

»Ich weiß«, sagte Dr. Smythe und grinste.

 

»Sie wissen das? Woher wollen Sie das wissen?«

 

»Na was glauben Sie denn, wer diesen ‚Verdächtigen‘ erschaffen hat?«

 

»Sie etwa? Der Verdächtige ist nicht echt?«

 

»Überlegen Sie mal – der ‚Verdächtige‘, wie Sie ihn nennen, hatte keinerlei Personaldokumente bei sich, richtig?«

 

Der Hauptkommissar überlegte und antwortete: »Ich weiß es nicht. Weidlich hatte ihn verhört.«

 

»Und niemand wusste, woher der Typ kam und was er angestellt hatte, oder?«

 

»Ich glaube nicht.«

 

»Nun, ich wusste natürlich, dass ich mich auf Kommissar Weidlichs Gespür verlassen konnte. Für alle anderen wäre dieses Fleisch gewordenen Hologramm nur irgendein harmlos wirkender Mensch gewesen, der im endlosen Strom von Alltagsgesichtern vorbei zieht. Aber Kommissar Weidlich, der hat einen Blick für die schrägen Typen. Der erkennt eine kriminelle Absicht an der Nasenspitze.«

 

»Aber wie haben Sie ...«

 

»Alles zu seiner Zeit, mein Guter. Wir sind da«, frohlockte Dr. Smythe und der Fahrstuhl kam zum Stehen.

 

Ruckert wusste nicht genau, wie tief sie eigentlich gefahren waren, doch die Luft war schwer und kühl und er fühlte sich dem Mittelpunkt der Erde ein beängstigendes Stück näher. Der vor ihnen liegende Gang wirkte beklemmend eng und nur ein paar flackernde Neonröhren erleuchteten die behäbigen Steinplatten, die einen Einsturz des umliegenden Gesteins verhindern sollten.

 

»Nach Ihnen«, sagte Dr. Smythe und streckte den Arm in Richtung Gang.

 

Hauptkommissar Ruckert lief los, was hätte er auch anderes tun sollen, und dachte über eine gute Strategie nach, um den verrückten Wissenschaftler unschädlich zu machen. Vorerst würde er es mit Schmeicheleien versuchen, das machte Psychopathen selbstgefällig und unvorsichtig, wie er in einer Doku gesehen hatte.

 

»Unglaublich, was Sie hier aufgebaut haben, das muss ich schon sagen.«

 

»Glauben Sie es besser. Das verkackte Verteidigungsministerium will das Projekt nämlich einstampfen. Mein Baby! Es wäre nicht zweckdienlich, haben Sie gesagt. Es ist unethisch, haben Sie gesagt. Vielleicht funktioniert es nicht für ihre Zwecke, das glaube ich gern. Es waren viele Optionen im Gespräch. Ursprünglich sollte die Basis eine Art Ersatz-Guantanamo werden. Der Präsident brauchte gute Publicity und Geheimgefängnisse sind nicht mehr so geheim wie in den guten alten Zeiten. Überall sind die Schnüffler, die Journalisten, die Ratten!«

 

Ruckert schoss nur ein Gedanke durch den Kopf: Dieser Kerl ist wahnsinnig! Er musste einen Weg finden, diesen Irren zu stoppen.

 

»Doch als sie merkten, dass wir nicht jeden auf den Mond teleportieren können und glauben Sie mir, wir haben es mit den unterschiedlichsten Testsubjekten probiert, da wurde das Projekt eingestellt. Einfach so, Schluss, aus, Mickey Mouse.«

 

»Aber Sie wollen das Projekt nicht stoppen.«

 

»Exactly. Zehn Jahre habe ich daran gearbeitet, zehn lange Jahre! Und dann sagt die Regierung, dass das Projekt gestoppt wird? No way!«

 

Dr. Smythe verfiel in seine englische Muttersprache, wenn er sich aufregte. Auf eine krude Art fand Hauptkommissar Ruckert diese Eigenschaft sympathisch. Auch er fiel in Verhören öfter in seinen schwäbischen Dialekt, als ihm lieb war.

 

»Ich habe immer noch nicht verstanden, was Sie von mir wollen.«

 

»Das können Sie nicht verstehen, Sie sind nur ein kleiner, unbedeutender, geistig beschränkter Bürokrat. Sie sitzen an Ihrem Schreibtisch und hören sich Zeugenaussagen an. Und ich bin sicher, Sie überlassen den Streifendienst Ihren Untergebenen.«

 

»Ganz so einfach ist es nicht, ich ...«

 

»Halten Sie den Mund!«, fuhr ihm Dr. Smythe dazwischen. »Mir brauchen Sie nichts vormachen, Ruckert. Ich kenne Typen wie Sie - Couchpotatoes, die Genialität nicht sehen, selbst wenn sie direkt vor ihnen steht. Ja, Sie wären einer dieser Typen, die kopfnickend, Kaffee schlürfend und die blaue Seidenkrawatte zurechtzupfend im Weißen Haus das Ende von Project Placement beschließen.«

 

Dr. Smythe und Ruckert hatten das Ende des Ganges erreicht. Drei dicke Panzertüren lagen vor ihnen, deren Sicherheitssysteme Dr. Smythe spielend überwand. Bei der ersten Schleuse musste er einen langen Zahlencode eingeben, die zweite war durch einen Retina-Scanner gesichert und für die letzte Tür brauchte er einen passenden Schlüssel, den er in einer versteckten Öffnung in der Wand platzierte und drehte. Dahinter stand Major Samuel Collins, stramm, in hochdekorierter marineblauer Uniform, vor ihnen. Er salutierte, doch begann im nächsten Moment wie ein unscharfes Fernsehbild zu flimmern, bis er schlussendlich komplett verschwand.

Kapitel 19

»Sehen Sie, das Problem mit den Hologrammen ist, dass sie irgendwann verschwinden. So echt sie auch wirken mögen, so greifbar sie auch zu sein scheinen, letztendlich bleiben sie Hologramme«, kommentierte Dr. Smythe das plötzliche Verschwinden von Major Collins.

 

»Acht Tage hat der Gute durchgehalten. Das Maximum, was wir bisher erreicht haben waren zehn. Den Major wird es noch eine Zeitlang geben, aber bald wird er gänzlich verschwunden sein.«

 

Dr. Smythe fuhr mit seiner freien Hand an der Stelle durch die Luft, an der Collins gestanden hatte. Als wolle er dessen Geist fangen.

 

»Haben diese – Dinger – ein Bewusstsein?«

 

»Sie glauben, dass sie eins haben. Und das genügt. Sie glauben, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Aber sie sind sich nicht dessen bewusst, dass sie Hologramme sind.«

 

»Wenn Sie nicht so irre wären, wäre ich beeindruckt«, sagte Ruckert.

 

»Oh, Sie dürfen beeindruckt sein, Herr Hauptkommissar. Ich bin nicht irre, ich bin nur ein Mann mit Visionen. Ich werde den Fehler in Project Placement finden, seien Sie versichert. Und dann kann jeder Mensch auf den Mond reisen, wenn er es möchte.«

 

»Warum sollten die Menschen das tun? Auf dem Mond gibt es doch nichts.«

 

Dr. Smythe lächelte.

 

»Es gibt auf dem Mond weitaus mehr, als Sie denken, Ruckert.«

 

Dr. Smythe lief, die Waffe weiterhin dicht an den Rücken des Hauptkommissars gepresst, den eng verwinkelten Gang entlang. Keine Menschenseele begegnete ihnen.

 

»Warum ist hier niemand?«

 

»Dieser Teil der Basis wurde offiziell still gelegt. Es ist sowas wie mein eigenes kleines Paradies. Hier unten kann ich ungestört forschen und arbeiten. Und Probleme lösen, falls welche auftreten sollten.«

 

Beim letzten Satz drückte Dr. Smythe die Waffe noch ein Stück kräftiger in die kleine Kuhle in Ruckerts Rücken, die der Schalldämpfer bereits geformt hatte.

 

»Schon gut, ich werde keine Schwierigkeiten machen.«

 

»Das ist auch besser so. Wir zwei haben schließlich noch eine hübsche Reise vor uns.«

 

Dr. Smythe und Ruckert gelangten in einen kreisrunden Raum mit hochgeschlossener Kuppel. In der Mitte erhob sich eine leuchtende Plattform vom dunklen Boden. Ein paar Meter neben der Plattform befand sich ein Arbeitsplatz mit mehreren Stühlen und Tischen, umringt von mannshohen silbergrauen Servern.

 

»Stellen Sie sich in die Mitte.«

 

Dr. Smythe deutete auf die Plattform.

 

»Werde ich sterben?«

 

»Das ist eine Sache der Auslegung. Einige würden sagen, ja. Ich aber sage, was spielt das für eine Rolle? Sie werden haargenau wieder so zusammengesetzt, wie sie vor dem Teleport waren. Mit allen Molekülen, Elektronen, Protonen und Macken – sogar ihr Arschloch wird dasselbe sein«, feixte Dr. Smythe, doch Hauptkommissar Ruckert war nicht nach Lachen zumute.

 

»Also werde ich sterben«, sagte er.

 

»Sie werden sterben, wenn Sie nicht genau das tun, was ich sage. Und zwar durch dieses kleine Wunderwerk der Mechanik.«

 

Dr. Smythe hielt die Pistole mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer in die Höhe.

 

»Schon gut, schon gut. Also da hin?« Ruckert deutete auf die freie, leuchtende Fläche in der Mitte des Raumes.

 

»Jetzt verstehen wir uns.«

 

Hauptkommissar Ruckert stellte sich in die Mitte der extraterrestrisch anmutenden Plattform und suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, zu fliehen. Notfalls würde er auch den irren Dr. Smythe überwältigen, doch weder erspähte er einen Gegenstand, an den er gelangen und mit dem er dem Dr. eins überziehen konnte, noch sah er eine Tür, die nah genug war, um zu entkommen. Plötzlich setzte ein schweres Dröhnen ein, ein gewaltsames Geräusch. Etwas Derartiges hatte Ruckert noch nie zuvor in seinem Leben gehört.

 

»Was ist das?«

 

»Die Maschine startet«, antwortete Dr. Smythe, ohne von seinem Laptop, den er aufgeklappt und an einen der Server gestöpselt hatte, aufzublicken.

Vor sich sah Ruckert große, kreisrunde Metallschienen auf und abgleiten, erst langsam, dann immer schneller.

 

»Was ist das für eine Scheiße?«, fragte er mit hysterischer Stimme.

 

Dr. Smythe lachte dreckig und sagte: »Gleich werden Sie auf dem Mond sein, mein lieber Hauptkommissar Ruckert. Aber keine Sorge, Sie brauchen mir keine Ansichtskarte schreiben, ich komme hinterher. Laufen Sie mir nur nicht weg!«

 

Ruckert hörte ein unerträgliches Fiepen und wurde von endloser Schwärze verschluckt.

Kapitel 20

»Finden Sie erst einmal jemanden, der sich so wieder aufrappelt, wie ich es tue!«

 

- Kommissar Weidlich

 

Kommissar Weidlich hatte Null seine verletzliche Seite gezeigt. Er wusste, dass Null eine künstliche Schöpfung war, und das war der eigentliche Grund, weshalb Weidlich ihm diesen und keinen anderen Spitznamen gegeben hatte. Der Kommissar kannte seinen eigenen Hang zur Empathie und wollte sich mit dem Namen »Null« immer wieder in Erinnerung rufen, dass er es hier nicht mit einem realen Menschen zu tun hatte.

Damals, als Weidlich an der Postannahmestelle dieses vielsagende Päckchen in die Hände fiel, da wusste er, dass er etwas Großes, etwas Weltbewegendes entdeckt hatte. Der Kommissar war von Natur aus neugierig und so konnte er gar nicht anders, als sich mit dem hochinteressanten Päckchen in den nahegelegenen Ruheraum zu verdrücken. Im Päckchen fand er eine Art Dildo mit Knopf vor, es war genau genommen kein Dildo, sondern ein mobiler Schnellteleporter, aber das wusste der Kommissar zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht. Zumindest war er schlau genug, nicht auf den Knopf zu drücken, schließlich hätte es ja auch der drahtlose Zünder einer Bombe sein können und dann wollte der Kommissar nicht verantwortlich für den Tod anderer Menschen sein, auch wenn ihm die meisten anderen Menschen schnurzpiepegal waren.

Der Kommissar wusste natürlich sofort, dass es sich um etwas ganz Großes handelte. Das beiliegende Dossier war verschweißt und da Weidlichs Englisch so grob wie ein ausgeleiertes Fischereinetz war, widerstand er anfangs der Versuchung, darin zu lesen. Drei Tage lag das Dossiers zusammen mit dem elektronischen Dildo versteckt unter dem Bett der Weidlichs. Der Kommissar hoffte inständig, seine Frau würde in einsamen Momenten nicht auf dumme Gedanken kommen und das Teil zweckentfremden.

Sexuell lief es nicht mehr optimal zwischen den Weidlichs, oder wie der Kommissar es auszudrücken pflegte: Das Kätzchen schnurrte nicht mehr. Deutlich mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm jedoch die Frage, was genau es mit diesem merkwürdigen, dildoesken Gegenstand auf sich hatte. Handelte es sich um eine neue Waffe? Einen geheimen Prototypen?

Am dritten Tag, nachdem Weidlich das Päckchen hatte verschwinden lassen, geschah etwas Seltsames. Ein Polizeiteam schneite aufs Postamt und begann damit, sämtliche Mitarbeiter zum verschwundenen Päckchen zu befragen. Einige von ihnen mussten mit dubiosen Kerlen in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen mitkommen und kehrten erst Tage später völlig verstört wieder zurück. Da wusste Weidlich, warum er damals die Laufbahn des Kommissars eingeschlagen hatte. Seit zwei Jahren war er nun schon vom Polizeidienst suspendiert und überbrückte die Zeit in der Postannahmestelle, aber vielleicht würde er diese Brutalos mit seiner Polizeierfahrung täuschen können.

Die Männer befragten natürlich auch ihn, doch Weidlich hatte die Tricks, um ein Verhör zu überstehen, nicht vergessen. Er hatte schon so manchen Lügendetektor getäuscht, einfach durch präzise Vorbereitung. Wenn der Kommissar wusste, dass er verhört wurde, dann betrachtete er das komplette Drumherum des Verhörs als einen Test. Er war stets in Hab-Acht-Stellung und musterte den Vernehmer genau. Wie war er gekleidet? Wie verhielt er sich gegenüber dem Kommissar? Versuchte er die Kumpeltour, um Weidlich in falscher Sicherheit zu wiegen? Dafür war der Kommissar zu schlau und das konnten ihm die meisten Vernehmungsbeamten bereits an der Nasenspitze ansehen, weshalb sie in der Regel eine andere Taktik probierten. Sie glaubten, einen harten Hund könne man mit Härte brechen und so gaben sie vor, bereits schwerwiegende Beweise gegen Weidlich vorliegen zu haben. So probierte es auch dieser Vernehmer im Falle des verschwundenen Päckchens, ein schmieriger Typ mit amerikanischem Akzent. Sein Name war Dr. Smythe, eine Art Mengele der CIA.

 

»Wir wissen, dass Sie das Paket gestohlen haben, Mr. Weidlich!«, polterte er los, noch bevor Weidlich alle Dioden des Lügendetektors angestöpselt bekam.

 

»Herr Weidlich.«

 

»Was?«

 

»Sie sind hier in Deutschland, und da heißt es Herr und nicht Mister.«

 

Irritiert von der gelassenen Antwort des Kommissars versuchte Dr. Smythe nun noch verzweifelter, Weidlich in die Zange zu nehmen. Es war erbärmlich, wie der Kampf Davids gegen Goliath. Auch wenn Weidlich seit seiner Arbeit auf dem Postamt nicht mehr im Polizeidienst tätig war, ein Bulle blieb ein Bulle und so ein kleiner amerikanischer Mengele-Imitator würde ihm mit Sicherheit nicht die Butter vom Brot nehmen.

 

»Ich lasse mir von ihnen nicht die Butter vom Brot nehmen«, sagte Weidlich in ruhiger Tonlage.

 

»Es ist egal, was Sie von mir halten, Weidlich. Mir ist auch scheißegal, dass Sie früher mal Polizist gewesen sind. Es muss ja einen Grund dafür geben, dass sie jetzt hier in diesem Loch Pakete sortieren.«

 

»Ich sortiere sie nicht, ich bediene die Faltmaschine, nur manchmal, wenn die Pakete nicht der vorgeschriebenen DIN-Norm entsprechen, dann ...«

 

»Halten Sie den Mund!«, fauchte Dr. Smythe. »Wissen Sie, was gerade mit Ihren Kollegen passiert? Genau in diesem Moment, in dem wir miteinander plaudern?«

 

»Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«

 

»Exactly. Ihre Kollegen werden gefoltert. Und das wird Ihnen auch so gehen, wenn Sie nicht sofort auspacken, Sie fetter Versager!«

 

»Also, Momentchen mal«, insistierte der Kommissar. Er war sicherlich fett und ja, auch ein bisschen Versager, aber das musste ja nicht jeder wissen. »Finden Sie erst einmal jemanden, der sich so wieder aufrappelt, wie ich es tue!«

 

»Können Sie sich denn noch aufrappeln? Sehen Sie überhaupt noch Ihre Zehenspitzen, man?«

 

»Aber sicher doch«, sagte der Kommissar und spürte, wie die Empörung seine Stimme färbte. Weidlich musste aufpassen, wie er sich verhielt. Er wusste, dass Vernehmer ihre Opfer aus der Fassung bringen wollen, um sie emotional besser einschätzen zu können.

 

Ein Komplize hatte die letzte Diode an der nackten, speckigen Brust des Kommissars befestigt.

 

»Weidlich, dass Sie es waren, wissen wir bereits«, sagte Dr. Smythe und setzte sich dem mit offenem Hemd schwer atmenden Kommissar gegenüber.

 

Der Ex-Kommissar werkelte an seiner Atemfrequenz, um sie bei jeder Frage genau kontrollieren zu können. Am besten war es, wenn man die Frequenz bei belanglosen Kontrollfragen steigerte und bei den riskanten Fragen niedrig hielt. Natürlich durfte das nicht zu offensichtlich geschehen, doch allein mit der Kontrolle der Atemtechnik ließ sich viel Verwirrung stiften.

Bei Kontrollfragen handelt es sich um profanen Fragen, mit denen ein Vernehmer einsteigt, um etwas über die typischen Reaktionen einer Person zu erfahren. Das können Fragen über den eigenen Namen, den Geburtsort oder die eigene Einstellung zum Wetter sein, ungezwungen und entspannt. Dieses freundschaftlich anmutende Geplauder konnte allerdings jederzeit und völlig überraschend in knallharte Vernehmungsfragen übergehen, weshalb ständige Wachsamkeit geboten war.

Weidlich nutzte eine weitere Technik, die dabei half, seinen Herzschlag künstlich in die Höhe zu treiben: Er stellte sich vor, wie Frau Weidlich verlassen würde. Wie sie die Koffer packte, ein Taxi rief und für immer aus seinem Leben verschwand. Weidlich musste aufpassen, dass ihm dabei nicht die Tränen kamen, doch dies war ein Szenario, das ihn zutiefst beunruhigte. Wer würde dann für ihn kochen, die Wäsche waschen, die Wohnung putzen, die Dusche von Schimmel befreien und so weiter und so fort? Damals hatte er noch nicht ahnen können, dass Frau Weidlich irgendwann einmal tatsächlich die Trennung vollziehen würde.

 

»Wenn Sie sich so sicher sind, dass ich es war, wieso machen wir dann diesen Affentanz hier?«

 

Dr. Smythe lächelte angestrengt.

 

»Reine Formalität. Wenn wir Sie vor ein Tribunal stellen, dient uns der Lügendetektortest als zusätzlicher Beweis.«

 

»Wenn Sie mich vor ein Tribunal stellen, ist diese Praxis an sich rechtswidrig. Ich bin deutscher Staatsbürger.«

 

»Haben Sie schon einmal das Wort Auslieferungsabkommen gehört, Mister Weidlich?«

 

»Herr Weidlich, Donnerblitz und Klüsenwurst nochmal!«

 

Ruhig Weidlich, dachte der zwangspensionierte Kommissar. Er durfte nicht die Fassung gegenüber diesem amerikanischen Arschloch verlieren.

 

»Also, Weidlich, dann wollen wir mal.«

 

Dr. Smythe streckte die Arme aus, verschränkte die Finger ineinander und spreizte sie, bis sie knackten.

 

»Welcher Tag ist heute?«

 

»Tag der Idioten.«

 

»Welches Jahr haben wir?«

 

»Das Jahr des Drachen.«

 

»Wie heißen Sie?«

 

»George Clooney.«

 

Dr. Smythe zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Kittels und ließ ihn eilig zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand hin und her flattern.

 

»Weidlich, so wird das nichts. Hören Sie ...« Smythe lehnte sich ein Stück nach vorn. Der Kommissar konnte seinen süßlichen Pfefferminz-Atem riechen.

 

»Ich möchte Ihnen helfen. Nicht, weil ich Sie in irgendeiner Form leiden kann, Gott bewahre! Aber ich will ihnen das Waterboarding, die Stromschläge und alles, was im Falle fehlender Kooperation sonst noch auf Sie wartet, ersparen. Ich weiß, dass Sie ein kluger Mann sind, der in den Polizeidienst zurück will. Weidlich, hören Sie mir gut zu. Ich kenne einen Haufen Leute. Ein gutes Wort von mir, und sie sind nächste Woche wieder als Kriminalist unterwegs.«

 

Ex-Kommissar Weidlich machte ein ernstes Gesicht und ließ ein paar Sekunden verstreichen. Die Feder des Detektors verzeichnete kaum Aktivität.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752113754
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Detektiv Unterhaltung Kommissar Humoristisch Krimi Spannung Cosy-Krimis Humor

Autor

  • Kasimir Peng (Autor:in)

Kasimir Peng liebt es, seine Leser mit schrägen, lustigen und gleichsam spannenden Krimis zu unterhalten. "Die Fuchsjagd" ist sein erster Kommissar-Weidlich-Roman.
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Titel: Die Fuchsjagd