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(K)ein Leben mit Borderline und Essstörung

von Laura Adrian (Autor:in)
455 Seiten

Zusammenfassung

Borderlinebetroffene sind in erster Linie auch „nur“ Menschen. Und ich bin einer von ihnen. Ich habe die Diagnosen Borderline, Magersucht und Bulimie – aber trotzdem kann ich (zumindest heute) behaupten, dass ich gerne lebe und jeden neuen Tag auf dieser Erde zu schätzen weiß. In meinem bisherigen Leben musste ich schon mehr als einen Schicksalsschlag einstecken. Ich lag mehrfach am Boden und war auch einige Male kurz davor aufzugeben, doch trotzdem habe ich mich jedes Mal wieder nach oben gekämpft. Fast 10 Jahre lang war mein Leben die reinste Achterbahnfahrt. Ich habe mich fast zu Tode gehungert, mir den Finger in den Hals gesteckt, die Arme zerschnitten, war unzählige Male in Psychiatrien und wurde von Ärzten bereits als hoffnungsloser Fall abgestempelt. Ununterbrochen ging es mit meiner Psyche auf und ab. Jedes Mal, wenn ich mich aus meinem dunklen Loch heraus gekämpft hatte, stürzte ich kurz darauf erneut in die Tiefe … Doch trotz der vielen Rückschläge und der unzähligen negativen Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machen musste, habe ich es geschafft, mich zurück ins Leben zu kämpfen. Dieses Buch ist meine Geschichte!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


(K)ein Leben mit Borderline und Essstörung

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

Februar 2012

 

Alle denken, dass ich mit dem Essen gut klarkomme, dass ich auf dem Weg der Besserung bin. Aber von meinem innerlichen Kampf, den ich bei jeder Mahlzeit tagtäglich gegen das Essen und vor allem gegen mich selbst führe, bekommt niemand etwas mit.

 

Ich weiß selbst nicht, warum ich an meinem viel zu mageren Körper hänge, der viel zu schwach ist, um ein lebenswertes Leben zu führen. Warum ich mich freue, wenn ich abgenommen habe, und sich meine Rippen und Beckenknochen unter der Haut abzeichnen. Warum ich Angst habe, zuzunehmen und gesund zu werden, obwohl es mein allergrößter Traum ist, ein normales Gewicht zu haben; dass zu essen, worauf ich gerade Lust habe und vor allem auch, so viel ich davon essen möchte. Eine Ausbildung zu machen. Nicht mehr ununterbrochen an Essen, Kalorien und Gewicht denken. Kurz: Ein normales, geregeltes Leben zu führen und nicht ständig eine Achterbahnfahrt der Gefühle und Gedanken erleben zu müssen.

Aber irgendetwas in meinem Gehirn blockiert mich dabei.

 

Im Grunde genommen sind es ja auch nur irgendwelche Zahlen, die die Waage anzeigt. Stinknormale Zahlen, die mir das Leben zur Hölle machen. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, ohne diese Zahlen zu leben, obwohl ich es gerne möchte.

 

Ich hasse meinen vernarbten Körper. Es gibt niemanden, den ich mehr hasse als mich selbst. Und doch mag ich keine Narbe missen, denn jeder Schnitt hat seine eigene Geschichte. Er ist wie eine Erinnerung und gleichzeitig der Spiegel zu meiner Seele, die mindestens genauso viele Narben hat.

 

Kein Mensch, der kein Borderliner ist, kann nachvollziehen, warum sich jemand freiwillig mit einer Rasierklinge oder einem anderen scharfen Gegenstand so tief ins eigene Fleisch schneidet, dass es genäht werden muss.

Genauso wenig wie nur ein Essgestörter verstehen kann, dass man vor einem vollen Kühlschrank verhungert oder sich erst den Magen vollfrisst (von Essen kann da keine Rede mehr sein) und anschließend alles wieder auskotzt. Deshalb will ich mit diesem Buch versuchen, diese Verhaltensweisen verständlicher zu machen.

Mein Ziel ist es, Betroffenen mit meiner Geschichte zu zeigen, dass es Wege aus der Krankheit gibt, bzw. man lernen kann, damit zu leben. Angehörigen und Interessierten möchte ich einen kleinen Einblick in das Denken eines Borderliners und/oder Essgestörten geben. Ich hoffe, dass mir das auf den kommenden Seiten gelingt. Vielleicht kann ich dem einen oder anderen ein wenig Hoffnung schenken, Mut weiterzukämpfen oder Menschen zum Nachdenken anregen. Was auch immer dieses Buch mit dir macht: Ich wünsche mir, dass es auf positive Weise deinen Alltag bereichert.

 

Freundliche Grüße

Laura

Allgemeines über Borderline und Essstörung

 

Borderline

„Borderline“ oder auch „emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs“ genannt, ist eine Persönlichkeitsstörung, die durch Impulsivität und Instabilität der Stimmung, des Selbstbildes und innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen gekennzeichnet ist. In Deutschland sind rund 1,5 Millionen Menschen davon betroffen. Meistens sind es Frauen.

Ursachen der Erkrankung können genetische Veranlagungen und/oder Umwelteinflüsse wie sexueller Missbrauch, Gewalt in der Familie oder andere traumatische Erlebnisse sein.

Viele Forscher gehen inzwischen davon aus, dass der Grundbaustein für ein Borderlinesyndrom meist schon im Kindesalter gelegt wird. Die häufigste Ursache hierfür ist ein Trauma in der Kindheit oder Jugend. Aber einen genauen Auslöser, der zu 100 Prozent zu der Diagnose führt, ist noch nicht gefunden, denn es gibt auch Menschen, die ein Trauma erlebt haben und nicht an Borderline erkranken oder umgekehrt, die noch nie ein Trauma durchlebt haben und trotzdem Borderline-Symptome entwickelt haben.

 

Die endgültige Diagnose kann erst mit Erreichen des 18. Lebensjahres gestellt werden, da erst zu diesem Zeitpunkt die Persönlichkeit vollständig entwickelt und gefestigt ist. Zuvor ist es lediglich ein Verdacht.

Typische Merkmale der Diagnose sind die Art, wie Betroffene ihre Gefühle wahrnehmen (Betroffene nehmen ihre Gefühle um ein Vielfaches stärker wahr als Nicht-Betroffene) und das für Borderline typische „Schwarz-weiß-Denken“. Das heißt, dass Betroffene meist ihre komplette Lebenswelt in zwei Extreme (zum Beispiel gut oder schlecht, ganz oder gar nicht – eben schwarz oder weiß) unterteilen. Die bunten Farben, die zwischen diesen Extremen liegen, sind für sie nur schwer bis gar nicht erkennbar.

 

Um die Diagnose Borderline zu stellen, müssen mindestens fünf der neun für die Diagnose festgelegten Kriterien über einen längeren Zeitraum auf die Person zutreffen. Diese neun Diagnosekriterien lauten:

1. Starkes Bemühen tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden (Betroffene zeigen starke Verlassensängste und können nur schwer alleine bleiben),

2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und der Entwertung gekennzeichnet ist (Unfähigkeit eine Beziehung konstant aufrecht zu erhalten),

3. Identitätsstörung: Ausgeprägte und anhaltende Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung (Betroffene wissen nicht, wer sie sind und haben meist ein sehr negatives, von Selbsthass geprägtes Selbstbild),

4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen z.B. Geldausgeben, Sexualität, rücksichtsloses Fahren, Substanzmissbrauch, zu viel beziehungsweise zu wenig essen (Betroffene leben ohne Rücksicht auf Verluste und handeln impulsiv – ohne großartig über mögliche Folgen nachzudenken),

5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten,

6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (Betroffene reagieren äußerst sensibel auf innere und äußere Reize, deshalb ist ihre Stimmung oft unausgeglichen. Eine Kleinigkeit kann eine regelrechte Kette von Gefühlen auslösen),

7. Chronisches Gefühl von Leere,

8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die eigene Wut zu kontrollieren,

9. Vorübergehende durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome (Besonders in Stresssituationen haben einige Betroffene das Gefühl, nicht in ihrem eigenen Körper zu sein und dissoziieren).

Unabhängig von diesen Diagnosekriterien können noch weitere Symptome beziehungsweise Krankheitsbilder auftreten. Zum Beispiel lassen sich bei ca. 80 Prozent der von Borderline-Betroffenen, Depressionen feststellen, ca. 14 Prozent leiden an einer Essstörung und nach neuesten Studien gehen Forscher davon aus, dass knapp 50 Prozent ADHS, also eine Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung haben. Das heißt, sie sind leicht abzulenken, besitzen nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, haben Probleme, sich lange auf eine einzelne Sache zu konzentrieren und einen hohen Bewegungsdrang. Außerdem sind häufig Suchtverhalten und oder Substanzmittelmissbrauch, Ängste, Zwänge, gestörtes Sozialverhalten, Schlafstörungen oder Kontaktarmut beziehungsweise Abbruch sämtlicher Kontakte zu beobachten.

 

Hinweis: Auch wenn es durch Medien häufig so verbreitet wird: Borderline ist nicht gleichzusetzen mit Selbstverletzung. Zwar verletzen sich viele Betroffene selbst – aber bei Weitem nicht alle. Genauso wenig, wie es bedeutet, dass jeder, der sich selbst verletzt, zwangsläufig die Diagnose Borderline haben muss. Selbstverletzung kann bei vielen unterschiedlichen Krankheitsbildern oder unter anderem auch in der Pubertät vorkommen. Dementsprechend ist es kein eindeutiges Merkmal der Diagnose!

 

 

 

Magersucht

„Anorexia nervosa“ ist der Fachbegriff für Magersucht. Rund 0,7 Prozent der Deutschen leiden an Magersucht. Der größte Teil der Betroffenen ist weiblich, allerdings erkranken auch immer mehr Männer daran.

Die Erkrankten weisen meist eine Körperschemastörung auf. Sie haben Untergewicht und nehmen sich trotzdem als zu dick wahr. Sie sind sehr leistungsorientiert und haben oft ein niedriges Selbstwertgefühl. Ihre Gedanken kreisen häufig um Ernährung, Gewicht und Körperschema. Ein weiteres Zeichen der Diagnose ist die selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme durch Verminderung der Nahrungsaufnahme, Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder extremen Sport. Magersüchtige meiden hochkalorische Nahrungsmittel. Die Krankheit hat schwere körperliche Folgen, wie niedrigen Blutdruck, verlangsamten Herzschlag, Herzrhythmusstörungen, Blutarmut, fehlende Elektrolyte im Blut, Hormonstörungen, Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Verstopfung oder Nierenversagen, um nur die häufigsten Auswirkungen zu nennen. 15 Prozent der Erkrankten sterben an den Folgen, fast die Hälfte kann geheilt werden und bei dem Rest wird die Krankheit chronisch. Die Rückfallquote ist hoch.

Auslöser können familiäre Probleme, mangelndes Selbstwertgefühl und/oder Selbstbewusstsein, gesellschaftliche und/oder kulturelle Aspekte, wie das heutige Schlankheitsideal, ein Trauma oder genetische Faktoren sein.

 

 

 

Bulimie

An Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) leiden in Deutschland rund 600.000 Menschen. Ca. 90 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Meistens sind sie normalgewichtig. Sie können allerdings auch Unter- oder Übergewicht haben. Das typische Merkmal der Krankheit sind Heißhungerattacken, bei denen Unmengen von Lebensmitteln gegessen werden. Anschließend werden Maßnahmen ergriffen, um die Gewichtszunahme zu vermeiden. Diese können sein: Selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführ- und/oder Brechmitteln, exzessiver Sport, Hungern oder Diäten. Die Heißhungerattacken können unterschiedlich oft auftauchen. Es kann sein, dass sie mehrmals täglich oder wochenlang gar nicht auftreten. Viele Betroffene litten zuvor an Magersucht. Bulimiker haben meist eine gestörte Selbstwahrnehmung und/oder eine Körperschemastörung. Anders als bei der Magersucht, nehmen sich Betroffene meist nur mit Normalgewicht als zu dick wahr, nicht im Untergewicht.

Auch die Bulimie hat schwere körperliche Folgen. Die Magensäure beim Erbrechen greift den Zahnschmelz an und es kommt zu Karies, Störung des Elektrolyt-Haushaltes (Bsp.: Kaliummangel), Anschwellen und Entzündung der Speicheldrüsen, Entzündung der Speiseröhre, Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen, Osteoporose, Magenerweiterung und Magenruptur. Auch hier nenne ich nur die häufigsten Folgen.

Auf lange Sicht können nur gut ein Drittel der Betroffenen langfristig komplett geheilt werden. Bei vielen tritt eine Verbesserung auf, aber bei einigen wird die Krankheit chronisch.

 

 

Achtung: Dies sind nur die wichtigsten Fakten zu den Krankheiten. Eine ausführliche Beschreibung würde den Rahmen des Buches sprengen. Weitere, detailliertere Informationen finden Sie in Fachbüchern oder im Internet.

1. Was bedeuten die Diagnosen für mich

 

Was bedeutet Borderline für mich?

Borderline bedeutet für mich, täglich eine Achterbahnfahrt der Gefühle zu erleben. Es ist, als würde ich in einem außer Kontrolle geratenem Zug sitzen, bei dem die Notbremse defekt ist. Mit Borderline zu leben, ist wie sterben und trotzdem weiterleben, aufgeben und gleichzeitig weiterkämpfen, ein Leben voller Gegensätze. Meine Gefühle widersprechen sich ständig.

Ich hasse die Menschen, die ich am meisten liebe. Wenn ich jemanden mag, möchte ich mit ihm zusammen sein, aber ich halte seine Nähe häufig nicht lange aus. Ich möchte in den Arm genommen, doch gleichzeitig nicht angefasst werden. Ständig lebe ich mit der Angst, die Menschen zu verlieren, die ich am meisten liebe. Obwohl ich sie über alles mag, verletze ich sie oft grundlos mit meinen Worten, weil ich ihre Nähe nicht ertragen kann. Es gibt sogar Momente, in denen ich sie hasse, doch gleichzeitig könnte ich es nicht aushalten, wenn sie mich alleine lassen würden. Ich habe Angst vor Nähe, aber gleichzeitig mindestens genauso große Angst, verlassen zu werden. Es kann passieren, dass ich in einem Raum voller Menschen stehe und ich mich trotzdem völlig einsam fühle. Also ein komplettes Gefühlschaos!

Des Weiteren kommt hinzu, dass ich als Borderliner alle Gefühle um ein Vielfaches stärker wahrnehme als Nicht-Betroffene. Das heißt, ich bin nicht nur glücklich, sondern überglücklich, nicht nur traurig, sondern direkt zu Tode betrübt. Etwas dazwischen gibt es für mich nicht.

 

Dank Borderline wird mein Leben nie langweilig. Es gibt immer Action! Nie weiß ich, was mich in den nächsten fünf Minuten erwartet.

 

Es gibt Tage, da verfluche ich mein Leben, die Diagnose, meine Persönlichkeit und alles, was sich in einem Umkreis von 50 Kilometern um mich herum befindet, wird direkt als „Scheiße“ abgestempelt und verflucht (ohne dass ich es mir vorher überhaupt angeschaut habe). Und es gibt Tage, an denen ich das Leben mit Borderline wirklich genieße. Ich genieße es dann nicht nur glücklich (so wie „normale“ Menschen) zu sein, sondern überglücklich. Ich sehe es nicht als „Strafe“ an, hyperempfindlich auf jegliche Emotionen zu reagieren, sondern als Begabung.

 

Also kurz zusammengefasst: Leben mit Borderline heißt für mich, auf eine ganz spezielle Art besonders zu sein. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer. So etwas wie Routine oder normaler Alltag ist mit der Diagnose nicht oder nur bedingt möglich.

 

Auf gewisse Weise bedeutet Borderline auch manchmal für mich, im eigenen Körper gefangen zu sein. Es gibt Momente, in denen ich das Gefühl habe, innerlich zu explodieren. Ich habe dann so eine wahnsinnige Wut in mir und weiß nicht, wie ich sie wieder loswerden kann. Ich werde unruhig und angespannt und das löst den Druck zur Selbstverletzung in mir aus. Jeder Schnitt in die eigene Haut ist dann wie eine Art Befreiung für mich.

 

Borderline bedeutet für mich, einen täglichen Kampf zu führen, um ein bisschen Halt im Leben zu finden und mich im Alltag zurechtzufinden.

 

Borderline bedeutet, ständig an mir zu arbeiten. Ich muss vieles (wieder) erlernen, was für andere Menschen selbstverständlich ist, wie zum Beispiel sich selbst zu lieben und vor allem sich, selbst zu verzeihen. Jeder Tag ist harte Arbeit. Es geht immer auf und ab, nie ist ein Tag wie der andere.

 

Außerdem heißt es, dass ich selbst im Sommer lange Kleidung tragen muss, wenn ich nicht von allen Leuten angestarrt werden will. Mein gesamter Körper ist übersäht mit tiefen Narben und viele Menschen schreckt dieses Bild ab. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, deshalb reagieren sie oft mit Ablehnung.

 

Borderline ist eine tägliche Gratwanderung auf einem schmalen Drahtseil. Jeder Windstoß oder jeder Fehltritt kann ein Absturz in die Tiefe bedeuten.

 

 

 

Was bedeuten die Essstörungen für mich?

Magersüchtig zu sein, bedeutet für mich, in den Spiegel zu schauen und mich auch dann noch zu dick zu fühlen, wenn ich bereits starkes Untergewicht habe und eigentlich nur noch aus Haut und Knochen bestehe. Selbst dann sehe ich an meinem abgemagerten Körper noch Fettpolster.

 

Magersüchtig zu sein, bedeutet, immer noch dünner sein zu wollen. Ich setze mir ein Zielgewicht, und wenn ich es erreicht habe, setze ich mir ein noch niedrigeres Zielgewicht und so weiter. Es ist nie zu wenig, sondern immer zu viel.

 

Begonnen hat die Magersucht bei mir mit einer harmlosen Diät, doch recht bald wurde diese harmlose Diät zu einer schweren Erkrankung. Eine Krankheit, die mir das Leben zur Hölle machte. Ich hatte die vollkommene Kontrolle über mich und meine Gedanken verloren.

 

Magersüchtig zu sein, bedeutet jedoch nicht, gar nichts zu essen. Ganz im Gegenteil: Jeder Magersüchtige kann riesige Mengen verzehren. Das heißt, solange es sich um fett- und kalorienarme Rohkost handelt wie zum Beispiel ein Kilo Karotten (300 Kalorien), ein Kilo Tomaten (200 Kalorien) oder einen Salatkopf ohne Dressing (ca. 60 bis 80 Kalorien).

 

Die Waage ist der Mittelpunkt meines Lebens. Jeden Tag wiege ich mich, manchmal auch mehrmals. Habe ich zugenommen, fühle ich mich schlecht. Habe ich abgenommen, fühle ich mich leicht und gut.

 

Magersucht zu haben bedeutet für mich mit starken Bauchschmerzen, die vom ständigen Hunger kommen, abends einzuschlafen und morgens aufzuwachen.

Ich erlaube mir, immer weniger zu essen, bis nur noch Salat ohne Dressing übrig war. Ich entwickelte eine gigantische Angst vor Fett und Kalorien. Zeitweise fürchtete ich, dass ich von einem Brötchen oder sonst einer Kleinigkeit, die ich essen würde, sofort drei Kilo mehr auf der Waage hätte.

Doch durch den ständigen Verzicht entstand recht schnell ein fürchterlicher Heißhunger auf genau die Lebensmittel, die ich mir eigentlich verbot. Irgendwann verliere ich die Kontrolle über mich selbst und stopfe alles in mich hinein, was ich mir sonst verwehre. Aber nicht nur ein bisschen, sondern tütenweise, bis ich das Gefühl habe, das mein Magen gleich platzt. Mit einem kugelrunden Bauch, der aussieht wie ein Schwangerschaftsbauch im fünften Monat, wanke ich nach dem Fressanfall zur Toilette und übergebe mich. Ich stecke mir nicht nur den Finger in den Hals, sondern die gesamte Hand, bis nur noch Galle herauskommt. Anschließend fühle ich mich extrem schlecht und ich habe einen fürchterlichen Hass auf mich selbst. Ich schäme mich dafür, dass ich nicht stark geblieben bin, sondern die Kontrolle über meinen Körper verloren habe.

Zusätzlich bedeutet die Essstörung für mich, Sport bis zur völligen Erschöpfung und darüber hinaus zu treiben. Nur damit ich noch mehr Kalorien als sowieso schon verbrenne.

 

Selbst wenn man die Kontrolle schon längst verloren hat, glaubt man, sie noch zu haben. Man denkt, dass man jederzeit mit dem Hungern und Erbrechen aufhören kann, wenn man wirklich will, was aber nicht der Fall ist. Man belügt sich selbst.

 

Eine Essstörung zu haben ist wie Selbstmord auf Raten. Man führt einen erbitterten Kampf gegen den eigenen Körper.

Auf der anderen Seite gibt die Essstörung allerdings auch Sicherheit und Halt.

Alles ist berechenbar und überschaubar.

Ich habe Regeln, an die ich mich halte. Wenn ich sie breche, weiß ich auch, was passiert. Esse ich zu viel, bestraft mich die Waage am nächsten Tag. Halte ich mich jedoch an die Gesetze, erreiche ich meine Ziele. Die reale Welt ist viel komplizierter und sprunghafter. In meiner essgestörten Welt habe ich die Kontrolle über das, was passiert. In der realen Welt ist es fast unmöglich, alles zu kontrollieren.

 

Magersüchtig zu sein, heißt für mich, dass ich jeden Tag einen Kampf gegen das Essen und vor allem gegen mich selbst führe. Durch das Untergewicht war ich zeitweise sehr schnell erschöpft und dauernd müde. Ich konnte mich nicht konzentrieren und auch ansonsten fehlten mir der Antrieb und die Motivation.

 

Im Endeffekt bedeutete die Essstörung für mich, eine lange Therapie zu machen.

Mit mühseliger Kleinarbeit muss ich nicht nur das Essen wieder erlernen, sondern auch das Hunger- und Sättigungsgefühl. Mehrere Klinikaufenthalte sind bei einer Essstörung „normal“.

 

Durch das starke Untergewicht der Magersucht friert man extrem. Selbst im Sommer. Gleichgültig wie warm und dick man sich anzieht oder wie hoch die Außentemperatur ist: Man friert trotzdem weiter. Denn die Kälte kommt von innen heraus.

2. Mein Leben vor der Krankheit

 

An mein Leben vor der Krankheit kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern.
Zu lange ist es her, dass mein Leben (halbwegs) „normal“ verlaufen ist und ich nicht ständig das Gefühl hatte, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird.
Mittlerweile erlebe ich bereits seit fast 10 Jahren ein ewiges Auf und Ab. Tagtäglich fahren meine Emotionen Achterbahn und immer, wenn ich das Gefühl habe, dass es „gut“ läuft, ich zufrieden bin und denke, dass es so bleiben kann, kommt irgendein Idiot und macht mir alles wieder kaputt … (Manchmal – oder eigentlich meistens, bin ich selbst dieser Idiot).
Wie mein Leben ohne das ständige Gefühlschaos, meinen (größtenteils unbegründeten) Selbsthass, die gefühlten 1000 Probleme und Sorgen und dem restlichen „Wahnsinn“ in meinem Kopf ausgesehen hat, weiß ich nicht mehr. Manchmal kommt es mir so vor, als wenn ich schon immer „anders“ als alle anderen Menschen auf dieser Welt gewesen wäre. Ich habe mich noch nie „normal“ gefühlt. Seitdem ich denken kann, fühle ich mich wie ein Fremdkörper. Ich bin zwar da, sehe so aus wie alle anderen Menschen auf diesen Planeten, aber bin trotzdem „anders“. Ich passe nicht in das „übliche Menschenbild“. Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Was genau mit mir nicht richtig ist, kann ich nicht sagen, aber ich spüre es. Schon im Kindergarten war ich nicht so, wie die restlichen Kinder in meinem Alter und auch heute noch unterscheide ich mich von anderen Menschen. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass ich gelernt habe, dass „anders sein“ nicht zwangsläufig negativ ist. Manchmal hat es auch Vorteile, nicht so zu sein wie der Rest der Menschheit.


Einfach hatte ich es noch nie im Leben. Schon in der Grundschule wurde ich gemobbt. Ich gehörte nie zu den Menschen, die besonders beliebt waren, 100.000 Freunde hatten, von jedem zur Begrüßung umarmt und/oder geküsst wurden etc. – aber ich hatte immer zwei oder drei engere Freundinnen, mit denen ich mich sehr gut verstanden habe, die Pausen verbracht und manchmal auch nach der Schule getroffen habe. Doch wenn mich meine Mitschüler mobbten, hatte ich plötzlich keine Freunde mehr. Dann war ich vollkommen auf mich alleine gestellt. Alle standen um mich herum, schauten zu und niemand kam auf die Idee, für mich Partei zu ergreifen. Selbst meine (angeblichen) Freundinnen standen in solchen Situationen nicht mehr zu mir … Und auch die Lehrer schauten gekonnt in die andere Richtung, wenn ich von meinen Mitschülern (mal wieder) beleidigt, beschimpft, gehänselt und/oder gedemütigt wurde. Es interessierte niemanden, wie es mir dabei ging, ob mich die Worte verletzten, ob ich geschlagen, getreten oder sonstiges wurde.
Ich glaube, dass bereits zu dieser Zeit mein Wunsch, zu verschwinden, entstand. Ich wollte mich einfach in Luft auflösen, nicht mehr da sein und aus der „Hölle“ namens Leben entfliehen. Ich hatte das Gefühl, das egal, was ich machte, sowieso alles falsch war. Ich fühlte mich zu nichts zu gebrauchen, wertlos, nutzlos und vollkommen fehl am Platz. Ich gehörte nicht dazu und war ein Außenseiter. Tagtäglich wurde mir von meinen Mitschülern aufs Neue das Gefühl vermittelt, dass ich unerwünscht und wertlos wäre. Das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung und damit meine ich nicht nur die blauen Flecken. Denn Worte können oftmals viel verletzender sein als körperliche Gewalt.
Doch egal, was passierte – ob ich geschlagen, getreten, gehänselt, beleidigt oder ausgelacht wurde – ich suchte schon damals - wie auch heute noch) jedes Mal die Schuld bei mir und nie bei anderen. Selbstvertrauen besaß ich nicht und Selbstwertgefühl war ebenfalls ein Fremdwort für mich.

Nach der Grundschule wechselte ich auf die Realschule. Anfangs hatte ich die Hoffnung, dass es dort mit dem Mobbing besser werden würde – doch diese Erwartung wurde bereits nach wenigen Wochen zerschlagen. Es verbesserte sich nicht, sondern wurde schlimmer. Wann immer es eine Schlägerei gab – ich war mittendrin.

 

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich einen Stempel mit der Aufschrift „OPFER“ auf die Stirn gestempelt hätte. Ich war so etwas wie ein Antistressball für die gesamten Schüler meiner Altersstufe. Wenn jemand schlechte Laune hatte, frustriert und/oder gestresst war oder einfach mal „Bock“ hatte, seine Aggressionen rauszulassen und jemand anderes niederzumachen, kam er zu mir. Mit mir konnte man es schließlich machen.

Warum ich ständig der Sündenbock für alle und jeden war und gemobbt wurde, weiß ich nicht genau. Aber wahrscheinlich lag es daran, dass ich mich nie gewehrt habe. Ich war ein perfektes Opfer. Nie habe ich zurückgeschlagen oder bin zu einem Lehrer/ einer Lehrerin gerannt und habe irgendjemanden verpetzt. Ich schwieg immerzu.

Selbst zu Hause erzählte ich kaum etwas von dem Mobbing in der Schule. Ich wollte weder meine Eltern noch irgendwelche anderen Personen mit meinen Problemen und Sorgen belasten. Stattdessen versuchte ich, alleine damit fertig zu werden. Ich wollte „stark“ sein und nicht als Feigling dastehen.

 

Mit der Zeit legte ich mir eine Art Schutzpanzer zu, der Beleidigungen, Schimpfworte und doofe Kommentare einfach abprallen ließ. Niemand sollte mich beziehungsweise meine Gefühle mehr verletzen können. Zusätzlich stürzte ich mich ins Lernen, um mich abzulenken. Jede freie Sekunde verbrachte ich damit, für die Schule zu pauken. Ich wollte Klassenbeste werden und hoffte dadurch (endlich) die Anerkennung von meinen Mitschülern zu bekommen, nach der ich mich sehnte. Ich wollte nicht länger die Rolle der Außenseiterin oder des Sündenbocks in der Klasse spielen, sondern endlich (!!!) dazugehören. Ich wollte auch beliebt sein, anerkannt und akzeptiert werden, Aufmerksamkeit bekommen, viele Freunde haben und jeden Morgen von der gesamten Klasse freudestrahlend begrüßt werden.
Ich dachte, dass ich mir durch gute Noten die Anerkennung meiner Mitmenschen „erarbeiten“ könnte, und bildete mir ein, dass wenn ich Klassenbeste wäre, nicht mehr gemobbt werden würde, sondern alle meine Freunde sein wollten. Doch leider war dem nicht so.
Egal, wie sehr ich mich anstrengte, wie sehr ich mich bemühte und wie gut meine Noten waren – ich wurde weiterhin gemobbt, ausgegrenzt und nun sogar noch als Streberin beschimpft. Lediglich zum Hausaufgabenabschreiben war ich gut genug.

 

Trotzdem tat das meinem Streben nach guten Noten und den besten Klausuren der Klasse keinen Abbruch. Vielleicht ging mein Plan, mir die Anerkennung meiner Mitschüler durch gute Noten zu „erarbeiten“, nicht ganz auf, aber dafür wurde ich nun regelmäßig von den Lehrern und meinen Eltern für meine guten schulischen Leistungen gelobt. Das war für mich auch eine Art von Anerkennung und Bestätigung. Zwar bekam ich das Lob und die Aufmerksamkeit nicht von den Leuten, von denen ich sie gerne gewünscht hätte – aber immerhin wurde ich nun wenigsten von irgendwem beachtet und gelobt!

Ich genoss das Gefühl „auf die Schulter geklopft zu bekommen“, gelobt zu werden und gesagt zu bekommen, dass ich intelligent sei, viel gelernt hätte und (mal wieder) die beste Klausur der Klasse geschrieben hätte. Es tat gut, beachtet zu werden und von den Lehrern mitgeteilt zu bekommen, dass ich eine gute Schülerin sei, super Leistungen erbringe und es Freude mache, mich zu unterrichten. Das gab mir das Gefühl, dass ich doch nicht ganz so doof und unnütz war, wie ich die gesamte Zeit von mir selbst gedacht hatte, sondern auch zu etwas fähig war. Ich war nicht länger ein „niemand“, der die gesamten Schulstunden über still und regungslos in der hintersten Ecke saß, nie beachtet wurde, eigentlich gar nicht auffallen würde, wenn nicht regelmäßig sein Name beim Aufrufen der Klassenliste zur Anwesenheitskontrolle fallen würde – sondern ich war jetzt Klassenbeste!
Außerdem war das Lernen für mich wie eine Flucht aus der realen Welt. Wenn ich für die Schule gelernt habe, dann musste ich mich auf den Unterrichtsstoff konzentrieren und hatte somit keine Zeit, mir über mein (beschissenes, sinnloses) Leben Gedanken zu machen. So konnte ich (zumindest für eine Weile) meine Probleme und Sorgen vergessen beziehungsweise verdrängen. Es war für mich, wie wenn ich gedanklich in eine andere, bessere Welt abtauchen würde, in der die einzigen „Probleme“ binomische Formeln, Rechtschreibung, Englischvokabeln etc. waren.

Allerdings bargen dieses extreme Streben nach guten Noten und exzessive Lernen auch dunkle Schattenseiten.
Schon nach kurzer Zeit fing ich an, mich selbst einem immensen Leistungsdruck auszusetzen. Ich war nur noch mit den Noten Eins und Zwei zufrieden. Bereits die Note Drei war für mich eine schlechte Note und die Note Vier war für mich so schlecht, wie für andere Schüler die Note Sechs. Sobald ich nicht die beste Klausur der Klasse geschrieben hatte oder schlechter als zwei war, fühlte ich mich als absolute Versagerin und begann mich in Gedanken selbst niederzumachen. Ausschließlich, wenn ich die Beste war und/oder für meine gute Leistung gelobt wurde, war ich halbwegs zufrieden mit mir und konnte so etwas wie ein Hauch von Stolz verspüren. Jedoch hielt dieses Gefühl meist nicht lange an … Denn ich war der Auffassung, dass Anerkennung, Lob und gute Leistungen nichts Beständiges waren, sondern ständig neu verdient werden mussten. Ich hatte das Gefühl, mich jeden Tag aufs Neue frisch beweisen zu müssen. Ich konnte, wollte und durfte nicht nachlassen! Ich durfte mir keinen „Ausrutscher“ leisten und eine Klausur in den Sand setzen, denn dann wäre ich wieder – so meine Gedanken – das unscheinbare Mädchen, das in der hintersten Ecke des Klassensaales sitzt und von niemandem (nicht einmal von den Lehrern) beachtet werden würde.

Schon damals hatte ich große Angst zu versagen, Fehler zu machen, Anforderungen nicht standzuhalten und die Vorstellungen anderer nicht erfüllen zu können.

Obwohl ich vom Verstand her wusste, dass es keinen „perfekten Menschen“ gibt, der nie Fehler begeht, alles beherrscht und bei jeden beliebt ist – strebte ich trotzdem (bereits zu dieser Zeit schon) nach extremem Perfektionismus. Egal was ich machte: Ich wollte es nicht nur gut, sondern sehr gut – nahezu perfekt - machen. Fehler wollte und durfte (!) ich mir nicht (mehr) erlauben.

Meine Angst ging sogar so weit, dass ich eigene Wünsche und Bedürfnisse zurücksteckte und mich verbog, um es anderen Menschen recht zu machen beziehungsweise keinen Fehler zu begehen.

Wenn mich zum Beispiel jemand um etwas gebeten hatte, konnte ich nur schwer „Nein“ sagen, weil ich Angst hatte, die Person zu verletzen oder ihre Vorstellungen von mir nicht zu erfüllen. Ich hatte panische Angst davor, meine Mitmenschen zu enttäuschen und fürchtete, dass – falls ich doch Mal einen Fehler machte - jeder merken, würde wie dumm und unfähig ich in Wirklichkeit war.

Ich tat alles dafür, dass niemand mitbekam, dass ich gar nicht so „perfekt“ war, wie ich nach außen hin immer tat, sondern das alles nur Schein war und ich eigentlich gar nichts richtig konnte und „schlecht“ war.
Wenn ich trotz aller Vorsicht doch einmal einen Fehler machte, war das für mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. Ein klitzekleiner Ausrutscher oder ein falsches Wort, worüber sich im Normalfall kein Mensch Gedanken macht, konnte mich komplett aus der Bahn werfen und tagelang im Geiste verfolgen. Außerdem entschuldigte ich mich für jeden Fehltritt – egal wie winzig und unbedeutend er auch war – mehrfach.


Solange ich denken kann, habe ich mich nur dann gut und wertvoll gefühlt, wenn ich in meinem Handeln von anderen, Außenstehenden, bestätigt wurde. Ich konnte weder mich selbst wertschätzen noch anerkennen oder meinen Fähigkeiten vertrauen. Das Einzige, was ich konnte, war mich selbst noch mehr niederzumachen, als es meine Mitschüler es nicht ohnehin schon taten … Meine Einstellung war: „Wenn mich alle niedermachen, dann kann ich mich auch noch weiter niedermachen. Wenn schon am Boden – dann ganz tief am Boden.“ Deshalb waren mir Lob und Anerkennung von außen sehr, sehr wichtig. Sie gaben mir wenigstens ein paar Sekunden lang einen Hauch von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.

Mein Essverhalten würde ich zu dem Zeitpunkt (noch) als durchschnittlich bezeichnen. Ich aß das, worauf ich Appetit hatte und davon so viel, wie ich wollte. Egal ob Schokolade, Chips, Nudeln und so weiter, alles aß ich, ohne über Fett und Kalorien nachzudenken. Gewogen hab ich mich so gut wie nie. Mir war mein Gewicht relativ egal. Ich war zwar alles andere als glücklich darüber, dass ich etwas mollig war, aber sah auch nicht ein, etwas daran zu ändern, denn dafür liebte ich das Essen viel zu sehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, auf Süßigkeiten, Chips und Co zu verzichten. Außerdem behauptete meine Mutter immer, dass ich nicht dick sei, sondern lediglich viele Muskeln und schwere Knochen hätte. Allerdings war ich nicht doof und wusste sehr wohl, dass mein Körpergewicht nicht ausschließlich aus Knochen und Muskelmasse bestand, sondern auch eine Menge (überschüssiges) Fett zu meinem Gewicht beigetragen hat. Doch das störte mich – wie gesagt – recht wenig. Schließlich war ich nicht so dick, dass ich nicht mehr durch die Tür passte oder durch die Gegend rollte.
Ganz im Gegenteil: Ich war während meiner Schulzeit sehr sportlich und aktiv. Mindestens einmal pro Woche ging ich regelmäßig zum Judotraining und Reiten und war auch sonst kein Bewegungsmuffel. Judo machte ich sogar schon seit meinem 5. Lebensjahr und bestritt in regelmäßigen Abständen – sehr erfolgreich – Wettkämpfe.
Was eigentlich ziemlich paradox war … Denn Judo ist ein Kampfsport, bei dem man mit seinem Gegner – besonders bei Wettkämpfen – nicht gerade zimperlich umgeht.
Also rein theoretisch hätte ich mich gegen die Schläge meiner Klassenkameraden wehren können, was ich jedoch nie tat. Meine Angst, dadurch jemand zu verletzen, oder alles noch viel schlimmer zu machen, war zu groß. Stattdessen litt ich jedes Mal stumm und hoffte, dass die Mobbingattacke schnell vorbei sein würde.

Selbstverletzung war zu dieser Zeit noch kein Thema in meinem Leben. Ich wusste nicht einmal, dass beziehungsweise in welchem Ausmaß es so etwas gibt. Ich kannte nur die sogenannten „Emos“, die sich die oberste Hautschicht aufritzen, weil sie Aufmerksamkeit wollen und es „cool“ finden. Mit Borderline hat das allerdings rein gar nichts zu tun!

 

3. Wie alles begann

 

Im Alter von 13 Jahren sollte sich mein Leben für immer verändern.

Heute erinnere ich mich noch genau an den Tag und an jede Einzelheit. Doch direkt nach dem Ereignis hatte ich das Erlebnis mehrere Monate lang verdrängt. Ich wusste zwar, dass etwas Schlimmes passiert war, aber konnte nicht sagen was. In meinen Kopf war die Erinnerung wie in einen dicken, undurchsichtigen Nebel eingehüllt. Sie war da, aber ich konnte nicht darauf zugreifen. Erst nach und nach lichtete sich dieser dichte Nebel und mir wurde bewusst, was geschehen war.

 

Von diesem Zeitpunkt an war nichts mehr so wie früher. Innerhalb weniger Minuten hatte sich mein Leben komplett verändert. Alles um mich herum schien in sich zusammenzustürzen. Nichts mehr gab mir Halt oder Sicherheit. Es war, als wenn mir jemand – ohne Vorwarnung – den Boden unter den Füßen weggerissen hätte und ich nun in ein endlos tiefes, dunkles Loch stürzen würde.

 

Mit einem Schlag wurde an diesem (eigentlich schönen) warmen Sommerabend meine Kindheit zerstört. Wenige Sekunden reichten aus, um mich zu einem anderen (gebrochenen?) Menschen zu machen.

 

Damals hatte ich das Gefühl, dass mir an diesem Tag mein Lachen, meine Fröhlichkeit, meine Hoffnung, mein Glaube an mich und den Rest der Welt … - eigentlich mein gesamtes Leben – unwiderruflich genommen wurde – doch heute weiß ich, dass es nicht so war. Ich hatte das alles nicht „verloren“ und es war auch nie komplett verschwunden, sondern ich hatte durch dieses traumatische Erlebnis lediglich vergessen, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein.

 

Selbst heute noch (fast 10 Jahre danach) verfolgen mich die Bilder von der Tat. Die Erinnerung an das, was passiert ist, der Schmerz, die Wut, die Verzweiflung und der Scham haben sich in meinem Gehirn eingebrannt. Ich werde diesen schrecklichen Tag und alles, was damit verbunden ist, wohl nie vergessen … Aber mit der Zeit habe ich gelernt, mit der Erinnerung zu leben. Ich weiß, was passiert ist, wie es sich angefühlt hat und was dieses Ereignis in mir ausgelöst hat – aber ich weiß auch, dass es Vergangenheit ist, ich es nicht rückgängig machen und erst recht nicht ändern kann. Ich muss es als (negativen) Teil meiner Vergangenheit akzeptieren und lernen mit den Erinnerungen umzugehen. Und das gelingt mir inzwischen relativ gut! Doch leider war das nicht immer so. Zeitweise haben mich die Bilder in meinem Kopf fast umgebracht! Über Jahre hinweg hatte ich heftige Flashbacks, starke Schuldgefühle und jede Nacht schreckliche Albträume. Ich war deshalb sogar mehrmals kurz davor, mein Leben zu beenden …

Mein Leben war für mich nur noch eine einzige Hölle! Egal, was ich machte, die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Wie ein Schatten hatte sie sich über mein Leben gelegt und nahm mir jegliche Freude und Lebensmut. Alles um mich herum war dunkel, trostlos und ohne irgendwelche Hoffnung. Deshalb bin ich umso glücklicher, dass ich jetzt, heute, sagen kann: „Ja, ich lebe (noch)! Und ja, ich lebe sogar inzwischen gerne! Und nein, diese „Monster“ haben mein Leben nicht für immer zerstört!“ Für mich sind diese „Menschen“, die mich an diesem Abend angefasst, ausgezogen und vergewaltigt haben, nämlich gar keine Menschen. Für mich sind es lediglich Monster! Ein Mensch hätte so etwas nicht getan! Denn ein „normaler“ Mensch besitzt Gefühle und Empathie und würde sich nicht an einem wehrlosen Kind vergreifen! Diese drei Männer, die an dem Abend über mich herfielen, hatten das eindeutig nicht! Deshalb sind SIE in meinen Augen einfach nur Monster, die keinerlei (Mit-)Gefühl und/oder menschlichen Verstand besitzen!

 

Ein Abend, ein Erlebnis – ja, eigentlich ein Moment – hatte ausgereicht, um mein gesamtes Leben nachhaltig zum Negativen zu verändern.

 

Nach der Vergewaltigung war ich nicht mehr ich selbst. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber diese Tat hat einen Teil von meinem Inneren zerstört. Ich war danach nicht mehr ich. Es war, als wenn ich nur noch ein namenloser Schatten meiner selbst gewesen wäre. Ich war da, aber ich fühlte nichts. Ich wusste nicht, ob ich lebe, ob ich tot bin, ob es mir gut geht, ob es mir schlecht geht, ob ich glücklich oder traurig bin. Alles in mir fühlte sich einfach nur noch kalt, leer und hohl an. Da war nichts mehr in mir, was man hätte „Leben“ nennen können.

Heute kann ich mehr oder weniger offen über das, was ich erlebt habe, reden/schreiben. Aber bis vor ca. 8 Jahren fehlten mir dafür einfach die Worte. Ich schaffte es nicht, dass, was ich gesehen, gefühlt und gedacht hatte, in Worte fassen. Irgendetwas in mir schrie zwar, dass ich darüber reden müsste, um das Erlebte zu verarbeiten – doch sobald ich den Mund öffnete, legte sich eine schwere, enge Eisenkette um meinen Brustkorb und nahm mir die Luft zum Atmen. Ich wollte reden, doch brachte kein Wort über die Lippen.

Fast zehn Jahre hat es gedauert, bis ich die Kette und somit auch mein Schweigen über diesen Abend durchbrechen und (endlich!) darüber reden konnte.

 

Ich war an dem besagten Abend alleine unterwegs und SIE waren zu dritt. SIE gingen mit mir auf dieselbe Schule, doch bis zu diesem Abend kannte ich SIE lediglich vom Sehen auf dem Schulhof in den Pausen. Ich war zu diesem Zeitpunkt erst 13 und SIE waren um einiges älter und somit auch stärker als ich.

 

Nie hätte ich gedacht, dass mir so etwas passieren könnte … Nie hätte ich damit gerechnet, dass ich auf der Damentoilette abgefangen, von drei Männern überrumpelt, ausgezogen und vergewaltigt werden könnte. Nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir so etwas Grausames vorstellen können! Doch genau das passierte mir an diesem Abend …

Ich war gerade auf Toilette gewesen und wollte mir meine Hände waschen, als DIE plötzlich hinter mir standen und mir den Weg zur Tür versperrten.

(Auf das, was genau passiert ist, möchte ich nicht im Detail eingehen, denn meiner Meinung nach ist das kein Thema, das man besonders detailreich beschreiben und ausschmücken muss.)

 

Allein der Gedanke an das, was damals passiert ist, lässt mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen und alle Haare an meinem Körper zu Berge stehen. Noch immer löst der Gedanke an die Tat Panik und Angstzustände bei mir aus. Obwohl ES schon Jahre her ist, ist die Erinnerung daran noch so frisch, als wäre es erst gestern gewesen. Noch immer spüre ich den heißen Atem, der an meinen Hals dringt, die eiskalten Hände, die mich überall anfassen und den extremen Schmerz. Mit einem Schlag sind alle Erinnerungen, Gedanken und Gefühle von damals wieder präsent. Sofort läuft der „Film“ von der besagten Nacht in Form von Erinnerungsbildern in meinen Kopf ab. Immer wieder und wieder sehe ich die Bilder und durchlebe die Erinnerungen. Ich bin unfähig, den Film auszublenden oder anzuhalten. Es ist wie damals: Ich bin in der Situation gefangen und machtlos, mich zu wehren oder etwas zu verändern. Wie damals lasse ich es einfach über mich ergehen und hoffe und bete, dass es schnell vorbeigeht …

 

Während SIE über mich herfielen, hatte ich Todesangst. Ich dachte, dass ich gleich sterben würde …

 

Ich glaube, für einen Außenstehenden ist es kaum begreiflich und/oder nachvollziehbar, was ein Mädchen/eine Frau in solch einer Situation fühlt. Denn das ist unmöglich, in Worte zu fassen.

Man möchte sich gegen SIE wehren, will das ES aufhört, wünscht sich, dass ES endlich vorüber ist, will fliehen, weglaufen, schreien, um sich schlagen – aber das Einzige, was man macht, ist regungslos am Boden liegen, die Augen schließen und beten, dass ES schnell vorbei geht. Oder man schweißgebadet aufwacht und feststellt, dass das alles nur ein schrecklicher Albtraum war … Es ist so gut wie unmöglich, sich als Betroffener in solch einer Situation zu wehren. Man ist wie erstarrt vor Angst und Scham.

 

SIE sprachen von Liebe. Felsenfest behaupteten SIE, dass ich ES doch auch wollen würde und ES mir genauso Spaß machen würde wie ihnen. Eine Stimme in meinem Kopf sagte mir zwar, dass Liebe nicht wehtun sollte und dass DAS, was DIE mit mir machten, auf gar keinen Fall etwas mit Liebe zu tun hatte, aber diese Stimme war nur sehr, sehr leise und unsicher. Die Worte der Täter und meine Scham waren viel größer und lauter. Sie verdrängten die leise, unsichere Stimme in meinem Kopf. Zwangsläufig ließ ich die Aussagen der Täter zu meiner Wahrheit werden und redete mir ein, dass ich DAS tatsächlich wollen würde und dass alles meine alleinige Schuld war. Zeitweise gingen meine Schuldgefühle sogar so weit, dass ich mich nicht mehr als Opfer, sondern selbst als „Täterin“ fühlte … Ich fühlte mich dafür verantwortlich und glaubte, dass ich es nicht anders verdient hätte.

Außerdem trichterten SIE mir ununterbrochen ein, dass mir sowieso niemand glauben würde, wenn ich mit jemandem DARÜBER reden würde. Alle würden mir die Schuld darangeben, keiner würde mir glauben und ich würde dadurch alles nur noch schlimmer machen. Denn dann müssten SIE mich noch weiter „bestrafen“. Und das glaubte ich ihnen ebenfalls.

Die Worte der Täter waren so schwer und mächtig, dass sie sich in mein Gehirn wie ein Bandwurm hineinfraßen und dort festsetzten. Alle anderen „vernünftigen“ Gedanken, mein Selbstvertrauen und meine Selbstsicherheit, die versuchten, gegen diese mächtigen Worte anzukämpfen, wurden von dem Bandwurm gefressen und somit vernichtet. Ich war wie ein „Sklave“, der alles machte, was SIE sagten und wollten. Mein eigener Wille war verschwunden.

 

Nachdem SIE dann endlich von mir abgelassen hatten, sich anzogen und aus dem Staub gemacht hatten, lag ich noch gefühlte zwei Stunden regungslos auf dem kalten Boden und starrte ins Leere. In Wirklichkeit dauerte ES zwar nur wenige Minuten, doch mir kam es um ein Vielfaches länger vor. Die Zeit schien für mich in diesem Moment still zu stehen. Ich fühlte mich wie tot, obwohl mein Herz weiterhin schlug … Es fühlte sich an, als wenn DIE irgendetwas in mir mit Gewalt zerstört oder herausgerissen hätten und an dieser Stelle nun ein riesiges Loch klaffen würde. In mir war einfach nur alles leer. Keine Gefühle, kein Nichts waren mehr da. Ich schaffte es nicht einmal mehr, zu weinen. Ich kam mir vor wie ein Haufen Dreck. Ich wurde benutzt, zu Boden geschmissen, durch den Matsch gezogen und anschließend wie unbrauchbarer, wertloser Müll am Boden liegen gelassen … Ich fühlte mich nicht mehr als Mensch.

Allgemein passierte an diesem Abend etwas äußerst Merkwürdiges mit mir und meiner Gefühlswelt. Als SIE über mich herfielen, hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht mehr in meinem Körper zu sein. Ich sah das Geschehen wie eine dritte Person von außen. Es kam mir vor, als wenn ich über dem Szenario schweben und alles aus der Vogelperspektive beobachten würde. Ich sah ein verängstigtes Mädchen am Boden liegen und drei Männer, die wie wilde Tiere über sie herfielen. SIE zogen das Mädchen aus und vergewaltigten sie. Das Mädchen weinte und hatte panische Angst.

Ich wusste zwar, dass ich das Mädchen am Boden war, aber es fühlte sich nicht so an.

Heute weiß ich, dass meine Seele an diesem Abend dissoziiert ist. Das heißt, sie hat sich vom Körper abgespalten, um sich vor schlimmeren Verletzungen und Schäden zu schützen. Sie musste das tun, um zu überleben. Inzwischen bin ich meiner Seele für diese Reaktion sehr dankbar, doch an dem Abend fand ich diesen Vorgang einfach nur beängstigend, merkwürdig, sonderlich und verstörend.

 

Wenn ich diesen schrecklichen Tag in meinem Leben mit vier Sätzen beschreiben müsste, würde ich sagen: An diesem Tag sind drei Monster mit einer Dampfwalze über mein Leben gefahren. SIE haben alles zerstört, was ich mir in dreizehn Jahren mühsam aufgebaut hatte und haben nur noch ein einziges Schlachtfeld zurückgelassen. Meine Seele bekam lebenslänglich und die Täter blieben weiterhin frei und lebten weiter wie zuvor. Mein Leben war nach dem Übergriff nur noch ein einziger Scherbenhaufen.

4. Geprägt

 

Immer mehr und mehr zog ich mich von meiner Umwelt zurück. Ich konnte die Gesellschaft von anderen Menschen einfach nicht mehr ertragen. In jeder freien Minute suchte ich die Einsamkeit, aber gleichzeitig schien mich dieses ständige Alleinsein nur noch tiefer in meine Traurigkeit zu ziehen.

Ich war einfach mit allem unzufrieden und unglücklich. Meine Gefühlswelt und Gedanken spielten verrückt! Es fühlte sich an, als ob eine vollkommen fremde Macht die Kontrolle in meinem Gehirn übernommen hätte, um mein altes Ich als Geisel an einen Stuhl zu fesseln. Ich war mir selbst auf einmal völlig fremd. Ich konnte oder wollte nicht verstehen, was mit mir los war. Für meine Gedanken und Gefühle gab es keine Worte mehr. Ich schien den Verstand zu verlieren und geisteskrank zu werden!

 

Die drei Monate nach der Tat, in denen ich mich nicht an das Geschehene erinnern konnte, waren schrecklich für mich. Ich kam mir vor wie in einem falschen Film. Alles um mich herum wirkte merkwürdig fremd. Das Einzige, womit ich mich in dieser Zeit „trösten“ konnte, war Essen. Egal ob aus Frust, Langeweile, Angst, um Anspannung abzubauen, mich aufzuheitern oder um die endlose Leere in mir zu füllen – Essen schien ein Trostpflaster für alles zu sein. Egal bei welcher Gelegenheit, um welche Uhrzeit und ob Hunger oder nicht – ich aß den gesamten Tag, um die Leere in mir (vergeblich) zu füllen. Pausenlos stopfte ich sämtliche Süßigkeiten in mich hinein. Das spiegelte sich natürlicherweise recht schnell in meinem Gewicht wieder. Innerhalb kürzester Zeit nahm ich von 65 Kilo auf 73 Kilo zu. Zwar waren mir das viele Essen und vor allem die Zunahme äußerst unangenehm – besonders, weil mich so gut wie jeder auf mein Gewicht ansprach – aber dennoch schaffte ich es nicht, damit aufzuhören. Es war wie eine Art Sucht für mich. Essen gab mir (zumindest für einen kurzen Augenblick) das Gefühl von Zufriedenheit und lenkte mich von meinen negativen Emotionen ab.

 

Dann – ziemlich genau drei Monate nach der Tat – kam der Tag, an dem meine Erinnerung zurückkam. Mit wortwörtlich einem Schlag waren plötzlich alle Einzelheiten und jedes noch so kleinste Detail wieder präsent. Ich war an diesem Tag mit dem Reitstall, indem ich bereits seit Längerem ein Pflegepferd hatte, auf einem Hoffest, um dort Ponyreiten veranstalten. Den gesamten Tag über führten wir schon die Pferde und Ponys im Kreis, um so etwas Geld für die Stallkasse dazu zu verdienen. Bis zu diesem Zeitpunkt lief alles reibungslos und ohne größere Zwischenfälle ab. Alle waren rundum zufrieden und es hätte nicht besser laufen können. Doch gegen Ende der Veranstaltung zog ein Gewitter auf und die Pferde begannen nervös zu werden und zu scheuen.

Eigentlich hätten wir aufgrund des herannahenden Unwetters das Ponyreiten abbrechen und die Pferde verladen sollen, doch solange es noch nicht regnete, wollten wir noch ein paar Runden weiterführen. Schließlich brauchten wir das Geld.

Doch plötzlich ertönte aus dem Nichts heraus ein sehr lauter Donner, der die Stute vor mir in große Angst versetzte. Sie scheute, rannte ein paar Schritte rückwärts und trat nach hinten aus. Dabei erwischte sie mit ihrem Hinterhuf meinen Kopf … Meine Lippe platzte auf und ich sank kurzzeitig zu Boden.

Allerdings war die Platzwunde an der Lippe noch harmlos im Vergleich zu dem, was der Tritt mit meiner Psyche anrichtete. Denn der Tritt „triggerte“ mein Gehirn wieder an und lies die Amnesie in meinem Kopf verschwinden. Die Erinnerung an DIE und DAS, was sie mir angetan hatten, war von einer auf die andere Sekunde wieder komplett da. Und das war alles andere als positiv und angenehm für mich!

 

Nach dem Tritt kam ich mit einer schweren Gehirnerschütterung und einer tiefen Platzwunde an der Unterlippe ins Krankenhaus, wo ich acht Tage stationär bleiben musste. Diese acht Tage im Krankenhaus kamen mir unendlich lange vor und waren für mich die reinste Qual! Ich hatte extreme Kopfschmerzen und konnte wegen der Platzwunde an der Lippe kaum etwas ohne Schmerzen essen oder trinken – aber was noch viel, viel schlimmer für mich war – war, dass ich diese verdammten Bilder in meinem Kopf nicht mehr loswurde! Sobald ich meine Augen schloss, tauchte die Erinnerung an den Tatabend auf und spielte sich wie ein Endlosfilm vor meinem inneren Auge ab. Zeitweise hatte ich das Gefühl, deshalb fast durchzudrehen!

 

Auf der einen Seite hätte ich deswegen am liebsten die komplette Zeit im Krankenhaus verschlafen, denn so bekam ich erstens nicht so viel von meiner Umwelt mit und zweitens konnte ich im Schlaf nicht so viel grübeln. Doch so leicht konnte ich mein „Problem“ dann leider doch nicht aus der Welt schaffen. Denn auf der anderen Seite hatte ich wiederum Angst, meine Augen zu zumachen und einzuschlafen. Sobald ich meine Augen schloss, tauchten nämlich die Bilder von DENEN und DEM, was sie mir angetan hatten, wieder auf und ich war erneut in den Erinnerungen gefangen. Und selbst wenn ich es schaffte einzuschlafen, dauerte es meistens keine zehn Minuten, bis ich erneut panisch aufschreckte, weil ich (mal wieder) einen Albtraum hatte … Also egal, was ich machte, ich konnte den quälenden Erinnerungen und den Bildern nicht entkommen. Ich war darin wie gefangen.

 

Selbstverständlich merkten auch meine Eltern, dass zu diesem Zeitpunkt etwas mit mir gewaltig nicht stimmte. Ich war schließlich nicht mehr Ich selbst. Seit dem Unfall war ich depressiv, lachte kaum noch, wollte nicht mehr reden und zog mich von meiner kompletten Umwelt zurück. Solch eine Verhaltensänderung konnte nicht von einem einzelnen Pferdetritt kommen. Das wussten selbst sie. Deshalb fragten sie mich bereits im Krankenhaus des Öfteren, was mit mir los sei. Jedoch schob ich weiterhin jedes Mal mein merkwürdiges Verhalten erneut auf den Reitunfall beziehungsweise die daraus resultierende Gehirnerschütterung oder leugnete sogar komplett, dass ich mich in meinem Verhalten geändert hatte.

 

Innerlich hätte ich am liebsten rausgeschrien, was mich bedrückte, was passiert war und wie es mir nun damit ging – doch äußerlich blieb ich weiterhin regungslos und stumm. Zu groß waren die Angst und Scham, selbst als Täterin hingestellt zu werden oder dass mir niemand glaubte. Außerdem hatte ich regelrechte Panik davor, wie DIE reagieren würden, wenn SIE erfahren würden, dass ich über ES gesprochen hatte …

 

Auch nach dem Krankenhausaufenthalt stabilisierte sich meine Psyche nicht wirklich. Zwar wurde es nicht schlimmer, aber es besserte sich leider auch keinesfalls. Deshalb empfahlen die Ärzte im Krankenhaus meinen Eltern, mit mir zu einem Kinder- und Jugendpsychologen zu gehen.

Anfangs war ich von diesem Vorschlag alles andere als begeistert und hatte überhaupt keine Lust, mit einer „Psychotante“ über meine Probleme zu reden. Schließlich war es mein Leben, meine Probleme und somit auch MEINE Angelegenheit, wie ich damit umging und wie ich mich verhielt. Anderseits hatte ich jedoch auch genauso wenig Lust, darüber zu diskutieren, ob es jetzt nötig sei, dass ich zu einer Psychologin gehe oder nicht. Eigentlich hatte ich nämlich zu gar nichts Lust. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich den gesamten Tag in meinem Zimmer verkrochen, ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und Löcher in die Luft gestarrt. Doch das ging leider auch nicht. Deshalb erklärte ich mich ohne große Widerworte dazu bereit, mir die Psychologin wenigstens einmal anzuschauen. Was allerdings nicht hieß, dass ich mich gleich mit ihr unterhalten würde!

Im Endeffekt führte die Psychologin den größten Teil der Therapiesitzung Selbstgespräche.

Ich antwortete nur in knappen Sätzen beziehungsweise gar nicht auf ihre Fragen. Aber dennoch diagnostizierte sie Depressionen bei mir. Zwar beteuerte ich ihr mindestens einhundert Mal, dass es mir allen Ernstes gut gehe, und versuchte dabei mein schönstes künstliches Lächeln aufzusetzen, das ich besaß, doch sie schien zu merken, dass ich nur schauspielerte und es mir in Wirklichkeit alles andere als gut ging. Sie besaß die Fähigkeit, hinter meine Fassade zu sehen.

 

Die kommenden zwei Wochen nach der Krankenhausentlassung blieb ich noch krankgeschrieben, um mich zu Hause noch etwas zu erholen und mein Leben wieder „ordnen“ zu können. Keine Ahnung, was nach dem Unfall in meinem Kopf los war, aber es fühlte sich an, als ob irgendjemand sämtliche Schubladen im Gehirn aus den Fächern gezogen, ausgeleert und quer über den Boden verteilt hätte. Mein Schädel dröhnte, als wenn ein Panzer drübergefahren wäre und ich war zu nichts fähig. Selbst die einfachsten Aufgaben überforderten mich bereits. Für die Schule lernen, lesen oder Ähnliches war mir nicht möglich. Ich besaß null Konzentration und an Motivation mangelte es mir ebenfalls. Ich konnte mich zu nichts aufraffen. Nach zwei Wochen beschlossen meine Eltern, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich sollte ab der nächsten Woche wieder in die Schule gehen und somit in einen normalen Alltag zurückkehren.

 

In der Schule kam dann jedoch noch ein neues Problem hinzu. Zwar hatte ich nach dem Unfall meine Erinnerung an den Tatabend zurück, doch im Gegenzug dazu hatte ich andere wichtige Erinnerungen verloren. Der gesamte Lernstoff der letzten zwei Schuljahre war weg. Ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern. Das machte mich wahnsinnig! Jeden Tag saß ich verzweifelt im Unterricht und verstand kein Wort davon, was die Lehrer vorne an der Tafel erklärten. Innerhalb weniger Tage wurde ich so von der Klassenbesten zur schlechtesten Schülerin der gesamten Jahrgangsstufe. Und das auch noch in der 9. Klasse, wo ich ein Jahr später, in der 10. Klasse den Realschulabschluss machen sollte! Also in meinem Leben ging bereits zu diesem Zeitpunkt schon so ziemlich alles schief, was schief gehen konnte.

 

Aber etwas Gutes hatte der Unfall dann doch: Als meine Erinnerung zurückkam, verschwand noch am selben Tag mein Appetit. Essen ekelte mich plötzlich an.

Zusätzlich gefiel mir das Gefühl, das ich verspürte, wenn ich dem Drang zu essen widerstand. Das gab mir das Gefühl von Stärke und zeigte mir, dass ich wenigstens eine Sache in meinem Leben halbwegs kontrollieren konnte: Nämlich ob ich dem Bedürfnis zu essen nachgab oder meinen Körper hungern lies. So nahm ich innerhalb kürzester Zeit an Gewicht ab.

Was ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wusste, war, dass das bereits der Anfang meiner Essstörung sein sollte.

5. Funktionieren statt leben

 

„Funktionieren statt leben“ war das Motto, welches ich nach der Rückkehr der Erinnerung zu meinem täglichen Leitsatz machte.

Ich fühlte mich wie ein programmierter Roboter, der tagtäglich sein Programm abspielte, ohne dabei einen eigenen Willen zu haben. Alles lief irgendwie automatisch und ferngesteuert ab. Positive Emotionen, Lebensfreude oder Ziele im Leben gab es für mich nicht mehr. Ich funktionierte nur noch. Wie ein Schauspieler spielte ich jeden Tag meine „Rolle“. Die Rolle eines glücklichen, zufriedenen Mädchens, das sich mit aller Kraft zurück ins Leben kämpfte. Nach außen hin schien ich nur so von Hoffnung und Kampfgeist zu sprühen, doch innerlich hatte ich die Hoffnung auf ein „normales“ Leben schon längst aufgegeben und wollte eigentlich nur noch aus dem Leben verschwinden. Die eiserne Kette, die sich um meinen Brustkorb gelegt hatte, schien sich immer noch weiter zuzuziehen und mir zunehmend mehr die Luft zum Atmen zu nehmen. Es war, als ob ich in meiner eigenen Traurigkeit ertrinken würde. Daran änderten auch die Antidepressiva, die ich von der Psychologin verordnet bekommen hatte, nichts. Überhaupt fand ich die wöchentlichen Gespräche bei ihr komplett überflüssig. Denn in den 45 Minuten Gesprächstherapie machte ich alles, nur nicht über mich und meine Probleme reden. Doch dazu komme ich später noch.

 

Um den vergessenen Schulstoff aufzuarbeiten, ging ich die ersten Monate nach dem Unfall vier Mal die Woche nachmittags zur Nachhilfe. Selbstverständlich hätte ich auch einfach eine Klasse zurückgehen und somit den Lernstoff wiederholen und mir damit eine Menge Stress ersparen können, aber dafür war ich zu stolz. Denn wie sieht es denn aus, wenn die ehemals Klassenbeste Schülerin eine Ehrenrunde dreht? Das Schuljahr zu wiederholen stand für mich also völlig außer Frage! Gleichgültig, was meine Eltern und Lehrer mir rieten, ich wollte kämpfen und wenigstens eine Sache in meinem Leben nach Plan abschließen.

Durch meinen enormen Ehrgeiz und das positive Talent, das ich recht schnell lerne, schaffte ich tatsächlich bis zum Endjahreszeugnis das Unmögliche möglich zu machen: Ich wurde ins 10. Schuljahr versetzt! Zwar war mein Zeugnis weiterhin deutlich schlechter als die Jahre zuvor, doch zumindest hatte ich keine 5 mehr im Zeugnis stehen. Und solange ich versetzt wurde, waren mir meine Noten (zumindest weitestgehend) egal.

Nach außen hin schien ich mich wieder zu stabilisieren und langsam aber sicher in meinen Alltag zurückzukehren. Innerlich war das jedoch ganz und gar nicht der Fall. Allerdings hätte ich das nie und nimmer vor irgendwelchen Leuten zugegeben. Denn ich wollte auf keinen Fall, dass sich irgendjemand Sorgen oder Gedanken um mich machte. Ich wollte nicht der Grund sein, wieso andere Menschen nachts vor Sorge nicht schlafen konnten oder sich schlecht fühlten! Es reichte schon, dass ich traurig und unglücklich war. Da mussten nicht auch noch meine Mitmenschen wegen mir bedrückt sein! Außerdem war ich der Ansicht, dass wenn ich ganz viel arbeite und mich ablenke, ich gar keine Zeit mehr hätte, darüber nachzudenken, wie schlecht es mir zurzeit ging. Wenn ich mich den gesamten Tag mit anderen Dingen beschäftigte, würden die Bilder in meinem Kopf gar keine Gelegenheit mehr haben, so oft aufzutauchen. Also ich könnte mich sozusagen selbst therapieren. (Soweit die Theorie … Die Praxis sah dann jedoch trotzdem etwas anders aus.)

 

Einmal pro Woche ging ich auf Anraten der Ärzte im Krankenhaus meiner Mutter zuliebe zu einer Kinder- und Jugendpsychologin. Allerdings waren die 45-minütigen Therapiesitzungen bei ihr, wie bereits oben kurz beschrieben, in meinen Augen völlige Zeitverschwendung. Denn meistens begann ich schon nach wenigen Minuten, mit meinen Gedanken weit abzudriften und an ihr vorbei zu starren. Hinter ihr befand sich nämlich ein riesiges Regal, in dem unendlich viele Playmobilfiguren standen. Diese betrachtete ich dann die gesamte Stunde über, versuchte sie zu zählen oder lernte aus Langeweile die Reihenfolge der aufgestellten Figuren auswendig.

Ich tat mehr oder weniger alles dafür, um nicht mit ihr reden zu müssen. Obwohl meine Psychologin von ihrer Art sehr freundlich und hartnäckig war, schaffte sie es trotzdem nie, mehr als zwei bis drei zusammenhängende Sätze pro Sitzung aus mir herauszubekommen. Ich wollte mit ihr nicht reden und über DAS wollte ich mit ihr schon zweimal nicht reden! Irgendwann schaffte sie es allerdings doch, mein „Geheimnis“ herauszufinden. Nachdem ich ca. 6 Wochen lediglich das Nötigste und zum Teil sogar noch weniger mit ihr geredet hatte, sprach sie mich offen DARAUF an. Da konnte ich dann nicht mehr schweigen. Doch auch als die Psychologin wusste, was mir passiert war, änderte sich in den kommenden Sitzungen an unserer Kommunikation recht wenig. Sie redete und ich schwieg.

 

Als meine Eltern von der Tat erfuhren, waren sie erst einmal geschockt und wollten mit mir DARÜBER reden. Allerdings hatte ich keine Lust mit ihnen zu reden, denn ich wollte mit niemand DARÜBER sprechen. Nach einer Weile akzeptierten sie das dann auch und ließen mich mit diesem Thema in Ruhe. Worüber ich ihnen sehr dankbar war! Außerdem glaubten meine Eltern, genauso wie meine Psychologin jahrelang, dass die Vergewaltigung eine einmalige Sache war, die sich nicht wiederholen wird. Zu diesem Zeitpunkt war ES zwar auch bis jetzt nur einmal passiert, aber das sollte (leider) nicht so bleiben.

6. Vergangenheit ist es erst, wenn es vorbei ist

 

Sowohl meine Eltern als auch meine Psychologin merkten erst sehr spät, dass die Vergewaltigung nicht nur in der Vergangenheit stattgefunden hatte, sondern noch bis in die Gegenwart andauerte. Ungefähr sechs Wochen, nachdem meine Erinnerung zurückgekommen war, wiederholte ES sich nämlich.

 

Ich war auf dem Nachhauseweg von der Schule und lief gerade durch das kleine Waldstück, das ich bei jedem Schulweg durchqueren musste, als DIE plötzlich hinter mir standen. Ohne Vorwarnung hielten SIE mir den Mund zu und zogen mich in einen kleinen, unscheinbaren Seitenweg.

Dass SIE mir den Mund zuhielten, war eigentlich vollkommen überflüssig, weil ich so geschockt war, dass ich gar nicht dazu in der Lage war zu schreien, geschweige denn mich zu wehren. Am liebsten hätte ich wild um mich getreten, geschlagen oder in die Hand vor meinem Mund gebissen, doch keiner meiner Muskeln wollte gehorchen. Ich war wie gelähmt vor Angst. Ohne Gegenwehr ließ ich ES über mich ergehen und litt stumm. Es tat weh ohne Ende und ich weinte. Ob meine Tränen aus Angst, Schmerz oder Verzweiflung liefen, kann ich nicht sagen. Vermutlich waren es alle drei Gründe.

An diesem Tag verschwand auch noch mein letztes Vertrauen in Männer. Selbst heute noch bin ich äußerst misstrauisch und ängstlich gegenüber fremden Männern.

 

Manchmal frage ich mich, ob DIE ihre Tat einfach vergessen haben oder ob DIE auch oft daran denken. Vergisst ein Mann, der so etwas tut, dass er ein Leben zerstört hat? Oder lebt er weiter wie zuvor? Ich weiß es nicht. Aber ich habe und werde DAS, was DIE mir angetan haben, nie vergessen!

 

Nachdem ES vorbei war, sind DIE einfach abgehauen und haben mich alleine im Wald zurückgelassen. Ich blieb noch eine Weile zitternd auf dem Boden liegen und versuchte das, was gerade vorgefallen war, zu realisieren. Ich konnte es nicht fassen, dass ES wieder geschehen war. Ich fühlte mich verzweifelt und wusste nicht, was ich tun sollte. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt und wäre weinend meiner Mutter in die Arme gefallen und hätte ihr alles erzählt. Aber meine Angst und die Scham waren zu groß. Ich gab mir selbst die Schuld dafür, dass ES passiert war, denn ich hätte mich wehren können. Also hatte ich meiner Ansicht nach zumindest eine Teilschuld an der Tat.

 

Nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte und nicht mehr so sehr zitterte, dass ich Angst hatte, meine Beine könnten mich nicht tragen, weil sie durch das Zittern einbrechen würden, stand ich auf.

Noch immer waren die Bilder in meinem Kopf und alles drehte sich. Mir war total schwindelig und ich war völlig verwirrt. Mein Verstand signalisierte mir, dass das, was passiert war, auf jeden Fall falsch war und meine Gefühle sagten mir, dass DAS unmöglich etwas mit Liebe zu tun hatte, aber was sollte ich tun? Ich hatte Angst, dass ES schlimmer wird, wenn ich es jemandem erzählte oder, dass mir niemand glaubte, was passiert war. Oder was wäre, wenn es tatsächlich alles meine Schuld war? Dann wäre es viel zu riskant darüber zu reden. Deshalb entschied ich mich dafür, besser weiterhin zu schweigen und so zu tun, als wenn nichts geschehen wäre.

 

Bevor ich nach Hause ging, machte ich noch einen kleinen Spaziergang, um meine Gedanken zu ordnen.

Zu Hause angekommen, mimte ich wieder das „glückliche“ Mädchen. Ich erzählte meiner Mutter, dass ich mit einer Freundin nach Hause gelaufen war und noch kurz bei ihr zu Hause gewesen war und dadurch zu spät gekommen sei. Meine Mutter glaubte mir. Ich spielte weiter mein „perfektes“ Spiel. Gleichzeitig war mein größter Wunsch zu diesem Zeitpunkt jedoch, dass irgendjemand hinter meine Maske schaute, mein Spiel durchschaute und das verletzte, traurige, verzweifelte Mädchen sah und es in den Arm nahm und sagte, dass alles wieder gut werden würde. Doch dafür spielte ich meine Rolle anscheinend zu gut.

 

Nach diesem Vorfall verschlechterte sich mein Essverhalten nochmals. Morgens ging ich nun jeden Tag ohne Frühstück aus dem Haus und in der Schule aß ich lediglich nur noch einen Apfel in der großen Pause. Mein belegtes Brot oder Brötchen, dass mir meine Mutter jeden Morgen ebenfalls als Pausenbrot mitgab, verschenkte ich an Klassenkameraden. Später aß ich dann noch nicht einmal den Apfel. Dann war erst das Mittagessen zu Hause sozusagen mein „Frühstück“.

Mittags aß ich dann nach der Schule eine kleine Portion von dem frisch gekochten Essen meiner Mutter. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Ahnung von Kalorien und Nahrungsfetten hatte, wusste ich noch nicht, was dick machte und was ich bedenkenlos auch in Massen essen konnte. Deshalb aß ich von allem, was auf dem Tisch stand, ein bisschen. Und abends aß ich zum Abendessen meistens noch eine Scheibe Brot mit Wurst oder Käse. Das Streichfett ließ ich bereits damals schon gezielt weg. Denn das wusste ich auch ohne Kalorientabelle: Butter und Margarine haben viele Kalorien und machen somit dick. Dass es wichtige Fettsäuren enthält, war mir egal! Süßigkeiten, Knabberzeug und sonstige Sachen zwischendurch waren für mich ebenfalls absolut tabu!

 

Anfangs sagte meine Mutter nie etwas, wenn ich nur wenig oder sogar gar nichts essen wollte. Sie dachte, dass ich eine normale Diät machen würde, um wieder auf Normalgewicht zu kommen. Dass aus dieser Diät irgendwann Magersucht werden könnte, dachte sie genauso wenig wie ich. Schließlich hatte ich nie das Ziel gehabt, essgestört zu werden oder mein Gewicht gleich zu halbieren! Mein Ziel war es lediglich, meinen Körper zu „kontrollieren“. Die Gewichtsabnahme dabei war anfangs nur ein positiver Nebeneffekt.

 

Wann genau ich mich das erste Mal selbst verletzt habe, kann ich nicht genau sagen, doch es muss auch ungefähr in diesem Zeitraum gewesen sein. Den Tag weiß ich zwar nicht mehr, aber dafür kann ich mich noch genau an die Situation, meine Gedanken und Gefühle in diesem unschönen Moment erinnern.

Ich saß in meinem Zimmer am Schreibtisch und versuchte Hausaufgaben zu machen. Doch wie in den meisten Fällen saß ich mit rauchendem Kopf vor meinem Schulbuch und hatte trotzdem keinen Plan davon, was von mir verlangt wurde. Ich verstand rein gar nichts. Tränen kullerten bereits über meine Wangen, weil ich so verzweifelt war und ich spürte, wie der Selbsthass in mir hochkochte. Ich hasste mich dafür, dass ich mich nicht an den Schulstoff erinnern konnte und anscheinend zu doof war, um solch eine einfache Mathematikaufgabe zu lösen. Mein Hass auf mich und meinen Körper war gar nicht mehr in Worte zu fassen. Es war ein abgrundtiefer Hass. Dazu kam noch die Wut, dass mein Kopf mir nicht gehorchte und meine Anweisungen nicht befolgte. Es funktionierte nichts so, wie es sollte. Ich fühlte mich als Versager. Das wiederum machte mich wütend, traurig, aggressiv und hasserfüllt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit diesen vielen negativen Gefühlen in meinem Innern umgehen sollte. Es fühlte sich an, als wenn ich gleich explodieren würde. Doch dann sah ich die Schere auf dem Schreibtisch liegen. Ohne großartig nachzudenken und mir darüber bewusst zu sein, was ich da gerade tat, zog ich den Pullover-Ärmel nach oben, sodass mein Unterarm herausschaute, drückte die Klinge auf meine Haut und zog sie mit Druck über den Unterarm. Im ersten Moment war ich von meiner Handlung selbst geschockt, doch gleichzeitig spürte ich, dass der innerliche Druck und die vielen negativen Gefühle plötzlich verschwunden waren. Ich fühlte mich irgendwie „gut“ und zufrieden. Der Schnitt blutete zwar nicht einmal, aber trotzdem schien mich der Schmerz zu beruhigen und meine Gedanken klarer zu machen. Ich fühlte mich „befreit“.

Das war das erste Mal, dass ich mich selbst verletzte. Und eigentlich schwor ich mir direkt danach, dass ich es nie wieder tun würde. Denn mein Verstand sagte mir, dass das, was ich da gerade getan hatte, nicht normal und alles andere, als eine gesunde Verhaltensweise war. Doch mein Gefühl war stärker. Jemand, der nicht diese Probleme hat, kann sich sehr wahrscheinlich nicht vorstellen, dass Schmerz einen das Gefühl von Freiheit, Zufriedenheit und Glück geben kann. Doch so war es bei mir. Der Schnitt auf der Haut war eine Art Befreiungsschlag für mich, der allen Druck von mir nahm und mich für einen kurzen Augenblick meine Probleme und Sorgen vergessen ließ. Dieses Gefühl wollte ich natürlich wieder spüren. Deshalb dauerte es nicht lang, bis ich erneut zur Schere griff.

Um das positive Gefühl in seiner Intensität beizubehalten und anschließend „zufrieden“ zu sein, musste ich jedoch von Mal zu Mal mehr und tiefer schneiden.

 

Anfangs bluteten die Schnitte noch nicht einmal, sondern waren lediglich rote Striche auf der Haut, die nach ein paar Tagen spurlos verschwunden waren. Ohne Narben. Doch in meiner „Spitzenzeit“ wurde ich teilweise mit über 100 Stichen im Krankenhaus genäht.

7. Die schlimmste Zeit meines Lebens

 

Von nun an geschah ES mehrmals die Woche. Regelmäßig lauerten SIE mir auf, wenn ich auf dem Weg von der Schule nach Hause war. ES wurde für mich zu einer Art Routine. ES gehörte fest zu meinem Leben dazu und wurde somit für mich „normal“. Irgendwann weinte ich nicht einmal mehr. Meine Gefühle waren wie tot. Ich fühlte nichts mehr. Ich nahm mein Leben wie einen Film wahr. Es war, als ob ich nicht ich selbst sei, sondern fremdgesteuert wurde. Ich hatte die Kontrolle über mein Leben verloren. In mir lebten nur noch Angst, Verzweiflung und Selbsthass. In dieser Zeit habe ich jeden Abend gehofft, dass ich am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen würde. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Leben.

 

Leute, die behaupteten, dass Zeit alle Wunden heilen würde, hätte ich zu dieser Zeit verprügeln können! Denn Zeit heilt keine Wunden, sondern man gewöhnt sich lediglich an den Schmerz! Außerdem lernt man im Laufe der Zeit, gewisse Dinge zu ignorieren und mit Tränen in den Augen zu lachen.

 

Wenn ich (mal wieder) zu spät von der Schule nach Hause kam, weil SIE mich (mal wieder) „benutzt“ hatten, erzählte ich meiner Mutter, dass ich nach der Schule noch bei einer Freundin gewesen sei und deshalb so spät kam. Ab und zu stellte meine Mutter zwar ungläubige Rückfragen, aber dennoch durchschaute sie mein „Spiel“ nicht. Meine Eltern und meine Psychologin kamen erst sehr, sehr spät dahinter, warum ich tatsächlich andauernd so spät von der Schule nach Hause kam. Eventuell wollten sie es auch gar nicht sehen und haben bewusst ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen, weil sie die Realität einfach nicht wahrhaben wollten. Menschen machen in solchen schwierigen Lebensphasen oftmals verrückte Dinge und wollen mit aller Kraft die Wahrheit verleugnen und sich stattdessen die Situation schönreden. Vielleicht war das auch bei meinen Eltern so. Ich kann es nicht sagen und möchte nicht falsch urteilen. Denn was passiert ist, ist passiert und man kann es nicht mehr ändern. Jemanden Schuld zuzuweisen oder anzuklagen, hilft da auch nicht weiter. Es ist eben passiert und somit Vergangenheit. Ich muss lernen, damit zu leben!

Überhaupt dachten alle in meinem Umfeld, dass es mir gut geht. Alle meinten zu wissen, wie es mir geht und wie ich mich fühle. Doch in Wirklichkeit kannte mich niemand. Nicht einmal ich wusste, was in mir vorging.

Einerseits hatte ich Angst vor dem Alleinsein und hielt es nur schwer aus, wenn keine weitere Person in der Nähe war und anderseits hatte ich Angst vor Nähe. Ich konnte es nicht ertragen, wenn mir jemand zu nahekam. Meine Gefühle verwirrten selbst mich. Also wie hätte mich jemand Fremdes verstehen können?! Wie umarmt man jemanden, der nicht angefasst werden möchte?!

Die einzige „Vertrauensperson“, die ich damals hatte, war meine Labradorhündin „Tanja“. Mir ihr konnte ich über alles reden und sie gab mir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Sie durfte zeitweise sogar in meinem Zimmer neben dem Bett übernachten, obwohl sie eigentlich im Hof eine Hütte zum Schlafen hatte.

 

Um mich selbst und vor allem meine Seele, vor weiteren und schlimmeren Verletzungen zu bewahren, begann ich mir meine eigene kleine Parallelwelt aufzubauen. Wann immer es mir in der realen Welt zu stressig wurde und/oder ich mich bedroht fühlte, zog ich mich in diese Parallelwelt zurück. Sie war sozusagen mein „innerer sicherer Ort“. Am Anfang hat mir diese Fähigkeit, mich in meine innere Welt zurückziehen zu können, Angst gemacht, doch bald genoss ich es einfach, abzuschalten. Psychologen nennen diese Fähigkeit „dissoziieren“, doch ich sage dazu immer „zurückziehen, abschalten und erholen von der chaotischen Welt der Normalos“. In dieser Parallelwelt ist es immer still und man bekommt überhaupt nichts von der chaotischen Umwelt mit. Es fühlt sich fast so an, als wenn man schlafen würde. Man ist körperlich anwesend, aber der Geist ist komplett woanders. Heute mache ich von dieser Fähigkeit kaum noch Gebrauch, denn ich muss nicht mehr dissoziieren, um zu überleben. Aber in diesem schrecklichen Lebensabschnitt hat mir diese Rückzugsmöglichkeit in meine Parallelwelt vermutlich das Leben gerettet! Ohne sie hätte ich sehr wahrscheinlich nicht überlebt!

Eine weitere Technik, mit der ich versuchte, mir das Leben angenehmer zu machen, war mich selbst und meinen Körper zu kontrollieren. Allerdings war diese „Technik“ eher ein Zwang als ein Hilfsmittel. Mein Kontrollwahn hätte mich am Ende nämlich fast das Leben gekostet! Es war wie ein innerer Zwang, alles an mir und meinem Körper zu kontrollieren. Was in meinem Umfeld abging, was DIE mit mir machten und was zurzeit in meinem Leben geschah, konnte ich nicht mehr beherrschen. Darüber hatte ich schon längst die Kontrolle verloren. Aber mich selbst, meine Gefühle und meine körperlichen Bedürfnisse wie zum Beispiel Hunger und Schlaf konnte ich sehr wohl noch kontrollieren und das tat ich auch! Ich war vielleicht ein Sklave von DENEN, aber ich würde nie ein Sklave meines eigenen Körpers werden! Wenn er Hunger hatte, gab ich ihm zum Beispiel bewusst nichts zu essen, denn ich wollte mich nicht seinen Bedürfnissen beugen. Ich wollte „stark“ sein und Kontrolle über ihn behalten. Falls ich dann doch einmal kurzzeitig den Einfluss über ihn verlor und schwach wurde, „bestrafte“ ich ihn, indem ich mich selbst verletzte, Sport bis zur völligen Erschöpfung trieb oder noch länger hungerte. Ich nutzte meinen Körper, um Dinge auszudrücken, für die ich keine Worte fand.

 

Zum Frühstück aß ich nun dasselbe wie in der Schule. Nämlich nichts. Und mittags versuchte ich mich ebenfalls um das Mittagessen herum zu mogeln. Bei meinen Eltern erzählte ich, dass ich bereits bei einer Freundin gegessen hätte und bei meiner Freundin behauptete ich, dass ich später zuhause essen würde. Diese einfache Ausrede half mir recht lange, mich vor dem Mittagessen zu drücken. Später durchschaute meine Mutter jedoch diesen Trick.

Abends aß ich dann meistens noch etwas Obst oder Salat ohne Dressing, nur mit Gewürzen (ja kein Öl!). Manchmal aß ich aber auch gar nichts zu Abend.

Ich genoss das Gefühl von Kontrolle. Endlich hatte ich auch Mal die Chance „Macht“ auszuüben und musste mich nicht ständig den Willen anderer beugen. Mein Körper hatte Hunger und ich verbot ihm zu essen. Ich widerstand meinem natürlichen Bedürfnis. Das machte mich stolz! Endlich hatte ich etwas gefunden, worin ich gut war. Nämlich Hungern. Alle anderen Menschen waren „schwach“ und gaben ihren Körper nach, sobald er die kleinsten Zeichen von Hunger zeigte. Doch ich blieb stark und beugte mich nicht! Für diesen eisernen Willen wurde ich dann jeden Morgen von der Waage belohnt.

 

Zu Beginn verlor ich recht schnell an Gewicht. Schon nach wenigen Wochen war ein deutliches Ergebnis sichtbar und ich wurde für meine tolle Leistung von Freunden und Verwandten gelobt. Zwar war es nie mein Ziel, durch das Hungern irgendwann auf Modellmaße zu kommen und somit der Idealfigur zu entsprechen, aber gegen das viele Lob hatte ich auch nichts einzuwenden. Es bestätigte mich nur darin, noch weiter abzunehmen. Ich sah das Lob als Bewunderung für meinen starken Willen, auf Nahrung zu verzichten an. Auf mich wirkte es, als seien meine Mitmenschen fast schon „neidisch“ darauf, dass ich etwas konnte, was sie nicht schafften. Immer häufiger bekam ich zu hören, dass ich mit meinem aktuellen Gewicht gut aussehen würde. Doch irgendwann hörte dieses positive Lob auf. Nun bekam ich nämlich immer öfters zu hören, dass ich aufhören sollte, weiter abzunehmen, da ich ansonsten zu dünn werden würde. Doch davon ließ ich mich nicht beirren. Zu dünn gab es in meinen Augen nicht! Außerdem war ich der Meinung, dass ich auch jederzeit mit dem Hungern aufhören könnte, wenn ich tatsächlich wollte. Schließlich war ich ja der Herr über meinen Körper! Dass bereits zu diesem Zeitpunkt Ana (Anaroxia nervosa = Magersucht) das Sagen in meinem Kopf hatte und ich auf dem besten Weg in eine Essstörung war, konnte und wollte ich mir nicht vorstellen! Ich schlug alle Warnungen in den Wind und hungerte weiter.

 

Also wie man bereits jetzt schon merkt, kamen in meinem Leben viele verschiedene Umstände zusammen, die mich „krank“ machten. Es war ein Prozess, der durch viele Aspekte geprägt wurde. Und auch wenn für viele Außenstehende manche meiner Verhaltensweisen unlogisch, verwirrend oder paradox wirken, haben sie doch alle für mich in dieser Zeit meines Lebens einen Sinn ergeben. Alles, was ich tat, war mehr oder weniger gut durchdacht und hatte ein festes Ziel. Die wenigsten Verhaltensweisen beruhten auf absoluten Kurzschlussreaktionen.

Zum Beispiel gab mir die Essstörung das, wonach ich mich zu diesem Zeitpunkt sehnte: Überschaubarkeit und Sicherheit. Es gab ganz einfache klare Gesetze, an die ich mich halten musste, um mein Ziel zu erreichen. Wenn ich diese Gesetze nicht befolgte, dann erreichte ich mein Ziel eben nicht. Ganz einfach. Ich hatte die Wahl und somit auch die Kontrolle darüber, was ich machte und was passierte. Es war alles ganz einfach strukturiert und planbar. Vollkommen anders wie im chaotischen Leben, bei dem man nicht weiß, was als Nächstes passiert. Das machte die Essstörung zu meiner Freundin, der ich lange Zeit bedingungslos vertraute.

 

Bevor ich anfing, meine Nahrungsaufnahme gezielt zu kontrollieren (nach der Rückkehr der Erinnerung), wog ich noch 73 Kilo. Nun waren es bereits 8 Kilo weniger und das Gewicht sollte noch deutlich weiter nach unten sinken. Ein Zielgewicht hatte ich zwar (noch) nicht, aber 65 Kilo waren eindeutig zu viel! Wenn ich absolute Macht und Kontrolle auf meinen Körper ausüben wollte, musste ich noch ein bisschen auf Nahrung verzichten und meinen Körper weiter hungern lassen. Was genau ich mir durch einen noch weiteren Gewichtsverlust erhoffte, weiß ich nicht. Aber es tat auf jeden Fall gut, zu sehen, dass ich von Tag zu Tag weniger wurde. Jeden Morgen waren wieder ein paar weitere hundert Gramm von mir verschwunden.

 

Doch nicht nur der Zwang nichts zu essen verstärkte sich, nachdem ES wieder und immer wieder passierte, sondern auch die Selbstverletzungen nahmen in diesem Zeitraum massiv zu. Mehrmals die Woche griff nun zur Klinge und die Schnitte wurden von Mal zu Mal tiefer. Längst reichte es nicht mehr aus, die paar Blutstropfen mit einem einfachen Taschentuch abzuwischen. Dafür bluteten die Schnitte nun eindeutig zu viel. Heftpflaster gehörten ab sofort zu meiner Basisausstattung. Es verging kaum eine Woche, in der ich nicht im Drogeriemarkt war, um Nachschub an Verbandsmaterial zu kaufen. Außerdem reichte es mir nicht länger aus, mich mit einer stumpfen Schere zu ritzen, sondern ich benutzte stattdessen spitze Glasscherben. Das hatte allerdings zur Folge, dass die tieferen Schnitte nun nicht mehr narbenlos innerhalb weniger Tage verheilten, sondern meist über eine Woche lang deutlich sichtbar waren und selbst danach noch weiterhin als weiße Striche auf meinen Unterarmen erkennbar blieben.

 

Jeder Schnitt war für mich ein stummer Hilfeschrei. Das Schneiden war für mich die einzige Möglichkeit, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Manchmal fühlte ich mich in meinem eigenen Körper eingesperrt. Es fühlte sich an, als wenn meine Haut ein Käfig wäre und ich darin gefangen wäre. Wenn ich mir dann die Haut mit einem scharfen Gegenstand aufritzte, war es, als wenn mich jeder Schnitt ein kleines bisschen mehr aus diesem Käfig befreite. Außerdem war selbstverletzendes Verhalten für mich eine Methode, um meinen innerlichen Schmerz nach außen zu tragen. Innerlich war ich durch den Missbrauch und die sexuelle Gewalt schwer verletzt und tief verwundet worden. Diese schwere Verletzung schmerzte selbstverständlich. Jedoch konnte ich diese Wunde in meinem Innern nicht sehen. Verletzte ich dann meine Haut und es blutete, konnte ich sehen, was den Schmerz verursachte und woher er kam. Das erleichterte es mir, mit dem tiefen Schmerz in meinem Innern umzugehen. Durch die Selbstverletzung an meinen Armen reflektierte ich sozusagen den innerlichen Schmerz nach außen. Allerdings sitzt der wahre Schmerz viel tiefer, als man je mit einer Klinge schneiden kann.

 

Machte ich einen Fehler, hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben oder einfach nur unfähig zu sein, dann nutzte ich die Klinge ebenfalls, um mich für meine „Dummheit“ zu „bestrafen“. Genauso nutze ich aber auch selbstverletzendes Verhalten, um mich zurück in die reale Welt zu holen. Wenn ich zum Beispiel in einem Flashback gefangen war, ständig Bilder von DENEN und DEM, WAS SIE MIR ANGETAN HATTEN, vor meinem inneren Auge sah und mich nicht daraus befreien konnte, fügte ich mir Schmerzen zu, um aus dieser endlosen, negativen Gedankenspirale zu entkommen. Der Schmerz zeigte mir dann, dass ich noch lebte und dass ich mich im Hier und Jetzt befand und nicht irgendwo anders. Er holte mich wortwörtlich mit einem Schnitt aus meinem Flashback heraus.

 

Wieso Menschen sich selbst verletzen, kann man, glaube ich nicht mit einer pauschalen Antwort beantworten. Dafür gibt es wohl eindeutig zu viele und vor allem zu unterschiedliche Gründe. Aber eines kann man trotzdem allgemein sagen: Jeder Mensch, der sich selbst verletzt, spürt lieber den Schmerz als das Gefühl, das er ohne den Schmerz spüren würde oder als gar nichts zu fühlen. Denn das schlimmste Gefühl, das es gibt, ist meiner Meinung nach, gar nichts wahrzunehmen und sich wie tot zu fühlen.

 

Wenn man die Wahl hat zwischen innerer Leere und Schmerz, dann wählt man den Schmerz.

 

Das Gefühl von innerer Leere und Kälte ist kaum auszuhalten! Man spürt, dass das Herz in einem schlägt, aber ansonsten fühlt sich alles unwirklich und „tot“ an. Kaum ein Reiz von der Außenwelt dringt zu einem durch. Der Körper ist lediglich noch eine leblose Hülle und die Seele mitsamt Gefühlen befindet sich komplett woanders (vielleicht in einer Parallelwelt?).

Ich glaube, selbst wenn ich mir in solchen Momenten einen ganzen Topf kochendes Wasser übergeschüttet hätte, hätte ich in den ersten paar Minuten keine Miene verzogen. Erst nach und nach wäre der Schmerz zu mir durchgedrungen und nach einer halben Stunde hätte ich eventuell Mal „aua“ gesagt.

In dem Augenblick, in dem ich die Klinge ansetzte oder mich auf eine andere Weise selbst verletzte, war das Schmerzempfinden meines Körpers so weit runtergefahren, dass ich entweder gar keinen oder nur einen sehr geringen Schmerz wahrgenommen habe. Erst, wenn Blut floss oder ich die Verletzung sah, drang der Schmerz langsam zu mir durch und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Verletzte ich mich allerdings „aus Versehen“, zum Beispiel an einem Blatt Papier, nahm ich den Schmerz genauso wahr, wie alle anderen Menschen auch. Mein Schmerzempfinden war also nur situationsbedingt eingeschränkt/ausgeschaltet und nicht den gesamten Tag lang.

Genauso kam ich an einem „normalen“ Tag, an dem es keine besonderen Zwischenfälle gab, nie auf die Idee, mir beabsichtigt die Arme aufzuschneiden. Das war für mich eine völlig absurde Vorstellung! Doch wenn ich diesen unaushaltbaren Druck in meinem Innern verspürte oder in einem Flashback oder negativen Gedanken gefangen war – sah das anders aus. Dann war Selbstverletzung das Einzige, was mir in diesem Moment „logisch“ erschien. Es war wie ein Zwang. Mein gesamter Körper zitterte vor Anspannung und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zeitweise kam ich mir vor wie ein Drogenabhängiger auf Entzug. Die Selbstverletzung war sozusagen meine „Droge“. Ohne Selbstverletzung war ein Leben für mich nicht mehr denkbar. Selbstverletzung war so etwas wie ein „Wunderheilmittel“ für sämtliche Probleme und Sorgen. Anschließend war mein Kopf wieder frei und ich konnte mich wieder auf andere Sachen konzentrieren. Außerdem war ich danach total reflektiert und konnte genau jedes noch so kleine Detail analysieren und wiedergeben, was zuvor falsch gelaufen war.

 

Zu Beginn der Essstörung und des Borderlinesyndroms bekam niemand etwas von meinen „Problemen“ mit. Ich lebte in den Tag hinein, funktionierte und versuchte einfach nur zu „überleben“ und dabei noch halbwegs glücklich zu erscheinen.

Von meiner inneren Einstellung hatte ich mich komplett verändert, doch nach außen hin dauerte es mehrere Monate, bis meine Umwelt bemerkte, dass ich nicht einfach nur in einer pubertären Phase feststeckte. Erst als ich knapp 20 Kilo abgenommen hatte, wurde ich auf den übertriebenen Gewichtsverlust angesprochen und zunehmend häufiger darauf hingewiesen, dass mein aktuelles Gewicht (52 Kilo) an Untergewicht grenzte. Allerdings war mir das relativ gleichgültig. Über die Aussage, dass ich auf dem besten Weg in Richtung Magersucht war, konnte ich nur lachen. Schließlich hatte mein Essverhalten nichts mit Sucht zu tun, sondern mit Kontrolle. Ich kontrollierte meine Nahrungsaufnahme – mehr nicht. Und von Magersucht war ich meiner Ansicht nach noch meilenweit entfernt! Außerdem war es mein Leben, mein Körper und somit auch meine Entscheidung, was ich machte, beziehungsweise nicht machte. Deshalb hasste ich es auch, wenn jemand meinte, mir Ratschläge geben zu müssen! Schließlich wusste niemand, wieso ich so war, wie ich war, deshalb sollte sich auch niemand beschweren, wieso ich mich verändert hatte. Ich hatte meine Gründe dafür (über die ich jedoch nicht reden wollte)!!!

 

Meine Psychologin merkte ebenfalls, dass ich von Woche zu Woche weniger wurde. Auch sie wies mich einige Male darauf hin, dass ich doch bitte aufpassen sollte, dass ich nicht ins Untergewicht abrutschte. Doch auch ihre Warnungen konnte/wollte ich nicht ernst nehmen und schlug sie direkt in den Wind.

Mehr unternahm sie zu dem Zeitpunkt noch nicht gegen meinen ständigen und andauernden Gewichtsverlust, denn was ihr damals viel mehr Sorgen bereitete, waren meine Selbstverletzungen, die ich irgendwann nicht mehr geheim halten konnte.

 

Meine Sportlehrerin war damals die erste Person, die merkte, dass ich mich ritzte. Denn sie war mehr oder weniger die einzige Person, die mich in diesem Zeitraum mit kurzen Ärmeln sah. Normalerweise trug ich nämlich immer lange Kleidung, um meine frischen Wunden und alten Narben zu verdecken. Im Herbst, im Winter und auch im Frühling war das kein größeres Problem gewesen, denn wenn mich jemand darauf ansprach, wieso ich mit langen Ärmeln Sport machte, antwortete ich, dass ich verfroren sei und mir mit kurzen Ärmeln zu kalt wäre. Doch im Hochsommer konnte ich diese Ausrede nicht mehr anwenden. Die Außentemperaturen waren eindeutig zu heiß, um mit langen Ärmeln Sport zu machen. Deshalb war ich mehr oder weniger dazu gezwungen (zumindest im Sportunterricht) ein T-Shirt anzuziehen.

Damit meine Wunden nicht sofort ins Auge stechen würden, klebte ich extra am Morgen vor der Schule noch hautfarbene Pflaster über die frischen Wunden. Doch mein Hoffen, niemand würde meine Schnitte bemerken, waren vergebens. Zwar sprachen mich während des Unterrichts weder meine Mitschüler noch die Lehrerin auf die Pflaster an, doch nach dem Unterricht wollte meine Lehrerin noch ein Vieraugengespräch mit mir führen. Ohne groß überlegen zu müssen, wusste ich sofort, um was es in diesem Gespräch gehen würde.

Nachdem alle anderen Schülerinnen und Schüler aus meiner Klasse die Sporthalle verlassen hatten, bat mich meine Lehrerin, dass ich mich neben sie auf die Bank setzte und fragte mich, was ich an den Armen gemacht hätte. Als Erstes versuchte ich, mich herauszureden, indem ich erklärte, dass ich zu Hause eine kleine Babykatze hätte, die mich andauernd kratzen würde. Doch meine Lehrerin zog nur die Augenbrauen hoch und meinte: „Das muss dann wohl ein Baby-Tiger sein.“ Sie glaubte mir nicht. Stattdessen teilte sie mir ihre Sicht der Dinge mit und sagte knallhart: „Du ritzt dich. Stimmts?!“ Auf diese Frage antwortete ich nun gar nicht mehr. Ich bestätigte weder ihre Aussage, noch verneinte ich sie. Ich wich lediglich ihrem Blick aus und versuchte zwanghaft die Tränen in meinen Augen zurückzuhalten. Weinen wäre nämlich jetzt das Schlimmste, was mir in dieser Situation passieren konnte. Ich musste stark bleiben und so tun, als wenn in meinem Leben alles bestens lief! Auf jede weitere Frage von ihr antwortete ich ebenfalls mit Schweigen. Jeden Annäherungsversuch blockte ich ab. Deshalb beendete meine Lehrerin das Gespräch. Bevor ich die Sporthalle jedoch in eiligen Schritten verließ, bot sie mir an, dass ich jederzeit zu ihr kommen könnte, wenn ich reden wollte.

 

In der Umkleide angekommen, schloss ich mich direkt in die Toilette ein und heulte. Ich war stinksauer auf meine Unfähigkeit! Jetzt hätte ich einmal die Chance gehabt zu reden und was tat ich?! Schweigen! Ich war einfach nur doof! Anderseits machte ich mir gleichzeitig auch selbst Vorwürfe, dass ich meine „Rolle“ anscheinend zu schlecht gespielt hatte. Hätte ich besser geschauspielert, dann hätte niemand gemerkt, dass ich gar nicht so lebensfroh bin, wie ich immer scheine! Egal, was ich machte; ich schien alles falsch zu machen! Ich fühlte mich wie der unfähigste Mensch auf der ganzen Erde.

 

Als ich dann nach dem Gespräch mit der Sportlehrerin nachmittags nach Hause kam, wartete bereits meine Mutter auf mich. Die Sportlehrerin hatte unmittelbar nach ihrer Entdeckung meiner Klassenlehrerin von den Selbstverletzungen erzählt und die hatte dann direkt bei meiner Mutter daheim angerufen.

Nun war meine Mutter außer sich vor Sorge. Sie fragte mich, warum ich meinem Körper so etwas antue, was ich mir dabei denken würde, wieso ich das machte etc. Aber ich konnte ihr auf keine ihrer Fragen antworten. Denn auf einen Großteil der Fragen wusste ich selbst keine genaue Antwort. Mir war klar, dass das, was ich tat, kein normales Verhalten war, aber dennoch hatte ich (meiner Meinung nach) kaum eine andere Wahl, als so zu reagieren. Selbstverletzung war schließlich das Einzige, was in meinen Augen gegen meine Probleme half. Doch das konnte ich meiner Mutter natürlich nicht sagen! Denn kein Mensch, der noch nie in solch einer Lage gefangen war, kann sich vorstellen, dass es „gut“ tut, wenn man sich selbst Schmerzen zufügt. Das ist unmöglich und jenseits jeglicher gesunden Vorstellungskraft!

Als mein Vater dann abends von der Arbeit heimkam, ging es direkt weiter mit der Fragerei. Für meine Eltern war es vollkommen unverständlich, wieso ausgerechnet ihre Tochter so einen Unsinn trieb. Schließlich fehlte es mir doch an nichts?! Irgendwann kamen meine Eltern jedoch glücklicherweise zu dem Entschluss, dass sie mit Vorwürfen, Tadeln und ständigen Fragen nicht weiterkamen. Egal, was sie machten oder was sie mir androhten: Ich wollte mit ihnen nicht reden. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig, als hinzunehmen, dass ich mich geritzt hatte. Ändern oder rückgängig machen konnten sie es sowieso nicht mehr.

 

Auch meine Mitschüler bekamen im Laufe der Zeit mit, dass ich mich selbst verletzte. Zwar sprach mich niemand offen auf meine Schnitte an, aber dennoch spürte ich die Ablehnung gegen mich. Außerdem bekam ich mit, dass mich einige Mitschüler als „Emo“ bezeichneten. Was ich jedoch keinesfalls war! Denn „Emos“ (eine bestimmte Personengruppe, die zu diesem Zeitpunkt aktuell war) sind Menschen, die sich oberflächlich die Haut aufritzen und darauf stolz sind. Sie geben mit ihren Kratzern (anders kann man das nicht nennen) an und wollen damit Aufmerksamkeit erregen. Doch das war bei mir nicht der Fall! Ganz im Gegenteil: Mein Ziel war es, dass niemand bemerkte, dass ich mich selbst verletzte. Außerdem zog ich nicht aus Spaß an der Freude die Klinge über meinen Arm, sondern aus ganz anderen Gründen. Doch das schien niemand zu verstehen. Denn selbst meine wenigen Freunde (oder nennen wir sie „Leute, mit denen ich in den Pausen redete“), wanden sich von mir ab, weil sie mein Verhalten nicht nachvollziehen konnten. Sie waren mit mir, beziehungsweise mit meinen Verhaltensweisen, schlichtweg überfordert und wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Ich verletzte mich selbst, wurde von Woche zu Woche dünner, zog mich immer weiter zurück, konnte keine Nähe mehr ertragen etc., das war ihnen eindeutig zu kompliziert. Ich wurde zur absoluten Außenseiterin und Einzelgängerin.

 

Also wer beim letzten Kapitel meines Buches gedacht hat: „Schlimmer kann es nicht werden; jetzt muss es doch endlich mal bergauf gehen“, dem habe ich hier gezeigt, dass es immer noch schlimmer geht. Und leider haben wir hier, an diesem Punkt, noch immer nicht den absoluten Tiefpunkt erreicht. Denn schlimmer geht leider immer.

 

Denn auch DIE bekamen mit, dass meine Sportlehrerin Verdacht geschöpft hatte und ich nun ständig von Leuten angesprochen und gefragt wurde, was denn los sei. Das gefiel IHNEN ganz und gar nicht und das bekam ich wenige Tage darauf auch schmerzhaft zu spüren. Nach der Tat ließen SIE mich nämlich nicht wie sonst liegen, sondern einer von IHNEN brach einen Ast von einem Baum ab und begann damit, auf meinen Rücken einzuschlagen. Anschließend war mein gesamter Rücken von Blutergüssen und Abschürfungen übersät und ich konnte mich kaum noch ohne Schmerzen bewegen. DIE sagten mir, dass das ein Denkzettel dafür sei, dass ich nicht reden solle und falls ich doch etwas sagen würde, wäre das eben erst der Anfang gewesen.

An diesem Tag verlor ich selbst noch den letzten Funken Hoffnung, dass ich mich irgendwann überwinden könnte und mit jemandem DARÜBER reden würde. Sobald ich SIE sah oder auch nur, wenn ich an SIE dachte, hatte ich Todesangst!

 

Das Einzige, was sich nach dem Gespräch zwischen der Lehrerin und meinen Eltern langfristig geändert hatte, war, dass sie mich auf jeden blauen Flecken, den sie an meinem Körper entdeckten, ansprachen und wissen wollten, woher er kam. Doch die Wahrheit erzählte ich ihnen nie. Stattdessen erfand ich jedes Mal eine neue Geschichte, weshalb ich schon wieder einen neuen Bluterguss an Armen oder Beinen hatte. Zwar merkte ich, dass meine Eltern mir nicht mehr glaubten, wenn ich erzählte, dass ich wieder hingefallen wäre oder mich an einer Schranktür, einem Stuhl oder sonstigen Möbeln gestoßen hätte, aber dennoch hielt ich an meiner Geschichte fest und beteuerte, dass es genauso passiert sei, wie ich es berichtet hätte.

 

Mein Leben war in dieser Zeit die reinste Hölle! Ich ekelte mich vor meinem eigenen Körper und es gab keinen Menschen, den ich mehr hasste als mich selbst. Mein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl waren gleich null. Beziehungsweise es war gar nicht mehr vorhanden. Alles in meinem Leben wirkte sinnlos. Am liebsten wäre ich von einer Brücke gesprungen, hätte mich erhängt oder mir Pulsadern durchgeschnitten, doch dafür war ich zu feige. Stattdessen zog ich es vor, mich in Raten umzubringen. Denn was anderes als Selbstmord in Raten ist Magersucht nicht.

 

Nachdem meine Eltern nun wussten, dass ich mir die Arme aufritzte und merkten, dass ständig neue blaue Flecken an meinem Körper auftauchten, suchten sie anscheinend vermehrt das Gespräch mit meiner Psychologin. Denn auch sie wollte plötzlich so gut wie jede Stunde mit mir über das Thema Selbstverletzung reden. Was ich jedoch nicht nachvollziehen konnte. Denn wieso wollten plötzlich alle mit mir reden? Ich hatte doch gar kein Redebedarf!

Außerdem war ich der Auffassung, dass mir sowieso niemand helfen konnte. Also reden stand bei mir absolut nicht auf meiner To-do Liste! Trotzdem fragte meine Psychologin mich jede Woche aufs Neue, ob ich mich in der vergangenen Woche selbst verletzt hätte und wenn ja, warum. Die erste Frage beantwortete ich ihr dann so gut wie immer mit ja. Aber eine Begründung wieso, gab ich ihr nie ab. Damit war das Thema dann auch für diese Stunde geklärt. So richtig helfen konnte sie nämlich nicht. Vermutlich hatte sie noch nicht allzu viel Erfahrung auf diesem Gebiet. Überhaupt liefen all unsere Gespräche eher suboptimal ab. Sie stellte eine Frage und ich antwortete darauf das, was sie hören wollte oder schwieg und ließ sie Selbstgespräche führen. Der wöchentliche Termin bei ihr war für mich mehr Zeitvertreib als irgendetwas anderes. Ich ging eigentlich nur hin, um meine Eltern zufriedenzustellen und Diskussionen zu vermeiden. Aber direkt geholfen haben mir die Therapiesitzungen nicht. Denn ich machte weiter wie zuvor. Egal, was meine Umwelt mir versuchte mitzuteilen; ich hungerte weiter, schnitt mir weiterhin regelmäßig die Arme auf und redete mit niemandem über meine Probleme.

8. Meine Freundin, die Magersucht

 

Von Woche zu Woche wurde ich zunehmend dünner und dünner. Selbst in meiner Freizeit beschäftigte ich mich inzwischen fast ausschließlich mit Essen beziehungsweise mit eben nicht essen. So wie andere ihre Englischvokabeln im Vokabelheft auswendig lernten, lernte ich die Kalorienangaben aus Nährwerttabellen auswendig.

 

Alles in meinem Leben drehte sich nur noch um Essen und die Kontrolle der eigenen Nahrungszufuhr. Ich begann sogar in einem kleinen Heft alle möglichen Lebensmittel in zwei Listen zu unterteilen. Eine Liste bestand aus „erlaubten Nahrungsmitteln“ und die andere Liste beinhaltete „verbotene Nahrungsmittel“. (Erlaubt waren die Nahrungsmittel, die kaum oder nur wenig Kalorien haben wie zum Beispiel Obst, Gemüse und Knäckebrot. Verbotene Nahrungsmittel waren Lebensmittel mit vielen Kalorien und/oder einem hohen Fettanteil wie zum Beispiel Schokolade, Sahne, Chips und Pommes.)

 

Mit der Zeit strich ich dann immer mehr Lebensmittel aus der Spalte der erlaubten Nahrungsmittel raus und sortierte sie bei den verbotenen Nahrungsmitteln ein. Das ging so weit, bis irgendwann die Liste der erlaubten Nahrungsmittel nur noch aus Gemüse und Cola light bestand. Selbst Obst hatte mir am Ende zu viele Kalorien und zu viel Zucker!

 

Abends überlegte ich mir schon, was ich am nächsten Tag essen wollte und welche Ausreden ich benutzen würde, um mich um die eigentlichen Hauptmahlzeiten herum zu mogeln. Stundenlang beschäftigte ich mich damit auszurechnen, wie viel ich wovon essen konnte, um nicht über meine Tageskaloriengrenze zu kommen. Kalorien waren dementsprechend der Mittelpunkt meines Lebens. Alles in meinem Kopf drehte sich um diese kleinen, nervigen Dinger. Mal ein Eis zwischendurch zu essen, am Geburtstag ein Stück Kuchen zu probieren etc., wurde für mich unmöglich. Nie hätte ich etwas gegessen, was nicht auf meinem Plan stand! Absolute Kontrolle war Pflicht für mich! Schließlich hatte ich es in den letzten neun Monaten geschafft, 13 Kilo abzunehmen, und das sollte auch so bleiben. Jedes Gramm mehr auf der Waage war ein halber Weltuntergang für mich. Nahm ich zu, war das ein Zeichen für mich, dass ich schwach war und am vorherigen Tag nicht die Kontrolle über meinen Essenszwang und meinen Körper hatte. UND das war eine Schande für mich, denn in meinen Augen hatte ich dann versagt.

Meine Wahrnehmung zu diesem Zeitpunkt war vollkommen verzerrt und gestört. Selbst mit 50 Kilo Körpergewicht fühlte ich mich bei einer Körpergröße von 1,67 m zu dick. Überall sah ich noch Fettpolster, obwohl ich mich bereits mit diesem Gewicht im Bereich des Untergewichtes befand.

 

Heute frage ich mich selbst, wie ich nur so durcheinander im Kopf sein konnte, dass so ein paar doofe Zahlen auf der Waage mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl vorgaben und mein Leben regierten. Es ist mir selbst ein Rätsel, wie ich zu dem Zeitpunkt mein Denken und Essverhalten noch als „gesund“ bezeichnen konnte. Doch genau das tat ich zu dieser Zeit.

Obwohl das Abnehmen bei mir bereits zur Sucht geworden war, behauptete ich weiterhin strickt und fest, dass ich es war, der die Kontrolle über meinen Körper, meine Gedanken und mein Essverhalten hatte. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass ich bereits mitten in einer Essstörung steckte. Wenn mir jemand sagte, dass ich magersüchtig sei, lachte ich ihn aus und sagte: „Magersüchtige essen gar nichts und wollen abnehmen, weil sie nach einer Modelfigur streben. UND das ist bei mir beides nicht der Fall. Also bin ich 100 prozentig nicht magersüchtig!“ Außerdem konnte ich auch gar keine Essstörung haben, denn erstens ernährte ich mich gesund, aß viel Obst und Gemüse, trank ausschließlich zuckerfreie Getränke, mied Süßigkeiten etc. und zweitens konnte mein Essverhalten gar nicht gestört sein. Denn wie kann man ein Problem mit dem Essen haben, wenn man gar nichts isst? Also, was ich damit verdeutlichen möchte, ist, dass ich mich selbst belog. Mit sämtlichen Ausreden und Erklärungen (die zum Teil völlig unlogisch waren) versuchte ich, mir selbst einzureden, dass ich nicht krank, sondern vollkommen gesund wäre. Ich redete mir und meiner Umwelt ein, dass ich lediglich auf eine bewusste Ernährung achtete und mehr nicht.

Ob ich tatsächlich nicht spürte, dass irgendetwas in meinem Kopf nicht so ablief, wie es sollte und die Waage so etwas wie ein halber „Gott“ für mich war, der mir vorschrieb, was und wie viel ich zu essen hatte, wage ich selbst zu bezweifeln. Ich kann mich zwar nicht mehr an meine genauen Gedanken erinnern, aber ich weiß, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt doch recht intensiv mit dem Thema Magersucht beschäftigt hatte. Ich las sämtliche Bücher zu dem Thema, recherchierte im Internet und las auch einige Fachartikel darüber. Also ich wusste, was Magersucht ist, welche Symptome, Denkweisen und Verhaltensweisen bei dieser Krankheit auftreten und auch welche Folgen, zu starkes Untergewicht haben konnte. Ich wusste so gut wie alles darüber. Allerdings schreckten mich solche Berichte über Risiken und Nebenwirkung dieser Essstörung nicht ab, sondern sie waren mir gleichgültig. Ich las auch die Artikel und Bücher nicht, um mir „Tipps“ zu holen, um weiter abzunehmen, sondern weil ich mich darin verstanden fühlte. Die Hauptpersonen in den Texten waren ziemlich ähnlich und gaben mir das Gefühl, nicht alleine zu sein. Klar waren sie krank und ich (meiner Meinung nach) gesund, aber trotzdem hatten wir irgendwie dieselben beziehungsweise ähnliche Probleme. Wir alle fühlten uns unverstanden von unserer Umwelt, hatten etwas erlebt, was uns aus der Bahn geworfen hatte und haben unseren Trost im Hungern/in der Kontrolle über unseren Körper gefunden. UND uns allen ging es „gut“ damit! Deshalb: Wieso sollte ich mit etwas aufhören, was mir offensichtlich guttat und Halt in meinem Leben gab?

 

Es machte mich stolz, etwas zu können, was nicht jeder konnte. Das strikte Hungern und die absolute Selbstkontrolle machten mich zu etwas „Besonderem“. Nicht jeder Mensch schafft es, über einen so langen Zeitraum ohne Ausrutscher sein Hungergefühl so ausnahmslos unter Kontrolle zu behalte. Das gab mir wenigstens einen Hauch von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Jeden Morgen wurde ich von der Waage für meine gute Arbeit gelobt und belohnt. Mit jedem Kilo weniger fühlte ich mich besser und mein Stolz wuchs.

 

Das tägliche Wiegen wurde wie eine Sucht für mich. Anfangs wog ich mich nur einmal morgens nach dem Aufstehen vor dem Frühstück. Doch schon kurz darauf reichte mir das nicht mehr. Ich kontrollierte mein Gewicht nun auch mittags und am Abend, vor dem zu Bett gehen. Teilweise stieg ich sogar über zehn Mal pro Tag auf die Waage, um mein Gewicht zu kontrollieren! Nach jedem Schluck Wasser musste ich „kontrollieren“, wie viel ich zugenommen hatte. (Man bemerke: Wasser besitzt keine Kalorien, aber trotzdem Gewicht. Das heißt: Ein Glas Wasser wiegt ungefähr 200 g. 200 g mehr auf der Waage = Weltuntergang!!!) Inzwischen ist es für mich unglaublich, wie die Zahlen auf der Waage mein Leben so stark beeinflussen konnten, doch damals entschied das morgendliche Wiegen sogar über meine Stimmung. Wachte ich morgens auf und das angezeigte Gewicht auf der Waage, war weniger wie am Vortag, ging es mir gut. War es mehr, hatte ich den restlichen Tag schlechte Laune. Denn mehr Gewicht zeigte mir, dass ich am vorherigen Tag zu viel gegessen und zu wenig Selbstkontrolle hatte. UND das war schlecht!

 

Zusätzlich zu dem wenigen Essen trieb ich noch extrem viel Sport, um mein Gewicht noch weiter zu reduzieren. Drei- bis viermal die Woche trainierte ich bis zu zwei Stunden am Stück. Dabei trug ich dann noch zusätzlich ein Thermounterhemd, dicke Kleidung und einen Fleecepulli darüber, um auch ja jede Fettzelle zum Schmelzen zu bringen. Egal, wie heiß es war oder wie sehr mein Körper um eine Pause bettelte, ich zog mein Programm durch und blieb hart. Jede 100 Gramm weniger auf der Waage musste ich mir hart erkämpfen. Zunehmen ist leicht, doch abnehmen ist ein harter Kampf. Aber wie bereits geschrieben: Ich hatte (angeblich) alles unter Kontrolle und war von einer Essstörung noch weit entfernt.

Wenn meine Mitmenschen sich Sorgen um mich machten und mir sagten, dass ich doch bitte wieder „normal“ Essen sollte oder meine Mitschüler mein Pausenbrot nicht mehr wollten, weil ich die Kalorien viel nötiger hätte, sah ich das nicht als besorgtes Verhalten an. In meinen Augen waren diese Aussagen nämlich reiner Neid! Meine Mitmenschen waren meiner Ansicht nach lediglich neidisch auf mich und keinesfalls wirklich besorgt. Denn ich schaffte etwas, was sie nicht konnten. Nun wollten sie, dass ich wieder mehr esse, meine Kontrolle aufgab und wieder genauso fett wurde wie sie. Sie wollten, dass ich genauso bin wie sie und genauso wenig Selbstkontrolle besitze. Doch das wollte ich nicht! Ich lies mich nicht beirren und hielt an meinem strengen Essverhalten fest!

 

Wenn mich jemand fragte, ob ich hungrig war, antwortete ich prinzipiell mit „Nein!“ Doch abends, wenn ich alleine im Bett lag und mich niemand sah, holte ich mir heimlich ein Kochbuch heraus und betrachtete die leckeren Gerichte und sehnte mich danach, das zu essen, worauf ich Appetit hatte und davon so viel zu essen, wie ich wollte.

 

Wie bereits bei der Selbstverletzung zuvor, dauerte es nicht lange, bis meine Klassenlehrerin mitbekam, dass ich mein Pausenbrot an meine Mitschüler verschenkte oder, wenn sie es nicht wollten, in den Müll warf. Und wie bereits zuvor, dauerte es ebenfalls nicht lange, bis sie erneut meine Mutter anrief, um ihr mein „auffälliges“ Verhalten mitzuteilen.

Was genau in diesem Gespräch besprochen wurde, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass meine Mutter ziemlich verzweifelt und ratlos war. Erst schneidet sich ihre Tochter ins eigene Fleisch und dann wird sie immer dünner und dünner. Ich glaube, das ist der absolute Albtraum jeder Mutter! Ich denke, sie hat sich in dieser Zeit relativ machtlos gefühlt. Sie hatte keine Ahnung, was mit mir los war, geschweige denn, wie sie mir helfen konnte. Das muss schrecklich gewesen sein. Und ganz ehrlich: Ich wüsste selbst nicht, wie ich in solch einer Situation als Mutter reagieren würde. Vermutlich würde ich aus reinem Reflex mein Kind nehmen und solange schütteln, bis im Kopf wieder alles an der richtigen Stelle sitzt (bildlich gesehen!!!!).

Ich glaube, in solch einer Situation kann man nicht „richtig“ reagieren. Man kann lediglich sein Bestes versuchen, um seiner Tochter die Augen zu öffnen und zu zeigen, dass das Essverhalten nicht in Ordnung ist. Aber mehr kann man nicht machen. Zwingen, mehr zu essen, ist vergebens. Denn Druck erzeugt in den meisten Fällen nur Gegendruck. Und das ist bei der Lösung eines Problems weniger ratsam.

 

Da meine Eltern damals noch keinerlei Ahnung von Kalorien und Nährwerten hatten, konnte ich mit ihnen recht schnell einen Kompromiss finden, der uns beide zufriedenstellte. Um sie zu beruhigen und zu zeigen, dass ich dazu bereit war, etwas zu essen, erklärte ich mich damit einverstanden, jeden Morgen vor der Schule eine Scheibe Knäckebrot zum Frühstück zu essen. Was meine Eltern jedoch nicht wussten, war, dass dieses Angebot von mir eine reine Lüge war. Denn eine Scheibe Knäckebrot hatte gerade einmal 30 Kalorien; also weniger als 100 ml Cola. Doch sie waren mit diesem Angebot zufrieden und glücklich, dass ich wenigstens eine Kleinigkeit morgens aß und nicht mit komplett leeren Magen in die Schule ging. Und mit 30 Kalorien zum Frühstück konnte ich ebenfalls leben! In die Schule nahm ich dann einen Apfel mit, der jedoch bereits vor dem Unterricht schon im Müll landete.

Mittags aß ich dann eine Kleinigkeit von dem Mittagessen meiner Mutter (meist nur das Gemüse) und zum Abendessen aß ich eine Schüssel Salat mit meinem „Spezialdressing“ (das bestand aus Maggi und Wasser und hatte somit null Kalorien). Meiner Mutter erzählte ich allerdings, dass das Dressing aus Essig und Öl bestand. Wenn es um Essen und Kalorien ging, log und betrog ich, wo ich nur konnte.

 

Ich dachte, ich würde meine Mitmenschen austricksen und hinters Licht führen, aber in Wirklichkeit verarschte ich mich noch viel mehr. Ich stand auf einer Rolltreppe, die sich konstant abwärts bewegte und tat nichts dagegen, um von dieser Rolltreppe abzuspringen.

 

Meine Psychologin nahm meine extreme Gewichtsveränderung ebenfalls wahr. Da ihr gutes Zureden, das ich mein Gewicht wenigstens halten und nicht weiter abnehmen sollte, offensichtlich nichts brachte, beschloss sie, mich ab sofort jede Woche zu Beginn der Therapiestunde zu wiegen (was eigentlich völlig überflüssig war, denn wenn sie mich gefragt hätte, hätte ich ihr mein Gewicht auf 100 Gramm genau sagen können). Außerdem schien sie noch nicht allzu viel Erfahrung in Richtung Magersucht zu haben. Denn sie stellte mich jede Woche mitsamt Kleidung auf die Waage. Lediglich meine Schuhe musste ich ausziehen. Dass mein Gewicht dadurch nicht aussagekräftig war, erklärt sich wohl von selbst. Denn alleine eine Jeans mit Gürtel wiegt um die 600 g.

Außerdem einigten wir uns darauf, dass ich jeden Tag eine gewisse Mindestmenge an Kalorien zu mir nehmen sollte. Allerdings dachte ich nicht einmal im Traum daran, mich an diese Vorgaben zu halten. Ich akzeptierte lediglich die Vereinbarung der Psychologin, weil ich keine Lust hatte zu diskutieren und wusste, dass ich sowieso alle wegen der Kalorien betrügen konnte. Schließlich hatte (bis jetzt) niemand in meinem Umfeld so viel Wissen über Kalorien und Nährwerte wie ich.

 

Eine ganze Weile hungerte ich also weiter und log und betrog meine Eltern und Familie, wenn es um das Thema Essen und Kalorien ging. Mein Gewicht sank nun zwar nicht mehr ganz so schnell wie zu Beginn, doch trotzdem wurde ich kontinuierlich weniger. Irgendwann sagte dann meine Mutter zu mir, dass ich mit meinem Gewicht nicht mehr schön aussehen würde. Es wäre hässlich, wenn ich so dünn sei, dass man jeden Knochen am Körper sehen könnte. Eigentlich wollte meine Mutter mit diesem Kommentar bezwecken, dass ich aufhörte zu hungern und endlich wieder normal essen würde, doch in mir lösten diese Sätze genau das Gegenteil aus. Sie bestärkten mich nur noch weiter. Ich hatte nun nämlich die Idee, dass wenn ich noch mehr abnehmen würde, noch unattraktiver aussehen und dadurch auch einen Teil meiner Weiblichkeit verlieren würde. Das hätte dann bestenfalls die Folge, dass DIE mich nicht länger anfassen und vergewaltigen würden.

In meinen Augen war das ein perfekter Plan, um aus der Hölle in meinem Leben zu entkommen. Was ich dabei jedoch nicht berücksichtigte, war, dass ich dadurch zwar aus der Hölle der fast täglichen Übergriffe entkam, aber gleichzeitig ohne Zwischenstopp direkt in der nächsten Hölle, in der Hölle der Essstörung, landete.

 

Mit 48 Kilo war es endlich so weit. DIE hatten sich gerade (mal wieder) an mir vergriffen, als nach der Tat einer von DENEN zu mir sagte: „Das ist nicht schön, dass du so dünn bist. Da hat man gar nichts mehr zum Anfassen. Da sind nur noch Haut und Knochen.“

Ab diesem Tag war mit den sexuellen Übergriffen eine ganze Weile Ruhe. SIE vergewaltigten mich nicht mehr, sondern schlugen und beschimpften mich nur noch in regelmäßigen Abständen und setzten mich unter Druck, dass ich ja nicht meinen Mund aufmachte und jemanden von IHNEN erzählte.

 

Doch auch wenn die Vergewaltigungen ein Ende hatten, änderte sich an meiner Aggression gegen meinen eigenen Körper und meinem schlechten Essverhalten nichts. Ich ritzte mir weiterhin mit Glasscherben meine Unterarme auf und fand sogar noch weitere Methoden, wie ich meiner Wut und meiner Aggression gegen mein eigenes Ich Luft machen konnte. Zum Beispiel nutzte ich Streichhölzer, um meine Haut zu verbrennen, zweckentfremdete Deos, um mir eine Kälteverbrennung zuzufügen, oder schlug meinen Kopf gegen die Wand. Und wenn ich mal gar nichts zur Hand hatte, womit ich mir selbst Verletzungen zufügen konnte, dann nutzte ich meine eigenen Fingernägel, um mir die Haut blutig zu kratzen.

 

Das wöchentliche Wiegen bei der Psychologin zeigte zwar, dass ich von Woche zu Woche weiterhin Gewicht verlor, doch ich fühlte mich noch immer nicht dünn. Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich immer noch ein kleines, dickes Mädchen, das viel zu übergewichtig für ihre Größe war. Überall an meinem Körper konnte ich noch hässliche Fettpolster entdecken, die es zu vernichten galt. Auch wenn mein BMI bereits sagte, dass ich Untergewicht hatte, fühlte ich mich trotzdem dick, fett und schwabbelig. Ich konnte und wollte den Aussagen dieser BMI Berechnung nicht trauen. Er hatte unrecht, denn zu dünn war ich meiner Meinung nach noch lange nicht. Wahrscheinlich traf die Rechnung auf meinen Körper nicht zu (redete ich mir ein) und ein BMI von unter 16,5 bedeutete bei mir kein Untergewicht, sondern Übergewicht. Mein Körper war schon immer „anders“, also warum sollte dann die Aussage des BMI bei mir stimmen? 46 Kilo waren schließlich ein (fast) ideales Gewicht für meine Größe.

(Dieses Phänomen, dass stark untergewichtige Menschen sich selbst als zu dick sehen, nennt man „Körperschemastörung“)

 

Selbst mit 46 Kilo, einem BMI von 16,5, fühlte ich mich zu fett!!

 

Meine Mutter und mein Opa versuchten, anders als mein Vater, der alles stumm hinnahm und seine Sorge nur selten mit Worten mitteilte, alles, um mich zum Essen zu bewegen. Sie kauften an Lebensmitteln alles, was ich haben wollte und sie kochten mir meine Lieblingsgerichte. Sie gaben sich wirklich alle Mühe, um mich dazu zu bringen, doch etwas zu essen. Aber ich blieb jedes Mal hart und aß, wenn überhaupt nur eine kleine Portion. Mir tat es zwar dann selbst leid, wenn sie extra für mich kochten und ich am Ende trotzdem nichts essen wollte, aber ich konnte zu dieser Zeit nicht anders. Ich hatte Angst davor, zuzunehmen und wieder weiblich auszusehen, weil ES dann wieder von vorne losgehen könnte.

 

Essen und Kalorien machten mir Angst. Ich fürchtete, dass wenn ich auch nur einen Löffel Essen zu mir nähme, ich gleich zwei Kilo mehr auf der Waage haben würde. Eigentlich ist diese Vorstellung verrückt und tief in mir wusste ich auch, dass dem nicht so sein würde, aber die Angst war trotzdem da. Ich konnte sie nicht abstellen oder überwinden. Sobald ich etwas zu Essen in der Hand hielt, schrie eine Stimme in meinem Kopf: „Nein! Iss das nicht! Wenn du das isst, wirst du wieder dick, fett und alles schwabbelt an dir! Dieser eine Bissen macht deine gesamte Arbeit von den letzten Monaten zunichte! Wenn du das in dich reinstopfst, bist du ein schwacher Versager, der nichts auf die Reihe bekommt usw. …“. Es war schrecklich. Ich hatte eine Blockade in meinen Kopf, die mir verbot zu essen. Außerdem hatte ich Angst, dass wenn ich einmal dem Hungergefühl nachgeben würde, ich so lange essen würde, bis ich kurz vorm Platzen wäre. Also sobald ich meine Kontrolle auch nur für einen kleinen Augenblick aus der Hand geben würde, ich sie nie wieder zurückerlangen könnte.

 

Für Außenstehende muss es unvorstellbar sein, was ab und zu in den Köpfen von essgestörten Menschen abgeht. Und ganz ehrlich, manchmal ist das selbst für mich schockierend gewesen, was ich zum Teil gedacht habe. Wenn ich heute daran denke, schlage ich die Hände über meinen Augen zusammen und bekomme einen knallroten Kopf, weil ich denke: „Wie gestört muss meine Wahrnehmung damals gewesen sein, dass ich nicht gemerkt habe, dass mein Verhalten nicht normal, sondern krankhaft war?“

 

Wieso ich an meinem extrem mageren Körper so sehr hing und nicht zunehmen wollte, wurde mir erst später im Laufe der Therapie richtig bewusst. Denn es war nicht nur der Wunsch, durch das Untergewicht unattraktiv auf Männer zu wirken, und meinen Körper zu kontrollieren, der mich hungern ließ, sondern es war viel mehr: Ich wollte „Kind“ bleiben. Ich wollte nicht erwachsen werden, Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen, weiblich aussehen etc. Als Kind hat man es viel leichter im Leben. Man wird von allen beschützt, andere übernehmen Verantwortung für einen, und als Kind „darf“ man Fehler machen und niemand nimmt es einem übel. Ich fühlte mich den Aufgaben und den Herausforderungen einer erwachsenen Frau einfach nicht gewachsen. Deshalb wollte ich meinen Kindskörper behalten und hoffte so, von meiner Umwelt nicht als vollständige Erwachsene angesehen zu werden. Die Verantwortung, die mich als erwachsene Frau erwartete, war schlichtweg zu viel und allein die Vorstellung, erwachsen zu sein, überforderte mich bereits.

 

Kleine Anmerkung: Auch wenn ich zu dieser Zeit ein Riesenproblem mit Kalorien, Essen, Fett und Gewicht hatte, hatte ich trotzdem kein Problem, wenn ein Mensch in meiner Umgebung ein paar Kilo zu viel auf die Waage brachte. Also ich ekelte mich nicht vor ihm oder so was. Für mich waren diese Menschen weiterhin genauso wertvoll und liebenswert, wie wenn sie Normalgewicht gehabt hätten. Bei anderen Leuten war mir das Gewicht egal. Es drehte sich rein um mein Gewicht. Damit hatte ich ein Problem.

9. Von der Magersucht in die Bulimie

 

Wer behauptet, Magersüchtige hätten keinen Hunger, den muss ich leider enttäuschen, denn jeder so stark untergewichtige Körper hat Hunger. Schließlich kämpft er um sein Überleben!

 

So gut wie jede Nacht weinte ich mich in den Schlaf, weil ich vor Hunger nicht einschlafen konnte und mein Bauch so sehr schmerzte. Auf der anderen Seite machte mich dieses Hungergefühl jedoch auch wiederum stolz. Denn mein Körper schrie nach Essen und ich gab es ihm nicht. Endlich konnte ich kontrollieren, was mit ihm geschah und nicht mehr DIE hatten die Kontrolle über meinen Körper! Außerdem zeigte mir der Schmerz, dass mein Körper in diesem Moment nichts mehr zu verbrennen hatte und sich deshalb an meine Fettzellen heranmachen musste, um daraus Energie zu gewinnen. Also genau das, was ich wollte! Das waren mir die Schmerzen eindeutig wert. Wie heißt es schließlich: „Wer schön sein will, muss leiden.“

 

Später umging ich dann diesen Schmerz, indem ich entweder literweise Mineralwasser trank, um meinen Magen zu füllen, oder Watte aß, um ein Sättigungsgefühl vorzutäuschen. Watte hat nämlich keine Kalorien und quillt im Magen auf. Dadurch hat der Körper das Gefühl, dass der Magen (mit etwas Essbarem) gefüllt ist. (ACHTUNG! Nicht zu empfehlen, das ist lebensgefährlich und kann unter anderem zu einem Darmverschluss führen!!!)

 

Als ich dann nur noch 47 Kilo wog, sagte meine Mutter, dass es so nicht weitergehen konnte. Schließlich würde ich vor ihren Augen am lebendigen Leibe verhungern! Und die Termine bei der Psychologin und die neuen Essensregeln würden anscheinend auch nichts bewirken, denn mein Gewicht ging offensichtlich weiter nach unten. Ich konnte ihre Panik jedoch überhaupt nicht verstehen. Die Waage der Psychologin zeigte ja immerhin noch 49 Kilo an. (O.k. … Meine Kleidung hatte einiges an Gewicht und davor habe ich zudem jedes Mal noch ein paar Gläser Wasser getrunken, die ebenfalls Gewicht in den Magen brachten. Das Verfälschte dieses Ergebnis natürlich.) Aufgrund der (in meinen Augen) vollkommenen Überreaktion meiner Mutter entschied ich mich allerdings dazu, dieses Geheimnis vorerst für mich zu behalten und ihr den Glauben zu lassen, dass ich noch 49 Kilo wog.

 

Von einem auf den anderen Tag wurde meine Mutter extrem streng, wenn es um das Thema Essen ging. Ich durfte zum Beispiel nicht mehr bei Freunden oder unterwegs essen, sondern musste alle Mahlzeiten zu Hause vor ihren Augen zu mir nehmen. Anscheinend hatte sie nämlich durchschaut, dass ich nie wirklich bei Freunden zu Mittag oder zu Abend aß, sondern es nur als Ausrede benutzte, um mich vor dem Essen zu drücken. Außerdem durfte ich morgens kein Knäckebrot mehr zum Frühstück essen, sondern musste ab sofort eine Scheibe richtiges Brot mit Belag essen. Also auch den Kalorientrick schien meine Mutter durchschaut zu haben. Deshalb gab sie sich auch nicht länger damit zufrieden, dass ich mittags nur Gemüse und abends ausschließlich Salat aß. Falls ich mich nicht an diese Vereinbarung halten würde und/oder mein Gewicht noch weiter absacken würde, wäre der nächste Schritt eine Einweisung in eine Klinik und das wollte ich auf keinen Fall!

 

Im ersten Moment war ich von diesen neuen, sehr strengen Regeln so geschockt, dass ich sie widerstandslos akzeptierte. Für mich gab es kaum noch Schlupflöcher, die es mir ermöglichten, Kalorien zu vermeiden oder Mahlzeiten ausfallen zu lassen. Und drei Wochen schaffte ich es tatsächlich ohne größere Diskussionen halbwegs normal zu essen.

 

Jeder Bissen war für mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. Jedes Gramm, das ich zunahm, eine Demütigung. Es war für mich ein schreckliches Gefühl, wenn mein Magen gefüllt war. Ich hasste das Sättigungsgefühl! Jedes Essen war ein einziger Kampf, den ich gegen das Essen und mich selbst führte!

 

Nach drei Wochen „normal“ Essen, konnte ich jedoch nicht mehr. Innerhalb von drei Wochen hatte ich wieder ganze drei Kilo zugenommen! Meine monatelange Arbeit wurde in diesen drei Wochen zerstört! Ich fühlte mich belogen und betrogen von meinem Körper, von meinen Eltern, von der Psychologin und ja, eigentlich von der gesamten Welt! Schließlich wurde mir versprochen, dass wenn ich wieder normal essen würde, ich maximal ein Kilo zunehmen und ansonsten mein Gewicht halten würde! Ein Kilo mehr auf der Waage wäre schon schrecklich genug gewesen, aber drei Kilo und somit 50 Kilo Körpergewicht gingen gar nicht! Ich aß immer noch weniger als andere Leute mit meiner Größe und meinem Alter und nahm trotzdem zu. Da konnte irgendetwas nicht stimmen!

Jeden Morgen hätte ich auf der Waage in Tränen ausbrechen können, weil kaum ein Tag verging, an dem mein Gewicht nicht nach oben ging. Der Selbsthass und somit auch der Selbstverletzungsdruck stiegen von Tag zu Tag. Zwar besserte sich mein Essverhalten, aber dadurch verschlechterte sich die Beziehung zu meinem Körper. Die Klinge wurde wieder zu meiner besten Freundin, die für mich da war, wenn ich sie brauchte. Sie tröstete mich, wenn ich traurig war, und machte meinem Ärger Luft. Anschließend versteckte ich dann die frischen Schnitte unter langer Kleidung oder Armstulpen. Oder ich verletzte mich direkt an Stellen, wo niemand Schnitte vermutete. Zum Beispiel an meinen Oberschenkeln oder am Bauch. Ich wurde Meister darin, Pflaster und Verbände so zu kleben, dass sie nicht unter der Kleidung auffielen oder hervorschauten. Kaum jemand bemerkte, wie häufig ich mich tatsächlich selbst verletzte.

 

Ich war mit meinem Gewicht todunglücklich und fühlte mich absolut nicht mehr wohl. Mir kam es nicht so vor, als wenn ich drei Kilo zugenommen hätte, sondern als ob es 10 Kilo wären. Alles fühlte sich so schwabbelig und fett an. Allerdings war die Gewichtszunahme in dieser Situation das kleinere Übel. Hätten mich meine Eltern tatsächlich in eine Klinik einweisen lassen, dann hätte ich mich nicht einmal mehr mit meiner Klinge trösten gekonnt.

 

Nach drei Wochen mehr oder weniger halbwegs normalem Essverhalten änderte sich mein Essverhalten erneut zum Negativen. Es passierte das, wovor ich schon lange Angst hatte: Ich verlor die Kontrolle beim Essen und konnte nicht mehr aufhören, mir massenweise Lebensmittel in den Mund zu schaufeln.

Ich war an diesem Tag mit meiner Familie unterwegs, und da wir noch nichts gegessen hatten, beschlossen wir, abends auf dem Rückweg in ein Fast-Food-Restaurant zu gehen. Am liebsten hätte ich aus Kaloriengründen nur einen Salat bestellt, aber damit hätte sich meine Mutter vermutlich nicht zufriedengegeben. Außerdem hatte ich schon so lange keinen Burger mehr gegessen, dass ich richtig Appetit darauf hatte. Also wenn ich schon etwas essen musste, dann wollte ich auch das essen, was mir am besten schmeckte und worauf ich Lust hatte. Deshalb bestellte ich mir einen Burger. Ich genoss es richtig, in ihn hineinzubeißen. Der Geschmack war einzigartig. Burger standen schon so lange auf meiner Liste der verbotenen Lebensmittel, dass ich gar nicht mehr wusste, wie lecker so etwas sein konnte. Wahrscheinlich wäre es nicht einmal so schlimm gewesen, wenn ich nur den Burger und nichts anderes mehr gegessen hätte, aber als ich fertig war, bot mir mein Vater noch den Rest von seinen Pommes an. Erst sagte ich „Nein“, doch als er erneut fragte, nahm ich mir eine.

Anfangs hatte ich die feste Absicht, nur diese eine Pommes zu probieren, um den Geschmack im Mund zu haben. Doch aus dieser einen Pommes wurden sehr schnell zwei, dann drei und zum Schluss fast die gesamte Portion. Ich wollte zwar aufhören, aber ich konnte nicht. Ich hatte meinen ersten Essanfall und somit keinerlei Kontrolle mehr über die Massen und die Geschwindigkeit, in der ich aß. Ich kaute die einzelnen Pommes nicht einmal mehr, sondern schluckte sie einfach herunter. Es war, als ob meine Hand sich selbstständig machte und immer wieder nach den Pommes griff. Ich konnte sie nicht mehr steuern. Die Pommes waren so lecker und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich den Geschmack vermisst hatte.

Das Problem bei einer Essstörung (oder auch bei einer Diät) ist, dass man meistens auf die Sachen Heißhunger bekommt, die man sich selbst verbietet. Wird man dann doch einmal schwach und probiert ein kleines Stück dieses verbotenen Lebensmittels, passiert es häufig, dass man nicht mehr aufhören kann zu essen.

Das wusste mein Vater sicherlich nicht und er wollte mir garantiert nichts Böses, aber er hat in diesem Moment (unwillkürlich) eine durchweg negative Kettenreaktion in Gang gesetzt. Jedoch ist er (wenn überhaupt) lediglich der Auslöser für diese Kettenreaktion, doch auf keinen Fall der Grund oder der Schuldige. Nie würde ich meinen Vater für mein Fehlverhalten verantwortlich machen!

 

Meine Eltern waren in diesem Moment sichtlich stolz auf mich, dass ich endlich mal wieder ohne auf Kalorien zu achten „normal“ gegessen hatte. Doch ich hingegen fühlte mich schlecht. Ich hatte die Kontrolle verloren und hunderte von sinnlosen Kalorien und ekligem Fett in mich hineingestopft! Morgen würde mich die Waage vermutlich für diesen „Ausrutscher“ bestrafen und mindestens zwei Kilo mehr anzeigen! Allein der Gedanke daran, dass mein Körper sich auf jede noch so kleinste Kalorie in meinem Magen stürzen, sie aufsaugen und in Fettpolster umwandeln würde, löste in mir Übelkeit aus.

Den gesamten Fahrtweg nach Hause überlegte ich deshalb, wie ich diese verdammten Kalorien wieder loswerden könnte, um genau das zu verhindern. Um diese unendlich vielen Kalorien mit Sport abzutrainieren, müsste ich mindestens die halbe Nacht durchtrainieren und darauf hatte ich eindeutig keine Lust. Durch das viele Essen im Bauch fühlte ich mich sowieso schon so träge und müde. Mein Bauch kam mir so dick vor, als wäre ich im neunten Monat schwanger. Sicherlich konnten mir alle Leute ansehen, wie viel ich gefressen hatte. Jetzt wussten es alle: Ich war nicht so stark, wie ich immer tat. Ich war genauso schwach, wie alle anderen Menschen auch. Ich konnte dem Essen nicht widerstehen.

Meine negativen Gedanken schienen mich zu zermürben. Jede Minute ging es mir schlechter.

 

Zu Hause angekommen war mir immer noch übel. Mein Magen war es eindeutig nicht mehr gewöhnt, so viel zu essen und vor allem nichts so Fettiges in sich zu haben. Mir war kotzübel. Diese Übelkeit brachte mich auf eine Idee. Wie ferngesteuert und ohne großartig Gedanken darüber zu machen, was ich da gerade tat, ging ich ins Bad, kniete mich vor die Kloschüssel und steckte mir meinen Finger in den Hals. Dadurch, dass ich auf einer eigenen Etage im Haus wohnte und somit auch ein eigenes Badezimmer besaß, musste ich nicht einmal Angst haben, dass ich dabei erwischt werden könnte. Zuerst musste ich nur würgen und Tränen stiegen mir von dem unangenehmen Gefühl in die Augen. Daraufhin versuchte ich es beim nächsten Mal fester und steckte mir meinen Finger noch tiefer in den Hals, bis mit einem Schwung der Burger und die Pommes in der Kloschüssel landeten. Jetzt konnten sich die Kalorien eindeutig nicht mehr in schwabbelige, ekelige Fettzellen verwandeln und der morgige Schock auf der Waage würde ebenfalls ausbleiben! Nun hatte ich (endlich) einen Weg gefunden, bei dem ich essen konnte, was und wie viel ich wollte, aber trotzdem nicht dick wurde.

 

Der Akt des Kotzens erschien mir völlig logisch: In mir sind Kalorien, die ich nicht haben will, deshalb hole ich sie wieder raus. So hatte ich auch eine Möglichkeit gefunden, wie ich vor meinen Mitmenschen essen konnte, sie somit zufriedenstellte und trotzdem nicht zunahm.

 

Am nächsten Tag hatte ich tatsächlich nicht mehr Gewicht auf der Waage, sondern das Gegenteil war der Fall: Ich hatte sogar abgenommen! Das machte mich mächtig stolz und das Gewicht entschädigte mich sogar für den ekeligen Geschmack im Mund, den ich nach dem Kotzen verspürte.

 

Ich nenne das, was ich getan habe gezielt „kotzen“ und nicht „erbrechen“. Denn „erbrechen“ tut man, wenn man krank ist und „kotzen“ ist ein bewusst hervorgerufenes Verhalten. Außerdem ist „erbrechen“ viel zu milde ausgedrückt, denn auch wenn man es nicht vermutet, hat es viel mit Gewalt zu tun, sich den Finger so weit in den Hals zu stecken, dass sich der Magen entleert.

 

An diesem, und auch an den kommenden Abenden, merkten meine Eltern nicht, dass ich das Essen in die Kanalisation heruntergespült hatte. Denn das Kotzen war für mich keine einmalige Sache, sondern es wurde zu einer Art Routine. Wann immer ich das Gefühl hatte, zu viel gegessen zu haben, ich einen Fressanfall hatte oder von meinen Mitmenschen zu einer größeren Portion Essen überredet wurde, nutzte ich das Kotzen, um diese überhöhte Kalorienzufuhr rückgängig zu machen.

 

Mein Ziel war es zu verschwinden. Sich Stück für Stück aus dem Staub zu machen und das Kotzen war mir hierbei eine große Hilfe! Es erleichterte mir nicht nur meinen geheimen Plan verdeckt zu halten (schließlich aß ich am Tisch eine normale Portion), sondern war gleichzeitig auch eine Methode, um meinen Hass gegen mich selbst und meinen eigenen Körper auszudrücken.

10. Leben für die Krankheit

 

In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten drehte sich eigentlich mein gesamtes Leben um die Essstörung. Am Tisch versuchte ich weiterhin so wenig wie möglich zu mir zu nehmen und so viele Kalorien wie möglich zu vermeiden. Musste ich aber trotzdem einmal mehr essen, weil Geburtstag war, ich eingeladen wurde oder meine Eltern sonst Stress machten, aß ich allerdings, ohne zu meckern mehr. Schließlich wusste ich ja, wie ich die Kalorien nach der Mahlzeit schnell wieder loswerden konnte!

 

Mit der Zeit lernte ich, dass, wenn ich anschließend kotzen gehen wollte, ich während dem Essen mehr als normal trinken und deutlich gründlicher kauen musste als sonst, um dem Speisebrei den Weg nach oben zu erleichtern. Je mehr ich trank, desto angenehmer wurde das Gefühl im Hals und Rachenraum beim Hervorwürgen. Wobei ich offen dazu sagen muss: Kotzen ist und bleibt ekelig und unangenehm! Es gibt keinen Menschen, der mir sagen kann: „Ich kotze gerne.“ Selbst Bulimie-Kranke, die sich mehrmals pro Tag über der Toilette entleeren, empfinden das Kotzen weiterhin als unangenehm und anstrengend. Anschließend ist man total erschöpft und zittert am gesamten Leib. Außerdem hört es sich einfacher an, sich zum Kotzen zu bringen, als es tatsächlich ist. Denn in den wenigsten Fällen reicht es aus, sich lediglich den Finger in den Mund zu stecken, um seine Mahlzeit komplett in der Kloschüssel wieder zu finden. Das schafft kaum jemand. Und erst recht kein Anfänger. Meist braucht man dafür die gesamte Hand und auch mehrere Anläufe. Erst mit der Zeit weiß man, wie man sich hinstellen muss und welche Stelle im Hals die Finger berühren müssen, um den Würgereiz hervorzurufen. Irgendwann schafft man es dann, innerhalb von 10 Minuten oder kürzer, seinen Magen komplett zu entleeren und dabei noch nicht einmal auffällige Geräusche von sich zu geben. (Das ist aber nichts, worauf man stolz sein muss!)

 

Als ich anfing zu kotzen, hatte ich noch keine richtigen Essanfälle. Wenn ich wusste, dass ich anschließend auf Toilette gehen würde, aß ich zwar schon mehr als normal, aber nichts im Vergleich zu dem, was ich zu einem späteren Zeitpunkt verschlang. (Von essen konnte zu dieser Zeit keine Rede mehr sein.)

 

Durch die regelmäßige „Magenspülung“, wie ich es nannte (ich spülte meinen Magen jedes Mal so lange mit Leitungswasser aus, bis nur noch klares Wasser oder Gallenflüssigkeit herauskam), schaffte ich es, wieder relativ schnell abzunehmen. Nach zwei Wochen lag mein Gewicht erneut bei 47 Kilo.

Zunächst merkten meine Eltern nichts beziehungsweise sprachen mich nicht darauf an, dass ich wieder dünner zu werden schien. Ich denke zwar schon, dass sie es mir ansahen, aber sie hatten keine „Beweise“ dafür. Schließlich zeigte die Waage der Psychologin weiterhin dasselbe Gewicht wie vor zwei Wochen an. Was sie und die Psychologin jedoch nicht mitbekamen, war, dass ich vor dem Wiegen einen Liter Leitungswasser (besitzt keine Kohlensäure) trank und mehrere Schichten Kleidung übereinander zog. So wog ich deutlich mehr und sah fülliger aus. Außerdem hielt die dicke Klamottenschicht mich warm, denn ich fror zu diesem Zeitpunkt durch das Untergewicht ununterbrochen.

 

Nach noch nicht einmal einem Monat reichte mir allerdings dieses bisschen mehr essen nicht länger aus. Ich wollte immer mehr und mehr essen, denn es schmeckte so gut und mein Heißhunger auf Süßigkeiten, Pommes, Chips und Co waren kaum noch zu bändigen. Des Weiteren entdeckte ich, dass essen auch eine tröstende Wirkung auf mich hatte. Wenn ich mich alleine und/oder innerlich leer fühlte, schienen die Lebensmittel dieses Loch zu stopfen, mich zu trösten und zu beruhigen. So wurden aus ein bisschen mehr Essen recht schnell Massen.

 

Anfangs hielt ich meine Fressanfälle noch geheim. Ich aß am Tisch (meistens beim Abendessen, weil ich danach in mein Zimmer verschwinden konnte und sich niemand etwas dabei dachte) eine normale Portion. Doch anschließend stopfte ich mir in meinem Zimmer noch tütenweise Chips, Kekse, Schokolade und anderen Süßkram, den ich mir sonst nicht zu essen erlaubte, hinterher. Ich dachte, wenn ich mich schon vor der Toilette erniedrige und demütige, dann soll es sich wenigstens lohnen.

 

Teilweise verbrachte ich eine gesamte Stunde damit, mir sämtliche Lebensmittel „einzuflößen“, nur um danach 30 Minuten über der Kloschüssel zu hängen.

 

Ich stopfte die Lebensmittel so schnell in mich hinein, dass ich vom Geschmack gar nichts mehr wahrnahm. Während eines Essanfalls hatte ich kaum noch Kontrolle über meinen Körper. Es war ein absoluter Kontrollverlust. Ich schämte mich für meine mangelnde Selbstkontrolle und nach dem Kotzen bereute ich es jedes Mal, dass ich es schon wieder getan hatte, aber trotzdem konnte ich es nicht lassen. Ich fühlte mich gedemütigt und hassenswert. Ich bekam das nicht hin, was jedes Kleinkind bereits im Kindergarten lernt: Ein gesundes Maß an Nahrungsmenge finden.

Pausenlos stopfte ich mir den Magen so voll, dass mein Bauch sich wie bei einer schwangeren Frau nach außen wölbte. Die Haut schmerzte wegen der Spannung und mein Magen tat von der Überfüllung weh. Doch wäre auch noch ein Stück Schokolade hineingegangen, dann hätte ich es hinterher geschoben. Erst wenn mein Magen wirklich randvoll war und ich schon fürchten musste, dass er demnächst platzen könnte, wankte ich ins Bad, um mich über die Kloschüssel zu beugen.

 

Doch trotz der vielen negativen Seiten war das Kotzen, beziehungsweise das übermäßig viele Essen davor, für mich wichtig. Denn das Essen beruhigte mich, und wenn ich mir den Magen vollstopfte, konnte ich wenigstens für einen kurzen Augenblick alle negativen Gefühle und Gedanken vergessen beziehungsweise ausblenden. Es war für mich wie eine Art Zuflucht in eine andere Welt. Außerdem verlieh das Kotzen meinem inneren Selbsthass und meiner Einstellung noch mehr Ausdruck. So in dem Sinne: „Wenn dich das Leben ankotzt, dann kotze zurück.“

 

Meine Mutter merkte schon recht früh, dass irgendetwas mit meinem Essverhalten nicht in Ordnung war und eventuell wusste sie auch, dass ich kotzte, aber sie hatte keine handfesten Beweise dafür. Das Einzige, was ihr mehrfach auffiel, war, dass immer mal wieder Lebensmittel auf mysteriöse Art und Weise aus der Vorratskammer verschwanden und verdächtige Dreckreste an der Innenseite meiner Kloschüssel hingen. Doch sie konnte mir nichts davon beweisen und ich stritt mit aller Kraft ab, dass ich mit diesen beiden Dingen etwas zu tun hatte. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als mir zu glauben, die Vorratskammer abzuschließen und abzuwarten, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. Und darauf musste sie leider nicht allzu lange warten.

Eines Abends hatte ich nämlich das Pech, dass mein Vater nach dem Abendessen in mein Zimmer kam, die aufgerissenen Süßigkeiten-Verpackungen sah und mich auf der Toilette erwischte. Ohne groß zu überlegen, zählte er eins und eins zusammen und wusste sofort, was da gerade abging. Glücklicherweise war ich zu diesem Zeitpunkt bereits fertig mit meiner Magenspülung, denn es gibt nichts Schlimmeres, als nach einem Fressanfall am Kotzen gehindert zu werden! Nichtsdestotrotz war die Situation immer noch unangenehm genug für mich!

 

Nun wussten meine Eltern also, dass ich meine Mahlzeiten nicht dort ließ, wo sie hingehörten, sondern sie nach dem Essen in der Kanalisation versenkte. Anfangs versuchten sie noch, mich davon abzuhalten, indem sie nach den Hauptmahlzeiten meine Badezimmertür zuschlossen. Doch bald darauf merkten sie, dass das zwecklos war. Denn ich ließ mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vom Kotzen abbringen. Wenn mein Bad zugeschlossen war, kotze ich entweder in den Garten und vergrub es anschließend oder ich wich auf öffentliche Toiletten aus. Einmal kotzte ich sogar in eine alte Plastiktüte, und da es so spät war und ich zu müde, um diese Tüte zu entsorgen, versteckte ich sie im Schrank. Das roch meine Mutter dann am nächsten Morgen noch. Natürlich war sie vollkommen angewidert und wütend und fragte mich, wie krank ich denn sein konnte? Heute frage ich mich auch, wie verrückt ich zu dieser Zeit gewesen sein muss, um so zu denken und zu handeln. Doch damals waren solche Aktionen für mich „normal“. Die Essstörung ließ mich Dinge tun, die ein gesunder Mensch nie tun würde. Eine natürliche Hemmschwelle besaß ich kaum noch. Mir war es egal, was andere Menschen sagten, über mich dachten oder taten – solange ich meine Essstörung ausleben konnte und mich niemand ernsthaft daran hinderte, war mir alles egal!

 

Meine Psychologin hatte mich, glaube ich, bereits jetzt schon aufgegeben. Zwar hatte ich weiterhin jede Woche Therapiesitzung bei ihr und ich wurde weiterhin jede Woche von ihr gewogen, aber mehr auch nicht. Jeden Versuch von ihr, mich zu bekehren und zu einem normalen, gesunden Essverhalten zurückzubringen, blockte ich ab. Ich wollte keine Hilfe und konnte auch nicht verstehen, warum alle in meinem Umfeld so ein Stress schoben wegen meinem Gewicht. Schließlich war es mein Körper und somit auch meine Entscheidung, wie ich mit ihm umging. Zusätzlich war ich der festen Überzeugung, dass ich jederzeit mit dem Hungern und Kotzen aufhören könnte, wenn ich irgendwann aufwachen und feststellen würde, dass es falsch ist, sich das Essen zu verbieten und/oder nach einem Fressanfall zu kotzen. Wenn ich wirklich wollte, könnte ich von heute auf morgen wieder „normal“ essen – aber wie gesagt, das wollte ich nicht. Ich war mit dem zufrieden, was ich hatte und sah nicht ein, irgendetwas daran zu ändern.

 

In der Schule waren meine Noten inzwischen wieder besser geworden und mein Abschluss stand bevor. Zwar war ich nicht die Klassenbeste, gehörte aber dennoch zu den guten Schülern des Jahrgangs. Im Sommer 2008 machte ich meinen Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 2,1. Wie ich das hinbekommen habe, ist mir ein Rätsel, denn mit 45 Kilo ist ein Gehirn eigentlich kaum leistungsfähig. Mein Körper kämpfte bereits um sein Überleben und zum Überlebenskampf gegen den Hungertot gehört es eindeutig nicht, sich Vokabeln und Mathematikformeln zu merken. Trotzdem gelang es mir während der Prüfungszeit, mein Gehirn so weit zu motivieren, dass ich einen guten Abschluss machte, wofür ich sehr dankbar bin!

Nach dem Realschulabschluss begann ich meine Ausbildung zur Erzieherin. Mein damaliger Traumberuf war es, als Erzieherin in einem Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche zu arbeiten. Allerdings sollte ich die Ausbildung nicht zu Ende machen, denn nach Ausbildungsstart ging es in meinem Leben noch weiter bergab.

 

Im September wog ich noch 45 Kilo, 8 Monate später, im März 2009, waren es nur 35 Kilo.

 

Zu Beginn der Ausbildung lief alles noch super. Ich hatte an drei Tagen der Woche Schule und an zwei Tagen absolvierte ich ein Praktikum in einem Kindergarten. Mir machte die Ausbildung Spaß und ich war froh, endlich aus dem tristen Schulalltag der Realschule herauszukommen. Außerdem hatte ich durch die Ausbildung immer einen guten Grund, mich vor dem Essen zu drücken. Morgens frühstückte ich ein Brot, in der Schule warf ich mein Pausenbrot in den Müll und mittags war ich mit Klassenkameraden in der Stadt essen, denn ich kam erst spät nachmittags von der Berufsschule nach Hause.

Anfangs aß ich in meiner Mittagspause meistens noch einen kleinen Salat, doch bereits nach kurzer Zeit aß ich gar nichts mehr, da ja sowieso niemand kontrollierte, ob und was ich zu mir nahm. Und wieso sollte ich sinnlose Kalorien in mich hineinschieben, wenn ich auch gar nichts essen konnte?

Abends aß ich zu Hause dann eine überdurchschnittlich große Portion von dem, was meine Mutter mittags gekocht hatte. Wenn meine Eltern beide Arbeiten waren und ich somit „sturmfrei“ hatte, kotze ich direkt nach dem Essen alles in die Kloschüssel oder anders erzählte ich meinen Eltern, dass ich noch eine Verabredung in der Stadt hätte und ging auf eine öffentliche Toilette zum Kotzen.

 

Mein abendliches Programm war jeden Tag gleich. Ich machte kein Geheimnis mehr um meine Essanfälle. Mir war es egal, was mein Umfeld über mich dachte. Schon beim Abendessen begann ich mit meiner Fresserei und stopfte mir das Doppelte oder Dreifache einer normalen Portion in den Bauch. Anschließend verschwand ich in meinem Zimmer und aß dort noch weiter. Oft ging ich sogar abends zusätzlich noch einkaufen, um meinen Heißhunger zu stillen und meinen Drang, mir den Magen vollzustopfen, zu befriedigen. Bereits zu diesem Zeitpunkt spülte ich pro Fressanfall rund 20 Euro wortwörtlich die Toilette runter (das passierte meist drei Mal pro Woche).

Bei einem Fressanfall nahm ich mir das, was ich mir die restliche Zeit versagte. Und das dann nicht einfach, sondern gleich doppelt und dreifach.

 

Eigentlich sind diese Fressanfälle eine normale Reaktion auf ein abnormales Essverhalten. Für einen so stark unterernährten Körper geht es schließlich ums Überleben! Er will überleben und das kann er nur, wenn er genug Energie in Form von Nahrung zugeführt bekommt. Logische Schlussfolgerung daraus sind Essanfälle, bei denen so viel Energie wie möglich aufgenommen wird. (Nicht logisch, ungesund und auch krankhaft ist allerdings das anschließende Kotzen.)

 

Meine Eltern und meine Psychologin durchschauten zwar mein „Spiel“, mussten aber dennoch ohnmächtig zusehen, wie ich mich weiter selbst zugrunde richtete. Bei jedem Gespräch mit ihnen blockte ich ab und verteidigte meine Krankheit, denn sie gab mir das, was mir im wirklichen Leben fehlte: Sicherheit und Überschaubarkeit.

Immer häufiger drängte sich nun das Gesprächsthema Klinik in den Vordergrund. Davon war ich allerdings überhaupt nicht begeistert. Nie wäre ich freiwillig in eine Klinik gegangen! Meine Eltern akzeptierten diese Meinung und unterstützten mich. Ob es gut oder schlecht war, weiter zu hoffen, dass ich ohne stationäre Therapie wieder zu einem normalen Essverhalten zurückfinden würde, kann man nicht sagen. Denn zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand wissen, was die Zukunft bereithielt. Außerdem hatte ich es den gesamten Herbst bis zum Winteranfang geschafft, mein Gewicht einigermaßen stabil bei 44 Kilo zu halten. Das gab Hoffnung.

 

11. Winter 2008 – Magersuchtswinter

 

Der Winter 2008 war die schlimmste Zeit meiner Krankheit. Es fing Ende Oktober an. Normalerweise aß ich, wenn ich im Kindergarten arbeitete, über Mittag nichts. Ich hätte zwar die Möglichkeit gehabt, dort zu essen, doch ich zog es lieber vor zu fasten. Ende Oktober hatte ich jedoch meistens so großen Hunger, dass ich es nicht mehr schaffte, stark zu bleiben und „Nein“ zu sagen. Deshalb aß ich dort das Mittagessen mit und nutzte die anschließende Mittagspause, um eine öffentliche Toilette aufzusuchen und das Essen wieder hervorzuwürgen. An den Schultagen war es dann ähnlich. Ich ging nicht mehr mit meinen Klassenkameraden in die Stadt, um ihnen beim Essen zuzuschauen, sondern zog alleine los. Denn alleine brauchte ich keine Angst zu haben, dass mich jemand darauf ansprach und nachfragte, wieso ich so viele Lebensmittel in mich hineinstopfte. Alleine konnte ich das essen, was ich wollte und vor allem soviel ich wünschte, ohne dass mich jemand dabei störte. UND ganz wichtig: Ich konnte so viel Zeit auf Toilette verbringen, wie ich brauchte und es kam niemand, der nach fünf Minuten an die Tür klopfte und fragte, wann ich denn endlich wieder rauskommen würde.

Meine Schamgrenze war zwar zu diesem Zeitpunkt schon so tief gesunken, dass es mir gleichgültig war, ob die Toilette neben mir besetzt war oder nicht, aber wenn mir bekannte Menschen mitbekamen, was ich auf Toilette machte, war mir das nicht egal. Denn bei ihnen war die Gefahr, dass sie mich von meinem Ritual abhalten könnten, deutlich höher als das Risiko, das von fremden Menschen ausging. Und nach dem Essen nicht kotzen zu können, wäre die Hölle für mich gewesen!

 

Abends kotzte ich zu Hause weiter. Also mein gesamter Tag bestand damals so gut wie ausschließlich aus Fressen und Kotzen. Andere Hobbys, mit Freunden treffen etc. waren für mich uninteressant. Meine gesamte Welt drehte sich um die Essstörung und mein Gewicht.

Durch das viele Erbrechen nahm ich weiter an Gewicht ab, was meine Psychologin jedoch nicht merkte, weil ich mittlerweile fast zwei Liter Tee trank, bevor ich bei ihr auf die Waage stieg. Ab und zu fragte ich mich zwar, ob sie sich nur so doof stellte und in Wirklichkeit genau wusste, dass ich sie von vorne bis hinten anlog und betrog – oder ob sie tatsächlich nichts mitbekam. Ich weiß es nicht … Aber ich glaube, sie wusste es wahrhaftig nicht. Denn selbst als ich mehrmals die Stunde auf Toilette rannte, weil meine Blase durch das viele Trinken so voll war, äußerte sie kein Misstrauen.

 

Mitte November wog ich nur noch 42 Kilo.

 

Meine Mutter konnte ich nicht ganz so gut hintergehen wie die Psychologin. Sie traute dem Gewicht auf der Waage nicht, sondern vertraute nur dem, was sie sah und das war, dass ich innerhalb der letzten Wochen sichtlich magerer geworden war. Außerdem wusste sie, dass ich mich mehrmals am Tag zwanghaft wog. Sie wusste, dass die Waage eine große Wichtigkeit für mich hatte und mich in meiner Essstörung noch weiter bestärkte. Um das zu unterbinden, tat sie das, was für sie am logischsten erschien: Sie nahm mir meine Waage weg. Was sie dabei allerdings nicht wusste, war, dass das ein sehr großer Fehler war! (Dazu später mehr) Auf der einen Seite ist es natürlich richtig, einem „Süchtigen“ sein „Suchtmittel“ wegzunehmen, und auf der anderen Seite brach dadurch für mich eine Welt zusammen. Einer Magersüchtigen die Waage wegzunehmen ist für die Person der schlimmste Albtraum, den sie sich vorstellen kann! Ich war verzweifelt. Wie sollte ich nun wissen, ob mein Gewicht aktuell gut oder schlecht war? Ich hatte keinerlei Kontrollmöglichkeiten mehr. Doch damit nicht genug. Auf den ersten Schock packte meine Mutter direkt noch eine zweite Schocknachricht drauf. Sie wollte mich nämlich höchstpersönlich jeden zweiten Tag wiegen, um mein Gewicht zu kontrollieren.

In meinem Kopf schwirrten gefühlte 1000 Gedanken gleichzeitig umher. Wie sollte ich mein aktuelles Gewicht jetzt noch geheim halten? Beziehungsweise wie sollte ich es überhaupt wissen? Ich musste einen Trick finden, wie ich ein paar Kilos mehr auf die Waage schummeln konnte. Wenn meine Mutter mein tatsächliches Gewicht sehen würde, wäre ich vermutlich morgen schon in einer Klinik! Was sollte ich bloß tun?! Ich hatte keine Ahnung und spürte, wie sich Panik in mir breitmachte.

 

Nach ausgiebigem Grübeln entschied ich mich jedoch, meine Taktik des Lügens und Betrügens beizubehalten. An Tagen, an denen ich gewogen wurde, stand ich deshalb extra zwei Stunden früher auf. Diese Vorlaufzeit brauchte ich, um genügend Tee zu trinken. (Lauwarmer Tee trinkt sich leichter in Massen als Leitungswasser. Wasser mit Kohlensäure funktioniert wegen der Kohlensäure gar nicht). Am Anfang trank ich vor jedem Wiegen einen Liter, doch dadurch, dass ich weiter abnahm, reichte dieser eine Liter nicht lange aus, um mein fehlendes Gewicht „aufzufüllen“. Deshalb musste ich von Woche zu Woche mehr Flüssigkeit im Magen haben. Glücklicherweise kann man es trainieren, in relativ kurzer Zeit viel Flüssigkeit aufzunehmen. Irgendwann ließ ich das Wasser einfach so in meinen Mund hineinlaufen und musste dabei kaum noch aufstoßen oder zwischendurch absetzen. In meiner Spitzenzeit kam ich so auf vier Liter Tee in zwei Stunden! Gesund war das bestimmt nicht, aber es erfüllte seinen Zweck. Außerdem musste ich mit so viel Flüssigkeit im Magen extrem aufpassen, dass ich mich nicht bückte oder eine schnelle Bewegung machte. Denn jeder noch so kleinste Druck auf den Magen konnte dazu führen, dass der Tee aus dem Mund oder noch schlimmer aus der Nase wieder herausläuft.

Zusätzlich zog ich dann vor dem Wiegen noch zahlreiche Schichten Kleidung übereinander an, um noch mehr Gewicht auf die Waage zu bekommen. Allerdings war meine Mutter nicht doof. Das mit dem Trinken bekam sie zwar nicht mit, aber dass ich unter dem Schlafanzug noch bis zu vier T-Shirts und Langarmhemden trug, entdeckte sie sofort. Zwar musste ich nicht alle Klamotten vor ihr ausziehen, aber sie schrieb jedes Mal auf einen kleinen Zettel, wie viel ich wog und wie viele Schichten Kleidung ich bei diesem Gewicht anhatte.

 

Obwohl ich jedes Mal mehr trank, sank mein Gewicht trotzdem langsam, aber kontinuierlich weiter nach unten.

 

Meine Kleidung kaufte ich inzwischen in der Kinderabteilung, da mir Damengrößen viel zu groß waren und auch sonst bestand mein Körper nur noch aus Haut und Knochen. Dadurch, dass ich nicht mehr über eine eigene Waage verfügte und so mein Gewicht regelmäßig kontrollieren konnte, hatte ich das Gefühl, jeden Tag zugenommen zu haben. In Wirklichkeit nahm ich zwar weiter ab, aber mein Körperempfinden sagte mir, dass ich von Tag zu Tag fetter wurde. Jeden Morgen hatte ich den Eindruck, neue Fettpolster an meinen Bauch, Oberschenkeln und Hüfte im Spiegel zu entdecken. Mir fehlte die Kontrolle der Waage, die sagte: „Alles o. k. Dein Gewicht befindet sich im grünen Bereich. Kein Grund zur Sorge.“ Auf mein eigenes Körpergefühl und das Bild im Spiegel konnte und wollte ich mich schließlich schon lange nicht mehr verlassen. Dadurch, dass mir aber genau diese Kontrolle fehlte, musste ich wohl oder übel auf mein eigenes Gewichtempfinden vertrauen. Und das sagte mir, dass ich zu viel aß und gerade dabei war, wieder fetter zu werden. Deshalb beschloss ich, sicherheitshalber komplett auf Nahrung zu verzichten, beziehungsweise das, was ich aß, kotzte ich sofort wieder aus. So konnte ich zumindest halbwegs darauf vertrauen, dass ich nicht weiter zunahm, sondern mein aktuelles Gewicht hielt oder eventuell sogar noch weiter reduzierte. (Das meinte ich vorhin mit „einen Fehler, mir die Waage wegzunehmen“)

 

Das Schlimmste in dieser Zeit war das ewige Frieren. Ich trug bereits vier bis fünf Schichten Kleidung (Langarmunterhemd, Kurzarmunterhemd, T-Shirt, Pulli, Fleece- oder Strickpulli) und darüber meistens noch eine ärmellose Weste und unter der Jeans trug ich Strumpfhose und Leggins, aber ich fror immer noch. Das Frieren bei so starkem Untergewicht ist ein ekelhaftes Frieren. Es kommt nämlich von innen heraus. Da kann man sich so warm anziehen, wie man möchte, und friert trotzdem weiter. Es ist unmöglich, dieser eisigen, unangenehmen Kälte zu entkommen. Der einzige Ort, an dem mir wenigstens etwas warm war, war, wenn ich in der heißen Badewanne lag. Jedem anderen Menschen wäre die Wassertemperatur bereits zu heiß gewesen, doch ich fand sie geradewegs angenehm. Meine Wohlfühltemperatur lag bei 44 Grad (jeder gesunde Mensch würde vor Schmerz aufschreien, wenn das Badewasser so heiß wäre). Beim Duschen passierte es mir sogar manchmal, dass ich mich, ohne dass ich es spürte, mit heißem Wasser verbrühte. Mein gesamter Körper war anschließend krebsrot von der Hitze und ich nahm die Wassertemperatur weiterhin nur als lauwarm wahr.

 

Auf Kälte reagierte ich sehr schnell und empfindlich, aber Hitze nahm ich erst verzögert und stark gedämpft wahr.

 

Wenn ich mal nicht unter der heißen Dusche stand oder in der Badewanne lag, waren weiterer Lieblingsplätze von mir, neben der voll aufgedrehten Heizung zu sitzen oder mit einer Wärmflasche und einer dicken Decke eingehüllt auf dem Sofa oder im Bett zu liegen. So oft es ging, suchte ich die Wärme von Heizung, Sonne und Co. Meine Finger waren regelmäßig (selbst bei warmem Wetter und in geheizten Räumen) vor Kälte blau und ich war dauermüde und ständig erschöpft. Jede noch so kleinste Bewegung war für mich eine immense Anstrengung.

12. Erste Einsicht? Oder wie tief kann ein Mensch sinken ...

 

Anfang Januar wog ich schätzungsweise nur noch 40 Kilo. Genau kann ich das nicht sagen, weil das Gewicht auf der Waage meiner Mutter genauso wenig aussagekräftig war, wie das bei der Psychologin.

 

Bei meiner Psychologin trieb ich es mit den Schummeleien echt auf die Spitze. Um mein Gewicht auf der Waage zu halten, versteckte ich sogar Steine in meinen Hosentaschen und sie merkte es nicht!

 

Zu diesem Zeitpunkt war mir bewusst, dass ich krank war, und dass ich keine Kontrolle mehr über mich und mein Essverhalten hatte. Die Krankheit bestimmte mein Leben und ich war nur noch eine Marionette von ihr. Theoretisch wäre das der Punkt gewesen, an dem ich hätte anfangen sollen zu kämpfen, doch ich war schon zu schwach dafür. Ich hatte mein Leben und vor allem mich selbst bereits aufgegeben. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod, nur noch vor dem Leben. Ich wollte nicht so weiterleben und machte doch jeden Tag genauso weiter. Beziehungsweise mein Verhalten wurde mit der Zeit sogar noch extremer.

 

Da mein Gewicht so niedrig war und ich dringend zunehmen musste, um nicht in einen lebensgefährlichen Gewichtsbereich abzurutschen, beschlossen meine Eltern mit der Psychologin zusammen, dass ich jeden Morgen eine Flasche Fresubin© (hochkalorische Aufbaukost) trinken sollte. Fresubin© ist sozusagen flüssiges Fett und besitzt auf 100 ml 200 Kalorien (viermal so viel wie Cola!). Zwar soll es angeblich gesund sein, weil in dem Getränk alle lebenswichtigen Vitamine und Mineralstoffe vorhanden sind, aber dafür enthält eine Flasche mit 200 ml ganze 400 Kalorien! Dieses Zeug sollte ich jetzt also jeden Morgen zusätzlich zum Frühstück trinken, wenn ich nicht in eine Klinik wollte.

Indirekt wusste ich, dass eine Klinik für mich im Moment nicht unbedingt die schlechteste Option gewesen wäre und mir eventuell sogar geholfen hätte – doch meine Krankheit war dagegen. Sie sagte mir, dass in einer Klinik unsere „Freundschaft“ zerstört werde und ich anschließend alleine dastehen würde. Ja, die Essstörung war zu dieser Zeit zu einer mir vertrauten Freundin geworden, die mir Halt gab, mich tröstete und immer zu mir stand.

Außerdem hatte ich Angst vor einer Klinik. Wer geht schon gerne und vor allem freiwillig in die Psychiatrie?! Ich bestimmt nicht!

Wobei tägliche Fresubin© zu trinken, auch nicht viel angenehmer war. Das Zeug schmeckte widerlich und 400 Kalorien waren eindeutig zu viel! Das konnte ich mir nicht erlauben. Deshalb versuchte ich hier (wie eigentlich überall) so gut es ging, zu schummeln und zu manipulieren. Das Fresubin© stand bei uns zu Hause in der Küche im Kühlschrank und war somit für mich offen zugänglich. Wenn niemand in der Küche war, ging ich zum Kühlschrank, nahm eine Flasche heraus, öffnete den Deckel einen Spalt und leerte ungefähr 75 Prozent der ekligen Brühe in die Spüle. Damit der fehlende Inhalt nicht direkt auffiel, ersetzte ich die fehlende Menge einfach mit Leitungswasser. So wurden ganz schnell aus 400 Kalorien nur noch 100 Kalorien.

Ich denke, dass meine Mutter wusste, was ich tat, aber sie erwischte mich bei meiner Umfüll- und Austauschaktion nie und sprach mich nicht darauf an, deshalb konnte mir es egal sein, ob sie es wusste oder nicht. Außerdem blieb das Fresubin© ja sowieso nicht lange in meinem Körper. Bei der nächsten Gelegenheit landete es in der Toilettenschüssel.

 

Mein gesamtes Leben bestand in dieser Zeit aus Fressen und Kotzen. Schon morgens nach dem Frühstück erniedrigte ich mich das erste Mal vor der Toilettenschüssel und aufhören damit tat ich erst abends, wenn ich zum Schlafen ins Bett ging. Mein Lebenswille war bei null angekommen. Jeden Abend hoffte ich, dass ich am nächsten Tag entweder gar nicht oder komplett gesund aufwachen würde. Wobei Letzteres sehr, sehr unwahrscheinlich war.

 

Auf dem Weg zum Bus machte ich einen Zwischenstopp beim Bäcker, kaufte mir Teilchen und aß sie auf der Busfahrt. Während der 30 Minuten langen Zugfahrt kotzte ich sie anschließend auf der Zugtoilette wieder aus. In der Schule oder auf der Arbeit war ich zwei bis drei Stunden körperlich anwesend. Geistig war ich jedoch komplett woanders. Konzentration war ein Fremdwort für mich. Meine Erinnerung zwischen Mitte Januar und der Einweisung am 21. März 2009 besteht nur aus Fressattacken und Kotzen. Ich kann mich an nichts anderes mehr erinnern. Habe ich überhaupt etwas anderes gemacht?

 

Spätestens in der großen Pause in der Schule und der Frühstückspause im Kindergarten habe ich mit meinem nächsten Essanfall begonnen. Ich entschuldigte mich immer mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Arzt- oder anderen wichtigen Terminen. Die Ausreden gingen mir nie aus und jedes Mal wurde ich aus der Schule, beziehungsweise den Betrieb entlassen.

Meine kognitiven Fähigkeiten reichten nicht mehr aus, um zu verstehen, dass meine Mitmenschen sehr wohl durchschauten, dass ich keinen Arzttermin, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder sonstiges hatte, sondern kotzen ging. Obwohl meine Essstörung inzwischen mehr als offensichtlich war und ich über 20 Kilo Untergewicht hatte, hielt ich an dem Glauben fest, dass mir niemand mein Problem mit dem Essen ansehen konnte. Ich war fest davon überzeugt, dass man mir nicht anmerkte, dass ich nur noch aus Haut und Knochen bestand und dass auch niemand mitbekam, dass ich nach jedem Essen für längere Zeit auf der Toilette verschwand und es danach dort sauer roch und Essensreste unterm Rand hingen. Ich dachte, dass niemand mein „perfektes“ Spiel durchschauen würde und ich alle Menschen in meinem Umfeld für dumm verkaufen und anlügen konnte. Heute weiß ich, dass dem nicht so war. Viele Menschen in meinem Umfeld waren einfach nur hilflos und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Ich tat ihnen vermutlich leid, denn ich sah zu diesem Zeitpunkt wirklich schrecklich aus! Wenn ich mir heute Fotos von damals anschaue, muss selbst ich schlucken UND ich kenne die Bilder! Also wie habe ich wohl damals auf Fremde gewirkt?! Ich sah aus wie ein Zombie. Nichts an mir erinnerte an einen lebendigen Menschen. Mein Gesicht war eingefallen, meine Augen glanzlos und unter den Augen hatte ich dunkle, schwarze Ringe. Meine Speicheldrüsen in den Wangen waren durch das viele Kotzen so sehr angeschwollen, dass ich aussah, als hätte ich Hamsterbacken und an sämtlichen Gelenken hatte ich Blutergüsse in allen möglichen Farben, weil dort die Knochen vom Gelenk direkt auf der Haut rieben. Die Fettschicht dazwischen hatte ich mir ja weggehungert.

 

Nachdem ich die Schule beziehungsweise meine Arbeitsstelle verlassen hatte, ging ich in die Stadt, um mir weiteres Essen zu beschaffen. Pro Tag gab ich bis zu 50 Euro allein für Essen aus. Mein gesamtes Erspartes, das eigentlich für den Führerschein gedacht war, ging dabei drauf.

 

Den restlichen Tag verbrachte ich nun damit, mir Essen zu kaufen, in den Magen zu stopfen und anschließend auf der nächsten öffentlichen Toilette wieder hervorzuwürgen. Es war ein ewiger Kreislauf von Essen kaufen, Essen verschlingen, Toilette suchen und kotzen, den ich tagtäglich ausübte. Erst spät nachmittags oder abends, wenn ich nach Hause ging, hörte ich damit auf.

 

Meine Eltern hatten mittlerweile eingesehen, dass es nichts brachte, mich zum Abendessen zu zwingen, da die Lebensmittel sowieso in der Kloschüssel landeten und dafür war ihnen ihr Geld eindeutig zu schade. Deshalb konnte ich zu Hause ohne Probleme und Diskussionen auf ein Abendessen und somit auf das anschließende Kotzen verzichten.

Allgemein hatten meine Eltern den Kampf gegen die Krankheit bereits aufgegeben und hofften nur noch auf ein Wunder oder einen Zusammenbruch von mir, um mich endlich in eine Klinik einweisen lassen zu können. Die Zeit meiner extremen Magersucht/Bulimie war nicht ausschließlich für mich anstrengend und sehr belastend, sondern auch - oder sogar besonders - für meine Familie.

 

Der einzige „Vorteil“, der momentan so starken Essstörung war, dass dadurch mein selbstverletzendes Verhalten eingedämmt wurde. Wenn man Kotzen nicht als Selbstverletzung ansieht, verletzte ich mich maximal alle zwei Wochen einmal selbst.

 

Mitte Februar passierte dann das, was nicht zu verhindern war. Der Kindergarten, in dem ich arbeitete, kündigte mir mit der Begründung, ich sei krank und eine Weiterbeschäftigung wäre nicht mehr zu verantworten. Ich sollte eine Therapie machen und danach könne ich gerne meine Ausbildung dort fortsetzen. Aber momentan nicht!

 

Eigentlich hatte ich schon länger damit gerechnet, trotzdem traf mich die plötzliche Kündigung wie ein Blitz. Gleichzeitig bin ich dadurch aber auch aufgewacht. Mir wurde bewusst, dass ich gerade dabei war, mein Leben zu zerstören und das meiner Familie gleich mit. Ständig gab es wegen mir Streit. Mein Bruder sagte mal zu mir, als er mich beim Kotzen erwischte: „Ich will lieber gar keine Schwester haben, als eine kranke.“ Das kam mir jetzt alles wieder ins Gedächtnis. Überhaupt kamen mir unendlich viele Bilder aus der Vergangenheit wieder in den Sinn. Wie oft hatte meine Mutter in letzter Zeit wegen mir geweint? Welche Sorgen hatte sich meine Familie um mich gemacht? Mir wurde bewusst, dass ich etwas ändern musste. An diesem Tag beschloss ich, eine Therapie zu machen. Bis zur tatsächlichen Aufnahme waren es allerdings noch fast vier Wochen.

 

Doch schon am nächsten Tag war meine gestrige Einsicht bereits wieder vergessen. Ich machte weiter wie zuvor mit einem einzigen Unterschied: Ich ging nicht mehr zur Schule oder Arbeit, sondern schlief morgens aus. Das hieß, ich begann nicht schon um 6 Uhr mit Kotzen, sondern erst um 10 Uhr.

Nach dem Frühstück erzählte ich meinen Eltern, dass ich mich mit Freunden in der Stadt treffen würde und ging aus dem Haus. Jedoch hatte ich keinesfalls vor, etwas mit Freunden zu unternehmen, sondern hatte allein das Ziel, mir Lebensmittel für meine Fressanfälle zu beschaffen. Das ahnten vermutlich auch meine Eltern, aber sie verboten es mir nicht. Denn sie wussten, dass spätestens in vier Wochen alles vorbei sein würde, denn dann würde ich endlich in eine Klinik aufgenommen werden.

 

Mittlerweile hatte ich schon mein gesamtes Erspartes für Essen ausgegeben. Es verging kein Tag, an dem ich nicht über der Kloschüssel hing. Um meine Fressattacken zu finanzieren, erfand ich Geschichten wie Kinobesuche, Schulausflüge etc., um von meinen Eltern noch zusätzliches Geld zu meinem eigentlichen Taschengeld dazu zu bekommen, und auch meinen Opa fragte ich des Öfteren nach ein bisschen Kleingeld. Ob sie wussten, wofür ich es wirklich ausgab, weiß ich nicht. Aber trotz des vielen zusätzlichen Geldes reichte es für meine Fressattacken irgendwann nicht mehr aus. Deshalb begann ich zu stehlen.

 

Die Krankheit beherrschte mich. Ich hatte null Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich tat Sachen, die ich sonst nie getan hätte. Mein Gehirn war völlig fehlgesteuert. Zum Beispiel hatte ich Angst, meinen Körper einzucremen, weil ich dachte, das Fett könnte in meine Haut einziehen und ich werde dadurch dick.

 

Das Stehlen ging eine ganze Weile gut und ich wurde nicht erwischt, doch dann kam der Tag, an dem ich aufflog. Ich wurde dabei ertappt und von der Polizei aufs Polizeipräsidium gebracht. Dort ging ich als Erstes zur Toilette und entleerte meinen Magen. Denn das war meiner Meinung nach das Wichtigste in dieser Situation!!! Der Polizist bekam das mit. Er wollte mit mir reden und er war seit langer Zeit der Erste, dem ich wieder zuhörte. Er meinte, dass ich mir mein Leben zerstören würde. Ich würde nicht mehr richtig leben. In mir wäre nur die Krankheit, die mich Dinge tun ließ, die ich gar nicht wollte. Laut ihm wäre ich keine gewöhnliche Ladendiebin, ich wäre dafür viel zu sensibel, denn ich weinte von der Festnahme an, bis meine Mutter mich abholte.

 

Als meine Mutter auf der Polizeidienststelle erschien, nahm sie mich seit einer gefühlten Ewigkeit Mal wieder in den Arm und ich merkte, wie sehr ich das vermisst hatte. Außerdem wurde mir bewusst, dass ich nicht nur mein Gewicht weg gehungert hatte, sondern auch meine Gefühle. Ich fühlte nichts mehr. Mir war in letzter Zeit alles egal geworden. Nichts war mehr für mich wichtig. Selbst mein Hund, der mir ursprünglich alles bedeutet hatte, war mir gleichgültig geworden. Das wurde mir alles an diesem einen Tag bewusst.

 

Bevor ich ging, ermutigte mich der Polizist, eine Therapie zu machen. Ich solle mein Leben in die Hand nehmen und es ändern, bevor es zu spät ist. Und wie es der Zufall so wollte, kam noch am selben Tag der Anruf von der Klinik, dass ich am nächsten Tag, den 23. März 2009, aufgenommen werden konnte.

Das war einerseits erleichternd für mich, weil ich wusste, dass sich mein Leben Morgen um 180 Grad zum Positiven drehen würde und anderseits war da auch eine große Angst in mir. Mir war klar, dass ich in der Klinik zunehmen musste, ob ich wollte oder nicht und dass ich dort mit meinen Tricks nicht lange durchkommen würde. Außerdem hatte ich Angst vor der Station an sich. Psychiatrien kannte ich bis jetzt nur vom Fernsehen und Erzählungen. Und dort wurden sie selten positiv dargelegt! Ich stellte mir die Klinik wie ein Haus für Irre vor, wo nur verwirrte Leute sind, die um Hilfe schreien, randalieren und was man sonst so aus Filmen kennt. Diese Vorstellung machte mir Angst!

 

Am Abend vor der Einweisung kam meine Mutter noch zu mir, als ich schon im Bett lag. Sie setzte sich an den Bettrand und wir schauten uns schweigend an. Dann nahm sie mich in den Arm und fing an zu weinen. Ich weinte ebenfalls. Dann sagte sie zu mir: „Du bist so dünn. Was ist bloß passiert? Rede endlich und lass dir helfen!“

Wir lagen uns noch eine ganze Weile weinend in den Armen, bevor sie wieder ging. Warum ich weinte, konnte ich nicht sagen, denn ich war nicht traurig oder verzweifelt, wie ich es eigentlich hätte sein müssen. Ich spürte gar nichts. Meine Gefühle waren tot. Gefühle kosten schließlich Energie. Energie, die mein Körper nicht hatte. Da Gefühle nicht überlebenswichtig sind, stellt der Körper sie ab. Sie schleichen sich langsam aus. Mein Körper nutzte die wenige Energie, die er noch hatte, für überlebenswichtige Funktionen wie Atmung und Herzschlag. Deshalb konnte ich zu dieser Zeit nichts fühlen. Ich weinte, hatte jedoch keine Gefühle dabei.

 

Der Abschied von meinem Vater fiel recht kühl aus. Er meinte nur, dass ich meine Chance nutzen sollte.

 

Die Nacht schlief ich äußerst unruhig und wachte ständig auf. Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um die Aufnahme und den kommenden Klinikaufenthalt.

13. Mein erster Klinikaufenthalt

 

Am kommenden Morgen, am 23. März 2009, war es dann soweit. Die Aufnahme in der Klinik stand kurz bevor. Doch bevor es losgehen konnte, musste ich erst einmal die erste Herausforderung des Tages meistern: das Frühstück. Das konnte ich heute nämlich nicht wie gewohnt direkt im Anschluss wieder hervorwürgen, sondern musste es in mir behalten, weil meine Mutter und ich unmittelbar nach dem Frühstück zum Aufnahmegespräch in die Klinik losfahren mussten.

 

Eigentlich sollte man denken, dass es in meinem Kopf „klick“ gemacht hätte und ich mein Leben ändern und gesund werden wollte, doch das war nicht der Fall. Die Krankheit in mir war stark und würde mit aller Kraft um ihr Überleben kämpfen. Schon jetzt zweifelte ich am Erfolg der Therapie und überlegte mir, wie ich die Betreuer und die Therapeuten in der Klinik anlügen konnte, um Kalorien zu vermeiden. Ich war lieber dünn und krank, als gesund und dick.

 

Am liebsten hätte ich das Frühstück heute komplett ausfallen gelassen, denn später in der Klinik würde ich sicherlich noch genug Kalorien zu mir nehmen müssen. Also war ich auf das Frühstück zu Hause rein kalorientechnisch nicht angewiesen. Hätte ich das jedoch meiner Mutter erzählt, dann wäre es vermutlich wieder zu einer Diskussion gekommen und das wäre so kurz vor der Einweisung ziemlich doof gewesen. Deshalb entschloss ich mich dazu, einfach so zu tun, als wenn ich was essen würde. Ich nahm mir eine kleine Scheibe Brot und eine Scheibe Schinken. Von dem Schinken entfernte ich den Fettrand und legte ihn auf das Brot. Anschließend schnitt ich das Brot in vier ungefähr gleichgroße Teile. Jedes Mal, wenn meine Mutter nun unachtsam war und nicht in meine Richtung schaute, ließ ich eines dieser Teile in meinen Socken verschwinden. Diese Idee war genial und es ist erstaunlich, wie viel Platz man in seinen Socken noch hat!

Meine Mutter traute mir natürlich nicht zu, dass ich das Brot so schnell und vor allem ohne zu murren gegessen hatte. Sie kontrollierte meine Hosentaschen und die Taschen der Weste, weil sie das Brot dort vermutete. Selbstverständlich fand sie dort aber nichts. Auf die Idee, in meinen Strümpfen nachzuschauen, kam sie nicht. Sie konnte mir also nicht nachweisen, dass ich mein Frühstück irgendwo versteckt hatte. Deshalb musste sie mich gehen lassen.

Das Brot mit samt dem Schinken versenkte ich später, bevor wir abfuhren, im Bad in der Toilette.

 

Da mein Vater arbeiten musste, fuhr meine Mutter alleine mit mir in die Klinik und meine Oma begleitete uns als „Unterstützung“.

 

Von außen sah das Gebäude der Psychiatrie komplett anders aus, als ich erwartet hätte. Es sah aus wie ein gewöhnliches Krankenhaus und nicht wie eine Irrenanstalt. Man hörte keine Schreie und alles wirkte friedlich. In einem Nebengebäude befand sich sogar eine Cafeteria mit einem kleinen Garten, in dem Tische und Stühle standen.

Wir gingen jedoch zum Empfang, der sich im Eingangsbereich des Haupteinganges befand. Dort stand ein Pförtner, den wir nach dem Weg zu der Station, auf der ich aufgenommen werden sollte, fragten.

Die Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrien befanden sich alle im dritten Stock. Deshalb nahmen wir den Aufzug. Langsam merkte ich, wie sich ein unbehagliches Gefühl in meiner Magengegend breitmachte und ich fragte mich, ob der Schritt in eine Klinik zu gehen tatsächlich richtig war.

 

Die Flure wirkten kalt und steril. Ab und zu liefen uns Ärzte in weißen Kitteln über den Weg. Alles kam mir unheimlich und Angst einflößend vor. Auf dem Schild an der Eingangstür der Station stand „Offene Kinder- und Jugendpsychiatrie Station 3d“. Die Tür sah aus wie die Tür von einem Gefängnis. Sie war aus dickem Metall und besaß ein großes, massives Schloss. Und dann kam der nächste Schock: Die Tür war abgeschlossen! Ich war also auch eingesperrt wie in einem Knast. Mir wurde zwar von einem Pfleger erklärt, dass die Tür nur wegen weglaufgefährdeter Patienten verschlossen war und ansonsten unverschlossen wäre, aber das machte es nicht besser. Fakt war: Die Tür war zu und ich kam nicht raus! Flucht war somit unmöglich! Also war mein Plan, falls es auf Station doch zu schlimm werden würde, abzuhauen, zerstört.

 

Die Station an sich bestand aus einem einzigen langen Flur. Es gab einige Patientenzimmer, die sich jeweils drei Patienten teilten und ein Beobachtungszimmer für maximal zwei Patienten. Im Beobachtungszimmer befand sich ein Glasfenster zum Schwesternzimmer in der Wand, sodass die Schwestern und Pfleger die Patienten im Beobachtungszimmer unter Aufsicht hatten. Dann gab es noch zwei Aufenthaltsräume. Der eine war ein reiner Essensraum und der andere hatte noch einen separaten Teil, in dem ein Sofa und ein Fernseher standen. Dieser Aufenthaltsraum war direkt vor dem Schwesternzimmer, das sich am Ende des Flurs befand. Vom Schwesternzimmer aus konnte man auf das Sofa im Aufenthaltsraum blicken. Warum, sollte ich später noch erfahren. Vor dem Schwesternzimmer befand sich die sogenannte „Spielfläche“, die ebenfalls vom Schwesternzimmer überblickt werden konnte. Dort standen ein Tischkicker und ein riesiges Salzwasseraquarium mit kunterbunten Fischen. Außerdem gab es noch ein Arztzimmer, in dem auch das Aufnahmegespräch stattfand.

 

Außer mir, meiner Mutter und der Ärztin war noch eine Betreuerin bei dem Aufnahmegespräch dabei. Diese Betreuerin sollte für die Zeit in der Psychiatrie meine Bezugsbetreuerin sein. An sie konnte ich mich wenden, wenn ich Probleme, Ängste, Sorgen, Fragen oder einfach nur Redebedarf hatte. Außerdem würde sie mir in den ersten Tagen die Station und das Gebäude zeigen, die Regeln erläutern und mir helfen, mich in dem Klinikalltag zurechtzufinden. Die Ärztin des Aufnahmegesprächs war zugleich auch meine Psychologin. Mit ihr hatte ich einmal die Woche ein Einzelgespräch. Des Weiteren kümmerte sie sich um alles, was mit meiner Gesundheit zu tun hatte. Auf den ersten Eindruck wirkten beide recht nett und freundlich. Allerdings wollte ich ihnen nicht mehr vertrauen und erzählen, als tatsächlich nötig war. Denn jedes Wort zu viel könnte mir irgendwann zum Verhängnis werden. Ich traute den beiden lediglich so weit, wie ich einen Jumbojet mit einer Hand schieben konnte.

Die Ärztin fragte meine Mutter und mich, was mir derzeit Probleme und Schwierigkeiten bereitete, was ich alles aß, ob und wie oft ich erbrach, und ob ich mich selbst verletzte. Sie wollte alles von meiner Geburt an bis zum jetzigen Zeitpunkt haarklein wissen. Dass sie nicht nach meiner Schuhgröße gefragt hat, war alles! Ich fand diese ganze Fragerei ziemlich anstrengend und ließ deshalb hauptsächlich meine Mutter reden. Überhaupt interessierte mich das Gespräch kaum. Mir war egal, was geredet wurde, Hauptsache ich musste nicht so viel und nicht so ausführlich antworten. Das Einzige, was ich ab und zu freiwillig sagte, war „Ja“ und „Nein“ oder „keine Ahnung“.

 

Ich war noch nicht einmal zwei Stunden hier und wollte schon nach Hause. Das konnte also noch was werden!

 

Am Ende des Gespräches wurde ich noch gemessen und gewogen. Mit Kleidung hatte ich 40 Kilo. Ich fand das Gewicht super und musste grinsen. So wenig hatte ich noch nie gewogen, außer als ich noch kleiner und jünger war. Ich war stolz auf mich. Die anderen im Raum waren davon jedoch nicht so begeistert. Sie schätzen mein Gewicht als bedenklich und kritisch ein. Die Ärztin meinte sogar, dass es ein Wunder sei, dass ich hier noch so fit stehe. Normalerweise wäre man mit dem Gewicht so schwach, dass jede Bewegung eine zu große Anstrengung wäre. Das Gewicht wäre lebensgefährlich!

Ich fand diese Aussage sehr verwunderlich, denn schließlich empfand ich mein Aussehen alles andere als dünn und magersüchtig! Außerdem ging es mir gut. Ich war in letzter Zeit zwar öfters müde und schnell erschöpft, aber ich schob diese Schlappheit aufs Wetter und nicht auf mein Gewicht. Also wieso stellten sich alle anderen so an? Ich war fit und mir ging es gut, also konnte es gar nicht so schlimm sein, wie alle sagten!

 

Nach dem Wiegen wurden noch mein Puls und mein Blutdruck gemessen. Mein Puls lag bei 55 und mein Blutdruck bei 70/40. Normale Werte sind beim Puls eigentlich zwischen 60 und 80 und beim Blutdruck 120/80. Beide Werte waren bei mir deutlich zu niedrig. Die Ärztin erklärte mir, dass mein Puls und mein Blutdruck so niedrig wären, weil meinem Körper durch das starke Untergewicht die Energie fehlen würde, um meinen Kreislauf bei Normalwerten aufrecht zu halten. Doch das interessierte mich recht wenig. Was ich viel „interessanter“ fand, war, dass mein Blutdruck mit einer Kindermanschette mit Giraffen und Elefanten gemessen wurde. Die andere Manschette war nämlich viel zu groß für meinen dünnen Oberarm. Das ließ ein Gefühl der Zufriedenheit in mir aufkommen. Es zeigte mir, dass ich doch dünner war, als ich mich selbst einschätze.

 

Bevor das Aufnahmegespräch nun komplett zu Ende war, ich mich von meiner Mutter und Oma verabschieden musste und ich mein „neues“ Zimmer beziehen durfte, stellte ich der Ärztin noch die in meinen Augen wichtigste Frage des gesamten Tages: „Wie lange muss ich bleiben?“ Eine genaue Antwort konnte/wollte mir die Ärztin jedoch auf diese Frage nicht geben. Sie meinte, dass man erst morgen früh mein reales Gewicht abwarten müsste, um eine ungefähre Dauer zu nennen. Aber ich könnte mich schon mal auf ca. sechs Monate einstellen.

Diese Antwort traf mich wie ein Schock. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass zwei Wochen vermutlich nicht ausreichen würden, doch mit sechs Monaten hatte ich ebenfalls nicht gerechnet. Das war schließlich ein halbes Jahr!

 

Nach dem Aufnahmegespräch musste ich mich von meiner Mutter und meiner Oma verabschieden. Der Abschied fiel auf beiden Seiten tränenreich aus. Doch obwohl ich weinte, ließ mich der Abschied trotzdem eiskalt. Das fand ich gruselig, dass selbst so ein Abschied keinerlei Gefühle in mir weckte und mich nicht berührte,

Bevor meine Mutter zur Tür raus ging, versprach sie mir noch, in kommenden Tagen während der Besuchszeit, die unter der Woche von 17 bis 19 Uhr und an Wochenenden von 14 bis 19 Uhr war, vorbeizukommen. Und dann war sie weg. Ab jetzt war ich alleine in dieser „Irrenanstalt“ voller bekloppter Leute, die mich mästen wollten.

Doch viel Zeit, um über meine aktuelle Situation nachzudenken, blieb mir nicht. Denn kaum war die Tür hinter meiner Mutter geschlossen, stand auch schon meine Bezugsbetreuerin neben mir und wollte mir mein Zimmer zeigen.

 

Das Patientenzimmer befand sich direkt gegenüber vom Schwesternzimmer. Im Zimmer standen ein Hochbett, ein Einzelbett, drei Kleiderschränke und mehrere Regale. Der Raum und die Einrichtung erinnerten kaum an übliche Patientenzimmer im Krankenhaus. Es sah eher aus wie das Zimmer einer Jugendherberge. Alles war bunt und freundlich und was mir am besten gefiel: Das Zimmer hatte ein eigenes Bad mit Toilette und Dusche!

Diese Freude über das eigene Bad wurde mir jedoch recht schnell genommen. Denn meine Bezugsbetreuerin schloss die Badezimmertür vor meinen Augen von außen ab und erklärte mir, dass ich die ersten Wochen auf Station Dusch- und Toilettenbegleitung hätte. Das hieße, dass jedes Mal, wenn ich auf Toilette musste oder duschen wollte, ich einer Betreuerin Bescheid geben musste, dass sie aufschloss und zuschaute. Das sollte verhindern, dass ich mich übergäbe, Wasser tränke, um mehr Gewicht auf der Waage zu haben, dort Sport triebe oder kalt duschte. (Duschen, mit kaltem Wasser sorgt für Frieren und Frieren verbrennt viele Kalorien. Es gibt eine Menge Magersüchtige, die das Frieren nutzen, um abzunehmen. Ich tat das aber nie, denn ich hasste Frieren. Für mich gab es nichts Schlimmeres als Kälte.).

Ich war geschockt und erst einmal sprachlos. Ich wusste nicht, was mich mehr störte: Dass mir jemand beim Toilettengang und Duschen zuschaute oder, ob es die fehlende Möglichkeit war, überschüssigen Kalorien auszukotzen. Die Vorstellung, dass eine Betreuerin bei allem, was ich im Bad machte, zuschaute, war schrecklich! Ich fühlte mich wie ein Schwerverbrecher! Mir wurde meine komplette Privatsphäre genommen! Doch wie ich im Laufe des Tages erfahren musste, war das nicht die einzige strenge Regel, die es hier gab.

 

Bevor ich meine Reisetasche auspacken durfte, wurde sie von zwei weiblichen Betreuern durchsucht. Alle spitzen Gegenstände, wie Schere, Nagelschere etc., wurden mir abgenommen sowie mein Sprühdeo, mein Parfüm und alles, was aus Glas war. Ich sollte während dem Aufenthalt nichts besitzen, mit dem ich mich auf irgendeine Weise selbst verletzen gekonnt hätte. Nach der Taschendurchsuchung blieb mir dann eine Stunde Zeit, meine Tasche in Ruhe auszuräumen und anzukommen.

 

Kurz vor dem Mittagessen lernte ich meine zwei Mitbewohnerinnen kennen. Eine Mitbewohnerin war wegen Drogenproblemen hier und die andere hatte Bulimie. Allerdings war sie jetzt schon zwei Monate in der Klinik und kotzte seit einer ganzen Weile nicht mehr. Sie war auf dem besten Weg, gesund zu werden. Deshalb war sie alles andere als begeistert, als sie erfuhr, weshalb ich hier war. Sie meinte, dass ich sie mit sämtlichen Themen über Essen, Gewicht, Kalorien und Kotzen in Ruhe lassen sollte.

 

Dann bekam ich mein erstes Mittagessen in der Klinik. Ich wusste nicht, wie lange es her war, dass ich das letzte Mal etwas Warmes gegessen und auch in mir behalten hatte. Es war auf jeden Fall schon etwas länger her. Die Vorstellung, gleich eine „normale“ Portion warmes Essen zu verspeisen und anschließend nicht auskotzen zu können, löste Panik in mir aus. Ich wollte fliehen und alles in mir schrie „Hau ab!“ Aber erstens war die Tür verschlossen -also ich würde nicht weit kommen - und zweitens war das erst der erste Tag für mich. Da konnte ich so etwas noch nicht bringen. Ich musste wenigstens in der ersten Woche so tun, als wenn ich halbwegs mitarbeite und die Motivation besitzen würde, gesund zu werden.

Beim Mittagessen erfuhr ich von den Betreuern, dass ich vorportioniertes Essen bekam. Das hieß, dass meine Mahlzeiten (drei Hauptmahlzeiten, zwei Zwischenmahlzeiten) von einer Diätassistentin in der Klinikküche zusammengestellt und vorportioniert wurden. Die entsprechende Tageskalorienmenge wurde vorher mit den Ärzten abgesprochen. Im Normalfall war die Kalorienmenge so eingestellt, dass man zwischen 700 und 1000 Gramm in der Woche zunahm. Wenn die Kalorien irgendwann nicht mehr ausreichten und man weniger als 700 Gramm in der Woche zunahm, wurden die Kalorien erhöht. Nahm man zu viel zu, wurde sie gesenkt. Also laut der Aussage der Betreuer hatte ich nichts zu befürchten. Außerdem würde bei mir gaaaannzz laaaangsam mit 1800 Kalorien pro Tag angefangen. Davon würde ich die ersten Tage bestimmt nicht zunehmen.

 

Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen. 1800 Kalorien waren für mich extrem viel! Nach einer Woche Klinik würde ich bestimmt fünf Kilo mehr wiegen! Das war hier die reinste Schweinemastanlage! Was dachten die sich bloß dabei? Ich bereute es so dermaßen, mich „freiwillig“ in diese Mastanlage begeben zu haben!!!

 

Für die Zwischenmahlzeiten hatte ich 15 Minuten und für die Hauptmahlzeiten 30 Minuten Zeit. Würde ich in dieser Zeit nicht fertig werden, musste zusätzlich Fresubin© getrunken werden. Also die Aussicht, das Essen schlichtweg zu verweigern, war ebenfalls nicht besonders prickelnd. Ob ich wollte oder nicht, ich saß in einer Falle. Die Kalorien würden in mir landen und ich konnte es nicht verhindern.

 

Gleichzeitig war mir aber auch klar, dass das hier meine letzte Chance war. Würde ich jetzt nicht anfangen zu essen, dann würde ich es vermutlich nie tun. Mein Gewicht war schon im lebensgefährlichen Bereich und jedes Gramm weniger konnte meinen Tod bedeuten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann mein Körper seinen Dienst endgültig einstellte. Also ich hatte nichts zu verlieren. Vielleicht waren diese extrem strengen Regeln und Vorschriften tatsächlich der einzige Ausweg aus dieser Essens- und Kalorienhölle.

 

In mir kämpften zwei „Dämonen“. Der eine wollte an der Essstörung festhalten und lieber sterben, als dick zu werden, und der andere wollte sich zurück ins Leben kämpfen und war dazu bereit, wieder mit dem Essen anzufangen. Auch auf die Gefahr hin, ein paar Kilos zuzunehmen.

 

Zu essen gab es fünf Kartoffeln mit einem (in meinen Augen) gigantischem Schnitzel und dazu Soße. Ich wusste zwar, dass ich den Sinn für eine normale Portionsgröße verloren hatte, aber das erschien mir doch etwas viel. So viel isst kein normaler Mensch! Aber diskutieren, ob das jetzt eine „normale“ Portion sei, oder nicht, half nichts. Es blieb bei den zwei Wahlmöglichkeiten: Essen oder Fresubin© trinken. Ich entschied mich für das kleinere Übel, fürs Essen.

 

Mein Magen wehrte sich gegen jeden Bissen. Er war nicht gewohnt, Essen aufzunehmen und bei sich zu behalten. Die letzten Monate hatte ich ihn darauf trainiert, Nahrung so schnell wie möglich wieder hervorzuwürgen. Und das wollte er jetzt auch machen. Bereits nach der Hälfte des Essens wurde mir übel und mein Magen begann zu schmerzen. Trotzdem aß ich tapfer weiter und schaffte es am Ende tatsächlich, die gesamte Portion, ohne großartig zu meckern, aufzuessen.

 

Nach dem Mittagessen war sogenannte „Sitz-Zeit“. Nach Hauptmahlzeiten musste ich eine Stunde und nach Zwischenmahlzeiten 30 Minuten auf dem Sofa im Aufenthaltsraum unter Aufsicht der Betreuer sitzen. Sinn dieser Sitz-Zeit war es, dass ich die gerade gegessenen Kalorien nicht sofort wieder mit Bewegung abtrainierte, sondern die Kalorien Zeit hatten, sich anzusetzen. Während dieser Sitz-Zeit wurde mir sogar vorgeschrieben, wie ich sitzen sollte. Ich musste mich entspannt anlehnen und meine Beine durfte ich nicht anwinkeln, sodass auf keinen Fall mehr Kalorien als nötig verbrannt wurden.

Obwohl Stillsitzen eigentlich das leichteste der Welt ist, fiel es mir trotzdem in diesem Moment extrem schwer, einfach nur ruhig dazusitzen. Ich wollte die eben aufgenommenen Kalorien so schnell wie möglich wieder loswerden und da Kotzen ausschied, blieb mir nur Sport. Von Minute zu Minute machte sich mehr Unruhe in mir breit. Ich wollte mich bewegen und nicht länger faul auf dem Sofa herumsitzen und warten, bis sich die Fettzellen in meinem Körper vermehrten. Doch sobald ich mich auch nur ein bisschen bewegte, stand sofort ein Betreuer neben mir und ermahnte mich, still zu sitzen. Ansonsten würde aus der einen Stunde Sitz-Zeit ganz schnell zwei werden. Obwohl ich noch nicht einmal 12 Stunden hier war, nervte mich schon jetzt diese ewige und ständige Kontrolle!

Nach der Stunde Sitz-Zeit verschwand ich sofort auf dem kürzesten Weg in mein Zimmer. Glücklicherweise waren meine Mitbewohner gerade in Therapie, sodass ich ungestört Sport treiben konnte, ohne dass es jemand mitbekam oder mich verpetzte. Ich machte Kniebeugen, Sit-ups und joggte auf der Stelle, bis ich anfing zu schwitzen. Doch leider wurde ich dann trotzdem erwischt.

 

Mir wurde nämlich stündlich der Blutdruck gemessen und dabei fiel auf, dass mein Blutdruck und Puls im Vergleich zur vorherigen Messung deutlich erhöht waren. Und da die Betreuer nicht blöd waren und schon viel Erfahrung mit Essgestörten hatten, wussten sie sofort, dass ich offensichtlich Sport gemacht hatte. Daraufhin wurde mir angedroht, dass, falls das noch mal vorkäme, ich mich tagsüber nicht mehr im Zimmer aufhalten dürfte, sondern im stetigen Sichtkontakt der Betreuer bleiben müsste. Um das zu verhindern, beendete ich meine Sportstunde. Zumindest für diesen Tag.

 

Am Abend lag ich schon um 20 Uhr im Bett, weil ich so erschöpft war. Konnte aber noch nicht einschlafen, weil noch zu viele Gedanken in meinem Kopf umher kreisten. Mir kam es vor, als ob ich den gesamten Tag nur gegessen und auf dem Sofa gesessen hätte. Nach dem Mittagessen gab es noch eine Zwischenmahlzeit (Müsliriegel und Birne) und zum Abendessen zwei Scheiben Brot mit 20 Gramm Margarine und Käse. Besonders das Abendessen war noch eine Herausforderung für mich. Die Margarine und der Käse waren Fett pur! Morgen hatte ich bestimmt zwei Kilo mehr auf der Waage! So viel, wie ich heute gegessen hatte, aß ich sonst nicht einmal in einer Woche! Vor allem so viel überschüssiges Fett. Speziell die Margarine am Abend fand ich total eklig. Anfangs wollte ich sie einfach auf meinem Teller liegen lassen und das Brot nur mit Käse und ohne Streichfett essen. Doch dann wurde mir gesagt, wenn ich sie nicht aufs Brot schmiere, müsste ich sie anschließend ohne Brot essen. Und das wäre eindeutig noch ekliger!

 

Ich fühlte mich hier nicht wie in einer Klinik, sondern wie in einer Sicherheitsverwahrungsanstalt für absolute Schwerverbrecher.

Nichts durfte ich. Ich durfte keine spitzen oder aus Glas bestehenden Gegenstände im Zimmer haben, keine Gefäße, in denen ich Wasser sammeln könnte, um es vor dem Wiegen zu trinken, kein Sport treiben (sogar Tischtennis fiel darunter) und keine Treppen steigen. Keine Therapien besuchen und nicht in die Schule gehen, weil mein Gewicht dafür ebenfalls zu niedrig war. Dafür musste ich aber alles essen, was mir vorgesetzt wurde. Ob ich es mochte oder nicht. Selbst wenn es mir nicht schmeckte, musste ich aufessen und anschließend noch eine Stunde unter Sichtkontakt die Sitz-Zeit aussitzen. Wenn ich auf Toilette musste oder duschen wollte, musste ich erst um „Erlaubnis“ fragen und wurde dabei ebenfalls auf Schritt und Tritt beobachtet. Außerdem war die Eingangstür verschlossen und ich hatte keinen Ausgang. Selbst die Fenster konnte man hier auf Station nicht öffnen! Mittlerweile war ich der festen Überzeugung, dass selbst ein normaler Sträfling im Knast mehr Rechte hatte als ich in der Psychiatrie!

 

Dieses unendliche Gedankenkarussell machte mir das Schlafen unmöglich. Und wenn ich es dann doch einmal schaffte, meine Augen kurz zuzumachen, weckte mich kurz darauf die Nachtschwester, um meinen Blutdruck zu messen. Der wurde nämlich auch in der Nacht jede Stunde kontrolliert. Also kurz gesagt: Meine erste Nacht in der Klinik war die reinste Hölle! Schlafen war Fehlanzeige. Stattdessen stand stundenlanges Grübeln auf dem Stundenplan.

 

Um 6.45 Uhr wurde ich schließlich endgültig von einer Betreuerin aus dem Frühdienst geweckt. Wie ein Schwein, das man zur Schlachtbank führt, wurde ich von ihr nach dem morgendlichen Toilettengang ins Arztzimmer zur Waage begleitet. Schon auf dem Weg dorthin schlug mein Herz wie wild. Ich war so nervös, wie schon lange nicht mehr. Vor der Waage musste ich mich bis auf die Unterhose ausziehen. Dann schaltete die Betreuerin die Waage ein. Mittlerweile zitterte ich am Körper vor Aufregung. Ich war sehr gespannt, welches Gewicht die Waage anzeigen würde. Ich hoffte, dass es noch unter 40 Kilo waren. 39 Kilo wären perfekt gewesen. Doch die Zahl, die die Waage anzeigte, waren keine 39 Kilo. Es waren bedeutend weniger. Ich musste weinen. Das Gewicht schockte selbst mich und auch die Betreuerin schluckte erst einmal, als sie das Gewicht sah.

 

Ich wog nur noch 35 Kilo!

 

Ohne, dass mir jemand was dazu erklärte, wusste ich genau, was dieses Gewicht bedeutete: Ich war zu der Zeit dem Tod näher als dem Leben, und wenn ich nicht möglichst schnell an meinem Essverhalten und somit an meinem Gewicht etwas ändern würde, könnten mich meine Eltern bald auf dem Friedhof besuchen. Das machte selbst mir jetzt Angst! Gestern hätte ich noch gesagt: „Lieber dünn und tot als lebendig und dick.“ Doch jetzt hatte sich meine Einstellung von einer auf die andere Sekunde schlagartig geändert. Ich wollte nicht sterben! Ich wollte leben!

Beim Frühstück strengte ich mich deshalb besonders an und aß sogar die Margarine ohne Protest auf, was für mich bei zwei Brötchen Grundmenge nicht gerade einfach war. Aber ich versuchte, so gut es ging, die Kalorien auszublenden. Denn wenn ich leben wollte, musste ich essen. Egal, wie hart es werden würde, ich würde für mein Leben mit aller Kraft kämpfen!

Beim Mittagessen rebellierte allerdings schon mein Magen und meine Motivation begann erneut zu schwinden. Ich hatte den Tag über schon so viel gegessen, dass er bereits jetzt schon bis zum Platzen gefüllt war und nun sollte da noch das gesamte Mittagessen mit dazu. Mir war übel und ich hatte das Gefühl, bei jedem weiteren Bissen, den ich noch essen musste, mich übergeben zu müssen. Doch den Betreuern war das egal. Sie blieben hart. Nicht einmal eine Nudel durfte ich auf dem Teller zurücklassen. Ich musste alles aufessen. Zu gerne hätte ich in diesem Moment meine guten Vorsätze über den Haufen geschmissen und gekotzt. Das Spannungsgefühl im Bauch war äußerst unangenehm bis hin zu schmerzhaft. Ich hatte keine Chance, meinen Magen zu entlasten. Das Einzige, was ich von den Betreuern immer und immer wieder zu hören bekam, war, dass ich da durchmusste. Wenn mein Magen wieder auf normale Größe gedehnt wäre, dann würde dieses Spannungsgefühl nach dem Essen auch irgendwann nachlassen.

 

Nachmittags durfte ich zur Belohnung für meine gute Mitarbeit mit meiner Bezugsbetreuerin ein paar Minuten auf das Luftgeschoss. Das Luftgeschoss war eine Etage tiefer und eine Art Dachterrasse nur eben nicht auf dem Dach des Hauses, sondern mitten im Hochhaus selbst. Auf diesem Geschoss gab es keine Außenwände. Somit hatte man das Gefühl, fast im Freien zu sein. Lediglich die Gitter an den Außenseiten erinnerten an eine Psychiatrie. Neben einem Fußballfeld, einer Tischtennisplatte, einer Schaukel und einer Rutsche gab es auf diesem Freigeschoss auch noch einen Kraftraum in der Mitte und einen kleinen Garten auf der Rückseite. In diesem kleinen Garten durfte ich mich mit meiner Betreuerin zehn Minuten auf die Bank in der Sonne setzen. Ab sofort dürfte ich das jetzt jeden Tag. Vorausgesetzt, ich arbeitete weiterhin aktiv mit, nahm nicht ab und hielt mich an die Regeln. Diese lauteten: Aufzug nehmen und keine Treppen laufen, auf der Bank sitzen und nicht stehen oder umherlaufen; kurz: Keine kostbaren Kalorien verschwenden.

 

Die nächsten Tage aß ich brav alles auf und nahm dadurch langsam zu. Mit der Zeit gewöhnte sich mein Magen tatsächlich an die regelmäßigen Mahlzeiten und die Portionsgrößen und das unangenehme Spannungsgefühl nach jedem Essen ließ nach. Das Essen begann mir sogar wieder Spaß zu machen. Ich konnte es endlich wieder genießen. Allerdings hatte ich immer noch panische Angst, zu schnell zu viel zuzunehmen. Deshalb trieb ich weiterhin nach jeder Mahlzeit Sport, um die Gewichtszunahme möglichst gering zu halten. Was ich dabei jedoch ausblendete, war, dass ich mir dadurch nur ins eigene Fleisch schnitt. Nach drei Tagen hatte ich nämlich noch immer nicht wirklich zugenommen und mein EKG war ebenfalls auffällig. Deshalb beschloss meine Ärztin, dass meine Sitz-Zeit nach den Mahlzeiten in Liegezeit umgewandelt werden sollte. Das hieß, ich musste nicht länger auf dem Sofa sitzen, sondern bekam ein Bett vor das Schwesternzimmer gestellt und musste darauf jetzt flach liegen. Nicht einmal die Beine durfte ich anwinkeln. Das machte mich wahnsinnig, denn dadurch verbrannte ich erstens noch weniger Kalorien und zweitens war es stinklangweilig einfach nur dazuliegen. Auf dem Sofa konnte ich mich wenigstens noch mit anderen Patienten unterhalten oder lesen, aber hier im Bett konnte und durfte ich gar nichts mehr. Das Einzige, was mir blieb, war die Fische im Aquarium zu beobachten oder Löcher in die Luft zu starren.

 

Um nicht komplett verrückt zu werden und mich wenigstens ein bisschen am Tag bewegt zu haben, begann ich zwischen den Mahlzeiten wie ein aufgescheuchtes Huhn durch mein Zimmer zu rennen. Doch spätestens um 20 Uhr war auch damit Schluss. Nachts schlief ich nämlich vorübergehend auf dem Gang, weil ich über Nacht an einen Monitor angeschlossen wurde, der meine Vitalfunktionen überwachte. Da mein Blutdruck teilweise auf die Werte 60/45 absank, wollte das Personal besonders nachts lieber auf Nummer sicher gehen. Denn solch ein niedriger Blutdruck war alles andere als gesund!

Glücklicherweise wurde ich aber nach bereits drei Tagen schon wieder von diesem nervigen Piepsding erlöst und durfte wieder in meinem Zimmer schlafen. Das Piepsen des Monitors war nämlich echt schrecklich und nervtötend!

 

Zu Hause stand ich ständig unter Stress und Anspannung, deshalb nahm ich nicht wahr, wie schlecht es mir ging. Ich hatte keine Zeit gehabt zum Nachdenken und um zur Ruhe zu kommen, das war hier in der Klinik anders. Hier hatte ich mehr als genug Zeit, um runterzukommen. Dadurch wurde mir erst richtig bewusst, wie schlecht es meinem Körper wirklich ging. Mein Gesundheitszustand war mehr als schlecht. Ich fühlte mich unentwegt müde, antriebslos, schwach und krank. Egal, wie lange ich schlief, ich war immer noch müde. Manchmal hatte ich beim Laufen Angst, dass meine Beine mein Gewicht nicht mehr tragen könnten und ich hinfalle. Alles tat weh und selbst die kleinste Anstrengung war bereits eine riesige Herausforderung für mich. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie hilflos ich war. Ich fühlte mich schlecht. Ich hatte in meinem Leben alles falsch gemacht, was falsch zu machen ging. Nichts hatte ich so hinbekommen, wie ich sollte. Ich fühlte mich mal wieder als absolute Versagerin!

 

Der Weg bis zur Genesung kam mir unendlich weit vor. Ich sollte bei der Entlassung ein Zielgewicht von 50 Kilo haben. Das hieß, ich musste 15 Kilo zunehmen! Das war fast die Hälfte meines Ausgangsgewichts! Wie sollte ich das bloß schaffen?! Ich würde die 50 Kilo nie erreichen. Da half auch der Gewichtsverstärkerplan, der mich motivieren sollte, nichts.

Der Gewichtsverstärkerplan war ein Plan, auf denen Vergütungen aufgelistet waren, die ich mir mit einem gewissen Gewicht „verdienen“ konnte. Zum Beispiel Therapien, Ausgang, Besuch, Schule und ab 48 Kilo Körpergewicht dürfte ich dann sogar selbst bestimmen, was und wie viel ich essen wollte! Nahm ich zu, „verdiente“ ich mir die Belohnungen, nahm ich ab, wurden sie gestrichen. Also ein recht einfaches Prinzip. Doch irgendwie motivierte mich selbst das nicht. Ich war in einem absolut tiefen Loch gefangen und machtlos, mich daraus zu befreien. Alles schien über mir zusammenzustürzen und ich in meinem eigenen Selbstmitleid zu ertrinken.

 

Nach fünf Tagen Klinik kam dann der endgültige Tiefpunkt. Morgens zeigte die Waage mein Ausgangsgewicht von 35 Kilo an! Alles, was ich innerhalb der letzten Tage mühselig zugenommen hatte, war plötzlich weg! 900 Gramm waren über Nacht einfach so verschwunden. Ich verzweifelt. Wie konnte so etwas bloß passieren? Zu Hause musste ich mich anstrengen, 100 Gramm abzunehmen, und jetzt nahm ich 900 Gramm einfach mal so über Nacht ab? Wo blieb da die Gerechtigkeit? Wenn ich abnehmen wollte, nahm ich zu und wenn ich zunehmen wollte, nahm ich ab. Das war alles andere als fair! Ich hätte vor Wut an die Decke gehen können. Doch das war noch nicht alles. Wie inzwischen bekannt sein sollte, kommt bei mir nämlich ein negatives Ereignis selten alleine. Meistens bekomme ich in solchen schwierigen Situationen vom Leben immer direkt noch einen zweiten Schlag ins Gesicht hinterher, damit ich es mir auch ja merke und nicht so schnell wieder vergesse und aufstehe. So wie auch dieses Mal.

Ich war gerade noch dabei, mich über meine urplötzliche, ungeplante Gewichtsabnahme aufzuregen, als die Betreuerin beiläufig erwähnte, dass meine Kalorienmenge heute sowieso von 1800 auf 2200 erhöht wurde.

Nun war es mit meiner Selbstbeherrschung vollkommen aus. Ich schrie die gesamte Station zusammen. 400 Kalorien mehr pro Tag! Damit kam ich nicht klar! 1800 Kalorien waren bereits schwer mit meinem Gewissen zu vereinbaren, da waren 2200 unmöglich! Selbst ein normaler Mensch hat einen Tagesbedarf von um die 2000 Kalorien, also waren 2200 Kalorien für mich eindeutig zu viel! Ja, ich wollte zwar zunehmen, aber ich wollte auf keinen Fall aufgehen wie ein Hefekloß! Und das würde ich mit dieser Kalorienzahl bestimmt! Doch die Ärztin ließ sich von meinem Wut- und Schreianfall nicht wesentlich beeindrucken. Ihr Entschluss stand fest: Meine aktuelle Kalorienmenge betrug ab heute 2200 Kalorien. Außerdem sollte ich eine Tablette bekommen, die mich laut ihrer Aussage „ein bisschen entspannter“ werden lassen sollte. Schließlich würde die Aufregung über mein Gewicht und die neue Kalorienmenge meine Gesundheit nicht fördern.

 

Keine Ahnung, was die Ärztin unter „ein bisschen entspannter“ verstand. Ich nahm die Tablette nach dem Frühstück und schlief bis zum nächsten Tag durch. Lediglich zu den Mahlzeiten war ich kurz wach. Ich war so sediert, dass ich nicht einmal die Kraft besaß, über die Mengen der Mahlzeit zu diskutieren. Ich nahm gar nichts wahr. Selbst als ich wach war, fühlte sich alles an wie in einem Traum. Ich sah alles wie durch einen dicken Nebel, nichts schien zu mir durchzudringen und ich hatte das Gefühl, dass ich mich nur in Zeitlupe bewegen konnte.

 

Am nächsten Tag war ich zwar wieder wach, doch die Waage rächte sich für den vergangenen Tag. Innerhalb der letzten 24 Stunden hatte ich 1,1 Kilo zugenommen! Schrecklich! Ich wurde hier drinnen gemästet und würde die Klinik in einem halben Jahr vermutlich rollend verlassen, weil ich durch das viele Fett unfähig wäre zu laufen. Ich fühlte mich wie ein Mastschwein beim Schlachter. Es war eine Katastrophe! Allerdings hatte ich einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Mastschweinen: Ich war intelligent und konnte beim Essen mogeln. So konnte ich im Laufe des Tages eine Menge Kalorien einsparen. Ich beschloss, wenn die Ärztin meine Kalorienzahl nicht senken wollte, dann musste ich es eben selbst machen. In Essen verschwinden lassen war ich schließlich Meisterin!

Morgens verschwand ein halbes Brötchen in meiner Tasche der Sweatshirtjacke, ein Teil der Margarine klebte unter dem Messer und ein weiterer Teil pappte an meinen Fingern, die ich an der Innenseite meines Ärmels abstrich. Das gab zwar Flecken, aber lieber Fettflecken an der Kleidung als Fettpolster am Körper! Bei der Zwischenmahlzeit schüttelte ich meinen Joghurt erst, sodass viel Inhalt am Deckel klebte. Danach ließ ich den voll geklebten Deckel im Mülleimer verschwinden. Somit hatte ich wieder Kalorien gespart. Beim Mittagessen verschmierte ich die Soße schön dünn über den Teller und ließ einen Rest unter der Gabel versteckt liegen. Beim Abendessen verteilte ich wieder die Margarine überall dort, wo sie eigentlich nicht hinsollte. In der Freizeit, die ich zwischen Essen, Liegezeit und wieder Essen hatte, trieb ich Sport und lief rastlos im Zimmer auf und ab. Inzwischen wussten zwar die Betreuer, dass ich mich in meiner „Freizeit“ nahezu pausenlos auf den Beinen hielt, aber mehr als mir mitteilen, dass das nicht gut für mich sei, taten sie trotzdem nicht. Und die Mitteilung, dass das nicht gut ist, hielt mich nicht von meinem Sportprogramm ab. Überhaupt fand ich diese Regel völlig paradox: Ich durfte keine einzige Treppe laufen oder Tischtennis spielen: ABER wenn ich den gesamten Tag in meinem Zimmer auf und ab lief, sagte niemand etwas. Das fand ich seltsam.

 

Doch trotz der vielen Bewegung und der Mogelei beim Essen nahm ich weiterhin äußerst schnell zu. Nach einer Woche zeigte die Waage bereits zwei Kilo mehr an! Ein Albtraum für mich. Ich fühlte mich mal wieder belogen und betrogen. Zu Beginn wurde mir von den Ärzten versprochen, dass darauf geachtet werden würde, dass ich nicht zu schnell zu viel an Gewicht zunehmen würde und was war jetzt? Keinen kümmerte es, dass ich zunehmend fetter wurde! Zusätzlich fühlte ich mich von meinem eigenen Körper ebenfalls hintergangen. Wie ein hungriges Tier schien er sich auf die Kalorien zu stürzen und innerhalb von wenigen Sekunden in Fettpolster zu verwandeln. Ich hatte versucht, mit meinem Körper Frieden zu schließen, und gab ihm regelmäßig Essen und was tat er? Er hinterging mich einfach! Er schien nur darauf gewartet zu haben, es mir endlich heimzahlen zu können. Ich hatte keinerlei Kontrolle mehr. Überhaupt kam es mir vor, als wenn sich die ganze Welt gegen mich verschworen hätte. Mir ging es miserabel. Ich kam mit meinem Gewicht und meinem Körper nicht mehr klar. Es war zum Heulen. Aber mit jemandem darüber reden konnte ich auch nicht. Niemand hätte mich verstanden. Schließlich sagte ich ja, dass ich gesund werden wollte und da gehört die Gewichtszunahme nun mal zwangsläufig dazu. Und je schneller ich zunahm, desto schneller würde ich entlassen werden. Also war mein aktuelles Gewicht (in den Augen anderer) mehr als positiv. Niemand würde verstehen, dass mir die schnelle Gewichtszunahme Angst machte. Wie auch? Ich verstand mich, meine Gefühle, Gedanken und Ängste schließlich selbst nicht!

 

Innerhalb von kürzester Zeit hatten sich ein immenser Selbsthass und eine enorme Wut auf allen und jeden in mir aufgebaut. Ich hasste meine Eltern dafür, dass sie mich in die Klinik gebracht hatten, ich hasste die Ärzte, weil sie mich hier mästeten, und ich hasste die Betreuer, weil sie mich ständig und überall kontrollierten. Plötzlich waren alle meine Gefühle, die vorher verschwunden waren, wieder da. Wochenlang war ich gefühlstot und jetzt schien mich ohne Vorwarnung eine Welle von Gefühlen zu überrollen. Jedoch kamen sie nicht langsam zurück, so wie sie zuvor verschwunden waren – sondern sie kamen alle auf einmal zurück. Wie ein Blitz trafen sie mich mit voller Wucht und ich war nun maßlos mit ihnen überfordert. Ich war angespannt ohne Ende und fühlte mich, als wenn ich gleich explodieren würde.

 

Als dann eine Betreuerin zum Blutdruckmessen kam, brannten bei mir die Sicherungen durch und ich konnte meine Wut nicht mehr zurückhalten. Ich schrie sie an, dass ich hier gemästet werde und niemand sich dabei um meine Gefühle kümmert, dass ich versprochen bekommen habe, dass ich nicht so schnell zunehmen werde, dass mich die ständige Kontrolle nervte und dass ich mich dadurch wie ein Schwerverbrecher fühle. Während ich schrie, heulte ich dabei Rotz und Wasser und machte keine einzige Sprechpause. Nicht einmal zum Durchatmen oder Luftholen. Als ich fertig war, rechnete ich damit, dass die Betreuerin mich ebenfalls anschreien, oder zumindest fragen würde, was das solle und was ich mir hier erlauben würde. Doch sie schaute mich nur an, nahm mich in den Arm und tröstete mich. Sie erklärte mir, dass diese Rebellion gegen alles und jeden die Magersucht in mir wäre. Sie würde merken, dass es ihr jetzt an den Kragen ginge und sie wollte um ihr Überleben kämpfen. Das wäre völlig normal. Ich dürfte ruhig fluchen, schreien und weinen. Das wäre nicht schlimm, solange ich danach wieder aufstehen und weiterkämpfen würde.

 

In dem Moment, als ich so austickte, schrie, fluchte und dabei weinte, fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das gerade mitten in einer Trotzphase steckte. Doch ich nahm dieses Gefühl in der Situation nicht als schlimm wahr. Ganz im Gegenteil: Es tat gut, alles rauszulassen und anschließend getröstet zu werden. Es war befreiend und irgendwie loslösend. Danach war ich zwar total müde und erschöpft, aber mir ging es deutlich besser als zuvor.

 

Beim Abendessen gab es das erste Mal Konsequenzen für meine ständigen Schummeleien. Diesmal hatte ich die komplette Margarine im Mülleimer, der zufällig neben mir stand, verschwinden lassen und das war wohl eindeutig zu auffällig. Eine Betreuerin merkte das nämlich und daraufhin gab es mächtig Ärger. Es hieß, ich würde mit meinem Verhalten die Therapie behindern und es wäre bekannt, dass ich schon länger versuchen würde, Kalorien zu umgehen. Auch andere Betreuer hätten bereits vermerkt, dass meine Margarine überall landete, nur nicht auf dem Brot. Anfangs hätte mich nur niemand darauf angesprochen, weil ich noch neu war und man mir ansah, dass es mir schwerfiel, die Portionen komplett aufzuessen. Man hoffte, dass ich noch irgendwann von alleine dahinterkommen würde, dass Schummeln die falsche Lösung war und dann alles freiwillig ordnungsgemäß aufessen würde. Doch das heute ging eindeutig zu weit!

Ich musste die 20 Gramm Margarine trotzdem essen. Es gab nur ein „Problem“: Meine zwei Scheiben Brot hatte ich bereits verspeist. Das hieß, entweder aß ich noch eine weitere Scheibe Brot und schmierte die Margarine da drauf oder ich aß sie pur. Ich entschied mich für die ekligere, jedoch kalorienärmere Variante: Ich aß sie pur.

 

Am nächsten Tag hatte ich meine wöchentliche Einzeltherapiesitzung bei meiner Ärztin. Auch ihr war bekannt, dass ich derzeit rebellierte und immer wieder versuchte, Kalorien durch Schummeln zu umgehen. Anders als sämtliche Betreuer machte sie mir jedoch keine Vorwürfe deshalb, sondern fragte mich nach dem Grund, wieso ich ständig Essen am Tisch verschwinden ließ und unaufhörlich in meinem Zimmer Sport trieb. Anfangs hatte ich recht wenig Lust, mit ihr darüber zu reden. Ich war der Meinung, dass sie mich sowieso nicht verstehen würde, und wollte deshalb lieber schweigen. Doch nach einer Weile begann ich mich zu öffnen und erzählte ihr von meinen Ängsten, Bedenken und Gefühlen. Ich redete mir alles, was mich die letzten Tage belastet hatte, von der Seele und entgegen meiner Erwartung hörte sie geduldig zu. Lediglich ab und zu stellte sie kurze Zwischenfragen, um mich besser verstehen zu können. Als ich fertig war, erklärte sie mir, dass die Magersucht im Kopf ganz verrückte Dinge anstellte. Die Essstörung kämpfte um ihr Überleben und da versuchte sie, alle Registerkarten zu ziehen. Außerdem war es laut ihr völlig normal, dass ich Angst hatte, gesund zu werden. Schließlich war die Krankheit für mich eine vertraute Hölle geworden und vertraute Hölle ist einer unbekannten Hölle immer vorzuziehen.

 

Während des Gesprächs fühlte ich mich das erste Mal seit Langem verstanden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739446042
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Borderline Essstörung Depression Psychiatrie Magersucht Bulimie

Autor

  • Laura Adrian (Autor:in)

Laura Adrian wurde am 19.4.1992 in Südhessen, wo sie auch heute wieder lebt, geboren. Ihre Bücher handeln größtenteils von eher "schwierigen" Themen.