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Nur die Hölle könnte schlimmer sein

von Laura Adrian (Autor:in)
267 Seiten

Zusammenfassung

Teil 1: Lucy ist ein ganz normales Mädchen. Eigentlich. Zumindest auf den ersten Blick. Vielleicht ein bisschen schüchtern, ein wenig still, aber mehr auch nicht. Welch trauriges Doppelleben sie führt, welches Geheimnis sie wahrt und wie es unter ihrem dunklen Make-up aussieht, weiß kaum jemand. Über fünf Jahre geht sie durch die Hölle. Sie wird dazu gezwungen ihren Körper zu verkaufen, erfährt Gewalt, wird gedemütigt und erpresst. Bereits im Alter von dreizehn Jahren lernt sie ihren zukünftigen Zuhälter kennen, der sie ein Jahr später, mit gerade einmal vierzehn Jahren zur Prostitution zwingt. Doch davon ahnt in ihrer Schule jedoch niemand etwas … Nicht einmal ihre Familie bekommt zu Beginn etwas mit. Lucy führt ein perfektes Doppelleben. Wobei „perfekt“ in dieser Geschichte eindeutig das falsche Wort ist … Ein Roman, der einen Blick hinter die Fassaden zeigt und das Tabuthema Zwangsprostitution in Deutschland aufgreift. Eine (vielleicht) wahre Geschichte. Meine Geschichte? Der zweite Teil ist im November 2017 erschienen: Barfuß durch die Scherben der Vergangenheit

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Lucy ist ein ganz normales Mädchen. Eigentlich. Zumindest auf den ersten Blick. Vielleicht ein bisschen schüchtern, ein wenig still, aber mehr auch nicht. Welch trauriges Doppelleben sie führt, welches Geheimnis sie wahrt und wie es unter ihrem dunklen Make-up aussieht, weiß kaum jemand.

Über fünf Jahre geht sie durch die Hölle. Sie wird dazu gezwungen ihren Körper zu verkaufen, erfährt Gewalt, wird gedemütigt und erpresst. Bereits im Alter von dreizehn Jahren lernt sie ihren zukünftigen Zuhälter kennen, der sie ein Jahr später, mit gerade einmal vierzehn Jahren zur Prostitution zwingt. Doch davon ahnt in ihrer Schule jedoch niemand etwas … Nicht einmal ihre Familie bekommt zu Beginn etwas mit. Lucy führt ein perfektes Doppelleben. Wobei „perfekt“ in dieser Geschichte eindeutig das falsche Wort ist …

 

 

Ein Roman, der ein Blick hinter Fassaden zeigt und das Tabuthema Zwangsprostitution in Deutschland aufgreift. Eine (vielleicht) wahre Geschichte. Meine Geschichte?

 

 

 

Laura Adrian

 

 

Nur die

Hölle

könnte schlimmer sein!

 

Leben zwischen Zwangsprostitution und Alltag

 

 

Roman

 

 

 

Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig. Original Ausgabe erschienen im August 2017 bei Merlins Bookshop.

 

Copyright © Merlins Bookshop

Korrektorat & Lektorat: Merlins Bookshop

Verlag: Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

Alle Rechte liegen bei Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach

Cover: Merlins Bookshop unter Verwendung eines Fotos von RAWfeelings Photography by Alex Apprich, Model & MUA: Carmen Bannert http://www.rawfeelings-photography.com .

ISBN-13: 978-3-96248-001-1

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung von Merlins Bookshop zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen sowie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1 - Gedankenkarussell (Monolog)

Kapitel 2 - Eine behütete Kindheit

Kapitel 3 - Zeit verändert

Kapitel 4 - Eine nette Internetbekanntschaft

Kapitel 5 - Das erste Treffen

Kapitel 6 - L - wie Liebe oder l - wie leblos

Kapitel 7 - Der Tag danach

Kapitel 8 - Ein bescheidenes Wochenende

Kapitel 9 - Immer erreichbar

Kapitel 10 - Gewaltsamer Übergriff

Kapitel 11 - Probleme über Probleme

Kapitel 12 - Verletzungen der Seele sieht man nicht

Kapitel 13 - Die Ruhe vor dem Sturm

Kapitel 14 - Der Tag, an dem ich mein Lachen verlor

Kapitel 15 - Make-up, Rasierklinge, Lügen und Flucht in eine Routine

Kapitel 16 - Nur starke Menschen zerbrechen

Kapitel 17 - Ein Arzttermin und weitere Sorgen

Kapitel 18 - Ich sehe alles, ich kontrolliere dich!

Kapitel 19 - Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen?

Kapitel 20 - Ein seltsames Treffen

Kapitel 21 - Start der Klassenfahrt

Kapitel 22 - Der letzte Abend in der Jugendherberge

Kapitel 23 - Ein lebendiger Albtraum

Kapitel 24 - Schlimmer geht immer

Kapitel 25 - (V)erkauftes Leben

Kapitel 26 - Hoffnungslos versagt … Die Maske fällt

Kapitel 27 - Die schlimmste Tat

Kapitel 28 - Endstation Krankenhaus

Letztes Kapitel - Nachwort

 

 

 

„Schweig still mein Herz! Ich höre Dich schlagen, doch jeder Schlag tut weh.

Schweig still meine Angst! Ich höre deine Stimme, doch bin ich unfähig zu handeln.

Schweigt still meine Gedanken! Ich höre eure Worte, doch sie ergeben keinen Sinn.

Schweigt still meine Träume! Ich sehe eure Bilder, doch sind sie nicht real für mich.

Schweig still meine Seele! Ich spüre deine Wunden, doch ich kann sie nicht heilen.

Schweig still!“

 

 

Text & © RAWfeelings Photography by Alex Apprich

http://www.rawfeelings-photography.com

Dieses Buch widme ich allen Opfern von häuslicher und/oder sexueller Gewalt, Zwangsprostitution und allen Helfern, die sich für Opfer und gegen Täter starkmachen.

 

Hinweis: Mein Ziel ist es nicht, jemanden an den „Pranger“ zu stellen. Ich möchte niemandem Schuld zuweisen, verurteilen oder Ähnliches. Mit diesem Buch verfolge ich ein ganz anderes Ziel: Ich möchte Aufmerksamkeit! Ich möchte auf das Thema Zwangsprostitution in Deutschland (oder auch in anderen Ländern) aufmerksam machen und zeigen, was die Taten mit den Opfern anrichten, wie lange sie leiden und zu welchen „perfekten“ Überlebenskünstlern die meisten werden. Denn viele Mädchen (oder auch Jungen), die die Hölle auf Erde durchmachen müssen, sind zu grandiosen Schauspielern geworden, die ein anscheinend glückliches Leben führen, immer für andere da sind und ihre wahren Gedanken und Gefühle hinter einer Fassade, einem künstlichen Lächeln verstecken. In den seltensten Fällen sieht man ihnen direkt an, wie schlecht es ihnen wirklich geht.

Des Weiteren ist es mein Ziel, Mut zu machen. Mut hinzuschauen. Das Schlimmste an häuslicher Gewalt, Mobbing, Schlägen, Erpressung oder Ähnlichem ist nämlich, wenn nach Jahren jemand kommt und sagt „Ich habe es immer geahnt …“.

 

Jedes Wegschauen tut den Opfern fast genauso weh wie die Taten selbst. Sicherlich ist es nicht die beste Lösung, sich selbst in Gefahr zu bringen, Selbstjustiz zu üben oder gar selbst zu einem Racheengel zu werden. Davon sollten Sie absehen! Ich meine mit „hinsehen“, dass man den Opfern Hilfe anbieten kann, Beratungsstellen aufzusuchen, Kontakt zur Polizei herzustellen … es gibt viele Anlaufstellen, die unterstützen und beraten können.

 

DURCH WEGSCHAUEN LÖST MAN KEINE PROBLEME!

 

Für alle die Hilfe brauchen, gibt es unter anderem diese Anlaufstelle:

 

Wildwasser Kreis Groß-Gerau e.V.

Verein gegen sexuellen Missbrauch

Darmstädter Straße 101

65428 Rüsselsheim

Tel. 06142/965760

info@wildwasser.de

Kapitel 1 - Gedankenkarussell (Monolog)

 

„Wer bin ich eigentlich?“ Diese Frage habe ich mir schon sehr oft gestellt, aber bis jetzt habe ich noch nie eine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden. Ich weiß, dass ich Lucy Mayer heiße, vor drei Wochen achtzehn Jahre alt geworden bin, dass ich einen Meter siebenundsechzig groß und siebenundsechzig Kilo schwer bin, lange braune Haare habe, dunkelbraune Augen ... aber das sind ja alles äußerliche Merkmale. Das sagt nicht aus, wer ich wirklich bin. Oder vielleicht doch?

Ich bin die Person im Spiegel, doch ist mein Spiegelbild tatsächlich „Ich“. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mir stundenlang über solche sinnlosen Fragen den Kopf zerbrechen kann. Überhaupt denke ich viel zu viel nach. Ich stelle mir Fragen, auf die kaum ein anderer Mensch kommt, ich zweifle an der Realität, meiner eigenen Existenz, versuche zu sterben, will gleichzeitig leben und versuche glücklich zu sein, obwohl ich innerlich zerbreche.

Ich bin einfach verrückt! Oder ist es die Welt, die verrückt ist?

Wieder eine Frage, die mir eine weitere schlaflose Nacht bescheren kann.

Vielleicht liegt das alles daran, dass mein Leben ein bisschen „anders“ ist. Ich bin nicht normal. Eventuell wirke ich nach außen noch halbwegs wie ein normaler Teenager, aber das alles ist Schein, Maskerade. Ich bin nicht die, die ich vorzugeben behaupte. Doch das weiß kaum jemand. Ich führe ein perfektes Doppelleben. Wobei der Begriff „perfekt“ in meinem Leben eigentlich vollkommen fehl am Platz ist. Nichts ist perfekt. Mein Leben ist peinlich, zum Schämen, von Angst durchzogen, von Gewalt, Zwang und dem Wunsch auszubrechen. Wie bereits erwähnt: Bei mir ist nichts normal. Mein „normales“ Leben habe ich vor fünf Jahren verloren. Ich habe es zu Grabe getragen und beerdigt, an diesem Tag wurde mein altes Leben ausgelöscht. Von einem auf den anderen Tag hat sich seitdem vieles verändert. Alles ist anders geworden, aber gleichzeitig ist es doch gleich geblieben. Ein einziges Erlebnis hat mich getötet und mir im selben Moment ein neues Leben beschert. Es ist alles so verwirrend. Manchmal blicke ich da selbst nicht mehr durch.

„Wer bin ich eigentlich?“ Diese doofe Frage geht mir leider nicht mehr aus dem Kopf! Egal was ich mache, sie scheint mich förmlich zu verfolgen. Ununterbrochen kreist sie in meinem Kopf umher. Doch je mehr ich über die Antwort nachdenke, desto mehr scheine ich mich von mir selbst zu entfernen. Ich weiß einfach nicht mehr wer ich bin! Das ist doch bescheuert! Wie kann man sich schließlich selbst verlieren?!

 

Vielleicht – oder hoffentlich! – bringen mir die folgenden Seiten Klarheit. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich werde es ausprobieren. Und wer weiß: Vielleicht ordnet sich dadurch ja mein Gedankenchaos und meine Gefühle sortieren sich neu. Vielleicht entdecke ich zufällig irgendwo unter diesem Trümmerhaufen mein richtiges „Ich“. Vielleicht lebt es ja noch. Vielleicht ist es noch nicht umgekommen und versteckt sich nur irgendwo zwischen den Schuttbergen meiner Vergangenheit und wartet darauf gefunden zu werden. Vielleicht, vielleicht, vielleicht …

 

Dies ist der erste Teil meiner Geschichte. Der Anfang. Der Anfang vom Ende …

Kapitel 2 - Eine behütete Kindheit

 

An meine Kindheit kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen. Unser Haus stand direkt an einer Hauptstraße, aber da es nur eine Kleinstadt war, lebten wir trotzdem relativ ruhig.

Wir – das waren mein Bruder Ben, mein Vater, meine Mutter und ich. Wir alle stellten nach außen hin eine echte Bilderbuchfamilie dar. Meine Mutter war im Elternbeirat der Grundschule, mein Vater arbeitete als gut verdienender Mitarbeiter in einer großen Firma, auf Veranstaltungen wurde ich immer von beiden Elternteilen begleitet, einmal im Jahr gab es einen großen Familienurlaub und jeden Sonntag war Familientag, an dem wir gemeinsam Ausflüge und Unternehmungen machten. Mir und meinem Bruder fehlte es wirklich an nichts.

 

Ein paar Zeilen weiter oben schrieb ich zwar „nach außen hin waren wir eine perfekte Bilderbuchfamilie“, aber auch hinter den Türen gab es bei uns nicht viel zu bemängeln. Sicherlich hatten wir öfters mal kleine Streitereien und besonders mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder geriet ich regelmäßig aneinander, doch in welcher Familie ist das nicht so? Wenn vier Leute unter einem Dach wohnen, ist es manchmal schwierig und erst recht, wenn zwei Leute davon Kinder in der Vorpubertät sind! Oh Gott, was mein Bruder und ich uns alles geleistet haben! Wir haben uns wegen einer Fernbedienung geprügelt, gegenseitig Legosteine geklaut, die Wände angemalt und den anderen ins Bad eingeschlossen und von außen das Licht ausgemacht.

Aber wenn es darauf ankam, dann hielten wir immer zusammen. So wie Geschwister nun mal sind. Wir haben uns geschlagen und vertragen. Doch nie würde ich meinen kleinen Bruder missen wollen. Ab und zu hätte ich ihn zwar zum Mond schießen können, aber sehr wahrscheinlich wäre ich dann in die nächste oder spätestens übernächste Rakete gestiegen, um ihn wieder zurückzuholen.

Und auch mit meinen Eltern war es ähnlich. Es gab immer mal wieder Diskussionen, kleinere Streitereien, aber danach war auch alles wieder gut. Ich glaube, solche Auseinandersetzungen sind in Familien „normal“. Ich habe das nie als besonders schlimm wahrgenommen oder gar deswegen einen Schaden davongetragen. Ich kann über diese wenigen Kleinigkeiten nicht meckern. Sie waren Kinderkram, nichts Großartiges, einfach nur banal.

Es war eigentlich alles super. Das Einzige, was mich ab und zu ein wenig traurig machte, war, dass mein Vater oft arbeiten war. Er hatte eine Anstellung in einer großen Autofirma und war dadurch selten zu Hause. Zwar musste er nie auf Geschäftsreisen, aber dafür arbeitete er im Schichtdienst. Eine Woche hatte er Frühschicht, danach die Woche Spätschicht, dann wieder früh, dann spät – immer im Wechsel. Das war für mich, besonders im Grundschulalter, doof. Eine Woche lang sah ich meinen Vater gar nicht, weil er um zwölf Uhr, wenn ich noch in der Schule war, bereits auf die Arbeit fuhr und erst nach zweiundzwanzig Uhr am Abend zurückkam, wenn ich schon im Bett lag. Und die andere Woche, wenn er Frühschicht hatte, sah ich ihn ebenfalls kaum. Denn wenn er um vierzehn Uhr von der Arbeit kam, verschwand er meistens in die Garage, um an seinem Auto zu schrauben oder sonst etwas an unserem großen Haus mit riesigem Garten zu werkeln. Das fand ich schade. Ich hätte gerne mehr von meinem Vater gehabt, mehr mit ihm gespielt und mehr mit ihm unternommen. Aber immerhin war er an jedem Wochenende zu Hause und hatte da Zeit für mich und meinen Bruder. Außerdem wusste ich ja, dass er arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Ohne Geld kein eigenes Haus, kein großer Garten, keine Ausflüge und so weiter.

Meine Mutter war, bis ich in die 5. Klasse ging, durchgehend zu Hause. Sie widmete sich ganz meinem Bruder, mir und dem Haushalt. Jeden Tag kochte sie frisch für uns und half uns bei den Hausaufgaben. Zusammengefasst kann ich nur wiederholen: Meine Kindheit war echt, wie sie im Buche steht. Ich hatte Eltern, die für mich da waren, war in der Schule beliebt, schrieb gute Noten, hatte täglich Kontakt mit Freunden, tollte im Garten herum, erlebte auf den Feldern und in den Wäldern unserer Kleinstadt Abenteuer, baute Lager und hatte auch sonst alles, was zu einer grandiosen Kindheit dazugehört.

Ich lebte wie eine kleine Prinzessin. Noch wusste ich zwar nicht ganz zu schätzen, was ich alles hatte, doch trotzdem war ich jeden Tag dankbar. Es verging kein Tag, an dem ich nicht lachte. Und selbst wenn ich einmal traurig war und weinte, dauerte es meist nicht lange, bis ich wieder lachte.

Ich würde behaupten, ich hatte eine wunderschöne, unbeschwerte Kindheit. Ich wuchs sehr behütet und mit viel Liebe auf.

Ich muss lachen, wenn ich daran denke, wie ich mit sieben Jahren unbedingt einen Prinzen kennenlernen wollte. Ich wollte eine Prinzessin werden und in ein großes Schloss ziehen. In meinem Garten sollten mindestens zehn Pferde wohnen. Ich hatte mir sogar schon die Namen für diese Pferde ausgedacht! Und auch von meinem Prinzen hatte ich schon genaue Vorstellungen. Er sollte dunkle Haare haben, blaue Augen und ganz viele Muskeln. Schließlich musste er ja täglich die ganzen Pferdeboxen misten und mich im Ernstfall verteidigen können!

Stundenlang übte ich, auf Stöckelschuhen zu laufen und mich vor dem Spiegel wie eine Prinzessin zu bewegen. Jeder Schritt, jede Handbewegung, jeder Haarschwung musste sitzen. Denn im Fall der Fälle musste sich der Prinz innerhalb von Sekunden in mich verlieben. Da durfte ich mir keinen Patzer oder Fehltritt erlauben. Wenn ein Prinz vor meiner Tür stünde, hätte ich nur eine Chance und die dürfte nicht schiefgehen.

 

Wenn ich heute daran denke, wie wohl ich mich damals in meinem Körper gefühlt habe und wie schön ich mich selbst fand, steigen mir Tränen in die Augen. Schon lange kann ich den Anblick meines eigenen Spiegelbildes nicht mehr ertragen. Ich hasse es. Mein Körper widert mich an. Doch damals war ich noch sehr beeindruckt von mir selbst. Ich konnte es kaum erwarten, von einem kleinen Mädchen zu einer jungen Frau zu werden. Ich legte sehr viel Wert auf mein Äußeres, mein Auftreten und mochte mein Spiegelbild. Heute wünsche ich mir oft diese schöne, unbeschwerte Zeit und das Gefühl, sich im eigenen Körper wohlzufühlen, zurück. Ich wünsche mir, dass ich nie erwachsen geworden wäre, nie in die Pubertät gekommen und somit nie an diese bescheuerten Typen geraten wäre. Dann wäre ich nämlich nie abgestürzt, hätte nie angefangen mich selbst zu verkaufen, meinen Körper zu hassen und mir selbst den Tod zu wünschen …

Kapitel 3 - Zeit verändert

 

Wann genau mein Leben begonnen hat sich zu verändern, kann ich nicht genau benennen. Es waren viele Faktoren, die schlussendlich dazu beigetragen haben, dass ich den Lebenslauf hinlegte, den ich hingelegt habe. Am besten beginne ich mit dem Wechsel von der Grundschule auf die Realschule, denn da fingen bereits die ersten Veränderungen an.

 

Nach der 4. Klasse wechselte ich auf die Realschule in unserer Stadt. Meine damalige Klassenlehrerin in der Grundschule meinte zwar, dass ich intelligenzmäßig auch das Können fürs Gymnasium hätte, aber dass die Realschule in unserer Stadt trotzdem besser für mich wäre. Denn würde ich aufs Gymnasium gehen, müsste ich mit dem Bus fahren und dafür würde mir laut ihren Einschätzungen das Selbstbewusstsein fehlen. Ich wäre zu schüchtern und zu ängstlich, um mich im Schulbus gegen die älteren Schüler zu behaupten. Deshalb wäre es besser, wenn ich erst einmal in „Ruhe“ meinen Realschulabschluss machen würde, einen nicht ganz so weiten Schulweg hätte und somit mit keinem Schulbus fahren müsste. In der Realschule unserer Stadt wäre ich deswegen laut ihren Erfahrungswerten und Fachkenntnissen bestens aufgehoben.

Meine Eltern sahen diese Entscheidung ähnlich. Auch sie waren dafür, dass ich nach dem Abschluss der 4. Klasse auf die städtische Realschule wechselte anstatt auf eines der Gymnasien im Umkreis. Ich sollte nicht direkt den vollen Lernstress und Zeitdruck einer weiterführenden Schule abbekommen. Auf einer Realschule wäre ich kognitiv ausreichend gefördert, aber hätte zeitgleich noch die Chance meine Freizeit am Nachmittag zu genießen, positiv zu nutzen und mich selbst weiter zu entwickeln. Ich müsste nicht den gesamten Nachmittag durchlernen oder eventuell sogar Nachhilfeunterricht nehmen, um den Schulstoff zu verstehen, so wie es die meisten Gymnasiasten spätestens ab der 7. Klasse taten.

Mir persönlich war die Entscheidung, ob ich nach der Grundschule auf die Realschule oder ein Gymnasium wechselte, eigentlich relativ egal. Mir war es gleichgültig, ob ich mit einem Bus fahren musste oder nicht. Das einzig schlagfertige und im Endeffekt auch entscheidende Argument für mich waren die Aufstehzeiten. Und da punktete eindeutig die Realschule in unserer Stadt. Denn egal, auf welches Gymnasium ich gehen würde, ich müsste mindestens fünfundvierzig Minuten früher aufstehen, um den Bus zu erwischen, als wenn ich mit dem Fahrrad in die Realschule fahren würde. Und diese fünfundvierzig Minuten weniger Schlaf jede Nacht waren das Gymnasium echt nicht wert!

Außerdem hatte ich nach dem Abschluss der 10. Klasse immer noch die Chance auf ein Gymnasium zu wechseln und mein Abitur nachzuholen. Oder alternativ könnte ich parallel zu meiner Ausbildung auf der Berufsfachschule mein Fachabitur machen. Oder, falls ich das nicht wollte, hätte ich selbst in 20 Jahren noch die Möglichkeit mein Abitur auf einer Abendschule nachzuholen. Also alle Türen standen mir weiterhin offen. Um meinen Werdegang in sechs Jahren nach dem Abschluss meiner mittleren Reife brauchte ich mir noch keine Gedanken zu machen.

Meine Grundschullehrerin berief sich bei ihrer Empfehlung für meine weitere Schullaufbahn wie bereits gesagt, hauptsächlich auf mein mangelndes Selbstvertrauen. Ob ich zu diesem Zeitpunkt wirklich so wenig Selbstvertrauen hatte, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Ich weiß, dass ich nicht gerne im Mittelpunkt stand und eher zu den ruhigeren Schülern zählte, aber so schlimm, wie die Lehrerin mein Selbstvertrauen hinstellte, war es garantiert nicht!

Ja, ich war eine Schülerin, die gerne und viel träumte, sich bei Trubel häufig zurückzog und nicht immer unter Leuten sein musste, aber dennoch besaß ich zu dieser Zeit ein einigermaßen gesundes Selbstvertrauen. Vor allem besaß ich mehr Selbstvertrauen als heute!

Doch nicht nur meine schulische Situation sollte sich nach der 4. Klasse ändern, sondern auch in meinem gewohnten Familienleben sollte es zu Veränderungen kommen. Meine Mutter hatte sich dazu entscheiden, dass mein Bruder und ich nun alt genug wären, um zwei Tage in der Woche nach der Schule ein paar Stunden alleine zu verbringen. Sie wollte wieder arbeiten gehen. Vorerst wollte sie nur montags und donnerstags arbeiten, doch, wenn das gut ging, wollte sie in einem Jahr ihre Arbeitszeit auf einen dritten und später vielleicht auch auf einen vierten Arbeitstag erhöhen. Aber bis dahin sollten mein jüngerer Bruder und ich nur zwei bis maximal drei Stunden an den besagten Tagen alleine sein.

Da meine Mutter ihren Arbeitsbeginn drei Wochen vor dem offiziellen Schulstart des neuen Schuljahres hatte, hatten wir alle noch ein bisschen Zeit uns an die neue Situation zu gewöhnen. Wobei mein Bruder und ich diese Umstellungen im Augenblick durchweg positiv sahen. Denn endlich hatten wir mal unter der Woche sturmfreie Bude und das auch noch regelmäßig! Allein der Gedanke nach Hause zu kommen und „alleine“ zu sein, ließen uns gefühlte zwanzig Zentimeter wachsen. Wir fühlten uns dadurch groß und erwachsen. Die Herausforderungen, eventuellen Probleme und die neue Verantwortung, die dadurch ebenfalls auf uns zukam, blendeten wir aus. Oder wahrscheinlich war uns diese auch gar nicht bewusst. Wir sahen nur die positiven Seiten.

In den letzten drei Wochen der Sommerferien lief diese neue Herausforderung für die ganze Familie tatsächlich perfekt. Meine Mutter ging in ihrem neuen Job als Verkäuferin in einem Stoffgeschäft total auf. Auch wenn sie in der Zeit zuvor nie wirklich unentspannt oder unausgeglichen gewirkt hat, so veränderte sie die neue Arbeit dennoch zum Positiven. Sie wirkte zufriedener und ausgeglichener. Und auch für uns Kinder war es ein Traum, ohne Aufpasser das Haus für uns alleine zu haben. In der Woche, in der unser Vater noch zu Hause war, verlief die Zeit ohne Mama noch halbwegs „normal“. Bei ihm hatten wir zwar auch schon ein paar Freiheiten mehr, zum Beispiel gab es Fastfood zum Mittagessen, wir durften länger an unsere PCs und ins Internet, aber trotzdem gab es noch gewisse Regeln, an die wir uns halten mussten. Doch in der Woche, in der er ebenfalls nicht zu Hause, sondern auf Arbeit war, gab es gar keine Regeln mehr. Mein Bruder beobachtete am Fenster meine Mutter und wartete, bis sie mit ihrem Auto wegfuhr und sobald er das Auto nicht mehr sah, rannten wir gemeinsam in Windeseile zum Fernseher und schalteten ihn an. Selbst beim Mittagessen lief die „Glotze“ wie meine Mutter dazu immer sagte. Wir taten in den sechs Stunden, in denen wir alleine waren, eigentlich alles, was verboten war. Wir schauten morgens schon fern, aßen auf der Couch, plünderten den Süßigkeitenschrank, surften im Internet und spielten stundenlang PC-Spiele. Nur kurz bevor ein Elternteil nach Hause kam, räumten wir eilig alles auf, leerten ein Brettspiel aus und taten so, als würden wir spielen. Oder jeder von uns zog sich in sein Zimmer zurück, nahm ein Buch in die Hand oder legte eine Kassette ein.

Was im Haus passierte, wenn unsere Eltern weg waren, war und blieb unser Geheimnis. Sozusagen unser „Geschwistergeheimnis“. Nie hätte einer von uns daran gedacht, den anderen zu verpetzen, denn dann hätten wir beide Ärger bekommen! Und das wollte keiner von uns!

Als die Schule dann anfing, hatten wir keine Zeit mehr den gesamten Tag vorm Fernseher oder Computer zu verbringen. Schließlich mussten wir vormittags in die Schule. Doch sobald wir zu Hause waren, schalteten wir wieder sofort den Fernseher ein, wärmten uns das vorgekochte Mittagessen in der Mikrowelle auf und aßen bei dem Anblick unserer Lieblingsserie auf der Couch im Wohnzimmer. Uns blieben zwar nur zwei bis drei Stunden zur freien Verfügung – oder wenn unser Vater Frühschicht hatte, und schon um vierzehn Uhr nach Hause kam noch weniger Zeit – aber diese Zeit nutzten wir, um alles Mögliche zu tun. Unser Ziel war es, in diesen sturmfreien Stunden alles zu machen, außer das, was wir tun sollten, nämlich Hausaufgaben.

Nach ein paar Wochen verlor dieses ständige Herumlungern, das zwanghafte Fernsehschauen und ja nicht zu viel bewegen allerdings seinen Reiz. Es war nichts Besonderes mehr nach Hause zu kommen und alleine zu sein, sondern zweimal in der Woche normaler Alltag. Klar hatte es weiterhin seine Vorteile sturmfrei zu haben, aber es war kein „Zwang“ mehr dahinter alles Unerlaubte auszuprobieren. Stattdessen wurden mein Bruder und ich wieder zu lieben und braven Kindern, die zwar weiterhin die Vorzüge auf der Couch zu Essen ausnutzten, und auch danach den Fernseher nicht ausschalteten, aber dennoch nach dem Essen mit ihren Hausaufgaben anfingen.

Das erste Mal wurden mir die tatsächlichen Nachteile zweier berufstätiger Elternteile kurz nach dem ersten Schulhalbjahr bewusst. Ich war nun schon seit knapp sieben Monaten in der neuen Schule, aber hatte noch immer keinen richtigen Anschluss gefunden. Aus meiner alten Grundschulklasse war zwar meine damalige beste Freundin wieder mit mir in die Klasse gekommen, aber außer ihr hatte ich keine weiteren festen Kontakte. Ich lungerte mal hier rum, mal da, unterhielt mich mit Leuten aus der einen Clique und mit Leuten aus der anderen Clique. Ich kam mit jedem aus, doch gehörte nirgends dazu. Ich wurde überall geduldet, aber mehr auch nicht. Ich hatte keine festen Leute, mit denen ich richtig reden – also nicht nur über Hausaufgaben, Schulaufgaben, anstehende Projektaufgaben oder belangloses Zeug – sondern richtig reden konnte. Egal, zu welcher Gruppe ich kam, ich fühlte mich überall als Fremdkörper. Ich war da, aber mehr nicht. War ich weg, interessierte es niemanden. Niemand fragte nach mir, suchte mich oder vermisste mich. Zu Beginn des Schuljahres war mir das alles noch relativ egal, schließlich hatte ich meine beste Freundin, mit der ich ein festes Team bildete, und in der Klasse gab es auch noch keine wirklich festen Gruppen. Alle waren noch in der Gruppenfindungsphase. Doch kurz vor dem Halbjahr änderte sich das. In dieser Zeit begannen sich klaren Gruppen in der Klassengemeinschaft herauszukristallisieren. Es gab die „Coolen“, die schon ihren ersten Freund oder Freundin hatten, ständig über Mode diskutierten und in denen die Mädchen bereits erste Schminkversuche starteten. Dann gab es die „Zocker“, die den gesamten Tag über Computerspiele, neue Windows-Systeme, Technik und so einen Kram diskutierten, die „Anime-Fans“, die selbst im Unterricht ihre Mangahefte nicht aus der Hand legen konnten, und sich sogar teilweise so kleideten wie ihre Lieblingsfiguren, und dann gab es noch die Gruppe der „Allrounder-Normalos“, die ebenfalls eine feste Gruppe bildeten, aber keine festen Wiedererkennungsmerkmale hatten. Und zu guter Letzt gab es meine beste Freundin und mich. Wir gehörten zu keiner Gruppe dazu, aber wurden von allen akzeptiert und das Wichtigste: Wir hatten uns beide. Wir verbrachten jede Pause zusammen, gingen gemeinsam aufs Klo, ließen die andere Hausaufgaben abschreiben, tuschelten zusammen im Unterricht und trafen uns regelmäßig nachmittags nach der Schule, um noch mehr Zeit zusammen zu verbringen. Wir waren unzertrennlich. Zumindest dachte ich das im ersten Halbjahr. Ein paar Wochen nach dem Halbjahreszeugnis sollte sich das alles jedoch schlagartig ändern ...

Vom einen auf den anderen Tag wurde mir meine beste Freundin plötzlich fremd. Sie redete nur noch über Jungs, änderte ihren Kleidungsstil und meinte, dass ich ihr zu langweilig sei. Immer häufiger stand sie in den Pausen bei den „Coolen“ und immer weniger bei mir. Nach knapp vier Wochen grüßte sie mich morgens nicht einmal mehr und setzte sich auch im Unterricht von mir weg. Ab diesem Zeitpunkt saß ich alleine an einem Doppeltisch in der ersten Reihe. An dem sogenannten „Strebertisch“. Und ja verdammt, das war ich auch! Ich war alleine, und ich war eine Streberin! Aber nicht, weil ich stundenlang zu Hause saß und lernte, sondern weil ich ein unwahrscheinlich aufnahmefähiger Mensch war, dem es leicht fiel, schnell Informationen und Lernstoff abzuspeichern. Aber das war meinen Mitschülern egal. Für sie war ich die Streberin aus der ersten Reihe.

Solange ich noch mit meiner besten Freundin befreundet war, trauten sich die anderen kaum, zu mir einen doofen Spruch zu sagen oder mich zu beleidigen, doch das änderte sich nun. Da ich im Unterricht alleine saß und auch in den Pausen häufig alleine auf dem Schulhof herumstand, wurde ich zu einem idealen Opfer für sie.

Zu Beginn waren es lediglich ein paar doofe Sprüche, die ich abbekam, aber da ich mich nicht wehrte, steigerten sich diese anfänglichen Neckereien zunehmend weiter. Bald kamen Beleidigungen dazu, dann wurden mir Stifte geklaut, Spitzerdreck in den Ranzen geschüttet, mein Mäppchen flog aus dem Fenster raus und noch vieles mehr. Meine ehemalige beste Freundin schaute bei all dem tatenlos zu und einmal hörte ich sie sogar sagen, dass sie es bereute, mit so einem „Opfer“ wie mir befreundet gewesen zu sein. Dieser Satz von ihr verletzte mich fast noch mehr als die Streiche und Beleidigungen der anderen Mitschüler. Als ich sie nach dem Unterricht darauf ansprach, antwortete sie lediglich: „Ja Lucy, ist halt so! Du bist so etwas von einem Opfer, du kleidest dich total altmodisch, bist verklemmt, voll der Spießer und dazu noch ein Streber. Ich kann mich nicht mehr mit dir blicken lassen, schließlich gehöre ich jetzt zu den Coolen. Die dulden niemanden wie dich in ihrer Clique.“

Am liebsten hätte ich an diesem Tag, an dem mir meine ehemals beste Freundin „durch die Blume“ unsere langjährige Freundschaft gekündigt hatte, mit meiner Mutter darüber geredet. Zu gerne wäre ich ihr weinend in die Arme gefallen und hätte mich bei ihr ausgeweint. Doch das ging nicht, denn es war Donnerstag und sie war arbeiten. Deshalb zog ich mich – wie in den letzten Tagen schon so oft – allein in mein Zimmer zurück, ließ mich aufs Bett fallen und weinte in mein Kissen.

Zwar hätte ich mit meiner Mutter noch am Abend reden können oder am nächsten Tag, aber irgendwie brachte ich es nicht übers Herz, ehrlich zu ihr zu sein. Meine Mutter war momentan so glücklich mit ihrem neuen Job, freute sich über meine guten Noten in der Schule und war unwahrscheinlich stolz darauf, wie mein Bruder und ich alleine zurechtkamen, wenn sie arbeiten war. Hätte ich ihr jetzt erzählt, dass ich in der neuen Schule ganz und gar nicht zurechtkam, dort keine Freunde hatte, ausgegrenzt wurde, todunglücklich war und nun auch noch meine beste Freundin sich von mir abgewandt und die Freundschaft gekündigt hatte, wäre sie sicherlich traurig geworden. Und das wollte ich nicht! Ich wollte meine Mutter nicht traurig sehen und erst recht wollte ich nicht der Grund für ihre Traurigkeit sein! Außerdem war sie am Abend nach ihrer Arbeit immer so müde, und an den anderen Tagen hatte sie genug im Haushalt zu tun. Nein, ich konnte und wollte ihr nicht die Wahrheit erzählen. So schlimm war das alles ja auch nicht. Ich konnte damit leben. Sicherlich würden auch bald wieder bessere Zeiten kommen.

Woher ich diesen Optimismus nahm, konnte ich selbst nicht sagen, aber dieser unzerstörbare Optimismus sollte mir in den nächsten Jahren noch des Öfteren das Leben retten. Egal, wie scheiße es mir ging, ich hielt immer an dem Glauben fest, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Außerdem zog ich mich lieber in mein Zimmer zurück und weinte alleine, anstatt über meine Probleme und Sorgen zu reden. Ich bildete mir ein, dass meine Probleme Kinderkram waren, ich damit meine Eltern nur unnötig belasten würde und nun mit fast zwölf Jahren nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit zu meinen Eltern rennen konnte. Ich musste anfangen, mein Leben und meine Probleme selbst zu managen. Schließlich redeten doch alle von Verantwortung.

 

Ich glaube, dass dieses „falsche“ Denken bereits ein wichtiger Punkt war, weshalb ich später so tief abstürzte. Ich hatte nie den Mut über meine Probleme zu reden oder Gefühle zu zeigen. Ich fraß lieber alles in mich hinein und machte es mit mir selbst aus.

Ich glaube nicht, dass dieses „nicht reden wollen, beziehungsweise können“ an meinen Eltern oder ihrer Erziehung lag, denn mein Bruder hat ja dieselbe Erziehung wie ich genossen und nicht mit dieser Problematik zu kämpfen. Ich weiß auch nicht, wieso ich immer alles mit mir selbst ausmachen wollte, nie redete, mich nie wehrte und die Fehler grundsätzlich bei mir suchte, aber ich weiß, dass mich dieses Verhalten zu einem perfekten Opfer gemacht hat ...

Wenn ich genauer darüber nachdenke, frage ich mich, ob ich nicht bereits zu dieser Zeit mich selbst verloren hatte? Vor einem Jahr war ich noch das glückliche Mädchen, das überall gemocht wurde, gerne in den Spiegel schaute, lebensfroh war – und jetzt? Jetzt schien ich ein anderer Mensch zu sein!

Gewiss war diese Zeit noch harmlos im Gegensatz zu dem, was ich ein paar Jahre später erlebte, aber im Nachhinein würde ich vielleicht trotzdem diese Phase schon als Anfang vom Ende bezeichnen. Ohne, dass ich es bewusst wahrnahm, hatte ich mich selbst und mein Leben verändert.

Hatte meine Grundschullehrerin vor einem halben Jahr recht? Besaß ich wirklich kein Selbstvertrauen? Oder war es einfach nur eine Verkettung unglücklicher Umstände, die mich in die Rolle des Außenseiters drängten?

Ich denke, das ist schwer zu sagen, doch Fakt war, dass ich mir die negativen Aussagen meiner Mitschüler sehr zu Herzen nahm. Jeder andere Mensch hätte wahrscheinlich gesagt: „Du musst über die doofen Kommentare drüberstehen!“, „Mach dein Ding und lass dich nicht beirren!“, oder „Die sind doch alle nur neidisch auf deine guten Noten!“, doch ich konnte über diese Worte nicht einfach so darüberstehen. Jeden Kommentar, jede Aussage, jede Beleidigung nahm ich mit nach Hause.

Ich fragte mich oft, ob ich tatsächlich so ein verkehrter Mensch war, ob meine Mitschüler nicht vielleicht recht hatten, ich es nicht anders verdient hatte etc. Aber nie fragte ich mich, ob mir nicht eventuell unrecht getan wurde. Nie gab ich meinen Mitschülern die Schuld, wenn ich mich abends in den Schlaf weinte oder nachmittags traurig im Bett lag, sondern selbst in solchen Situationen suchte ich noch die Schuld bei mir.

Dieses Gefühl, selbst für das mobbende Verhalten meiner Mitschüler verantwortlich zu sein, war auch einer der Hauptgründe, wieso ich das alles stillschweigend hinnahm und ich mich niemanden anvertraute. Ja, ich redete mir ein, dass ich es nicht wert war, dass man sich um mich kümmerte, dass meine Eltern und Lehrer sicherlich wichtigere Probleme hatten als sich um mich und meine Sorgen zu kümmern!

Woher dieses plötzliche Loch in meinem Selbstwertgefühl stammte, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich nehme an, dass zu dieser Zeit schlichtweg zu viele Veränderungen, Neuerungen und Probleme auf mich einschlugen. Ich war überfordert, ohne dass ich es mitbekam, und als ich es dann merkte, war es schon zu spät. Echt krass, wie sehr Worte die eigene Selbstwahrnehmung eines Menschen angreifen, ihn verletzen und das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zerstören können! So ein paar unüberlegte Worte können fast schon mehr Schaden anrichten als manche Waffen.

 

Das Mobbing in der Schule wurde für mich zum Alltag. Es wurde eine ganze Weile lang nicht schlimmer, aber auch nicht besser. Es stabilisierte sich. Ich saß weiterhin im Unterricht alleine in der ersten Reihe, war eine Streberin, die durchweg gute Noten schrieb, bekam deswegen von meinen Mitschülern doofe Sprüche zu hören, stand auf den Pausenhof in den Pausen alleine da, bekam regelmäßig Beleidigungen ab, hatte keine Freunde, zog mich zunehmend weiter zurück und weinte fast jeden Abend. An meinem 12. Geburtstag gratulierte mir kaum jemand, aber jeder wollte ein Stück meines mitgebrachten Kuchens essen. Ich war der absolute „Buhmann“ in der Klasse, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Von Woche zu Woche wurde ich unzufriedener mit meinem Leben. Allerdings kam ich immer noch nicht auf die Idee, mit einem Lehrer oder meinen Eltern darüber zu reden. Stattdessen zog ich es vor, mich ins Lernen zu flüchten. Denn ich merkte, wenn ich gute Noten schrieb, wurde ich von den Lehrern gelobt und bekam auch zu Hause von meinen Eltern gesagt, dass sie stolz auf mich und meine Leistungen seien. Das klingt jetzt wahrscheinlich etwas doof, aber dadurch konnte ich dann ausnahmsweise auch ein bisschen stolz auf mich selbst sein.

Nur wenn mich jemand bestätigte und mir mitteilte, dass ich etwas gut gemacht hatte und er oder sie stolz auf mich war, konnte ich ebenfalls stolz auf mich sein.

Bekam ich kein Lob oder Bestätigung zu hören, fühlte ich mich durchweg nutzlos und wertlos. Ich machte mein Selbstwertgefühl extrem von den Ansichten anderer abhängig und begann mich fast nur noch über Leistungen zu definieren. Brachte ich keine Bestleistungen, fühlte ich mich direkt schlecht. Meiner Meinung und meinem Empfinden nach war lernen und gute Noten schreiben das Einzige, was ich konnte. Als ich dann am Ende des Schuljahres eine Auszeichnung als Klassenbeste bekam, fühlte ich mich kurzzeitig richtig gut und geehrt! In diesem Augenblick konnte ich für ein paar Minuten die Beleidigungen und doofen Sprüche meiner Mitschüler vergessen. Schließlich hatte ich etwas geschafft, was sonst niemand aus der Klasse erreicht hatte. Ich war nicht nur „gut“, sondern „die Beste“!

Kapitel 4 - Eine nette Internetbekanntschaft

 

Nach den Sommerferien steigerte sich das Mobbing meiner Mitschüler nochmals drastisch. Zuvor waren es lediglich ein paar Neckereien und doofe, unüberlegte Sprüche, die mir meine Klassenkameraden an den Kopf schmissen, die hauptsächlich auf meinen Sitzplatz in der ersten Reihe und meine überdurchschnittlich guten Noten bezogen waren, doch im neuen Schuljahr wurde das alles anders. Ich stand in den Pausen nicht mehr alleine herum, sondern ich stand in der Mitte und meine Mitschüler standen um mich herum. Ich wurde ausgelacht, mein Ranzen wurde im Kunstunterricht mit Kleister vollgeschmiert, mir wurde gesagt wie hässlich und fett ich sei, es wurde sich über meine Figur lustig gemacht, in den Schulkorridoren wurde ich „aus Versehen“ angerempelt, und wenn ich auf Toilette ging, war, wenn ich wieder heraus wollte, meistens ganz zufällig die Tür verklemmt. Ich war prinzipiell der Sündenbock von allen und die Lachnummer der gesamten Schule ...

Wie ich mich damals gefühlt habe, kann ich gar nicht mehr in Worte fassen. Am liebsten hätte ich in dieser Zeit eine Mütze besessen, die mich, wenn ich sie aufsetzte, unsichtbar werden ließ. Ich wollte einfach nur noch weg. Weg von den Problemen, den Sorgen, meinen doofen Klassenkameraden und vielleicht auch weg von mir selbst.

Meine Eltern bekamen von den zunehmend schlimmer werdenden Mobbingattacken in der Schule sehr wenig bis gar nichts mit. Wie auch? Ich erzählte schließlich nichts. Zusätzlich ging meine Mutter seit dem neuen Schuljahr vier Tage die Woche arbeiten. Bis auf Freitagnachmittag waren mein Bruder und ich somit die ersten paar Stunden nach dem Unterricht alleine daheim. Wobei ich keinen meiner Elternteile die Schuld für meine Verschwiegenheit zuschieben möchte! Bitte nicht falsch verstehen! Ich denke, ich hätte, selbst wenn sie vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar gewesen wären, nicht mit ihnen geredet. Außerdem bekamen meine Eltern sehr wohl mit, dass ich mich veränderte. Besonders meine Mutter fragte häufig nach, wieso ich so traurig schaute, nachmittags nicht mehr mit Freunden draußen war und auch sonst kaum etwas von der Schule erzählte. Aber auf diese Fragen antwortete ich immer, dass alles ok sei und ich lediglich müde wäre. Nervten meine Mutter oder mein Vater dann noch weiter, stand ich auf und verschwand in mein Zimmer. Ich konnte nicht darüber reden. Ich wollte nicht bemitleidet werden und wollte niemanden mit meinen Problemen belasten. Deshalb litt ich lieber still und alleine in meinen privaten vier Wänden unter meiner Zudecke.

 

Mitte Oktober sollte sich mein Leben noch einmal radikal ändern. Mitte Oktober brach für mich meine Welt zusammen. Wobei ... eigentlich tat sie das erst ein paar Wochen später, Mitte Oktober war alles noch rosarot und wunderschön. Kurzzeitig schien alles perfekt zu werden.

In den Herbstferien meldete ich mich in einem sozialen Netzwerk an. Meine Eltern behaupteten zwar, dass ich mit zwölf Jahren noch zu jung wäre, um im Internet ein eigenes Profil zu haben, aber solange sie nichts davon wussten, konnten sie mich ja nicht daran hindern. Außerdem was sollte da schon passieren? Das „gefährliche“ Internet würde mich bestimmt nicht verschlingen. Die Behauptung, dass soziale Netzwerke für mein Alter noch zu gefährlich seien, hielt ich für ein Gerücht. Schließlich besaß fast jeder aus meiner Klasse einen Account und denen ging es auch noch allen gut! Dass nicht das Internet an sich gefährlich war, sondern die Leute, die sich in solchen Netzwerken rumtrieben, daran dachte ich aktuell noch nicht ...

Die ersten Tage in dem sozialen Netzwerk verliefen noch recht unspektakulär. Ich orientierte mich erst einmal in den ganzen Gruppen und Chats und musste die ganzen komischen Begriffe, die dort verwendet wurden, kennenlernen. Doch je mehr Zeit ich in diesem Netzwerk verbrachte, desto sicherer fühlte ich mich und desto mehr getraute ich mich von mir preiszugeben. Auf meinem Profil lud ich ein Foto von mir hoch und schrieb darunter, dass ich schon 15 Jahre alt sei. Warum genau ich das tat, wusste ich selbst nicht, aber ich fühlte mich dadurch cooler.

In den ersten Tagen bekam ich mal hier einen Like für ein Profilbild, mal da einen Like für mein Fotoalbum, in dem ich mittlerweile insgesamt vier Bilder hochgeladen hatte, hin und wieder eine Freundschaftsanfrage und ab und zu eine Spieleaufforderung, aber im Grunde genommen war es noch relativ langweilig und eintönig. Nach einer Woche hatte ich in meiner Freundesliste zehn „Freunde“, die ich zum Teil noch nicht einmal kannte, und insgesamt fünfzehn Likes für meine Bilder bekommen. Ein bisschen stolz machten mich diese Reaktionen auf meine Fotos von zum Teil wildfremden Leuten schon, doch es war nichts, worüber ich mich jetzt extrem freute. Richtige Glücksgefühle löste erst eine Freundschaftsanfrage eines Jungen aus meiner Umgebung aus. Zunächst dachte ich, es sei ein Versehen, dass er mir eine Freundschaftsanfrage gesendet hatte. Schließlich war er schon 19 Jahre alt, sehr, sehr gut aussehend, gut gebaut ... ein wahrer Mädchenschwarm! Also nicht der Typ Mann, der sich im Normalfall mit so einem Mauerblümchen wie mir abgab. Deshalb wollte ich auch erst seine Freundschaftsfrage nicht annehmen. Ich freute mich zwar sehr über die Anfrage, aber irgendetwas konnte da nicht stimmen. Wieso wollte solch ein gut aussehender Typ mit einem so hässlichen Mädchen wie mir befreundet sein? Doch als ich am nächsten Tag erneut im Internet war, erlebte ich ein wahres Wunder. Der gutaussehende Typ, der Cedric Hartmann hieß, hatte alle meine Bilder gelikt und mein Profilbild sogar kommentiert! Mit einem leicht mulmigen Gefühl in der Magengegend und extremen Herzklopfen las ich mir seinen Kommentar durch.

„Wow! Was für eine hübsche junge Frau! (Smiley mit Herzaugen) Ich hoffe, sie nimmt meine Freundschaftsanfrage an!“

Ungläubig las ich den Kommentar direkt ein zweites Mal und anschließend ein drittes Mal durch. Ich konnte nicht glauben, was dort stand! Ich war so unwahrscheinlich glücklich. Mein Grinsen ging von einem Ohrläppchen zum anderen Ohrläppchen, einmal übers gesamte Gesicht und ich spürte, wie mein Herz vor Aufregung gegen meinen Brustkorb hämmerte. Mit zittrigen Händen bestätigte ich über die Maus mit einem Klick seine Freundschaftsanfrage. Dann lehnte ich mich auf meinem Drehstuhl zurück und atmete tief durch.

Ein Junge hatte mir geschrieben, dass er mich hübsch fand! Da hatte ich noch nie von einem Jungen gehört! Normalerweise bekam ich lediglich zu hören, dass ich fett sei (obwohl ich Normalgewicht hatte), dass meine Pickel, die ich ab und zu hatte, abstoßend seien und dass ich mit meiner hässlichen Fresse aussah wie ein Dämon. Die Beleidigungen, die ich in der Schule zu hören bekam, waren unendlich. Hätte ich alle aufgeschrieben, hätte ich garantiert ein ganzes Buch daraus binden können.

Zu gerne hätte ich Cedric direkt angeschrieben und ihm mitgeteilt, wie sehr ich mich über die Internetfreundschaft mit ihm freute. Aber hieß es nicht, dass Männer den ersten Schritt machen sollten? Würde es nicht vielleicht doof kommen, wenn ich ihn jetzt direkt schon anschrieb? Oh Mann! Ich hatte von Jungs doch gar keine Ahnung! Um dem Problem, etwas Falsches zu schreiben, aus dem Weg zu gehen, entschied ich mich deswegen vorerst dazu, mich still zu verhalten und auf eine Reaktion von ihm zu warten. Während ich mit meinen Hausaufgaben anfing, ließ ich den Bildschirm meines PCs jedoch keine Sekunde aus den Augen. Ich fieberte förmlich einer Reaktion von ihm entgegen. Ich konnte mich kaum auf etwas Anderes konzentrieren. Es war, als ob ich Schmetterlinge im Bauch gehabt hätte. Ich war komplett hibbelig und konnte nur sehr schwer still sitzen. Ununterbrochen drehte ich mich auf dem Drehstuhl hin und her und wartete auf eine Antwort. Fast schon im Zehnsekundentakt kontrollierte ich, ob er online war oder eine Reaktion von ihm kam. Doch er ließ mich warten.

Erst kurz vor siebzehn Uhr, gerade als ich meinen Computer schon frustriert abschalten wollte, ging er online. Und dummerweise kam genau in diesem Augenblick auch meine Mutter von ihrer Arbeit nach Hause. Ich hörte ihr freudiges Hallo-Rufen in der Eingangstür und kurz darauf ihre Schritte. Sie kam auf mein Zimmer zu. Eigentlich hätte ich versuchen sollen, den Computer schnellstmöglich auszuschalten, damit ich nicht aufflog, aber das konnte ich nicht machen. Nicht jetzt! Nicht jetzt, wo er gerade online gegangen war!

Eilig öffnete ich eine zweite Internetseite und gab bei der der Suchmaschine das Wort „Zebras“ ein. Wieso ich genau diesen Begriff wählte, konnte ich nicht sagen, aber es war das Erste, was mir einfiel. Gut überlegt war dieser Begriff zwar nicht, aber vielleicht würde mir meine Mutter trotzdem abkaufen, dass wir in der Schule im Biologie-Unterricht gerade das Thema „Zebras“ durchnahmen.

Es klopfte an der Tür und kurz darauf wurde meine Tür mit Schwung geöffnet.

„Hallo Lucy, ich bin wieder zu Hause.“

„Ja Mama, das sehe ich. Kannst du aber das nächste Mal ERST anklopfen, dann auf ein ‚Herein‘ warten und danach die Tür aufmachen und nicht immer direkt in mein Zimmer stürmen?“

Meine Mutter wusste genau, dass ich es hasste, wenn sie, ohne anzuklopfen, die Tür öffnete. Und dieses Anklopfen und trotzdem direkt ohne Aufforderung die Tür aufreißen, war nicht wesentlich besser!

„Ach Lucy, stell dich nicht so an! Ich bin deine Mutter und darf immer in dein Zimmer kommen. Außerdem habe ich dir ebenfalls schon mehrfach erklärt, dass du und dein Bruder maximal eine Stunde am Tag ins Internet dürft, und ihr haltet euch auch nicht daran“, konterte sie.

„Ja, aber das ist etwas Anderes!“, versuchte ich zu widersprechen.

„Nein, ist es nicht“, unterbrach sie mich, „und jetzt machst du deinen PC aus und widmest dich deinen Hausaufgaben.“

Kurz überlegte ich, ob ich eine Diskussion darüber anfangen sollte, ob das tatsächlich zwei unterschiedliche Dinge waren oder nicht. Doch ich entschied mich dagegen. Diese Diskussion war sinnlos. Meine Mutter wollte nicht verstehen, dass ich meine Privatsphäre sehr schätzte und ich es hasste, wenn jemand einfach so, ohne Aufforderung, in mein Zimmer kam. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Wesentliche und versuchte ihr möglichst glaubhaft zu erklären, dass ich das Internet für meine Hausaufgaben brauchte. Anhand ihrer hochgezogenen Augenbrauen konnte ich erkennen, dass sie mir nicht so ganz glaubte, jedoch schien sie kein Argument zu finden, das ihre Zweifel belegten, deshalb erlaubte sie mir notgedrungen, das Internet bis zum Abendessen weiter zu benutzen. Aber nur für schulische Zwecke und auch nur bis es Abendessen gab. Danach war Schluss mit Computer.

„Ich vertraue dir Lucy. Ich hoffe, du belügst mich nicht! Ich kann und will dich nicht kontrollieren, aber sollte ich mitbekommen, dass du mich anlügst und deine schulischen Leistungen darunter leiden, wird das Internet abgestellt. Dann gibt es nur noch kontrollierten Internetzugang für dich und deinen Bruder und keine dauerhaftes Wlan mehr“, redete sie mir noch ins Gewissen, bevor sie aus meinem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Mit genervter Stimme antwortete ich ihr: „Ja, ja, Mama. Ich würde dich nie belügen!“

Meine Mutter hatte die Tür eigentlich schon fast zu, doch nach dieser Aussage steckte sie noch einmal ihren Kopf hinein.

„Ja, ja, heißt so viel wie ‚Leck mich am Hintern‘. Das weiß ich auch. Ich vertraue dir, enttäusche mich nicht!“, lächelte sie mich an und schloss danach die Tür endgültig.

Ein paar Sekunden lauschte ich noch, ob sie sich auch tatsächlich von meinem Zimmer entfernte und nicht vor der Tür wartete, um in zwei Minuten einen erneuten Kontrollblick in mein Zimmer zu werfen. Sie schien allerdings tatsächlich zu gehen. Die Schritte entfernten sich und ein bisschen später hörte ich, wie sie in der Küche mit meinem Bruder redete.

„Puh …“, erleichtert schnaufte ich durch. Das war gerade noch mal gut gegangen! Zu hundert Prozent glaubte sie mir zwar nicht, dass ich das Internet zum Hausaufgabenerledigen brauchte, aber sie konnte mir nicht das Gegenteil beweisen und fragte auch glücklicherweise nicht genauer nach. Zumindest für heute hatte ich Glück und Erfolg mit meiner Taktik.

Sofort wendete ich mich wieder meinem Bildschirm zu. Als ich mich erneut bei dem sozialen Netzwerk einloggte, erschien auf dem Bildschirm die Mitteilung „Sie haben eine neue Nachricht“. Unmittelbar schlug mein Herz wieder zwei Schläge schneller. Voller Vorfreude öffnete ich die Mitteilung:

„Hallo Lucy, vielen Dank, dass du meine Freundschaftsanfrage angenommen hast. Ich freue mich sehr, mit einer so attraktiven jungen Frau wie dir befreundet sein zu dürfen. Deine Fotos sehen echt toll aus! Wie alt bist du eigentlich? Unter dem einen Bild steht 15 Jahre, stimmt das?“

Mein Herz fühlte sich an, als wenn es gleich zerspringen würde. Mein Kopf war wahrscheinlich schon knallrot und meine Hände begannen zu schwitzen. Unglaublich, was so ein Text gefühlsmäßig und körperlich bei mir auslösen konnte! Ich war in meinem Leben noch nie richtig verliebt gewesen und ich glaube so schnell verliebt man sich auch nicht, aber dennoch war ich offensichtlich auf einen ganz guten Weg in Richtung erstes Verliebtsein. Solche körperlichen Reaktionen und merkwürdigen Gefühle kannte ich bis jetzt noch gar nicht! Oje, war das aufregend!

Mit zittrigen und schwitzigen Fingern antwortete ich. Erst überlegte ich, ihm die Wahrheit über mein Alter zu schreiben, aber dann löschte ich den Text und schrieb ihm, dass ich tatsächlich fünfzehn sei. Ich getraute mich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen, schließlich wollte er garantiert nicht mit einer zwölfjährigen befreundet sein! Außerdem war es ja auch keine richtige Lüge, sondern lediglich eine Notlüge!

 

Noch konnte ich nicht genau einordnen, woran ich war. Ob ich tatsächlich verliebt war, oder ob ich mich einfach nur freute, dass so ein cooler Typ mit mir befreundet sein wollte. Ich glaube, in den ersten Tagen war es eher das Letztere. Ich war überglücklich, nicht mehr alleine zu sein, jemanden zu haben, der sich für mich interessierte, der da war, der zuhörte. Und das war Cedric für mich von Anfang an. Er gab mir etwas, was mir im wahren Leben fehlte. Dass er ein absolutes Arschloch war, das gezielt meine Lage ausnutzte und mit meinen Gefühlen lediglich spielte, merkte ich erst viel, viel später. Nämlich erst dann, als es schon zu spät war. … Doch bis wir an diesen Punkt meiner Geschichte kommen, dauert es noch ein bisschen. Jetzt sind wir erst noch am Anfang und zu diesem Zeitpunkt war alles noch rosarot.

Die Zeit bis zum Abendessen verging wie im Fluge. Ständig schrieb ich mit ihm im Chat hin und her. Ich blendete alles um mich herum aus. Es kam mir vor, als wenn ich ihn schon jahrelang kennen würde. Mich mit ihm auszutauschen, fühlte sich total vertraut an. Wir schrieben über alles Mögliche, kamen von einem Thema zum anderen und hätten wahrscheinlich noch stundenlang weiterschreiben können, doch meine Mutter unterbrach pünktlich um 19 Uhr unsere tolle Unterhaltung.

Ihre Essensrufe hallten durchs Haus. Auf den ersten Ruf hatte ich schon mit „Ja Mama, ich komme gleich“, geantwortet, doch als sie jetzt ein zweites Mal nach mir rief, konnte ich sie nicht mehr auf „gleich“ vertrösten. Ich musste SOFORT kommen.

Deprimiert schrieb ich ihm noch, dass ich jetzt zum Abendessen musste, aber morgen direkt nach der Schule wieder online gehen würde. Dann schaltete ich den PC aus und eilte ins Esszimmer, wo mein Bruder schon seine erste Portion Pfannkuchen verspeiste und meine Mutter ungeduldig wartete.

„Warst du etwa bis eben im Internet?“, begrüßte sie mich mit tadelndem Gesichtsausdruck.

„Nein, natürlich nicht. Ich musste nur noch schnell meinen Schulranzen für morgen fertigpacken“, widersprach ich, ohne nachzudenken.

Seit Anfang des Schuljahres hatte ich mir angewöhnt, grundsätzlich zu widersprechen, wenn meine Eltern irgendetwas behaupteten oder fragten. Egal, ob der Widerspruch nun Sinn machte oder nicht. Hauptsache etwas Anderes behaupten und nur nicht derselben Meinung sein wie sie.

„Du darfst nicht lügen!“, maulte mein Bruder mich sofort mit vollem Mund an.

„Und du darfst nicht mit vollem Mund reden!“, fauchte ich zurück und setzte mich auf meinen Stuhl.

„Hört auf zu streiten“, unterbrach meine Mutter unsere aufkeimende Streiterei. „Lucy, du musst nicht lügen. Ich hasse es, angelogen zu werden. Und Ben, du musst dich nicht immer einmischen.“

Genervt lud ich mir eine Portion Pfannkuchen auf meinen Teller. Eigentlich war mir mein Appetit bei dieser tollen Tischstimmung schon wieder vergangen, aber ich wollte keinen weiteren Streit provozieren. Dass Mütter und kleinere Brüder immer so anstrengend sein mussten!

Eine ganze Weile aßen wir schweigend vor uns hin. Keiner schien sich zu getrauen, etwas zu sagen, niemand wusste, welches Thema er anschneiden sollte. Die Stimmung war im Keller.

„Bis du mit deiner Ausarbeitung über Zebras fertig geworden?“, versuchte meine Mutter die Stille zu durchbrechen und mich zu einem Gespräch zu bewegen. Doch ich war in diesem Moment so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht verstand, was sie von mir wollte. „Hä? Welche Ausarbeitung?“, antwortete ich deshalb etwas verwirrt. Als ich dann aber in ihr verdutztes Gesicht schaute, hängte ich schnell hintenan: „Ach so, ja! Damit bin ich fast fertig. Ich habe im Internet einige gute Seiten gefunden, die sehr informativ waren. Ich denke, ich werde morgen damit fertig.“

„Okay, das ist schön. Wenn du noch Hilfe brauchst, können wir gerne noch mal zusammen in ein paar Tierbüchern nachschauen, ob wir dort noch etwas über Zebras finden“, bot sie mir an.

„Ja, nein, ich denke, es ist ausreichend, was ich im Internet gefunden habe“, lehnte ich jedoch dankend ihr Angebot ab. „Das ist ja lediglich eine kleine Ausarbeitung, die ich da machen muss und kein riesiges Referat.“

Dass Eltern immer so nachhaken mussten! Das war echt nervig.

„Okay, wenn ich mir die Ausarbeitung anschauen und noch mal drüber lesen soll, dann sage einfach Bescheid“, versuchte sie noch einen zweiten Anlauf zu starten.

„Ja Mama! Mache ich, aber ich kann das auch alleine! Ich gehe nicht mehr in die Grundschule. Ich bin alt genug“, entgegnete ich ihr mehr genervt, als ich ursprünglich wollte. Ich spürte, dass mich die gesamte Situation nervös machte. Ich fühlte mich in die Enge getrieben.

Meine Mutter schluckte und ich konnte erkennen, dass meine abweisende Reaktion sie sehr traf. Ein bisschen tat es mir nun leid, dass ich sie gerade so angemeckert hatte, aber ich sah es trotzdem nicht ein, mich zu entschuldigen. Denn dafür gab es meiner Meinung nach keinen Grund. Ich hatte schließlich recht, ich war keine kleine Grundschülerin mehr. Ich brauchte sie nicht mehr für meine Hausaufgaben und davon abgesehen gab es ja auch gar nichts, was sie hätte kontrollieren können. Die Ausarbeitung über Zebras war schließlich eine erfundene Notlüge, um länger am PC sitzen zu können und mit Cedric zu chatten.

Das restliche Abendessen verlief – zumindest für mich – schweigend.

Mein Bruder erzählte wie ein Wasserfall, was er heute alles in der Schule erlebt hatte, meine Mutter hörte geduldig zu, und ich stocherte stumm in meinem Essen herum.

Nachdem ich mit meinem Abendessen fertig war, stand ich auf, räumte meinen Teller in die Spülmaschine und verschwand wortlos in mein Zimmer.

 

Innerhalb der nächsten Tage entwickelte ich eine Art neue Routine für mich. Ich ging morgens in die Schule, zählte die Stunden, bis Schulschluss war, eilte anschließend nach Hause, schaltete meinen PC ein und chattete mit Cedric, bis meine Mutter oder mein Vater nach Hause kam. Die Zeit im Chat mit ihm verging unwahrscheinlich schnell. Stunden kamen mir lediglich wie Minuten vor. Obwohl ich ihn bis jetzt nur vom Schreiben kannte, herrschte zwischen uns schon eine Freundschaft. Von Tag zu Tag vertraute ich ihm mehr von meinem Privatleben an. Anfangs erzählte ich ihm lediglich davon, dass meine Mitschüler ein bisschen komisch zu mir waren und meine Eltern ein bisschen spießerhaft. Doch nach und nach rückte ich mit der ganzen Wahrheit raus.

Cedric hörte bei allem, was ich schrieb, geduldig zu und gab mir das Gefühl, dass es nicht an mir lag, dass meine Mitschüler so fies zu mir waren. Allein, dass er da war, gab mir schon ein tolles Gefühl. Das Herzklopfen und die Glückshormone, die durch meinen Körper schossen, wenn ich in Höchstgeschwindigkeit mit meinem Fahrrad nach Hause radelte, um möglichst schnell an meinen PC zu kommen, um mit ihm weiterzuschreiben, entschädigte mich für jede Beleidigung oder Mobbingattacke meiner Mitschüler. Wie bereits gesagt: Wenn ich mit ihm schrieb, konnte ich alle Probleme und Sorgen um mich herum vergessen. Wir hatten eine magische Verbindung zueinander. Seine Worte waren wie Balsam für meine Seele. Es fühlte sich wie tausend Schmetterlinge an, wenn ich mich mit meinem Account bei dem sozialen Netzwerk einloggte und keine fünf Sekunden später von ihm eine Nachricht kam, in der er mich „Süße“ nannte.

 

Auch in der Zeit später, in der ich bereits sein wahres Gesicht kennengelernt hatte, konnte ich mich immer auf ihn verlassen. Egal, was war, er war einfach immer für mich da, hielt sein Wort und bot mir seine Hilfe an. Ob diese Hilfe nun ein offenes Ohr, zuhören, Geld, oder wie später das Zusammenschlagen und Einschüchtern ein paar doofer Mitschüler war, war hierbei egal. Cedric tat wirklich alles, damit es mir gut ging. So gut wie jeden Wunsch las er mir von den Augen ab. Ich glaube, das war auch einer der Gründe, weshalb ich mich so lange nicht getraute, gegen ihn auszusagen. Ich liebte ihn, ich brauchte ihn, und ohne ihn fühlte ich mich alleine und schutzlos. Er war mein Freund, mein Beschützer und später leider auch Zuhälter in einem.

 

In den ersten zwei Wochen, in denen ich mit ihm regelmäßig nach Schulschluss schrieb, lernte ich ihn allerdings als hübschen, netten Kerl kennen, der gerne flirtete und offen zeigte, dass er mich gut fand, aber weiterhin gewisse Grenzen wahrte. Ich mochte ihn sehr und war wahrscheinlich sogar schon in ihn verliebt. Ich fühlte mich wie in einem Meer aus Wolken. Alles schien plötzlich so leicht zu sein. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, dann sehne ich mich nach dieser Leichtigkeit. Damals war meine Welt kurzzeitig wunderschön und rosarot. Doch zeitgleich fällt mir, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, auch auf, dass unsere Unterhaltungen damals sehr einseitig waren. Nicht von den Themen her, sondern vom Erzähler. Während ich ihm mein gesamtes Herz ausschüttete, mein komplettes Seelenleben offenbarte und ihn an jeden Tag meines aktuellen Lebens teilnehmen ließ, erzählte er von sich so gut wie gar nichts. Was wusste ich überhaupt über ihn? Ich kannte sein Profilfoto, wusste, dass er in einer Stadt in meiner Nähe wohnte, dass er vormittags in einer Kfz-Firma arbeitete, dass er ein eigenes Auto hatte ... aber dann hörte es auch schon auf. Er gab nie wirklich Details über sein Privatleben preis.

 

Obwohl ich gefühlsmäßig auf Wolke sieben schwebte, verschlechterte sich meine Laune zu Hause.

Zunehmend häufiger geriet ich mit meinen Eltern aneinander. Sie wussten zwar nicht, was ich im Internet machte und konnten nicht beweisen, dass ich, wenn sie nicht anwesend waren, stundenlang am Bildschirm saß, aber sie ahnten es. Wahrscheinlich hatte mich mein kleiner Bruder verpetzt. Ben war in den letzten Wochen sowieso nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Er behauptete, ich sei „komisch“ geworden und wäre eine voll langweilige Schwester. Er konnte nicht verstehen, wieso ich direkt nach Schulschluss in mein Zimmer verschwand und erst, wenn meine Eltern heimkamen, wieder herauskam. Okay, ich hatte ihn auch schon mehrfach angeschnauzt, wenn er mich beim Chatten störte. Er war bereits ein paar Mal in mein Zimmer gekommen und hatte mich gefragt, ob wir zusammen etwas spielen oder fernsehschauen wollten und ich hatte ihm dann relativ laut und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich keine Zeit und keine Lust hatte, mich mit ihm zu beschäftigen, dass er mir zu kindisch war und, dass er gefälligst auf schnellsten Weg aus meinem Zimmer verschwinden solle. Dabei hatte ich mich wohl etwas in der Lautstärke, im Tonfall und der Wortwahl vergriffen. Das mag sein. Aber dass dieser kleine Giftzwerg mich deshalb gleich verpetzen musste! ...

Doch nicht nur meine „Computersucht“, wie meine Mutter und mein Vater meine ständige PC-Nutzung beschrieben, war ein Diskussionsthema, sondern auch meine schlechte Laune, mein Aussehen und meine angeblich fehlenden Freizeitbeschäftigungen. Grob gesagt könnte man zusammenfassen, dass meine Eltern aktuell so gut wie alles an mir kritisierten! Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit, aber es kam mir eben so vor, als würden ständig alle auf mir herumhacken. Der Einzige, der gefühlt immer zu mir stand, war Cedric. Er meckerte nicht, wenn ich geschminkt in die Schule ging, sondern fand es toll. Er schimpfte nicht, wenn ich meine Hausaufgaben erst abends vorm Zubettgehen machte, sondern sagte, das wäre in meinem Alter „normal“. Er erklärte mir, dass ich nicht mies drauf wäre, sondern lediglich eine normale Reaktion auf das übertriebene Verhalten meiner Eltern zeigte. Kurz: Er stand hinter mir, bestärkte mich und gab mir teilweise sogar noch Tipps, wie ich meine Eltern weiter austricksen konnte.

 

Nach und nach bröselte die anfangs gute Beziehung zwischen mir und meiner Familie. Fast täglich gerieten wir, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, aneinander. Ich zog mich von ihr – oder eigentlich von meiner gesamten Umwelt – zurück und vertraute nur noch Cedric. Es ist krass, aber ich glaube, bereits in diesem Stadium hatte er eine enorme Macht über mich. Er trieb gezielt einen Keil zwischen mich und meine Eltern und auch später versuchte er, weiterhin dafür zu sorgen, dass ich niemand anderem als ihm vertraute. Er war und blieb der einzige Mensch, dem ich alles glaubte und dem ich blind mein Leben in die Hand gab. Obwohl er mich regelmäßig enttäuschte, verletzte und am Ende fast umbrachte, war ich ihm hörig.

 

Eines Abends kam meine Mutter zu mir in mein Zimmer. Ich lag bereits im Bett. Zaghaft klopfte sie an meine Tür und wartete auf mein „Herein“. Völlig perplex über diese plötzliche Wesensverwandlung von ihr setzte ich mich auf.

„Lucy, wir müssen reden“, begann sie und setzte sich neben mich auf die Bettkante, „Auch, wenn du es mir wahrscheinlich nicht glauben magst: Ich war auch mal jung. Ich war genauso ein Teenager wie du. Ich fand damals ebenfalls doof, was meine Eltern zu mir gesagt haben, ich war prinzipiell anderer Meinung, ich wollte rebellieren und so weiter. Also, ich kann deine Lage nachvollziehen. Erwachsenwerden ist nicht leicht. Die Gefühle spielen verrückt, der Körper verändert sich, es kommen neue Anforderungen hinzu, aber da muss jeder irgendwann durch.“ Sie machte eine Pause beim Sprechen. „Dein Vater und ich, wir respektieren dich so, wie du bist und wir wollen dich bei deinem Weg unterstützen – aber momentan haben wir das Gefühl, dass du uns entgleitest. Du veränderst dich und wir wissen noch nicht, ob diese Veränderungen so gut für dich sind …“

Sie schaute mich an. In ihrem Blick konnte ich sehen, dass sie leicht besorgt war. Schnell schaute ich auf den Boden. Bloß kein Mitleid aufkommen lassen! Cedric hatte mich ja bereits vor solchen Gesprächen gewarnt. Er sagte, meine Eltern würden in solchen Situationen versuchen, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie würden nicht wollen, dass ich eine eigene Meinung hätte. Ich sollte brav sein, auf sie hören, mich anständig benehmen etc. Aber wenn ich das machen würde, dann würde ich den ganzen Spaß im Leben verpassen, nie Freunde finden, eine ewige Außenseiterin bleiben und mit dreißig Jahren immer noch bei ihnen in meinem Kinderzimmer wohnen. Sie wollten mich manipulieren. Nur weil ihre Jugend langweilig war, wollten sie nun auch mir jeglichen Spaß verbieten. Er hatte recht! Ich durfte nicht auf ihre Aussagen hören! Sie logen mich an, und wenn sie von meinem Kontakt zu ihm wissen würden, würden sie mir wahrscheinlich den Kontakt zu ihm verbieten. Aber ich war schlauer als sie! Weil er mich gewarnt hatte, wusste ich von ihrem hinterhältigen Plan!

Ohne meinen Blick vom Boden abzuwenden, fragte ich: „Aus welchen Psychologieratgeber hast du denn diese Aussagen?“, und hängte hintenan, „ich lasse mir nichts mehr vorschreiben. Nur, weil du als Jugendliche brav warst und gemacht hast, was deine Eltern von dir wollten, heißt das nicht, dass ich das ebenfalls tun muss! Es ist mein Leben und nicht deines!“

„Lucy, …“, entgegnete meine Mutter geschockt und war bestürzt über meine Reaktion. „Was erzählst du denn da? Klar ist es dein Leben, aber wir sind deine Eltern. Du bist erst zwölf Jahre alt, und wir wollen wissen, was los ist.“

„Einen Scheiß wollt ihr!“, unterbrach ich sie, „ihr findet ja eh alles doof, was ich mache!“

Sie schluckte: „Mensch Kind, ich will doch nur mit dir reden …“

„Ich will aber nicht reden! Ich will schlafen, gehe bitte aus meinem Zimmer, gute Nacht!“, maulte ich, ließ mich provokant ins Bett fallen und zog mir die Zudecke über den Kopf.

Kurz schien sie zu zögern, doch dann stand sie auf und ging zur Tür. Sie seufzte: „Egal was ist, du kannst jederzeit zu mir oder deinem Vater kommen. Wir stehen hinter dir.“ Dann schloss sie die Tür und ging.

Salzige Tränen rollten über meine Wangen. Dieser Streit fühlte sich falsch an. Obwohl ich mich so verhalten hatte, wie Cedric es mir gesagt hatte, hatte ich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Ich mochte meine Eltern, und so abweisend zu meiner Mutter zu sein, tat mir in der Seele weh. Doch wie Cedric sagte: Meine Eltern taten mir nicht gut. Sie wollten mich kontrollieren und manipulieren. Wenn ich beliebt, selbstbewusst und stark sein wollte, durfte ich nicht auf sie hören!

Kapitel 5 - Das erste Treffen

 

Ich fühlte mich alleine. Keine Ahnung wieso, aber gerade jetzt sehnte ich mich extrem nach einer Umarmung. Durch den Streit fühlte ich mich massiv schlecht.

Mehrmals drehte ich mich im Bett von einer Seite auf die andere, doch meine Liegeposition änderte nichts an meinen Gefühlen und Gedanken. Nach ein paar Minuten hörten zwar meine Tränen auf zu laufen, aber wirklich besser ging es mir trotzdem nicht. Nach noch ein paar weiteren Minuten entschloss ich mich deshalb aufzustehen.

Wie mechanisch gesteuert ging ich zu meinem PC. Mir war egal, dass ich um diese Uhrzeit nicht mehr an den Computer durfte, mein Vater oder meine Mutter mich vielleicht erwischen könnten, und dass es dann dementsprechend Ärger geben würde. Mir war gerade nur eine Sache wichtig: Ich hatte Redebedarf und wollte Cedric schreiben!

Ich konnte es kaum erwarten, bis der PC hochgefahren war. In Gedanken betete ich, dass er online sein würde. Wäre er nicht online, wüsste ich nicht, wie ich reagieren würde. Er musste einfach online sein!

Ich hielt die Luft an. Hastig gab ich mein Passwort ein. Puh, Glück gehabt, es war ein grüner Punkt neben seinem Namen. Das hieß, er war online! Sofort schrieb ich ihn an: „Hi Cedric, meine Mutter war gerade bei mir. Sie sagte, ich hätte mich verändert … Wir haben uns gestritten … Jetzt geht es mir richtig schlecht deswegen …“

Unmittelbar, nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, wurde mir angezeigt, dass er die Nachricht erhalten und gelesen hatte und nun antwortete. Und diese Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Hi Süße, so spät noch online? Du hast keinen Grund dich schlecht zu fühlen. Deine Eltern engen dich total ein, du MUSST ausbrechen. Deine Mutter will dir wahrscheinlich nur ein schlechtes Gewissen einreden, weil du nicht mehr nach ihrer Pfeife tanzt, aber lass das nicht zu! Du bist so hübsch, du solltest nicht traurig sein! Soll ich dich morgen nach der Schule abholen? Dann können wir in Ruhe reden und ich kann dich ein bisschen in meinen Armen trösten, grinsendes Smiley.“

Ich schluckte. Wow … Hatte er mich gerade tatsächlich nach einem Date gefragt? Das überwältigte mich jetzt. Ich wusste, dass er mich mochte, dass ich ihn mochte, dass wir gerne und viel miteinander schrieben, aber zwischen schreiben und im realen Leben treffen war meiner Meinung nach noch ein riesiger Unterschied!

Ich zögerte. Klar wollte ich ihn treffen! Klar wollte ich ihn in echt kennenlernen! Aber dennoch ließ mich irgendetwas zögern. Und dieses Zögern wurde nicht alleine von meiner Angst, dass er mich nicht attraktiv genug finden oder merken würde, dass ich doch keine fünfzehn Jahre, sondern erst zwölfeinhalb Jahre alt war, ausgelöst. Es war eine andere Unsicherheit. Eine Unsicherheit, die ich nicht benennen konnte.

Natürlich sagte ich ihm das Treffen trotzdem zu. Wie hätte ich einem Date mit so einem coolen, gut aussehenden, sympathischen jungen Mann auch widerstehen können? Ich liebte ihn, seine Art, seine Worte, die regelmäßigen Chats mit ihm – einfach alles! Er verstand es, mich in seinen Bann zu ziehen. Er ließ mich Dinge fühlen, die bisher kein anderer Junge bei mir ausgelöst hatte. Ja, ich glaube, ich war echt verliebt. Er war mein Schwarm! Gestern Abend hatte er mir noch so viele tolle Komplimente gemacht, dass ich anschließend kaum noch schlafen konnte. Meine Welt war pink mit Glitzersternchen und bunten Schmetterlingen!

 

Die Schulstunden kamen mir am Tag unserer ersten Verabredung mindestens doppelt so lang vor wie sonst. Gedanklich konnte ich dem Unterricht schon seit der ersten Stunde nicht mehr folgen. Ich träumte. In Gedanken malte ich mir das perfekte Date mit ihm aus. Wir hielten Händchen, er trug mich auf seinen Händen und behandelte mich wie eine Prinzessin. Einfach alles war in meinen Vorstellungen so, wie ich es mir bereits als Kind ausgemalt hatte. Nur eben nicht mehr ganz so kitschig mit Prinz und Prinzessin, sondern eben mit Lucy und Cedric.

Nach sechs Stunden Unterricht, die sich wie Kaugummi zogen, war es endlich so weit. Die Schulglocke läutete und ich konnte den dicken, hässlichen Schulmauern entfliehen. Bereits seit einer Stunde ging mein Herzschlag doppelt so schnell wie normal, mein Bauch kribbelte und ich bekam einen Schweißausbruch nach dem anderen. Wie würde er auf die echte Lucy reagieren? Nun, ich würde es endlich in ein paar Sekunden herausfinden!

Ich schleuderte den Ranzen auf meinen Rücken, eilte die Treppe hinunter und den Weg entlang zu den Fahrradständern, wo ich mit ihm für dreizehn Uhr verabredet war. Da leider relativ viele Klassen um diese Uhrzeit Schulschluss hatten, war es gar nicht so leicht, ihn unter all den Leuten zu entdecken. Doch dann sah ich einen Jungen, der seinem Profilbild sehr ähnlichsah. Diese Person hatte zwar ein paar Kilo mehr, keinen super Sixpack, sondern eher ein kleines Bäuchlein unter dem Pulli, aber anhand des Gesichts erkannte ich, dass er es sein musste. Auch wenn er in der Realität schätzungsweise fünf bis zehn Kilo mehr auf den Rippen hatte, als auf seinem virtuellen Profilbild, sah er dennoch verdammt heiß aus! Er war ja auch nicht dick, sondern nur nicht ganz so perfekt durchtrainiert.

Mit einem breiten Lächeln lief ich auf ihn zu.

Zunächst schien er mich nicht zu erkennen, doch als ich kurz vor ihm stand begrüßte er mich: „Lucy? Hi!“

In seiner Stimme hörte ich einen leicht skeptischen Unterton, der auch mich skeptischen werden ließ. Er breitete seine Arme aus und umarmte mich kurz zur Begrüßung.

„Hi noch mal. Sorry, dass ich dich nicht direkt erkannt habe. Ich dachte, du seist etwas größer.“

Beschämt blickte ich zu Boden. Für eine Millisekunde überlegte ich, ihm die Wahrheit über mein Alter zu verraten, doch dann entschied ich mich dagegen und log: „Ja, ich bin nicht gerade die Größte. Auch in meiner Klasse bin ich die Kleinste.“

„Kein Problem. Das ist kein Grund, weshalb du dich entschuldigen musst!“, unterbrach er mich, „was wollen wir heute noch machen?“

Nach noch ein paar weiteren kleinen, kurzen Wortwechseln beschlossen wir erst einmal zu seinem Auto zu gehen. Was genau wir machen wollten, wussten wir noch nicht, aber in seinem Auto wäre es wenigstens gemütlicher, als hier an den Fahrradständern herumzustehen.

Sein Auto war nicht sonderlich groß. Es zählte zu der Gruppe der Kleinwagen. Aber dafür war es ordentlich getunt. Die Heckscheibe und die hinteren Seitenscheiben waren dunkel getönt, die Reifen besaßen teure Felgen und der gesamte Kofferraum wurde von einer gigantischen Lautsprecherbox und einem Subwoofer ausgefüllt.

Cedric öffnete mir die Tür und ließ mich auf der Beifahrerseite einsteigen, bevor er auf der Fahrerseite einstieg.

Das Innere des Autos roch stark nach Rauch und im Fußraum lagen zwei leere Zigarettenschachteln. Als er meinen Blick auf die leeren Zigarettenverpackungen sah, fragte er: „Rauchst du?“

„Nein“, ich schüttelte meinen Kopf.

Er grinste. „Braves Mädchen. Du hörst darauf, was deine Eltern sagen.“

Dann griff er in seine Hosentasche und zog eine volle Schachtel raus.

„Magst du jetzt eine?“

Ich schüttelte wieder den Kopf.

„Tja, wer nicht will, der hat halt schon“, neckte er mich.

Dann zog er sich eine Zigarette raus und zündete sie an. Während er rauchte, spürte ich, wie mich seine Blicke von oben bis unten musterten. Irgendetwas war an seinen Blicken komisch. Ich hatte nicht direkt Angst, aber ich fühlte mich auch nicht wohl. Ich nahm meinen Ranzen, den ich zuvor zwischen meinen Füßen verstaut hatte, auf den Schoß. Das gab mir das Gefühl seine kritischen Blicke etwas abhalten zu können.

Er pustete eine große Rauchwolke aus und seufzte: „Lucy, du musst dich nicht verstecken. Mir gefällt, was ich sehe. Außerdem musst du mich nicht anlügen. Du bist keine fünfzehn Jahre. Wie alt bist du wirklich? Zwölf? Dreizehn? Mich kannst du nicht belügen. Ich kenne mich mit Frauen aus.“

Sofort spürte ich, wie mein Kopf knallrot wurde. Ich wurde enttarnt. Ohne meinen Blick zu erheben, antwortete ich: „Fast dreizehn …“, innerlich rechnete ich schon fest damit, dass er mich nun aus dem Auto schmeißen und nie wieder ein Wort mit mir reden würde.

Im Augenwinkel nahm ich wahr, wie er seine Zigarette aus dem Fenster schnippte und mich weiterhin anstarrte.

Er seufzte: „Naja, ich bin ja auch nicht so schlank wie auf meinen Profilbildern im Internet und Alter ist ja nicht alles.“

Er kurbelte das Fenster hoch und startete den Motor.

„Hast du Lust ein bisschen am Festplatz abzuhängen? Da können wir Musik hören und chillen“, fragte er.

Doch im Grunde genommen brauchte ich gar nicht zu antworten, denn als er mit seiner Frage fertig war, waren wir bereits unterwegs.

 

Die Musik dröhnte in meinen Ohren, der starke Bass ließ den Sitz vibrieren und Cedric rauchte bereits seine dritte Zigarette. Schon seit über einer Stunde saßen wir in seinem Auto, das er am Rande vom städtischen Festplatz abgestellt hatte, und hörten laut Musik. Ab und zu philosophierten wir ein bisschen über Gott und die Welt, doch die meiste Zeit schwiegen wir und hörten auf die Texte des Rappers, die aus den Boxen schallten.

Anfangs fühlte ich mich noch ein wenig fehl am Platz neben ihm. Ich wusste nicht, ob es tatsächlich richtig war, zu einem fast fremden Mann ins Auto zu steigen und mit ihm den Nachmittag zu verbringen. Aber nach und nach legte sich dieses unsichere Gefühl. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. Obwohl wir uns heute das erste Mal sahen, kam es mir so vor, als würden wir schon seit Wochen, Monate oder sogar seit Jahren Nachmittage zusammen verbringen. Ohne großartige Worte, Gesten oder aufwendige Geschenke brachte er mich innerhalb kürzester Zeit dazu, ihn zu lieben und ihm zu vertrauen.

 

Wie genau er das schaffte, ist und bleibt mir bis heute größtenteils ein Rätsel. Das Einzige, was ich damals wie heute bewusst wahrnahm, war, dass er immer dann da war, wenn ich jemanden zum Reden oder Zuhören brauchte, Probleme hatte, in der Patsche steckte oder Ähnliches. Heute verurteile ich ihn zutiefst für das, was er mir angetan hat. Zumindest manchmal ... wenn es mir gelingt, seine Worte aus meinem Kopf zu verdrängen und mein „gesunder Menschenverstand“ in meinen Gedanken auftaucht. Aber trotzdem liebe ich ihn immer noch. Ich kann ihn einfach nicht hassen ... und besonders, wenn ich in einer misslichen Lage stecke, wünsche ich mir ihn oft zurück. Denn – auch wenn es krass klingt – Zuhälter sind Menschen, die IMMER und ÜBERALL da sind, die bei kleineren und größeren Problemen helfen, finanziell gut aufgestellt sind und einen nie im Stich lassen. Wenn ich mir den letzten Satz durchlese, frage ich mich, ob bei mir alle Sicherungen rausgeknallt sind, denn kein „normaler“ Mensch würde so über einen Zuhälter denken, doch es entspricht leider der Wahrheit. Gewiss gibt es auch Zuhälter, die ihre „Mädchen“ ausschließlich mit körperlicher Gewalt, Schlägen und Strafen züchtigen, doch es gibt auch andere. Ob es im Endeffekt harmloser und weniger schmerzhaft ist, emotional unter Druck gesetzt zu werden, anstatt mit körperlicher Gewalt, darüber lässt sich jedoch streiten. Ich glaube, wenn es um das Thema Prostitution beziehungsweise Zwangsprostitution geht, gibt es kein harmlos, kein besser oder schlechter. Alles fühlt sich scheiße an und ist strafbar.

 

Doch bis jetzt verhielt sich Cedric ja noch vorbildlich. Nichts wies momentan darauf hin, dass er mir wehtun oder mich zu etwas zwingen könnte, was ich überhaupt nicht mochte.

Pünktlich um 15:30 Uhr startete er den Automotor, um mich nach Hause zu fahren.

Dieser Nachmittag war einer der schönsten Nachmittage seit Langem für mich. Ich hätte noch stundenlang mit ihm im Auto sitzen und Musik hören können. Aber leider ging das nicht. Ich musste nach Hause. Meine Mutter wusste schließlich nicht, wo ich war, und wäre sie nach Hause gekommen und hätte gemerkt, dass ich nicht da war, hätte sie sehr wahrscheinlich die gesamte Welt verrückt gemacht. Und darauf konnte ich verzichten! Ich brauchte nicht jeden Tag Stress mit meinen Eltern.

Einige Meter von meinem Wohnhaus entfernt parkte er sein Auto auf dem Bordstein.

Wehmütig schaute ich auf die Uhr. 15:40 Uhr. In spätestens zwanzig Minuten würde meine Mutter von der Arbeit kommen.

„Sehen wir uns morgen wieder?“, unterbrach er meine Gedanken.

„Hmmm … glaube nicht …“, antwortete ich mit einem Seufzen. „Ich muss morgen für die Matheklausur lernen. Außerdem ist morgen Mittwoch. Da kommt meine Mutter schon um vierzehn Uhr nach Hause.“

„Das ist aber schade“, entgegnete er mit übertrieben theatralisch nach unten gezogenen Mundwinkeln.

„Ich möchte dich gar nicht gehen lassen. Am liebsten würde ich dich mit nach Hause nehmen.“ Er grinste. „Aber Schule geht natürlich vor! Mathematik war noch nie meine Stärke.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich kann lediglich sagen: Dich gibt es nicht mal zwei, du bist einzigartig, ich würde dich nie teilen, deine Schönheit liegt bei hundert Prozent, deine Kurven sind perfekt, da gibt es nichts zu diskutieren, und egal, wie ich die Gleichung aufstelle, immer stehst du an erster Stelle.“

Ich musste lachen und spürte, wie mein Kopf knallrot wurde. Beschämt und peinlich berührt blickte ich auf die Fußmatte. Mit einem so eindeutigen Kompliment hatte ich nicht gerechnet.

„Danke“, antwortete ich leicht sprachlos. „Ich würde mich morgen ebenfalls lieber mit dir treffen, anstatt meinen Nachmittag mit Parabeln und Formeln zu verbringen. Aber was muss, das muss.“

„Ja, ist kein Problem“, unterbrach er mich. „Ich meine das ernst: Schulbildung ist wichtig. Da stelle ich mich gerne hinten an. Egal, was ist, die Schule darf nie vernachlässigt werden!“ Dann machte er eine kurze Pause beim Sprechen und ergänze: „Und das andere meine ich auch ernst. Du bist wirklich perfekt!“

Ich zuckte zusammen. Während er sprach, hatte sich seine Hand meiner Hand genähert. Er streichelte meinen Unterarm und ging nun an meinen Oberarm Richtung Gesicht. Ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl breitete sich um meinen Magen aus. Unter normalen Umständen hätte ich der Situation vielleicht seinen Lauf gelassen, doch unter Anbetracht dessen, dass meine Mutter in circa zehn Minuten hier wäre, wich ich seiner Hand aus. Aber nicht nur seine Berührung ließ mich zusammenzucken, sondern auch die Art wie er den Satz „Du bist wirklich perfekt“ betonte. Es hörte sich so an, als würde er nicht über mich, sondern über einen Besitz oder einen Gegenstand sprechen. Diese seltsamen Gedanken verwarf ich jedoch unverzüglich wieder. Denn diese Vorstellung war vollkommen absurd! Wie kam ich überhaupt auf solch eine merkwürdige Überlegung?

Allerdings gelang es mir nicht, diese Erinnerung an die nachdenkliche Betonung des Satzes, vollständig aus meinem Gedächtnis zu löschen. Zwar zerbrach ich mir an diesem und in den nächsten Tagen nicht mehr den Kopf darüber, doch zu gegebenem Zeitpunkt sollte mir diese kleine, unscheinbare Kleinigkeit wieder in Erinnerung kommen.

Als er merkte, dass ich seinen Berührungen auswich, zog er schnell seine Hand zurück. „Entschuldigung, ich sollte nicht so voreilig sein.“

Ich schüttelte den Kopf und beschwichtigte ihn: „Ist schon gut. Ich habe mich nur erschreckt.“ Dann lächelte ich ihn noch ein letztes Mal an, bevor ich aus dem Auto ausstieg.

„Tschüss Süße, es war ein toller Nachmittag mit dir!“

„Ja, fand ich auch“, rief ich ihm noch zu und ergänzte, „den müssen wir unbedingt wiederholen!“

Kapitel 6 - L - wie Liebe oder l - wie leblos

 

Das Date mit Cedric hatte bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich fühlte mich plötzlich viel erwachsener. Zwar war er noch nicht mein richtiger Freund, doch ich spürte, dass aus unserer Freundschaft eventuell sehr bald mehr werden würde.

 

Noch an diesem Abend und auch am folgenden Tag nach der Schule schrieben wir uns ständig Nachrichten. Ich konnte kaum noch Konzentration aufbringen, um für meine Klausur zu lernen. Aber das war mir auch egal. Wenn ich mit Cedric chattete, war eh alles andere unwichtig. Die Klausur morgen würde ich schon überstehen. In Mathe war ich sowieso sehr gut. Da würde es nicht viel Schaden anrichten, wenn ich anstatt einer Eins lediglich eine Drei schrieb.

Vor dem Einschlafen warf ich noch einen kurzen Blick in die Formelsammlung, doch ich spürte, wie meine Gedanken bereits nach Sekunden schon wieder abschweiften. Liebe war echt ein komisches Gefühl! Noch nie zuvor hatte ich mich so gut und so leicht gefühlt. Jedes Kompliment von ihm zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Allein, wenn ich an ihn dachte, musste ich schon grinsen und tausend Glückshormone fluteten meinen Körper.

Er war meine erste Liebe und ja, ich war mir absolut sicher: Er war auch eindeutig die Liebe meines Lebens! Davon war ich überzeugt. Ich vertraute ihm blind, egal, was er sagte, ich glaubte ihm jedes Wort. Schließlich gab er mir Halt, erklärte mir jeden Tag, wie lieb er mich hatte, was er für mich empfand und wie attraktiv er mich fand. So etwas konnte kein Mensch erfinden oder vorspielen. Wie falsch er in Wirklichkeit war, erahnte ich nicht.

Heute bereue ich es zutiefst, dass ich die vielen, kleinen, unscheinbaren Hinweise auf seine Hintergedanken ignorierte oder nicht wahrhaben wollte, doch damals war ich wortwörtlich blind vor Liebe. Ich sah die vielen Hinweise nicht und redete mir alles schön.

 

Die Mathearbeit am nächsten Tag lief bescheiden. Nun ärgerte mich doch, dass ich nicht gelernt hatte. Die Fragen und Aufgaben waren verdammt schwer. Nach einer Stunde hatte ich gerade einmal eine Aufgabe gelöst, aber dafür schon vier Blätter zerknüllt und das fünfte Blatt zerriss ich gerade. Es war verdammt ärgerlich!

Lisa, meine ehemalige beste Freundin, saß neben mir. Normalerweise war ich nicht der Typ, der von anderen abschrieb. Normalerweise versuchten alle, von mir abzuschreiben. Doch gerade sah ich keine andere Lösung. Wenn ich keine Sechs kassieren wollte, brauchte ich Lösungen! Vorsichtig wanderte mein Blick in Richtung Lisas Arbeitsblätter. Bevor ich jedoch irgendetwas davon lesen konnte, griff sie nach ihren Blättern und legte sie an das andere Tischende. Flehend blickte ich sie an.

„Na, weiß der Streber etwa die Lösungen nicht?“, grinste sie mich fies an.

Ich zog die Augenbrauen hoch und formte mit meinen Lippen ein leises „Bitte“.

„Nein!“, sagte sie nun etwas lauter, sodass Herr Krause, unser Mathelehrer, interessiert in unsere Richtung schaute, und fragte: „Lucy, Lisa, gibt es ein Problem?“

„Nein, Herr Krause, mir ist nur mein Stift heruntergefallen“, log ich schnell und funkelte sie böse an.

Ich wusste nicht, wie oft ich sie schon bei Klausuren abschreiben gelassen hatte, weil sie keinen Bock hatte zu lernen. Als wir noch befreundet waren, waren für uns Teamarbeiten während der Klausuren selbstverständlich. Ich hatte ihr bereits mehr als einmal den Hintern gerettet, in dem ich ihr die kompletten Lösungen verraten hatte. Aber jetzt grinste sie mich nur hinterhältig an. Wie konnte ich mich so in ihr täuschen? Ich kämpfte mit den Tränen. Es tat extrem weh, so fallengelassen zu werden!

Ein letztes Mal versuchte ich, sie mit flehendem Blick davon zu überzeugen, dass ich echt Hilfe benötigte. Und kurz wirkte es, als würde sie tatsächlich zögern, doch dann hob sie ihren Arm, schnipste und rief: „Herr Krause, Lucy spickt andauernd auf meine Blätter und will noch mehr Lösungen von mir haben!“

Panisch riss ich meine Augen auf. Nein! Nein, das konnte nicht ihr Ernst sein! Ich öffnete meinen Mund, um zu widersprechen, aber schloss ihn direkt darauf wieder. Ich war sprachlos.

Die gesamte Klasse starrte mich an. Herr Krause erhob sich von seinem Platz und kam mit bösem Blick auf mich zu. Von hinteren Reihen hörte ich Gelächter und Gemurmel. Fassungslos blickte ich in das triumphierende Gesicht von Lisa. „Knall!“ Das war es. Bei mir knallten in diesem Augenblick sämtliche Sicherungen raus. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, sich meine Fäuste ballten und eine unsagbare Wut in mir aufstieg. Ich musste hier weg! Und zwar so schnell wie möglich! Rasch schmiss ich mein Mäppchen in den Ranzen, sprang auf und rannte aus dem Klassenzimmer.

Das Gelächter meiner Mitschüler hallte in meinen Ohren noch nach. Boa! Wie ich diese blöden Kühe hasste!

Ich hüpfte die Treppe hinunter, rannte aus dem Schulgebäude, den Weg zu den Fahrradständern entlang zu dem kleinen Wäldchen, in dem sich die Raucher immer in den großen Pausen versteckten, um nicht von den Lehrern beim Rauchen erwischt zu werden. Dort angekommen ließ ich mich auf eine Holzbank fallen.

Kalte, salzige Tränen rollten meine Wangen hinunter. Tränen der Verzweiflung, Tränen der Wut und Tränen der Trauer. Welches Gefühl gerade überwog, war für mich gar nicht mehr bestimmbar. Ich rang nach Luft. Durch das ganze Rennen und Weinen hatte ich ganz vergessen zu atmen.

 

„Hey Lucy, was ist los?“, Cedric kam besorgt auf mich zugeeilt. Durch den blöden Stress gerade hatte ich komplett vergessen, dass er mich nach der Matheklausur abholen wollte, um mit mir den Nachmittag zu verbringen. Noch immer atemlos schaute ich ihn an: „Ach, es ist einfach alles scheiße …“, dann vergrub ich mein Gesicht erneut in meinen Händen und schluchzte weiter.

Besorgt und mitfühlend setzte er sich neben mich und legte seine Hand auf meine Schulter. Und als ich mich dagegen lehnte, nahm er mich ganz in den Arm und hielt mich fest.

Ich fühlte mich unsagbar geborgen in seinen Armen. Er hielt mich fest und gab mir Sicherheit, obwohl ich gerade das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In diesem Moment war er mein Held und mein Rettungsanker. Ich verlor auch meine letzten Bedenken gegenüber dem jungen Mann, warf meine Skepsis über Bord und begab mich bedenkenlos in seine Arme.

 

Dieser Augenblick war im Nachhinein eindeutig ein Schlüsselmoment. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte er den Schlüssel gefunden, um mich zum „Funktionieren“ zu bringen. Dadurch, dass er immer dann da war, wenn ich ihn brauchte, er mir Halt gab und er sich um mich kümmerte, baute ich eine enge Bindung zu ihm auf. Ich sah in ihm einen Beschützer, einen „großen Bruder“, einen Freund, der mir nichts Böses wollte. Dass das alles geplant und taktisch war, das hatte ich zu diesem Zeitpunkt kein bisschen erkannt.

Auch noch Jahre danach, als ich sein wahres Gesicht kennengelernt hatte, gab ich prinzipiell mir die Schuld an den Vorfällen und machte mich selbst für meine Lebensgeschichte und die Probleme in meinem Leben verantwortlich. Denn von Cedric glaubte ich immer, dass er mir nur Gutes wollte. In meinem Kopf waren diese ersten positiven Erlebnisse mit ihm so verankert, dass ich gar nicht begriff, dass er kein „Beschützer“, sondern ein Arschloch war.

Um einen Menschen psychologisch abhängig zu machen und ihn in seiner Wahrnehmung zu manipulieren, benötigt man nämlich keine Jahre oder schwere Gewalt, sondern oft reichen lediglich die Anwesenheit zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und ein paar passende Worte aus, damit man jemanden dazu bringt, einem aus der Hand zu fressen. Und darin war er offensichtlich ein wahrer Spezialist …

 

Mein gesamter Körper bebte vor Verzweiflung, doch er hielt mich fest in seinen Armen und streichelte mir sanft über den Kopf. Als ich mich ein bisschen beruhigt hatte, fragte er nach, was passiert sei. Wie ein Wasserfall sprudelte die gesamte Geschichte aus mir heraus. Ich erzählte, wie die Freundschaft zwischen mir und meiner besten Freundin zerbrochen war, wie sehr ich darunter litt, von dem Mobbing meiner Mitschüler, von dem hinterhältigen Verhalten von Lisa gerade – einfach alles. Er hörte mir geduldig zu und zeigte Verständnis. Zwar wusste er bereits aus den Chats, dass ich es aktuell nicht leicht hatte, doch nun wusste er die ganze Wahrheit.

Als ich mit dem Erzählen fertig war, nahm er mich nochmals ganz fest in den Arm und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Dann schaute er mir in die Augen und meinte: „Oh Mann Lucy, das ist ja echt alles bescheiden. Ich glaube, du brauchst jemanden, der dich beschützt, der den Idioten in der Klasse einmal ordentlich die Meinung sagt und dich als tolle Frau – die du wirklich bist – wertschätzt.“

Ich schniefte und antwortete mit trauriger Stimme „Ja.“ Danach rollten noch mehr Tränen über meine Wangen.

Er stand auf, stellte sich vor mich, half mir ebenfalls beim Aufstehen und führte mich zu seinem Auto. Nachdem wir eingestiegen waren, gab er mir ein Taschentuch und startete den Motor. Wieder dröhnte die Musik des Rappers aus den Boxen und wieder fuhren wir auf den Festplatz. Dort angekommen parkte er das Auto etwas abgelegen an dem Wäldchen, das an den Festplatz angrenzte. Inzwischen waren meine Tränen getrocknet. Mir ging es zwar noch nicht gut, aber deutlich besser als vor zehn Minuten.

Ich spürte, wie er mich genau betrachtete.

„Du siehst hübsch aus“, sagte er.

„Danke.“

Obwohl mir eigentlich nicht zum Lachen war, erzeugten seine Worte bei mir ein Lächeln im Gesicht.

„Und wenn du lächelst, gefällst du mir noch besser“, ergänzte er.

Er beugte sich zu mir rüber und sein Gesicht kam ganz nahe an meines. Ich spürte seinen fordernden Atem. Ich wollte ihn nicht küssen, aber ich wollte ihn auch nicht abweisen. Schließlich liebte ich ihn, er liebte mich und zudem hatte er mir gerade geholfen. Ich spürte, wie seine Lippen meine Lippen berührten. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. In meinem unteren Bauch begann es zu kribbeln. Ich fühlte mich leicht unwohl, aber gleichzeitig auch aufgeregt. Ich konnte meine Gefühle nicht einordnen.

Immer wieder und wieder küsste er mich auf den Mund und ich spürte, wie sich seine Hand unter mein T-Shirt schob. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus. Plötzlich kam es mir zehn Grad kälter vor.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er. „Du hattest noch nie Sex oder? Das ist aber nicht schlimm. Ich bringe es dir bei. Du musst nur locker bleiben.“ Seine Stimme hörte sich seltsam fremd an.

Ich fühlte mich wie in einem falschen Film. In mir schrie alles. Ich merkte, dass hier gewaltig eine Grenze überschritten wurde, doch ich konnte nichts tun. In meinem Kopf überschlugen sich hunderttausend Gedanken und gleichzeitig dachte ich nichts. Ich war wie gelähmt. Wie zu Eis erstarrt. Ich spürte, wie er meinen BH öffnete, meine Brust berührte und in die Hose fasste. Seine Hände schienen überall zu sein! Er stöhnte mir ins Ohr. Meine Umgebung um mich herum verschwamm. Ich wurde nicht bewusstlos, aber trotzdem verlor ich das Bewusstsein. Meine Seele verließ meinen Körper. Wie aus der Vogelperspektive schaute ich von oben auf das Auto, in dem Cedric meinen Körper vergewaltigte.

Ich weinte nicht. Es tat verdammt weh, aber der Schmerz drang nicht zu mir durch. Mein Körper und meine Gefühle erstarrten. In diesem Moment schien die Erde für mich stillzustehen. Nichts war danach mehr wie vorher. Ich schloss meine Augen, um ihm bei seiner Tat nicht zusehen zu müssen. Ich spürte, wie er immer wieder in mich eindrang, dabei stöhnte, ich roch seinen Schweiß. Es war ekelhaft!

Wie lange es dauerte, bis er von mir abließ, weiß ich nicht mehr. Ich hatte kein Zeitgefühl. Es kam mir wie Stunden vor, doch wahrscheinlich waren es nur zehn bis fünfzehn Minuten.

Das Nächste, an das ich mich bewusst erinnern kann, war, dass ich mich wie mechanisch wieder anzog. Noch immer weinte ich nicht. Cedric warf mir meine Klamotten zu, und ich zog sie an. Noch nie war es so anstrengend und kompliziert, einen Pullover über den Kopf zu ziehen und eine Hose zuzumachen. Ich stand völlig neben mir. Ich glaube eine Frau, die sich noch nie in solch einer Lage befunden hat, kann kaum nachvollziehen, wie man sich nach einer solch krassen Grenzverletzung fühlt.

„Ich fand es geil!“, grinste er.

Dann streichelte er mir über die Wange. Am liebsten hätte ich seine Hand weggeschlagen und wäre aus dem Auto geflohen, doch ich war zu schwach. Mein Körper wollte mir noch nicht wieder gehorchen.

„Keine Sorge meine Süße, du wirst dich daran gewöhnen. Das erste Mal ist immer etwas schmerzhaft, aber das legt sich. Hier. Nimm zwei von denen und einen Schluck Wodka, dann wird es besser.“

Er hielt mir zwei Tabletten hin und zog eine Flasche Wodka hinter seinem Sitz hervor. Ich hatte noch nie so starken Alkohol getrunken. Den einzigen Alkohol, den ich bis jetzt probiert hatte, war an Silvester ein halbes Glas Sekt. Und selbst das war mit O-Saft gemischt. Doch in diesem Moment nahm ich den Wodka und die zwei Tabletten dankend an. Welche Tabletten das genau waren, wusste ich nicht, und es war mir auch ziemlich egal. Ich fragte nicht nach. Hauptsache die Schmerzen und das tote Gefühl gingen weg. Anschließend nahm ich einen großen Schluck aus der Glasflasche.

Der Alkohol brannte in meinem Hals, aber dieser Schmerz lenkte wenigstens von den anderen Schmerzen in meinem Unterleib ab.

„Es wird gleich besser werden“, tröstete er mich.

Seine Stimme klang nicht wirklich besorgt und ich bezweifelte, dass er mit mir Mitgefühl hatte oder dass es ihm gar leidtat, trotzdem klang er sehr fürsorglich.

Als ich anfing zu zittern, holte er sogar eine warme Fleecedecke aus dem Kofferraum, um sie mir umzuhängen.

Nach ein paar Minuten und einem weiteren Schluck Wodka schienen die Tabletten zu wirken. Mir wurde angenehm warm, der Schmerz ließ nach, und ich fühlte mich leicht benebelt im Kopf. Nicht unangenehm, sondern einfach ein wenig betäubt, was in dieser Situation guttat. Langsam gewann ich auch wieder die Kontrolle über meinen Körper. Ich konnte mich wieder orientieren und bewegen. Cedric schien das ebenfalls zu merken.

„Geht es dir besser?“, fragte er.

Ich starrte ihn geschockt an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Für das erste Mal hast du das super gemacht“, redete er weiter, als er registrierte, dass ich ihm auf diese Frage nicht antworten würde. „Ich habe eindeutig schon schlechtere Mädchen erlebt. Mit ein wenig Übung wird aus dir was.“ Seine Stimme wurde ernst: „Dir ist klar, dass du mit NIEMANDEM darüber reden darfst! Das hier ist, und bleibt unser Geheimnis! Du bekommst von mir alles, was du willst – aber dafür gehörst du mir! Du musst mir dankbar sein, dass ich so lieb mit dir umgehe. Ich bringe dir Sachen bei, die dir kein anderer beibringen kann. Ich liebe dich und du liebst mich. Wir profitieren voneinander. Und du wolltest das alles! Ich tue dir nicht weh. Wenn du Schmerzen fühlst, dann liegt es an dir! Ich mache lediglich das, wozu du mich zwingst. DU bist an allem schuld!“

Er schaute mich mit großen Augen an. In seinem Blick konnte ich etwas erkennen, was ich nicht in Worte fassen konnte. Es war etwas Böses. Er meinte das, was er sagte, verdammt ernst.

„Hast du das verstanden?!“

Zögerlich nickte ich.

„Gut“, er schien beruhigt. Er schaltete Musik an und zündete sich eine Zigarette an.

Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Mein Verstand sagte, dass ich fliehen sollte, doch mein Körper blieb im Auto sitzen.

 

Um fünfzehn Uhr startete er den Motor und fuhr mich nach Hause. Mittlerweile war er wieder ganz der Kavalier geworden. Er stieg aus, öffnete mir die Tür und half mir aus dem Auto. Zum Abschied umarmte er mich sogar. Und ich ließ es zu. Auch wenn er mir vor wenigen Stunden massiv wehgetan hatte, fühlte ich mich weiterhin zu ihm hingezogen. Ja, ich zweifelte sogar an meinem Verstand und fragte mich, ob das Ereignis vorhin lediglich ein Missverständnis meinerseits war! Vielleicht hatte ich einfach überreagiert und er wollte mir gar nichts Böses. Wie doof war ich bloß? Cedric war mein Traummann! Nie würde er mir absichtlich wehtun!

In der Wohnung angekommen verkroch ich mich unverzüglich in mein Zimmer. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, rollten Tränen über meine Wangen.

Wie in Trance schleppte ich mich zu meinem Bett und ließ mich wie ein nasser Sack hineinfallen. Es fühlte sich an, als wenn in meinem Unterleib irgendetwas kaputt gegangen sei. Und dieses Gefühl wurde von Minute zu Minute schlimmer. Die Tabletten, die er mir gegeben hatte, schienen in ihrer Wirkung nachzulassen.

So viel, wie heute hatte ich noch nie in meinem Leben geweint. Damals dachte ich, dass dieser Tag wohl der schlimmste Tag in meinem Leben war. Doch heute kann ich mich gar nicht mehr entscheiden, welcher der vielen schlimmen Tage tatsächlich der schlimmste Tag in meinem Leben war.

 

Um achtzehn Uhr rief meine Mutter zum Essen. Aber ich hatte keinen Hunger. Außerdem fehlte mir die Kraft, um aufzustehen.

Als ich auch beim zweiten Mal Rufen nicht reagierte, klopfte meine Mutter genervt an die Tür: „Lucy, kommst du jetzt bitte zum Essen! Dein Bruder und ich warten!“ Wie immer riss sie, noch während sie redete, die Tür auf. Relativ zeitgleich mit dem Türöffnen zog ich mir meine Zudecke über den Kopf. Schließlich sollte meine Mutter nicht sehen, wie verweint ich aussah.

„Mensch Lucy, auf jetzt!“, drängelte sie weiter.

„Ich habe keinen Hunger …“, nuschelte ich durch die Zudecke hindurch.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte sie nun etwas skeptischer. „Seit ich von der Arbeit heimgekommen bin, habe ich nichts von dir gesehen oder gehört. Dein Bruder meinte, du seiest erst kurz vor mir nach Hause gekommen und jetzt liegst du mit der Zudecke über den Kopf gezogen im Bett?!“

Ich schwieg. Was sollte ich auch großartig sagen? Innerlich kämpfte ich gegen den nächsten Schwall Tränen an und betete, dass sie schnellstmöglich wieder ging.

„Was ist los mit dir?“, fragte sie erneut, diesmal mit fordernder Stimme.

Ich schwieg weiter. Merkte diese Frau nicht, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte, oder wollte sie es nicht merken?

„Hattest du etwa einen schlechten Tag?“, bohrte sie weiter nach.

„Kann man so sagen“, grummelte ich gereizt unter meiner Decke hervor, in der Hoffnung nach dieser Antwort endlich in Ruhe gelassen zu werden. Mit der Schweigetaktik schien ich nämlich nicht allzu weit zu kommen.

„Was war denn los?“, löcherte sie jedoch ungehindert weiter.

Ihr schien meine letzte Antwort eindeutig nicht auszureichen. Daraufhin schlug ich kurz die Decke von meinem Kopf herunter, funkelte sie mit einem wütenden Blick an und zischte: „Nichts! Ich hatte einfach einen scheiß verdammten Arschlochtag und möchte jetzt nur noch meine Ruhe haben!!!“

Dann zog ich mir erneut die Decke über den Kopf und rollte mich darunter zusammen.

Woher gerade die Aggressionen gegen meine Mutter, mit der ich vor sechs Monaten noch über alles reden konnte, kamen, konnte ich mir nicht erklären. Aber ihre paar Fragen brachten mich schier auf die Palme! Ich spürte die Wut in meinem Magen brodeln. Mein gesamter Körper war angespannt und würde noch eine Frage kommen, würde ich explodieren!

„Ist okay …“, stammelte sie hörbar geschockt über meine extreme Wut. „Ich lasse dich in Ruhe. Wenn du später reden möchtest, dann komme einfach aus deinem Zimmer heraus. Und wenn nicht, ist das auch okay.“

Nachdem sie mein Zimmer verlassen hatte, igelte ich mich noch mehr zusammen. Ich fasste mit meinen Händen um meine angewinkelten Beine und drückte meinen Kopf feste auf meine Knie. Ich hatte das starke Bedürfnis mich irgendwo festzuhalten. Alles um mich herum schien sich zu drehen und mir wurde ganz schwindelig. Mir fehlte der Boden unter den Füßen und ich musste mich festkrallen, um wenigstens ein bisschen Sicherheit zu bekommen. Erst als meine Arme von dem festen Griff um meine Beine schmerzten, lockerte ich meine Hände.

Was war da heute passiert? Ich konnte es nicht begreifen, geschweige denn verstehen!

Einerseits hasste ich Cedric für das, was er mir angetan hatte und auf der anderen Seite hasste ich mich selbst dafür. Er hatte recht: Hätte ich mich nicht so verkrampft, hätte es wahrscheinlich nicht so wehgetan – ich war selbst daran schuld! Vielleicht hatte ich ihm ja auch falsche Hoffnungen gemacht? Er war ein Mann, er war mein Freund, er liebte mich, da war Sex normal. Oder?

Oh Mann! Wie doof hatte ich mich vorhin benommen? Ich hatte mich vollkommen blamiert! Sex ist die höchste Form der Liebe und ich war so abweisend zu ihm. Ich gab mir selbst die Schuld an meinen Unterleibsschmerzen und dem negativen Ausgang. Ich fühlte mich wie eine Versagerin …

Ich verlor mich in meinen eigenen Gedanken, bis ich knapp zwei Stunden später, gegen einundzwanzig Uhr, vor Erschöpfung einschlief.

Kapitel 7 - Der Tag danach

 

In der Nacht schlief ich tief und fest. Erst als um fünf Minuten nach sechs Uhr mein Wecker piepste, wachte ich auf. Sofort spürte ich wieder den unangenehmen Schmerz in meinem Unterleib. „Verdammt! Es war kein Albtraum, sondern Realität, was gestern passiert ist!“, schoss es mir direkt durch den Kopf. Obwohl ich mir eigentlich sicher war, dass ich nicht geträumt hatte, hoffte ich beim Klingeln des Weckers dennoch, dass heute alles wieder beim Alten wäre. Doch diese Hoffnung wurde mir bereits jetzt schon genommen.

Langsam richtete ich mich auf. Steif stieg ich aus dem Bett. Mein Schädel dröhnte. Ich hatte diese Nacht zwar deutlich länger als normal geschlafen, aber mein Körper fühlte sich an, als hätte er seit Tagen keinen Schlaf bekommen. Meine Gliedmaßen waren ungewöhnlich schwer und in den Beinen – insbesondere in den Oberschenkelinnenseiten – verspürte ich eine Art Muskelkater.

Ein Blick in den Spiegel meines Kleiderschrankes verriet mir, dass ich mich nicht nur bescheiden fühlte, sondern auch genauso aussah. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen und meine Gesichtsfarbe war ungewöhnlich blass. Außerdem trug ich noch meine Klamotten von gestern. Durch die ganze Aufregung und die anschließende Erschöpfung war ich nicht mehr dazu in der Lage gewesen, mich umzuziehen.

Ich schnappte mir frische Klamotten und verschwand ins Badezimmer. In dem großen Spiegel dort wirkte meine Haut noch blasser.

Normalerweise hasste ich es morgens zu duschen, ich nutzte die Zeit vor der Schule lieber noch zum Lesen oder für ein entspanntes Frühstück, aber heute musste ich duschen. Es war wie ein innerer Zwang. Ich musste meine Haut reinigen.

Langsam zog ich mich aus. In der Unterhose war Blut zu sehen und an meinen Oberschenkeln waren blau-lilafarbene Blutergüsse. Mit etwas Fantasie konnte man in den Flecken sogar exakte Handabdrücke erkennen.

Vorsichtig streichelte ich über die blaue Haut, so als wenn ich mich bei meinem Körper für den Vorfall und die Schmerzen entschuldigen wollte. Der Anblick ließ eine Gänsehaut auf meinen Rücken entstehen, die sich schnell über meinen gesamten Körper ausbreitete.

Unter der Dusche stellte ich das Wasser auf ganz heiß. Ich spürte, wie die Temperatur auf meiner Haut brannte, aber es war nicht schmerzhaft. Beziehungsweise nicht so schmerzhaft, dass ich die Temperatur drosseln wollte. Der Schmerz war angenehm. Er ließ mich wenigstens etwas spüren. Zweimal seifte ich meinen gesamten Körper gründlich mit Duschgel ein. Ich hatte das Gefühl, dass überall der Schweiß und somit der Geruch von Cedric klebte. Selbst nach gründlichem Einseifen und Rubbeln hatte ich weiterhin das Gefühl, dass mein Körper noch nach ihm roch.

Ich schloss meine Augen, hielt die Luft an und lehnte mich ein paar Zentimeter zurück, damit das Wasser auch über mein Gesicht lief. Noch immer konnte ich das gestrige Ereignis nicht zu hundert Prozent einordnen. Ich konnte nicht sagen, es war richtig, was Cedric getan hatte oder es war falsch. Es fühlte sich seltsam an.

Ich machte einen halben Schritt nach vorne, öffnete meine Augen und atmete ein. Verdammt war das Wasser heiß! Mein Körper war inzwischen knallrot und im Raum staute sich der Wasserdampf. Ich schaltete die Dusche aus und griff nach einem Handtuch. Beim Abtrocknen und Anziehen ließ ich alle gestrigen Ereignisse zum unendlichsten Mal in meinen Gedanken Revue passieren. Ich wollte es endlich verstehen! Da war der Stress mit Lisa, die tröstenden Worte von Cedric, seine wärmende Umarmung, die Fahrt zum Festplatz, seine Berührungen, der Sex, die Schmerzen, seine anschließende Fürsorge …

Je mehr ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Immer mehr schienen die Erinnerungen zu verschwimmen. Eigentlich wollte er mir nichts Böses. Ganz sicher war ich mir zwar nicht, aber warum sollte er mich zu etwas zwingen? Nein, er hatte mich ja nicht gezwungen und richtig gewehrt hatte ich mich auch nicht. Wir hatten Sex, ja, und es tat weh. Aber das ist beim ersten Mal normal. Ich sollte mich da nicht in irgendetwas hineinsteigern!

„Lucy, ich muss auch noch ins Bad!!!“, unterbrach mein Bruder mit wildem Klopfen an die Tür meine immer wiederkehrenden Gedanken.

„Ja, ich beeile mich“, antworte ich und packte eilig meine gebrauchte Kleidung in den Dreckwäschekorb, hängte die nassen Handtücher an die vorgesehenen Haken und kämmte meine Haare. Zum Föhnen fehlte mir die Zeit, aber bei den frühsommerlichen Temperaturen würden meine Haare auch so in spätestens einer Stunde trocken sein. Meine leicht blutverschmierte Unterhose warf ich allerdings nicht zu der üblichen Schmutzwäsche, sondern ich versteckte sie unter meinem Pullover. Um nervige Nachfragen meiner Mutter zu vermeiden, wollte ich sie in meinem Zimmer unter meinem Bett verstecken und bei nächster Gelegenheit per Hand waschen, damit keine Blutspuren mehr sichtbar waren.

„Boa! Hast du eine Sauna gemacht oder was?“, begrüßte mich mein Ben, als ich die Tür aufschloss und ihn hineinließ. „Da kann man gar nichts sehen!“

„Pech gehabt. Wer früher aufsteht, darf zuerst ins Bad. So sind die Regeln. Wenn du ein Problem damit hast, dann stehe früher auf“, entgegnete ich ihm. Danach verschwand ich in mein Zimmer, versteckte die Unterhose unter meinem Bett und packte meinen Schulranzen.

Es war 7:20 Uhr. In fünfzehn Minuten müsste ich mich auf den Weg machen. Also blieb mir noch Zeit für ein kurzes Frühstück. Richtig Hunger hatte ich nicht, und eigentlich wollte ich auch ungern meiner Mutter über den Weg laufen, aber selbst wenn ich nicht frühstückte, musste ich mir wenigstens etwas für die große Pause mitnehmen. Notgedrungen musste ich also in die Küche. In Gedanke betete ich, dass mich bitte meine Mutter nicht auf gestern ansprechen würde.

„Guten Morgen Schatz“, begrüßte sie mich direkt, als ich die Küche betrat und mir aus dem Kühlschrank einen Joghurt, Käse und die Margarine holte. „Ich kann heute auf der Arbeit schauen, dass ich vielleicht zwei Stunden früher gehen kann. Dann können wir heute Nachmittag gemeinsam etwas unternehmen. Auf was hast du Lust?“

Ich zögerte. Möglichst ohne mir etwas anmerken zu lassen, begann ich mir ein Käsebrot zu schmieren. Es war ja echt lieb, dass sie sich extra für mich Zeit nehmen wollte, doch ich konnte nicht. Allein die Vorstellung, einen gesamten Nachmittag mit ihr zu verbringen, überforderte mich.

„Ne, du brauchst dir nicht freizunehmen. Ich habe heute bis fünfzehn Uhr Schule und anschließend muss ich noch für die nächste Klausur lernen“, log ich.

„Das ist aber schade …“, antwortete sie. „Bis fünfzehn Uhr Schule? Das ist lange. Ich dachte, du hättest heute schon um dreizehn Uhr Schluss?“

Ups, sie hatte mich durchschaut.

„Äh, ja, eigentlich schon. Aber wir haben in der siebenten und achten Stunde eine neue Lerngruppe, in der wir Mathe üben“, versuchte ich mich herauszureden.

„Und danach willst du noch zu Hause weiterlernen?“, fragte sie misstrauisch mit in Falten gelegter Stirn nach.

„Ja. Von nichts kommt nichts! Der Schulstoff wurde in den letzten Wochen drastisch angezogen. Die sechste Klasse ist echt schwer!“

„Okay, ist ja kein Problem. Dein Vater und ich sind sehr stolz auf deine Lernbereitschaft und deine super Leistungen. Du meisterst das alles spitze. Und dein Bruder natürlich auch. Wir sind stolz auf euch, dass das mit meiner Arbeit und eurer Selbstständigkeit so gut funktioniert.“

„Danke“, ich lächelte beschämt.

Wenn meine Mutter das Ergebnis der letzten Matheklausur von gestern wüsste, wäre sie sicherlich nicht mehr stolz ...

„Ich muss jetzt auch los, sonst komme ich zu spät“, brach ich das Gespräch ab, bevor noch mehr Nachfragen kommen konnten.

Hastig packte ich das Brot in meine Brotbox, tütete den Joghurt zusammen mit einem Löffel in einen Plastikbeutel ein und stopfte beides in meinen Ranzen in meinem Zimmer. Dann schlüpfte ich in meine Schuhe, schwang den Ranzen auf meinen Rücken und eilte Richtung Tür.

„Tschüss Lucy. Vielleicht können wir am Wochenende etwas gemeinsam unternehmen. Als Familie. So wie früher. Viel Spaß in der Schule“, rief mir meine Mutter noch von der Küche aus hinterher, bevor ich die Tür hinter mir zuzog.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, war das wie ein Befreiungsschlag für mich. Ich hätte mindestens noch acht Minuten im Haus vertrödeln können, und wäre trotzdem ohne Eile pünktlich zum Unterricht gekommen, doch ich hielt es in der Wohnung nicht länger aus. Die Anwesenheit meiner Mutter, die engen Wände, einfach alles war mir im Moment zu nahe. Und vor allem die Aussage „… wie früher“ brachte mich zur Weißglut. Es war nichts mehr wie früher und es würde auch nie mehr wie früher werden! Meine Eltern konnten mir nicht mehr vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte. Ich war auf dem Weg erwachsen zu werden und somit ein freier Mensch. Familienausflüge waren etwas für kleine Kinder! Zudem fehlte mir davon abgesehen aktuell sowieso das Interesse, überhaupt irgendetwas zu unternehmen.

 

Ich lief meinen Schulweg nicht, sondern mein Schritttempo glich schon einem Renntempo. Wie sollte ich bloß den heutigen Schultag überstehen, wenn ich bereits jetzt schon nervlich am Ende war? Ich sehnte mich nach einem Loch, in das ich mich vergraben könnte und erst wieder herausmüsste, wenn das Gefühlschaos in meinem Kopf ein Ende hatte!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739450070
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Borderline mobbing Sekte Zwangsprostitution

Autor

  • Laura Adrian (Autor:in)

Mein Name ist Laura Adrian, ich habe bis jetzt schon 24 Jahre mit mir selbst (ohne größeren Schaden!) überlebt und wohne in einem kleinen, schiefen Haus , das irgendwann mal als Scheune gebaut wurde. Mein Geld verdiene ich derzeit mit Integration (ich integriere Buchstaben in Wörter und Wörter in Sätze)
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Titel: Nur die Hölle könnte schlimmer sein