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Die geisterhafte Zeugin

von Dino Hawks (Autor:in)
99 Seiten
Reihe: Breuer & Hag, Band 1

Zusammenfassung

Als Kommissar Breuer zu einem Mordfall gerufen wird, ahnt er noch nicht, dass es sich um ein Ereignis der besonderen Art handelt. Erst als sich die unerklärbaren Phänomene häufen, beschleicht ihn eine Ahnung, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Dreh- und Angelpunkt des Falles scheint ein altes Porträt zu sein, welches über einem Kamin am Tatort hängt. In dem Moment, in dem die Fotos der Spurensicherung zeigen, dass sich das Bild verändert hat, ruft Breuer seinen Kollegen Hag zur Hilfe. Es beginnt für die beiden Kommissare eine Zeit, in der sie häufig an ihrem Verstand zweifeln, denn wie sollen sie einen Mord beweisen, wenn es nur eine Zeugin gibt: einen Geist?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Widmung

 

Dieses Buch widme ich meiner Frau Lisa Skydla, die mir ständig mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat.

 

Weil du mir die Szenen vorgelesen hast, konnte ich mir alles bildlich vorstellen und dadurch ist das Buch so geworden, wie es ist.

 

In Liebe dein Dino Hawks

 

Kapitel 1

 

Nachdenklich starrte Kommissar Breuer auf die Leiche zu seinen Füßen. So etwas hatte er in seiner fast dreißigjährigen Dienstzeit noch nicht gesehen.

Es sah aus, als ob dieser Mann versucht hätte, sich das Herz selbst herauszuschneiden. In seiner Brust klaffte ein großes Loch, das bis auf die Rippen ging. Jemand hatte ganze Fleischstücke aus dem Brustkorb geschnitten. Doch so wie es aussah, starb der Kerl an einer Stichwunde, die direkt an der Halsschlagader zu sehen war.

Die mutmaßliche Tatwaffe, ein langes Fleischmesser, lag neben dem Opfer, dessen Augen an die Decke starrten. Ob es sich wirklich um die Tatwaffe handelte, musste das Labor herausfinden, da es keine sichtbaren Spuren auf der Klinge gab, kein Blut, keine sonstigen Verschmutzungen. Darüber hinaus lag das Messer genau parallel zum Arm des Mannes.

Die Ehefrau hatte die Leiche gefunden und die Polizei gerufen, fest davon überzeugt, dass es um einen Mord ginge. Jetzt kümmerte sich der Notarzt um sie, denn so, wie es aussah, konnte sie in ihrem Zustand kaum als Zeugin vernommen werden.

Seufzend drehte Breuer sich um und verließ das Haus. Es handelte sich um ein Einfamilienhaus in einer ruhigen Gegend. Hier kam es äußerst selten zu Überfällen oder Einbrüchen. Das Wohnhaus sowie der Garten waren gepflegt, es gab keine Spuren dafür, dass irgendetwas vernachlässigt worden wäre.

Breuer blieb im Vorgarten stehen, um nachzudenken, dabei angelte er eine Zigarettenpackung aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Der Krankenwagen kam gleichzeitig mit dem Leichenwagen an, was sich ein wenig makaber anfühlte.

Die Ehefrau wurde aus dem Haus getragen, so wie sie jetzt aussah, stand sie unter Beruhigungsmitteln und das nicht zu knapp. Somit kam es keinesfalls infrage, sie zu verhören.

„Entschuldigen Sie bitte, was ist denn mit Frau Nuhs los? Ist etwas passiert?“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

Der Kommissar sah auf die alte Dame, die neben ihm stehen blieb, um neugierig zu ihm aufzublicken.

„Ich darf Ihnen leider keine Auskunft zu den laufenden Ermittlungen geben, aber eventuell können Sie uns helfen“, antwortete er, dabei hielt er ihr seinen Ausweis unter die Nase.

„Hauptkommissar Breuer“, stellte er sich überflüssigerweise vor.

„Wissen Sie etwas über die Familie? Gibt es noch Kinder? Verwandte? Gab es jemanden, mit dem diese Leute Streit hatten?“, rasselte er seine Fragen herunter, ohne große Hoffnung, dass er was erfahren würde, was ihn weiterbrachte.

„Wir sind schon seit Jahren Nachbarn, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals ernsthaften Streit mit irgendjemandem gehabt hätten, außer na ja ...“, brach die Frau verlegen ab.

Neugierig sah der Polizist sie an, vielleicht wusste sie ja doch mehr.

„Außer?“, hakte er nach.

„Wissen Sie Herr Kommissar, die beiden haben ja einen Sohn, den Tobias und mit dem kam es immer mal wieder zum Streit“, erzählte sie schnell weiter, offensichtlich froh darüber, dass es jemanden interessierte.

„War ja auch kein Wunder, so wie der alte Nuhs den armen Jungen behandelt hat. Und seine Frau erst ...“

Sie seufzte theatralisch, dabei sah sie Breuer Beifall heischend an.

Zu gerne hätte der Mann jetzt frustriert aufgestöhnt, stattdessen verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, die gerade noch als Grinsen durchging.

„Was wissen Sie denn über den Sohn des Opfers und dessen Frau?“, erkundigte der Polizist sich bemüht höflich.

„Eigentlich spricht man ja nicht darüber, das ist ja Privatsache, aber in dem Fall muss ich wohl eine Ausnahme machen“, betonte die Nachbarin.

Am liebsten hätte der Kommissar die Plaudertasche geschüttelt, um die Informationen zu bekommen, doch er lächelte stur weiter.

„Da war diese Sache mit dem Enkel der beiden, dem Daniel, der hat seinen Vater und dessen Ehefrau bestohlen. Dabei ging es um richtig viel Geld, kann ich ihnen sagen. Das ist sowieso, so ein Früchtchen, zu unserer Zeit hätte es so etwas ja nicht gegeben. Die eigenen Eltern zu bestehlen, wobei die Frau vom Tobias ja die Stiefmutter ist“, holte die Nachbarin aus, womit sie Breuers Geduld auf eine harte Probe stellte.

„Was hat das mit dem Verhältnis von Herrn Nuhs und seinem Sohn zu tun?“, erkundigte er sich jetzt harsch.

„Unsere Nachbarn standen auf der Seite von Daniel. Sie haben während des unseligen Streits auch die Ehefrau vom Tobias ganz schön verletzt. Dabei hat die wirklich immer alles für diesen Bengel getan. Ist mit ihrer Schwiegermutter ins Theater gegangen und solche Dinge, weil der Herr Nuhs ja dafür keinen Sinn hatte“, verzettelte sich die alte Dame wieder.

„Und woher wissen Sie das?“, fragte Breuer, der sich sicher war, keine weiteren Informationen mehr zu bekommen.

Hier hatte es vor einigen Jahren einen Bruch geben, wie in so vielen Familien. Deshalb hatte der Sohn den Vater bestimmt nicht gleich umgebracht. Obwohl er dieser Spur noch nachgehen musste.

„Die Inge, also die Frau Nuhs, hat mir das erzählt, aber warum sie dann ebenso so auf Tobias Ehefrau losgegangen ist, weiß ich nicht. Wissen Sie, ich glaube, die beiden haben im Alter ein wenig nachgelassen“, gleichzeitig tippte sie sich an die Stirn und sah Breuer an, ob er sie verstehen könnte.

In dem Moment, in dem der Sarg aus dem Haus getragen wurde, kam auch der Ehemann der Nachbarin dazu.

„Du meine Güte, was ist denn da passiert?“, fragte er entsetzt, dabei sah er den Polizisten an.

„Der alte Nuhs ist tot“, klärte ihn seine Frau auf. „Und Inge ist eben mit dem Krankenwagen weggebracht worden.“

Der Mann nickte, als er verstand, was vor sich ging, dann grüßte er den Kommissar höflich, packte seine Angetraute am Arm, um mit ihr in ihre Wohnung zurückzugehen.

Das Gefühl, das hier irgendetwas nicht stimmte, wurde immer stärker. Im Moment wollte Breuer jedoch erst mal abwarten, was die von der Gerichtsmedizin sagten. Ebenso waren die Ergebnisse der Spurensicherung interessant, die gerade eifrig durchs Haus wuselte.

Breuer stieg in seinen Dienstwagen, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und fuhr zurück ins Büro. Die Nachbarn mussten noch befragt werden, doch darum konnten sich auch die Kollegen kümmern. Er wollte jetzt zuerst sehen, ob er den Sohn oder dessen Frau erreichte.

Natürlich war es keine schöne Aufgabe die Angehörigen zu benachrichtigen, aber er würde nicht drum herumkommen.

Als er die Dienststelle betrat, zog sich der Kommissar einen Kaffee. Das Bild des grausam zugerichteten Opfers hatte sich in seinen Kopf gebrannt. Langsam ließ er sich in einen Stuhl sinken und rieb sich über die Augen. Es war ja nicht die erste Leiche, die ziemlich schlimm aussah, doch etwas in dem Blick des Mannes, hatte ihm eine Gänsehaut über den Rücken geschickt.

Sein Computer war noch im Stand-By-Modus, da er sofort aufgesprungen war, als der Anruf von Frau Nuhs einging.

Er hatte sie durch das Telefon seines Kollegen hören können. Panisch schrie sie, dass man ihren Ehemann umgebracht habe. Dabei war sie sehr schwer zu verstehen gewesen, weil sie immer wieder zwischen Schreien und Schluchzen gewechselt hatte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie die Anruferin so weit beruhigt hatten, dass sie die Adresse nennen konnte. Breuer war daraufhin sofort losgefahren. Gleichzeitig hatte die Zentrale den Notarzt verständigt.

Jetzt bereute er die voreilige Aktion, denn auf den Fall hätte er gerne verzichtet.

Ohne große Erwartung, dass die Ehefrau des Opfers bereits ansprechbar sein würde, rief er im Krankenhaus an, vielleicht war ihm dieses Mal das Glück hold.

Allerdings zerschlug sich die Hoffnung schnell wieder, die Frau stand unter schweren Beruhigungsmitteln, die sie tief schlafen ließen.

Missmutig legte Breuer auf, lehnte sich einen Moment zurück, dann ging er, um sich einen neuen Kaffee zu holen. Kurz vor dem Automaten, entschloss er sich jedoch, noch eine Zigarette zu rauchen, also bog er ab und trat durch eine Tür ins Freie. Hier hatte man eine Raucherecke eingerichtet.

Seufzend kramte er die Packung hervor, zog einen Glimmstängel heraus und zündete ihn an. Nachdenklich sah er auf die Glut, er hätte schon vor Jahren damit aufhören sollen, aber irgendwie schaffte er es nicht.

Genüsslich inhalierte er das Nikotin, schaltete einen Moment ab und verbot sich jeden Gedanken an seinen Fall.

Jens Breuer war mittlerweile dreiundfünfzig Jahre alt, sein Haar war von grauen Strähnen durchzogen und bereits etwas schüttern geworden. Ein leichter Bauchansatz war auch zu sehen, während sich ein paar tiefe Falten in sein Gesicht gegraben hatten. In diesem Job gab es kaum etwas zu lachen, dafür aber viele Dinge, die man lieber vergessen wollte.

Müde ließ er den Kopf kreisen, versuchte, die verspannten Muskeln zu lockern, dann drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus und ging zum Kaffeeautomaten.

Als er zurückkam, hatte einer seiner Kollegen ihm schon eine Mappe mit den Fotos sowie einigen Daten von den Nuhs auf den Tisch gelegt.

Aufmerksam sah er sich die Bilder der Leiche an und jetzt konnte er auch deutlich erkennen, was ihn an dem Blick des Opfers so schockiert hatte. In den Augen stand der blanke Wahnsinn, selbst zum Zeitpunkt des Todes hatte der Mann wohl kaum Frieden gefunden.

Er ließ die Informationen über das Ehepaar durch den Computer laufen. Wie erwartet, fand er keine Auffälligkeiten, aber die Adresse mitsamt der Telefonnummer des Sohnes Tobias.

Ohne nachzudenken, wählte er die Nummer, es hat keinen Sinn diese Aufgabe hinauszuzögern.

„Nuhs“, erklang es aus dem Hörer.

Die Stimme war keineswegs unsympathisch und der Polizist holte einen Augenblick lang tief Luft.

„Kriminalpolizei Moers, Hauptkommissar Breuer, spreche ich mit Herrn Tobias Nuhs?“, fragte der Kommissar nach.

„Ja, der bin ich. Herr Breuer, was kann ich für sie tun?“, erkundigte sich der Mann am anderen Ende höflich, aber offensichtlich verwirrt.

Im Moment schien er nichts zu ahnen, was die Aufgabe des Kommissars kaum leichter machte.

„Herr Nuhs, ich muss sie von dem Tod ihres Vaters in Kenntnis setzen“, platzte er heraus.

Es gab einfach keinen schonenden Weg für solche Nachrichten, das hatte Breuer schon am Anfang seiner Karriere gelernt.

Er hörte Tobias tief einatmen und ein Schweigen entstand in der Leitung.

„Herr Nuhs, sind sie noch dran?“, erkundigte der Polizist sich.

„Ja entschuldigen sie, aber mit dieser Information habe ich nicht gerechnet. Mein Vater und ich hatten in den letzten fünf Jahren keinerlei Kontakt“, brachte der Mann etwas unorthodox hervor.

„Ist es Ihnen möglich herzukommen, damit wir uns unterhalten können?“, wollte der Kommissar wissen.

„Ich wüsste keinen Grund, ich habe ihn, wie gesagt, bereits längerer Zeit nicht mehr gesehen“, blockte Tobias hart ab.

Breuer dachte einen kleinen Moment nach, so ganz ungewöhnlich war es nicht, dass ein Sohn sich kaum für seinen Erzeuger interessierte. Außerdem hatte die Nachbarin ja angedeutet, dass die Beziehung im Bösen auseinandergegangen war.

„Es liegt der Verdacht vor, dass ihr Vater ermordet wurde. Wir ermitteln in diesem Fall, und da Sie einen Streit mit ihrem Vater hatten, müssen wir Sie leider bitten eine Aussage zu machen. Natürlich kann ich Ihnen auch eine offizielle Vorladung schicken“, erklärte der Polizist ruhig.

„Dieser Vorfall liegt zwar schon fünf Jahre zurück, aber ich sehe ein, dass ich auf der Liste der Schuldigen stehe“, bemerkte Tobias leise.

„Können Sie mir den Termin per Mail schicken?“, fragte er nach.

„Es handelt sich nicht um eine offizielle Vorladung, bei der Sie als Verdächtiger eingestuft werden. Es geht hier um eine reine Routinebefragung“, versuchte Breuer die ganze Sache herunterzuspielen.

„Natürlich sende ich Ihnen den Termin“, fügte er hinzu.

Herr Nuhs nannte seine E-Mail-Adresse und verabschiedete sich distanziert von dem Beamten.

Breuer sah einen Moment nachdenklich auf das Telefon, die Reaktion von Tobias Nuhs war schwer einzuschätzen. Außerdem fehlten ihm die Hintergründe. Bei einem Familienstreit konnte viel passiert sein, vielleicht hatten die beiden sich auch so voneinander entfernt, dass ihn der Tod seines Vaters wirklich kalt ließ.

Es war allerdings ebenso möglich, dass der Sohn es kaum bedauerte, weil er in irgendeiner Weise in die Sache verstrickt war.

Schnell teilte der Polizist ihm per Mail einen Termin mit, gleichzeitig bat er darum, dass die Frau von Tobias Nuhs mitkommen sollte.

Viel gab es jetzt nicht mehr zu tun, denn erst mussten die Ergebnisse der Spurensicherung sowie der Gerichtsmedizin vorliegen. Auch die Vernehmungen der Nachbarn würden interessant werden.

Breuer entschied, für heute Feierabend zu machen und nach Hause zu fahren. Der Tag war lang und ermüdend gewesen, außerdem gingen ihm die Bilder des Toten einfach nicht aus dem Kopf.

 

***

 

Die Nachricht vom Tod seines Vaters traf Tobias bei Weitem nicht so sehr, wie sie es sollte, was kaum verwunderte, seit sie diesen entsetzlichen Streit vor fünf Jahren gehabt hatten. Dennoch war es unbegreiflich, wieso er schon immer im Vorfeld verurteilt wurde und jetzt lud man ihn zur Vernehmung. Ein ungutes Gefühl beschlich Tobias, was ihn leise aufseufzen ließ.

Seine Frau sah ihn aufmerksam an, aber er lächelte ihr nur beruhigend zu. Er würde ihr die Lage später erklären, wenn er sich selbst seine Gedanken dazu gemacht hatte.

 

***

 

Seine Frau begrüßte ihn liebevoll, sodass er sich für den restlichen Tag entschloss, den Fall zu vergessen. Morgen lagen bestimmt einige neue Fakten auf dem Tisch.

Doch auch beim gemeinsamen Abendessen schaffte er es einfach nicht, die Bilder des Toten aus seinem Gedächtnis zu drängen. Immer wieder sah er diesen irren Blick vor sich.

„Geht es dir gut, Jens?“, erkundigte Lena Breuer sich besorgt.

Fahrig strich der Kommissar sich durch das lichte Haar. Er wollte seine bessere Hälfte nicht mit dem Fall belasten, aber sie anzulügen, kam keineswegs infrage.

„Mir spukt ein Mord im Kopf herum“, gab er brummig zu, dann griff er zu der Schüssel mit den Kartoffeln.

„Möchtest du mir davon erzählen?“, bot Lena freundlich an.

Sofort lehnte ihr Mann ab. Keinesfalls würde er ihr diese Grausamkeiten beschreiben, mit den Bildern musste er alleine klarkommen.

„Ich brauche nur ein wenig Abstand. Lass uns essen.“

Jens lenkte sie gekonnt ab, obwohl er auch in der Nacht an den Vorfall dachte. Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere, während er hellwach im Bett lag.

Normalerweise nahm er seine Arbeit nicht auf diese Art mit nach Hause, zumal er schon einige Jahre in dem Beruf arbeitete. In Gedanken ließ er seine Dienstzeit Revue passieren, erinnerte sich an seinen ersten Fall als Kommissar. Damals glaubte er noch, dass er für Gerechtigkeit sorgen könnte. Heute wusste er es besser; zu oft musste er erleben, dass Geld und Einfluss reichten, um Schuldige zu entlasten.

Die Uhr zeigte, dass es gerade mal Mitternacht war, trotzdem schaffte er es einfach nicht, einzuschlafen.

Missmutig stand er auf, dabei bemühte er sich, leise zu sein, damit seine Frau nicht aufwachte.

Im Schlafanzug tappte er ins Wohnzimmer, holte sich die Zigaretten, um sich auf dem Balkon eine anzuzünden. Sie hatten bei der letzten Renovierung beschlossen, nur noch im Freien zu rauchen. Kurz darauf hörte Lena auf, nur er griff immer wieder zu den Glimmstängeln.

Blauer Dunst kringelte sich vor seinem Gesicht, um dann in den fast schwarzen Himmel aufzusteigen, der nur vom Mondlicht beleuchtet wurde. Die Stimmen der Stadt drangen zu ihm herauf. Menschen stritten sich, Autotüren schlugen zu und ein Motor jaulte auf. Diese Gegend schlief nie!

Fröstelnd drückte er den Zigarettenstummel aus, anschließend ging er zurück ins Bett.

„Kannst du nicht schlafen?“, murmelte Lena, als sie sich an ihn kuschelte.

„Nein, wahrscheinlich handelt es sich schon um senile Bettflucht“, scherzte er, ehe er sie eng an sich zog.

Wider Erwarten übermannte ihn der Schlaf doch noch.

 

***

 

Während Hauptkommissar Breuer den Abend mit seiner Ehefrau ausklingen ließ, saß Tobias Nuhs mit seiner Angetrauten zusammen.

Er erzählte ihr vom plötzlichen Tod seines Vaters und dem Verdacht, dass er daran beteiligt war.

„Wann hört das endlich auf?“, fragte Bianca erschöpft.

Seit dem Streit, nach welchem sie beide entschieden hatten, keinen Kontakt mehr zu Tobias Eltern zu pflegen, waren ständig irgendwelche Verleumdungen per Mail, Fax oder Post gekommen. Immer wieder ignorierten sie diese Schriften, dennoch belastete sie es sehr.

Nachdenklich sah Bianca ihren Ehemann an, sie würde es sogar verstehen, wenn er für den Tod des alten Stänkerers gesorgt hätte. Es gab genügend Gründe dafür, aber trotz allem traute sie es ihrem Mann nicht zu.

Müde schloss sie die Augenlider, es gab eine Zeit, da wünschte sie sich nur Gerechtigkeit, jetzt sehnte sie sich einfach nur nach Ruhe.

Ein kalter Lufthauch durchströmte das Zimmer, was sie dazu brachte, die Augen zu öffnen. Ihr Angetrauter sah sie ebenso an. Beide spürten diese Präsenz und im ersten Moment befürchteten sie, dass der Geist von Tobias Vater bei ihnen sei. Doch dann wurde der Raum von einer beruhigenden, liebevollen Atmosphäre gefüllt und ihnen war klar, dass es sich hier nicht um Harald handelte.

Gespannt saßen sie zusammen, dabei versuchten sie mit allen Sinnen zu erspüren, was oder viel mehr, wer da bei ihnen war.

So schnell, wie diese seltsame Erscheinung gekommen war, verschwand sie auch wieder. Trotzdem schöpften sie ein wenig Hoffnung, dass es doch noch ein gutes Ende nehmen würde.

„Wer weiß, was passieren wird“, meinte Bianca, gleichzeitig lächelte sie ihren Mann an.

Damit gingen die beiden zu Bett.

 

***

 

Am nächsten Morgen fuhr Breuer wie immer zur Dienststelle und in Gedanken war er bereits bei dem angeblichen Mordfall. Es war ihm unklar, ob hier ein Mord vorlag, obwohl Frau Nuhs es als solchen gemeldet hatte.

Als er sein Büro betrat, sah er schon die Akten auf seinem Schreibtisch liegen, die Jungs von der Spurensicherung und auch die Gerichtsmediziner hatten sich wirklich beeilt. Warum konnte er sich allerdings nicht erklären, aber das sollte kaum sein Problem sein.

Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, nahm er sich die Unterlagen vor, wobei ihm wieder die Augen des Mannes auffielen. Noch nie in seiner Laufbahn war ihm ein Opfer untergekommen, dem der Wahnsinn dermaßen anzusehen war.

In einer morbiden Faszination starrte er auf die Fotos und es kostete ihn einige Kraft, bis er die Bilder zur Seite legen konnte.

Die Spurensicherung hatte herausgefunden, dass es überall im Raum Kratzer sowie Schnitte gab. Nuhs hatte mit dem Messer wild um sich gestochen, so als ob er sich wehren wollte. Es gab mehrere Einstiche auf dem Rahmen eines Porträts, das die Mutter von Frau Nuhs darstelle. Aber auch etliche Schrammen an Schränken und dem Tisch, die von der gleichen Klinge stammten, durch die er gestorben war.

Einen Einbruch schlossen die Kollegen aus, da es keinerlei Hinweise dafür gab. Natürlich konnte es sein, dass dem Opfer der Mörder bekannt war; falls er sich nicht doch selbst umgebracht hatte.

Die Sache wurde immer seltsamer, da es im Vorfeld keine Anzeichen von geistigen Störungen gegeben hatte. Selbst im Bericht des Gerichtsmediziners gab es keinen Hinweis auf eine Veränderung des Gehirns, aber der Arzt schloss aus, dass Nuhs sich selbst mit dem Messer getötet habe. Die Einstichstelle hatte einen Winkel, der auf Fremdeinwirkung schließen ließ.

Ansonsten war das Opfer unauffällig gewesen, so wie man ihn kannte. Das erfuhr Breuer aus den Vernehmungen der Nachbarschaft, die allesamt bezeugten, dass Herr Nuhs sich in den letzten Tagen unauffällig benommen hatte. Gerade so, wie man ihn kannte und mochte. Dabei wurde klar, dass er bei seinen Nachbarn ganz gut gelitten war, auch wenn der eine oder andere zu Protokoll gab, dass er schon sehr rechthaberisch gewesen sei.

Das alles brachte ihn kaum weiter, bis er auf eine Unterhaltung stieß, die ihn interessiert stoppen ließ. Eine Nachbarin, die den Sohn Tobias gut kannte, erzählte, dass das Opfer seinen Sohn früher oft geschlagen habe. Gott sei Dank handelte es sich nicht um die Plaudertasche, mit der er bereits geredet hatte.

Breuer atmete tief ein, solche Leute verabscheute er einfach. Gewalt gegen Kinder, das war das Schlimmste überhaupt, trotzdem durfte er sich dadurch nicht beeinflussen lassen.

Er las mit Entsetzen weiter, dass die Schläge das geringste Übel gewesen waren. Die Frau berichtete von regelrechtem Psychoterror, der auch nicht aufgehört hatte, als Tobias auszog. Selbst nach dem Streit, bei dem es wohl um den Enkel ging, gab Nuhs keine Ruhe.

Natürlich mussten diese Vorwürfe erst einmal bewiesen werden, aber wenn sie wahr waren, dann rückte Tobias in den engeren Kreis der Verdächtigen.

Geistesabwesend nahm Breuer einen Schluck Kaffee, als er sah, dass sich die Tasten seiner Computertastatur bewegten. Wie erstarrt strich er sich über die Augen, er träumte das doch oder war er jetzt schon so überarbeitet?

Auf seinem Schreibprogramm, welches er geöffnet hatte, um sich einige Notizen zu machen, erschien langsam ein Text.

„Sieh hin und merke, dass es um Gerechtigkeit geht. Schuldige müssen für ihre Schuld geradestehen. Unschuldige sollen gerächt werden.“

Immer noch ungläubig starrte der Kommissar auf diese geheimnisvollen Sätze, die klar und deutlich auf dem Monitor zu sehen waren.

Er atmete aus, dann griff er zum Telefon, um die Kollegen von der Technik anzurufen.

„Kann es sein, dass ein Hacker es schafft, sich in meinen PC einzuloggen?“, fragte er unruhig, als sich jemand meldete.

„Es ist nicht unmöglich Herr Breuer, aber sehr unwahrscheinlich. Wir werden es sofort überprüfen, bitte rühren Sie keinesfalls etwas an ihrem PC an“, bat der Spezialist, als er ihm erzählt hatte, was passiert war.

Kurz darauf wimmelte es in seinem Büro von Technikern, die herausfinden wollten, woher dieser geheimnisvolle Satz kam.

Breuer schnappte sich die Akten und verzog sich in einen der Vernehmungsräume, hier hatte er wenigstens Ruhe.

Langsam las er sich noch einmal die Aussage der Nachbarin durch. Wenn das wirklich wahr sein sollte, dann könnte er den Sohn sogar verstehen, falls dieser für Gerechtigkeit gesorgt hätte.

In dem Raum wurde es kalt, weshalb er fröstelnd die Schultern hochzog.

Schnell ging er in die Raucherecke, zündete sich eine Zigarette an und schloss für einen Moment die Augen. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht!

Ihm war unklar, wieso er den irren Blick des Toten ständig sah. So etwas war ihm bei keinem Fall passiert. Er brauchte dringend Urlaub, zumal er ja schon Dinge sah, die mehr als merkwürdig erschienen.

Ein paar Kollegen gesellten sich zu ihm, aber ihm stand der Sinn kaum nach Small Talk, also drückte er die Glut seiner Zigarette aus und kehrte in den Verhörraum zurück.

Noch einmal studierte er die Berichte, dann griff er kurz entschlossen zu seinem Handy, um die Frau anzurufen, die die Misshandlungen des Sohns mitbekommen hatte.

„Guten Morgen, Kriminalpolizei Hauptkommissar Breuer, spreche ich mit Marga Baumgartner?“, meldete er sich.

„Guten Morgen, ja hier ist Baumgartner, worum handelt es sich denn?“, fragte eine ältere weibliche Stimme.

„Es geht um ihre Aussage von gestern. Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten, wenn es sie nicht stört, komme ich gleich bei Ihnen vorbei“, kam er direkt zum Punkt.

„Das ist kein Problem, ich bin zu Hause. Natürlich erzähle ich Ihnen, was ich weiß“, bot die Zeugin freundlich an.

Der Kommissar verabschiedete sich und machte sich gleich auf den Weg. Er war gespannt, was Frau Baumgartner noch zu berichten hatte und woher sie das alles wusste.

Kurz darauf stand er vor einem gepflegten kleinen Häuschen in der direkten Nachbarschaft der Nuhs.

Eine ältere Dame öffnete ihm und sah ihn mit klaren Augen lächelnd an.

„Sie müssen Herr Breuer sein, kommen sie doch rein“, bot sie ihm freundlich an.

Er trat hinter ihr ein, nahm dankend eine Tasse Kaffee entgegen, den sie ihm schon in die Hand drückte, ehe er ins Wohnzimmer ging.

„Woher wussten Sie, dass ich den Kaffee annehme?“, erkundigte er sich verwirrt.

Frau Baumgartners Lächeln wurde breiter.

„Trinken nicht alle Ermittler Kaffee?“, entgegnete sie immer noch lächelnd, dann wurde sie ernst.

„Sie möchten etwas über die Beziehung von Herrn Nuhs zu seinem Sohn Tobias wissen?“, fragte sie gerade heraus, dabei sah sie den Polizisten offen an.

Breuer nickte leicht.

„Falls Sie mir darüber mehr erzählen können, gerne“, bestätigte er, gleichzeitig zog er einen Notizblock aus der Tasche.

Frau Baumgartner überlegte einen Moment, ehe sie zustimmte und tief einatmete.

„Tobias ist früher zu mir gekommen, wenn er Probleme zu Hause hatte. Er hat mir oft erzählt, dass sein Vater ihn wegen schlechter Noten schlug. Ein paar Mal habe ich versucht zu vermitteln, aber Harald war schon damals ein rechthaberischer, herrschsüchtiger Mann. Man konnte nicht mit ihm reden, er war einfach immer im Recht. Zumindest glaubte er das“, begann die ältere Dame.

Breuer machte sich Notizen, bisher deckte sich ihre Aussage mit dem, was die Nachbarn vorsichtig umschrieben hatten.

„Eigentlich fing es an, als Tobias gerade vier Jahre geworden war. Er war ein aufgewecktes Kind und lachte gerne“, erinnerte sich Frau Baumgartner.

„Ich weiß es noch wie heute, denn ich hörte ihn jämmerlich weinen. Er hatte seinen Teller nicht aufgegessen, was seinen Vater dazu brachte, ihn zu den Heiztanks in den Keller zu stecken. Sie müssen wissen, diese Tanks erreicht man nur durch eine winzige Klappe im Boden. Der Zwischenraum in der Kammer beträgt vielleicht vierzig Zentimeter.“

Sie sah den Kommissar wieder offen an und in ihren Augen stand das Mitleid für den kleinen Tobias, der sich vor Angst die Seele aus dem Leib geschrien hatte.

„Ich bin zusammen mit meinem Ehemann rüber gerannt. Wir haben beide auf Harald eingeredet, aber er warf uns raus. Es wäre sein Sohn, seine Erziehung, da hätten wir uns nicht einzumischen“, berichtete sie weiter.

„Mein Mann kann Ihnen meine Aussage leider nicht bestätigen, er ist letztes Jahr gestorben“, erklärte sie leise, dabei strich sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln.

Breuer nickte ihr zu und suchte vergeblich nach Worten, ihm ging diese Geschichte mehr zu Herzen, als es sollte. Vor seinen Augen formte sich ein Bild des kleinen Tobias, der mit einer unerklärlichen Brutalität erzogen worden war.

„Es wurde damals schon gemunkelt, dass Tobias keineswegs der leibliche Sohn von Harald war. Aber der hat sich geweigert, einen DNS-Test zu machen. War ja klar, der sture Bock wollte nach außen hin die heile Welt zeigen. So etwas gab es in seiner Familie nicht, durfte es nicht geben“, ereiferte sich Frau Baumgartner und Breuer seufzte leise, solche Familien kannte er leider zur Genüge.

„Als Tobias dann in die Schule kam, folgten die Schläge. Jedes Mal, wenn eine Note schlechter ausfiel, als sein Vater es sich gedacht hatte, hagelte es Ohrfeigen. Danach kam der kleine Kerl immer zu mir. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er mir erzählte, was dieser Mistkerl mit ihm anstellte, aber mir waren die Hände gebunden. Auch an dem Tag, als Tobias mir mit Tränen der Demütigung in den Augen mitteilte, dass er bestraft wurde, weil er vergessen hatte, den Gartenschlauch aus dem Wasserfass zu heben. Harald hatte ihn tausend Mal schreiben lassen: Ich muss gehorchen“, berichtete Frau Baumgartner stockend weiter.

Ihr war das Schicksal des Jungen sehr nahegegangen und die Hilflosigkeit von damals ließ sie wieder seufzen.

„Hat er jemals davon geredet, dass er sich rächen wollte?“, fragte Breuer jetzt.

Die alte Dame sah ihn fassungslos an.

„Nein, nie, im Gegenteil, trotz allem waren er und später auch seine Ehefrau Bianca immer für die beiden Nuhs da. Erst als der Enkel anfing zu stehlen, hat Tobias den Kontakt abgebrochen, weil die Vorwürfe gegen seine Frau ständig schlimmer wurden“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Breuer machte sich eine Notiz, dass er nach diesem Diebstahl recherchieren sollte, vielleicht fand er etwas in seinem Computer.

„Was ist aus dem Enkel geworden?“, fragte er.

Sofort konnte er im Gesicht seiner Gesprächspartnerin sehen, dass die Geschichte unschön geendet hatte.

„Daniel hat nie eingesehen, dass er im Unrecht war. Daran waren auch Harald und Inge schuld. Sie haben den Bengel zu sehr verwöhnt, immer wieder zu ihm gehalten, obwohl er sich falsch verhielt. Bei einem bewaffneten Überfall auf eine Tankstelle wurde er gefasst. Der Tankwart ist gestorben, seitdem sitzt Daniel im Gefängnis“, erzählte die Frau bereitwillig.

„Harald hat an dem Tag so getobt, dass wir es in unserem Garten hörten. Er hat Tobias dafür verantwortlich gemacht, hat ihm vorgeworfen, nicht für seinen Sohn da gewesen zu sein. Dabei hat der alles getan, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Der alte Nuhs hat ins Telefon geschrien, ich konnte es sehen, als ich über den Zaun geblickt habe“, berichtete sie weiter.

„Es war so laut, sodass ich mich wunderte, ob Tobias doch wieder zu Besuch gekommen war“, fügte sie entschuldigend hinzu.

Der Kommissar nickte verstehend, diesen Fall sollte er ja dann im Computer finden.

„Vielen Dank, Frau Baumgartner. Ich denke, ich weiß nun einiges mehr“, damit beendete er das Gespräch.

Die alte Dame begleitete ihn lächelnd zur Tür, wo sie sich herzlich von ihm verabschiedete.

Breuer sah auf die Uhr und grummelte leise vor sich hin, jetzt musste er Gas geben, denn Tobias Nuhs würde in einer guten halben Stunde auf der Matte stehen. Dabei wollte er vorher überprüfen, was über dessen Sohn Daniel im Computer zu finden war.

Dann fiel ihm ein, dass die Kollegen von der Technik ja noch in seinem Büro den Vorfall mit dem PC überprüften, was ihn unterdrückt fluchen ließ.

Sein Telefon klingelte, missmutig nahm er das Gespräch an, um zu erfahren, dass sie nichts Verdächtiges an seinem PC gefunden hatten. Es gab keine Hinweise, dass irgendetwas heruntergeladen wurde, ebenso sprach nichts für einen Hackerangriff. Die Sache mit dem mysteriösen Satz konnte niemand erklären.

Kapitel 2

 

In der Rekordzeit von zehn Minuten saß er wieder an seinem Schreibtisch und gab die Daten von Daniel Nuhs in den Computer ein. Kurz darauf las er den kompletten Bericht, dabei stellte er fest, dass die Geschichte wirklich sehr unschön endete.

Bei einem bewaffneten Überfall auf eine Tankstelle starb der Tankwart, weil Daniel die Nerven verlor. Er schoss mehrfach, ohne genau zu zielen. Zum jetzigen Zeitpunkt saß er eine zehnjährige Haftstrafe ab.

Es gab mehrere Anzeigen wegen Diebstählen, angefangen bei der seines Vaters und dessen Verlobter Bianca. Die Strafanzeige wurde dann durch einen Täter-Opfer-Ausgleich beigelegt.

Breuer fluchte unterdrückt, die TOAs waren alles andere als hilfreich. Seiner Meinung nach schützten die Gespräche lediglich die Verbrecher, die Geschädigten hatten hierbei meistens das Nachsehen. Oft genug durften sie sich noch Vorwürfen sowie Schuldzuweisungen stellen. Natürlich sahen das die Sozialpädagogen völlig anders, aber was sollten die auch sonst sagen, immerhin war es ihr Job. Dieser Job wurde, nebenbei bemerkt, gar nicht mal schlecht bezahlt.

Breuer grummelte vor sich hin, als er die Berichte über Daniel las. Das war bestimmt kein leichtes Los, so jemanden als Sohn zu haben. Wenn die Erzählungen von Frau Baumgartner wirklich stimmten, dann verstand er Tobias Nuhs sogar, falls er am Ende für Ruhe gesorgt hatte.

Als es klopfte, schreckte er aus seinen Gedanken hoch, in der Tür stand das Ehepaar Nuhs, das von einer Kollegin angemeldet wurde.

„Bitte kommen Sie doch herein und setzen sich“, bot der Kommissar höflich an, dabei sah er den beiden lächelnd entgegen.

Die Frau sah ihn eindringlich an, sodass er förmlich spüren konnte, wie sie ihr Misstrauen unterdrückte. Herr Nuhs saß scheinbar entspannt vor ihm, während er darauf wartete, was man von ihm wollte.

Der Polizist ließ sich die Personalausweise zeigen, ehe auch er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte.

„Ihr Vater ist auf eine ungewöhnliche Art gestorben“, begann Breuer, gleichzeitig beobachtete er die Zwei genau.

„Das haben Sie bereits am Telefon gesagt. Außerdem verhören Sie uns gerade, das heißt wohl kaum, dass Sie wissen, wer dafür verantwortlich ist“, bemerkte Tobias trocken.

Der Polizist nickte langsam, dann sah er wieder auf die Ehefrau, die unbehaglich auf dem Stuhl herumrutschte.

„Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen die Fotos, allerdings ist das wirklich kein schöner Anblick“, bot Breuer an, unsicher, ob er dem Ehepaar diesen Albtraum ersparen sollte.

Aber sein Gegenüber schüttelte bereits den Kopf.

„Nein, das ist nicht nötig. Wie ich Ihnen am Telefon gesagt habe, hatten wir keinerlei Kontakt mehr zu meinen Eltern, was auch so bleiben soll“, blockte er eisig ab.

„Ihre Mutter liegt mit einem schweren Schock im Krankenhaus“, bemerkte Breuer und sah nur noch auf das versteinerte Gesicht von Tobias Nuhs.

„Bitte kommen Sie zum Punkt, was genau wollen Sie von uns?“, erkundigte dieser sich jetzt ungeduldig.

Breuer spürte deutlich, dass dieser Mann keinerlei Interesse für das Schicksal seiner Eltern, die ihm das Leben offensichtlich zur Hölle gemacht hatten, aufbrachte. Es war offensichtlich, dass Tobias Nuhs und seine Frau nur in Ruhe leben wollten.

„Wo waren Sie gestern zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr?“, fragte Breuer gerade heraus.

Er war gegen sechzehn Uhr zu dem Fall gerufen worden und die Gerichtsmedizin schätzte den Zeitpunkt des Todes auf ungefähr eine Stunde davor.

„Ich hatte einen Termin bei meiner Bank, den ich auch eingehalten habe. Sie können meinen Berater Herrn Damrath gerne fragen. Im Übrigen wohne ich gute zweihundert Kilometer von hier entfernt“, bemerkte Tobias genervt.

Breuer nickte verstehend. Er besaß also ein Alibi, was allerdings keinesfalls ausschloss, dass er jemanden beauftragt hatte.

„Und Sie, Frau Nuhs?“, hakte er nach.

Empört hob der Mann den Kopf, aber seine Ehefrau legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm.

„Ich war zu Hause und habe einen Text bearbeitet, den wir als Werbetext für unsere Website nehmen wollten. Leider kann das keiner bezeugen“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Breuer sah sie einen Moment nachdenklich an. Könnte es sein, dass die zierliche Person einen Menschen auf diese bestialische Weise umgebracht hatte? Seine Erfahrung sagte ihm, dass man nie Wert auf das Äußere legen sollte.

„Glauben Sie wirklich, dass meine Frau zweihundert Kilometer fährt, meinen Vater umbringt, um anschließend zurückzukommen, als wenn so was alltäglich wäre? Und niemand hat sie bemerkt, nicht mal meine Mutter hat sie ins Haus kommen sehen?“, fuhr Tobias auf.

Breuer lächelte ihn an.

„Es klingt in der Tat sehr unwahrscheinlich, aber bitte verstehen Sie, wir müssen jedem Verdacht nachgehen“, gab er zu.

 

Bianca Nuhs nickte verständnisvoll, dabei blickte sie ihn freundlich an. Sie hatte sich keineswegs etwas vorzuwerfen, falls er sie verdächtigte, war es auch in Ordnung. Solange er nicht auf die Idee kam, die Beziehung zwischen ihrem Mann und seinem Vater unter die Lupe zu nehmen.

 

„Warum pflegen Sie keinen Kontakt mehr zu Ihren Eltern?“, fragte Breuer jetzt sachlich.

„Es gab vor fünf Jahren einen Streit wegen den Straftaten meines Sohnes. Daraufhin haben wir beschlossen, dass es für alle besser ist, wenn wir, also meine Frau und ich, uns von dem Rest meiner Familie fernhalten“, erklärte Tobias kurz angebunden.

Er wollte keinesfalls an die Streitereien oder die Verleumdungen denken, doch hier würde er wohl kaum drum herumkommen.

 

Breuer nickte verstehend. Irgendwie kam er in dem Mordfall nicht wirklich weiter. Das Alibi von Tobias Nuhs war absolut wasserdicht, falls der Berater der Bank es bestätigen würde. Blieb also nur seine Ehefrau. Aber irgendetwas sagte ihm, dass sie unmöglich die Täterin gewesen sein konnte. Immerhin hätte sie den alten Nuhs überwältigen und ihm dann diese heftigen Wunden beibringen müssen. Das alles auch noch, ohne bemerkt zu werden. Die Vorstellung war einfach absurd, außerdem sah sie keineswegs kräftig genug für den Mord aus.

„Erzählen Sie mir bitte etwas über den Streit“, bat Breuer sachlich, allerdings sah er sofort, wie es im Gesicht des Verdächtigen verbittert aufblitzte.

„Sie haben doch bestimmt die Akte meines Sohnes gelesen, oder?“, entgegnete er.

Die ganze Mimik von Tobias Nuhs verriet, dass er nicht über dieses Thema sprechen wollte. Aber er würde sich auch ebenso wenig weigern können.

„Ja, ich kenne die Straftaten von Daniel“, gab der Kommissar unumwunden zu.

„Dann können Sie sich ja vorstellen, wie unser Familienleben ausgesehen hat, als meine Eltern meiner Frau vorgeworfen haben, sie sei schuld. Sie hätte ihn dazu getrieben. Es gab eine regelrechte Hetzjagd auf sie“, erzählte er leise.

Breuer hörte an der Stimme seines Gegenübers, wie sehr er sich immer noch über diese Behauptung aufregte.

„Meine Ehefrau hat alles für meinen Sohn getan, aber leider war ihr Einfluss kaum groß genug. Die Mutter von Daniel hat ihm nie Werte beigebracht, auch nicht solche einfachen Dinge, wie Recht oder Unrecht. Bianca konnte nichts mehr tun, das Kind lag im Brunnen. Nur meine Eltern benötigten einen Sündenbock und der war eben Bianca. Als es zur Verurteilung kam, behaupteten sie, dass meine Frau mich so unter Druck setzen würde, dass ich kein Geld zur Verfügung stellen wollte, um ihm einen Rechtsanwalt zu bezahlen.“

„Stimmte das?“, hakte Breuer jetzt nach, dabei sah er die beiden aufmerksam an.

„Es ist richtig, dass ich mich geweigert habe, ihn zu unterstützen. Mein Sohn war mittlerweile einundzwanzig und so vollkommen von seinem Recht überzeugt. Er hat nicht eine Sekunde eingesehen, dass er ein Verbrechen begangen hatte. Natürlich ärgerte er sich, dass man ihn schnappte, aber er vergaß, dass er Schuld am Tod eines Menschen trug. So kamen wir zu dem Schluss, dass es besser wäre, ihn das ausbaden zu lassen, was er sich eingebrockt hatte. Außerdem übertrieb er es wirklich, selbst wenn wir einen Rechtsanwalt bezahlt hätten, gab es keine Chance für ihn.“

Tobias Nuhs rieb sich über die Augen, dann blickte er einen Moment auf den Boden. Diese Zeit wollte er einfach nur vergessen, die Hetzjagd auf seine Frau, die ungerechtfertigten Vorwürfe und natürlich die Straftaten seines Kindes.

„Meine Eltern stellten sich ganz auf die Seite meines Sohnes. Sie haben uns das Leben zur Hölle gemacht, bis wir den Kontakt komplett abbrachen“, erklärte er abschließend.

So gesehen konnte man das Vorgehen von Tobias und Bianca nachvollziehen. Breuer spürte, wie schwer dieser Schritt beiden gefallen sein musste, aber er wusste auch, dass der Mann recht hatte. Es gab in so einer Situation keine andere Möglichkeit.

„Können wir jetzt gehen oder haben Sie noch weitere Fragen an uns?“, wollte Nuhs ungeduldig wissen.

Der Kommissar sah die Zwei einen Augenblick nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf.

„Nein, das war es, es sei denn, Sie sind in der Lage mir etwas zu sagen, was uns in diesem Fall hilft.“

Sowohl Tobias als auch Bianca verneinten, standen auf und gingen zur Tür.

„Werden Sie ihre Mutter besuchen?“, fragte Breuer, gerade als das Ehepaar die Tür geöffnet hatte.

Langsam drehte der Mann sich um, dabei blickte er den Kommissar offen an.

„Das habe ich keineswegs vor, zumal sie mich wohl kaum sehen will“, antwortete er hart, dann packte er seine Frau am Arm; so verließen sie den Raum.

 

Wieso nur kam Breuer hier keinen Schritt weiter? Klar gab es Familien, die sich zerstritten, aber warum nur wollte Herr Nuhs seine Mutter nicht mal in der belastenden Situation besuchen? All diese Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, doch er bekam keine Antworten.

Müde wischte er sich über die Augen, dann beschloss er, erneut im Krankenhaus anzurufen. Vielleicht war die Ehefrau des Opfers ja jetzt vernehmungsfähig.

Eine freundliche Krankenschwester teilte ihm mit, dass die Patientin den Schock keinesfalls verkraftet habe.

„Steht sie weiterhin unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln?“, wollte Breuer wissen.

„Nein, Herr Kommissar, allerdings starrt sie nur die Wand an. Keine Reaktion von ihr, egal, ob wir sie ansprechen oder der Fernseher läuft. Es ist, als ob sie nichts mehr wahrnehmen würde“, erklärte die Schwester.

„Natürlich können Sie gerne herkommen und Frau Nuhs verhören, nur glaube ich kaum, dass das etwas bringt“, fügte sie freundlich hinzu.

„Ich melde mich morgen noch einmal, vielleicht bessert sich ihr Zustand ja“, blockte er ab.

Es kostete nur Zeit, jemanden zu befragen, der unter Schock stand. Es war aber auch wie verhext. Es gab einfach keine vernünftige Spur.

Seufzend nahm Breuer sich den Bericht von der Obduktion vor, obwohl er auf die Bilder wirklich gerne verzichtet hätte.

Wie erwartet verstarb das Opfer durch die heftigen Stichverletzungen. Der Gerichtsmediziner schloss einen Selbstmord aus, da die tödliche Wunde darauf schließen ließ, dass eine weitere Person das Messer geführt habe. Seltsam war nur, dass es viele Verletzungen gab, die auf einen Kampf hindeuteten. So wie die Spurensicherung es beschrieb, hätte Frau Nuhs irgendwas hören oder bemerken müssen. Darüber hinaus wusste er, dass die Tatwaffe direkt der Leiche lag.

Nachdenklich angelte er nach dem Bericht der SpuSi, dort gab es einen Hinweis: Die Waffe war säuberlich abgewaschen worden, anschließend hatte sie jemand neben Nuhs platziert.

Zu dumm, dass die Ehefrau des Opfers immer noch unter Schock stand, wobei Breuer hoffte, dass sie sich wieder davon erholen würde.

Erneut sah er sich den Bericht der Gerichtsmedizin an und schüttelte den Kopf. Natürlich schaffte es niemand einem Menschen so einfach das Herz herauszuschneiden, spätestens an den Rippen musste man zu anderen Mitteln greifen, als einem Fleischermesser. Aber die Verletzungen ließen den Schluss zu, dass es zumindest jemand versucht hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440002
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Mord Geist Krimi Mystery

Autor

  • Dino Hawks (Autor:in)

Dino Hawks ist das Pseudonym des Verlegers Dietmar Noss, der durch seine Frau Lisa Skydla zum Schreiben gekommen ist. Nachdem er eine Wette verloren hatte, in der es darum ging, dass er es nicht mal ansatzweise schaffen würde, eine Geschichte fertig zu schreiben, war sein Ehrgeiz geweckt und die Mystery-Krimi-Reihe "Breuer und Hag" war geboren. Wenn Dino Hawks sich nicht gerade um seinen Verlag "Merlins Bookshop" kümmert, lektoriert er Texte oder denkt sich neue Geschichten aus.
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Titel: Die geisterhafte Zeugin