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Zersplitterte Seele

von Laura Adrian (Autor:in)
247 Seiten

Zusammenfassung

Lisa ist 16, aufmüpfig, zickig und angeblich schwer erziehbar. Seitdem ihre Eltern vor vier Jahren starben, lebt sie in diversen Jugendeinrichtungen. Mit ihrem Verhalten sorgt sie regelmäßig dafür, dass sie nach ein paar Wochen bereits in die nächste Einrichtung abgeschoben wird. Jeden Kontaktversuch blockt sie ab. Als letzte Chance bekommt sie die Möglichkeit, ihr Leben auf einem Aussiedlerhof in den Griff zu bekommen. Dort bereiten ihr jedoch nicht nur die Abgelegenheit und Einsamkeit Probleme. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es scheint. Eine bereits bröckelnde Fassade stürzt völlig zusammen und darunter befindet sich eine andere, eine zerbrochene Welt ... Wenn ein Mensch mehr erlebt, als er vertragen kann, zersplittert seine Seele, wie ein Glas, das zu Boden fällt. Dies ist eine Geschichte über Hoffnung, Aufgeben, mysteriöse Erinnerungslücken, eine traurige Vergangenheit und den Versuch, alles zu verstehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Laura Adrian

 

 

Zersplitterte Seele

 

 

 

Roman

 

 

 

Kapitel 1

 

„Lisaaa!“, der wütende Schrei von Frau Hummel hallte von der Dienstwohnung im Erdgeschoss durch das gesamte Haus. Über zwei Stockwerke hinweg spürte man den Zorn der Heimleitung.

Normalerweise war es nicht Frau Hummels Art zu schreien, in ihrem Studium und nach über zwanzig Jahren Diensterfahrung hatte sie gelernt ruhig zu bleiben, aber diese Klientin kostete sie den letzten Nerv! Lisa lebte erst seit drei Wochen in der betreuten Einrichtung und hatte sich schon mehr Tadel geleistet, als die restlichen elf Jugendlichen zusammen. Bereits nach der ersten Woche wurde sie von der Polizei bei einem Ladendiebstahl aufgegriffen. Eine Woche später prügelte sie sich mit einem Jungen aus der Nachbarschaft – der Grund hierfür war immer noch unklar – und jetzt das! Kein Wunder, dass das Mädchen bereits aus zahlreichen anderen Heimen, Wohngruppen und Pflegefamilien geworfen wurde. Niemand traute sich mehr zu, die 16-Jährige zu bändigen.

 

Aufgebracht streifte sich Frau Hummel mit ihrer rechten Hand durch ihr halblanges, bereits an einigen Stellen deutlich ergrautes Haar. Sie konnte es kaum fassen, was in dem Schreiben, das von Lisas Schule stammte und nun vor ihr lag, zu lesen war. Bis heute glaubte sie immer daran, dass die Jugendlichen lediglich eine feste Bezugsperson und Fürsorge benötigten, um wieder einen Halt im Leben zu finden. Die meisten von ihnen besaßen keine leichte Vergangenheit und waren nicht umsonst in einem Heim gelandet. Vielen hatten ihre Eltern schon in frühen Jahren verloren oder durchlebten Gewalt in der Familie. Kannte man ihre Vorgeschichten, konnte man die meisten Verhaltensweisen nachvollziehen. Bei manchen Akten lief es selbst ihr als erfahrene Heimleitung eiskalt den Rücken hinunter. Es war grausam, welch schreckliche Dinge einige ihrer Schützlinge schon in ihrem kurzen Leben durchmachen mussten.

In ihrem Haus nahm sie gerne sogenannte „schwere Fälle“ auf, die aus anderen Einrichtungen oder Familien geworfen wurden, weil sie sich nicht integrieren konnten, beziehungsweise wollten, oder sich zu drastische Vergehen geleistet hatten. Und ja, natürlich gab es in der Anfangszeit häufig Probleme und kleineren oder größeren Kummer, doch im Normalfall legte sich das recht schnell. Sobald die Neuankömmlinge spürten, dass sie an diesem Ort willkommen waren, und die Mitarbeiter des Hauses niemanden voreilig aufgaben, begannen sie aufzutauen. Die meisten von ihnen besaßen zwar eine harte Schale, aber der Kern in ihnen zeigte sich weich und verletzlich. Sie seufzte. Hatte sie sich in Lisa getäuscht? Zaghaft bewegte sie den Kopf von rechts nach links, nein, diesen Gedanken musste sie abschütteln. Es gab keine Jugendlichen, die von Grund auf böse waren. Jedes Verhalten, das die Mädchen und Jungen an den Tag legten, spiegelte etwas aus ihrer Vergangenheit wieder. Lisa benötigte noch Zeit, um anzukommen.

Frau Hummel lehnte sich auf ihrem schwarzen Bürostuhl zurück, schloss die Augenlider und atmete zweimal tief ein und aus. Sie musste ruhig bleiben und das Gespräch mit ihr suchen. Auch wenn es nicht einfach werden würde, wollte sie dem Mädchen noch eine Chance geben. In ihren Gedanken glaubte sie fest daran, dass Lisa sich nicht mit Absicht so verhielt.

 

Nachdem sie spürte, dass das unangenehme Brodeln in ihr, dass durch das Schreiben der Schule ausgelöst wurde, verschwand, stand sie schwungvoll auf, griff nach dem Blatt Papier und verließ das Büro. Im Treppenhaus traf sie auf Herrn Moosbach, einen ihrer Mitarbeiter, der gerade drei Klienten aus der Schule abgeholt hatte. Sie grüßte ihn und die Jugendlichen und wollte im Anschluss ihren Weg direkt weiter fortsetzen, doch Herr Moosbach deutet ihr kurz zu warten. „Ich muss mit dir reden. Cindy hat sich zum wiederholten Male über Lisa beschwert ...“, begann er. „Sie würde ihre Sachen, ohne nachzufragen, mitbenutzen, in der Wohnung rauchen und ihr damit drohen, dass sie sie schlägt, wenn sie etwas an das Personal petzt.“

Frau Hummel atmete laut hörbar aus. Auf diese Nachricht hätte sie gut und gerne verzichten können. Cindy war die Mitbewohnerin von Lisa. In der Einrichtung teilten sich immer zwei bis maximal vier Jugendliche ein kleines Apartment mit Küche, Bad, einem Wohnzimmer und je nach Anzahl der Bewohner zwei bis vier Klienten-Zimmern. Diese Besonderheit gab es nicht in jeder Einrichtung. Die meisten Häuser besaßen lediglich ein bis zwei Aufenthaltsräume für alle Jugendlichen und zum Teil gab es dort noch nicht mal Einzelzimmer, sondern ausschließlich Doppelzimmer. Die Privatsphäre war in solchen Gruppen dementsprechend deutlich mehr eingeschränkt als hier. Die Jugendlichen besaßen durch die unterschiedlichen Wohnungen mehr Freiraum und Privatleben. Das wirkte sich auf die meisten von ihnen positiv aus und ersparte so manche Eskalationen. Man durfte schließlich nicht vergessen, dass ein Großteil der Bewohner zu aggressivem Verhalten in Stresssituationen neigten oder in großen Menschengruppen nicht zurechtkamen. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen musste bereits aufgrund nicht tolerierbarem Verhaltens aus anderen Einrichtungen genommen werden. Doch natürlich boten die Kleingruppen auch negative Aspekte. Was sich hinter den Türen der Apartments abspielte, konnte vom Personal nicht immer und zu jeder Zeit kontrolliert werden. Mehr Freiraum bedeutete dementsprechend auch mehr Eigenverantwortung.

Selbstverständlich wurden die Jugendlichen nicht sich selbst überlassen; Tag und Nacht waren mindestens zwei Betreuer in der Dienstwohnung im Erdgeschoss anwesend, die sich kümmerten. Es gab täglich drei gemeinsame Mahlzeiten in der Gruppenwohnung im ersten Stock, regelmäßige Gruppenangebote, Ausflüge, Einzelgespräche und Gruppengespräche. Termine mussten mit den Betreuern abgesprochen werden, genauso wie Ausgehzeiten ... Bis darauf, dass die Jugendlichen in Apartments untergebracht waren und nicht in einem langen Flur Zimmer an Zimmer wohnten, unterschieden sich die Regeln und die Betreuungsweise kaum von denen anderer Wohngruppen. Allerdings ist es, wie erwähnt, leichter zu überblicken, was die Bewohner in ihren Privatbereich fabrizieren, wenn sie alle auf einer Etage wohnen und nicht in einzelnen Wohnungen, die auf zwei Stockwerken verteilt liegen. Kleinerer Streitereien untereinander fielen deswegen leider weniger schnell auf und auch Regelverstöße wie zum Beispiel das Rauchen in den Räumlichkeiten, Alkohol- beziehungsweise Drogenkonsum konnten ebenfalls nicht jedes Mal sofort entdeckt werden.

„Ich kümmere mich darum. Doch zuerst muss ich mit ihr über das Schreiben, das heute von der Schule gekommen ist, reden.“ Herr Moosbach lachte gekünstelt. „Sie lässt aber auch nichts aus. Hat sie geschwänzt?“ „Nein, wenn es nur das wäre, wäre ich froh!“ Sie überreichte ihm das Papier, das sie in der Hand hielt, und ließ ihn lesen. Sein Blick wanderte über die geschriebenen Zeilen und Entrüstung zeichnete sich in seiner Mimik wieder. Geschockt reichte er seiner Vorgesetzten das Schreiben zurück. „Ich weiß jetzt nicht, was ich dazu sagen soll“, suchte er nach den richtigen Worten. „Lisa zählt definitiv nicht zu den einfachsten Menschen, aber das hätte ich ihr nicht zugetraut! Weißt du den Grund, weshalb sie sich so verhalten hat?“ „Nein. Noch nicht. Ich hoffe jedoch, dass sie mir einen guten Grund nennen kann. Einen Lehrer anzuspucken überschreitet schließlich jede Grenze! Das ist ein absolutes No-Go, gleichgültig, was vorgefallen ist. Es gibt keinen Anlass, der solch ein Verhalten rechtfertigt.“ Herr Moosbach nickte zustimmend.

Als er das erste Mal Lisas Akte vom Jugendamt überflog, fühlte er noch Mitleid und dachte, welch ein armes Mädchen sie sei. Sechzehn Jahre jung, seit vier Jahren Vollwaise und keine Verwandte, die sich um sie kümmern könnten. Seitdem wurde in zahlreichen Einrichtungen deutschlandweit herumgereicht. Ein Psychologe diagnostizierte vor zwei Jahren bei ihr Depressionen und hin und wieder waren in ihrer Akte Schnittverletzungen vermerkt, deren Ursache unklar war. Vermutlich hatte sie sich diese selbst zugefügt, da sie mit ihrem inneren Schmerz nicht anders umzugehen wusste. Einmal war sie deshalb sogar stationär in einer psychiatrischen Klinik, weil das Personal vom Jugendamt sie als eigengefährdet einstufte. Sie wurde nach einer Party mit angeschnittenen Pulsadern gefunden. Einen Tag später behauptete sie vor dem behandelnden Therapeuten dann, dass sie sich nicht umbringen wollte und nicht wüsste, woher die Schnitte an ihrem Handgelenk kämen. Sie schien kaum noch Halt im Leben zu besitzen und alles dafür zu tun, um noch weiter abzustürzen. Lisa stellte für ihn eine klassische Klientin dar, die das Vertrauen in sich selbst und die Welt verloren hatte, doch er war davon überzeugt, dass sie kein verkehrter Mensch war. Er glaubte fest daran, dass sie sich fangen würde, sobald sie sich eingelebt hätte. Eigentlich. Zumindest tat er das in den ersten Tagen. Doch dieser Glaube bröckelte zunehmend weiter. Sein Mitgefühl verflog von Tag zu Tag mehr und stattdessen machte sich Ratlosigkeit breit. Merkte dieses Mädchen nicht, dass sie mit Vollgas auf eine Wand zusteuerte?

 

Nachdem Frau Hummel ihren Weg weiter in Richtung des Apartments, in dem Lisa wohnte, fortsetzte, blieb er noch einige Sekunden stehen und starrte nachdenklich gegen die Wand. Irgendwie musste man ihr doch helfen können. Es konnte nicht sein, dass sie auch hier in dieser Einrichtung ihre Chance auf ein festes Zuhause verspielte.

 

Kapitel 2

Erwartungsvoll klopfte die Heimleitung an die hölzerne Wohnungstür. Es machte sie extrem wütend und traurig, wie Lisa sich derzeit aufführte. Trotzdem – oder auch gerade deswegen – zwang sie sich dazu, ruhig zu bleiben und aufkochende Emotionen in ihrem Innern verborgen zu halten.

Als nach einigen Sekunden immer noch keine Schritte hinter der Tür zu hören waren, griff sie nach ihrem Schlüsselbund, suchte den Universalschlüssel, mit dem sie in jedes Apartment hereinkam, klopft nochmals, dieses Mal energischer, an und schloss parallel dazu auf. Bereits im vorderen Flurbereich drang ihr der Geruch von kaltem Zigarettenrauch in die Nase. Anspannung breitete sich in ihr aus. Sie wusste, dass es pädagogisch absolut nicht wertvoll war und leider auch verboten, aber diesem Moment wünschte sie sich kurzzeitig, dem Mädchen eine Ohrfeige geben zu dürfen. Nicht, weil sie ein Verfechter der Prügelstrafe war, sondern weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Kein Wunder, dass bereits so viele Einrichtungen sagen mussten, dass sie keine Basis einer vernünftigen Zusammenarbeit zu dem Mädchen fanden, dass sie emotional zu negativ gestimmt, und somit am Ende ihres Fachwissens seien.

Im Slalom kämpfte sie sich weiter in Richtung Zimmertür. Der Flur der Mädchen-WG glich einem Schlachtfeld. Schuhe, Handtaschen, Jacken und sogar ein Staubsauger lagen mitten im Weg. Von wegen Mädchen wären ordentlicher als Jungs, diese These wurde hier eindeutig widerlegt!

Lisas Zimmer befand sich am hinteren Ende des Flurs, der L-förmig verlief. Dabei kam Frau Hummel an dem Wohnzimmer vorbei, in dem ebenfalls das Chaos regierte, dem Bad, aus dem es noch mehr nach Rauch roch, der Küche, in der die Küchenzeile unter unzähligen schmutzigen Tellern begraben war und Cindys Zimmer, bei dem die Tür verschlossen war. Auch bei Lisas Privatraum war die Tür zu.

Selbstsicher klopfte sie und wartete, dass sie hereingebeten wurde. Doch nichts geschah. Keine Reaktion. Das stellte allerdings keine unübliche Verhaltensweise dar. Viele Bewohner reagierten nicht, wenn sie wussten, dass es sich um einen Betreuer handelte. Sie versuchten damit, Gesprächen zu vermeiden und sich vor unangenehmen Dingen zu drücken. Obwohl diese Taktik nie erfolgreich verlief, versuchten es die Klienten immer wieder. Ohne zu zögern, betätigte sie deshalb ohne Genehmigung die Türklinke und betrat den Raum.

Lisa saß mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett, das an der gegenüberliegenden Wand zur Tür stand. Über ihren Ohren trug sie schwarze Kopfhörer, die mit ihrem Handy verbunden waren. Ihr Gesicht wirkte blass und das dunkle Make-up, das sie täglich trug, sah leicht verlaufen aus. Ihre Haltung drückte Ablehnung aus. Frau Hummel zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, ein Gespräch zu beginnen. „Ich hatte mehrfach geklopft, aber du hattest nicht reagiert, deshalb bin ich einfach hereingekommen.“ Lisa schien sich jedoch nicht beeindrucken zu lassen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte kühl und ihr Blick teilnahmslos.

Irritiert schaute sich Frau Hummel in den vier Wänden um. Sie hatte fest damit gerechnet, dass es hier ebenfalls unordentlich aussehen würde, doch die Erscheinung des Zimmers war anders. Es lag nichts herum, der Boden war aufgeräumt, selbst auf dem Schreibtisch lagen nur ein Laptop und mehrere Ladekabel. Die Wände waren nicht beklebt oder dekoriert ... Normalerweise war das eines der ersten Dinge, die neue Klienten taten: Sie richteten ihr Zimmer ein, hängten Bilder auf, Postkarten oder Briefe, die ihnen etwas bedeuteten, doch hier war nichts von all dem zu sehen. Lediglich ein großer Rollkoffer, ein Rucksack und eine Reisetasche standen in der Ecke neben dem Kleiderschrank. Entweder war Lisa eine akribische Ordnungsfanatikerin, die alles sofort in Schränken und Schubladen verstaute, oder sie hatte noch gar nicht damit begonnen überhaupt irgendetwas auszuräumen.

„Ich möchte gerne mit dir sprechen“, startete sie einen zweiten Anlauf. Doch von der Klientin kam weiterhin keine Antwort. „Darf ich mich setzen?“ Mit einem wütenden Funkeln in den Augen signalisierte Lisa ihr, dass es ihr nicht recht war, dass sie sich in ihrem Zimmer befand, doch darauf konnte sie derzeit keine Rücksicht nehmen. Sie nahm sich den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand, und platzierte ihn so, dass sie ihr direkt gegenübersitzen konnte. „Nimmst du bitte die Kopfhörer von den Ohren?“

Wie zu erwarten, reagierte Lisa auch auf diese Aufforderung nicht. Doch die Heimleitung war nicht doof. Während sie den Stuhl abstellte und sich hinsetzte, musterte sie das Mädchen. Dabei fiel ihr Blick auf das Handy, das mit den Kopfhörern verbunden war. Dort wurde angezeigt, dass die Musik auf Pause stand. Das hieß, auch wenn Lisa so tat, als würde sie sie nicht hören, konnte sie sie sehr wohl verstehen. „Wenn du mir nicht zuhörst, werde ich jetzt ein Selbstgespräch führen“, probierte sie einen dritten Annäherungsversuch. „Ich denke, du weißt, wieso ich hier bin. Ich habe einen Brief von deiner Schule erhalten und um ehrlich zu sein, hat mich dieser ziemlich geschockt.“ Demonstrativ bewegte sie die Blätter in der Hand. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es macht mich sprachlos, traurig und wütend zugleich. Wie kann man nur auf solche eine Idee kommen?“ Während sie sprach, beobachtete sie Lisas Mimik, die sich minimal veränderte. Sie schien ihr tatsächlich zuzuhören. „Willst du lesen, was in dem Schreiben steht, oder kannst du es dir denken?“ Genervt zog Lisa die Augenbrauen nach oben und ihre Knie näher an ihren Oberkörper. So eiskalt, wie das Mädchen nach außen hintat, schien sie offensichtlich nicht zu sein. Die Situation war ihr unangenehm. „Sehr geehrte Frau Hummel“, begann die Heimleitung die Zeilen vorzulesen. „Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass ihre Klientin Lisa Brüser zum wiederholten Male im Unterricht negativ aufgefallen ist. Sie streitet sich mit ihren Mitschülern, erscheint dauerhaft unpünktlich, weist erhebliche Lücken im Lernstoff auf und stört gezielt den Unterrichtsverlauf mit vorlauten Bemerkungen. Besonders auffällig zeigte sich ihr Verhalten während der letzten Mathematikstunde am Dienstag den 13. April. An dem besagten Tag bekamen die Schüler der Klasse die Ergebnisse der vorangegangenen Mathematikklausur mitgeteilt. Laut Aussage von Herrn Müller soll er mit Lisa nach der Notenbekanntgabe ein Gespräch unter vier Augen mit ihr vor der Tür des Klassensaales gesucht haben, um über das Ergebnis und mögliche Unterstützungsmethoden zu sprechen. Dort sei die besagte Schülerin ohne ersichtlichen Grund wütend geworden, hätte ihn angespuckt und wäre anschließend aus dem Schulgebäude gerannt. Aufgrund dieses Vorfalls, der davor bereits bestehenden Problematik und der seit Dienstag konstanten Abwesenheit der Schülerin erbitte ich mir als Schulleitung ein klärendes Gespräch zwischen allen Parteien.“

Während sie das Schreiben vorlas, beobachtete Frau Hummel aufmerksam jede Gesichtsregung bei ihrer Klientin. Lisa schien ihr zuzuhören. Ihr Kiefer verkrampfte sich und die Augenpartie zog sich leicht zusammen, allerdings blieb sie weiterhin stumm. „Was sagst du dazu?“, forderte sie Lisa zu einer Antwort auf. Wenn Blicke töten könnten, würde die Heimleitung nun tot am Boden liegen.

Lisa kämpfte. Sie kämpfte gegen die Wut in sich an, gegen den Hass, gegen Erinnerungen und gegen Verzweiflung. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuzog. Wieso konnten diese doofen Erwachsenen sie nicht in Ruhe lassen? Ständig reden, Gespräche und die Frage „was sagst du dazu?“ Als ob ihre Meinung hier überhaupt irgendwen interessierte! Nervös begann sie mit ihren Fingern am Kabel der Kopfhörer herumzuspielen. Sie knickte es und drückte ihre Fingernägel in die schwarze Gummiummantelung. Immer fester und fester.

„Lisa, ich denke nicht, dass das Kabel etwas dafür kann“, unterbrach Frau Hummel sie, die weiterhin auf eine Rechtfertigung wartete. Sie konnte und wollte sich mit dem Schweigen nicht abfinden. Irgendeinen Grund musste es für das bockige Verhalten der Schülerin geben. „Ich will dir helfen, aber das kann ich nicht, wenn du nicht mit mir sprichst.“

„Boa! Ich will aber nicht reden!“ Ursprünglich hatte sie vor, das gesamte Gespräch über zu schweigen. Kein Wort zu sagen war meistens die schnellste und einfachste Methode nervige Unterhaltungen zu beenden, doch diese doofe Heimleiterin schien leider zu hartnäckig zu sein. Sie konnte ihre Wut nicht länger in sich behalten. „Mir ist nicht mehr zu helfen. Mir kann niemand helfen! Und dieser doofe Mathelehrer hat es verdient! Genauso wie es meine Mitschüler verdient haben und jeder andere auf dieser Welt auch!“ Zornig riss sie die Kopfhörer von ihren Ohren. In ihren Augen sammelten sich Tränen, die sie zwanghaft versuchte zurückzuhalten. Niemand sollte sie weinen sehen. „Anhand deiner Reaktion merke ich, dass du mir offensichtlich doch zugehört hast“, entgegnete Frau Hummel nüchtern. „Und anhand der Lautstärke erkenne ich, dass du ziemlich wütend sein musst.“ „Einen Scheiß bin ich! Haben Sie solche doofen Aussagen an der Uni gelernt? Nur, weil Sie studiert haben, bedeutet das nicht, dass Sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben!“ „Können wir bitte auf einer sachlichen Ebene miteinander kommunizieren?“ „Wer sagt, dass ich mich mit Ihnen unterhalten möchte?“ Seufzen. Provokante Blicke von der Klientin und Ratlosigkeit auf der Seite der Heimleitung. „Bitte Lisa ...“ „Faszinierend, wie Sie jetzt auf Knien nach einem Gespräch betteln.“

Es stellte jedes Mal dasselbe dar. In jeder Einrichtung, in der sie bis jetzt untergebracht war, versuchten die Betreuer sie zu bekehren. Lisa, du musst freundlich sein, strenge dich an, du wirfst dein Leben weg, etc. Langsam konnte sie schon ein ganzes Buch mit diesen Aussagen füllen. Zuerst wurde so getan, als wären alle superfreundlich, dann wurde das Gespräch gesucht, als dritte Stufe gab es Sanktionen, als Viertes kam das „bitte, bitte, reiß dich zusammen“ und als letzte Stufe wurde das Jugendamt benachrichtigt und sie wurde erneut in eine neue Einrichtung verbracht. Dieses Spiel fand mittlerweile schon über drei Jahre statt. Lediglich in ihrer ersten Wohngruppe hielt sie es fast ein Jahr aus. Danach waren es nur noch Monate oder zum Teil sogar Wochen, bis sie weitergeschoben wurde. „Ich krieche nicht auf Knien bei dir an und ich werde auch nicht betteln. Mein Ziel ist es, mit dir die Gründe zu erkunden, wieso du dich so verhältst. Ich möchte dich verstehen“, probierte Frau Hummel das Thema wieder zurück in die ursprüngliche Richtung zu leiten. „Wieso wollen Sie das? Weil Sie dafür bezahlt werden? Oder weil Sie Angst haben, dass es keinen guten Eindruck macht, wenn Sie das Jugendamt anrufen und denen mitteilen, dass auch Sie nicht dazu in der Lage sind, mich auf den richtigen Weg zurückzubringen?“

Langsam versiegten die Tränen in ihren Augen und sie begann Spaß daran zu entwickeln die Leitung auflaufen zu lassen. Sie wusste genau, wo sie hinzielen musste, damit ihre Worte trafen. „Was ist dein Ziel?“, provozierte Frau Hummel zurück. „Willst du wieder eine Einrichtung weitergeschoben werden? Möchtest du in ein paar Jahren auf der Straße landen? Macht es dich stolz, wenn Leute in dir einen hoffnungslosen Fall sehen? Vielleicht solltest du dir überlegen, wem du mit deinem Verhalten mehr schadest: den Menschen, zu denen du fies bist, die du beleidigst, auf die du einschlägst oder dir selbst?“

Stille. Die Äußerung hatte gesessen. Lisa schluckte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich dazu in der Lage fühlte, erneut kontra zu geben. Dieses Mal klang ihre Stimme allerdings nicht mehr so fest wie zuvor, sondern eher dünn und zerbrechlich. „Das ist doch gleichgültig. Es dauert nicht mehr lange, bis ich hier weg bin ... Meine Koffer brauche ich gar nicht erst auszupacken.“ „Wenn du das so siehst, finde ich das traurig. Ich hätte dir in diesem Haus gerne ein neues Zuhause geboten und dir eine Chance geben, aber nutzen … musst du sie.“ In ihrem Gesicht zeichneten sich inzwischen Sorgenfalten ab. „Ich hoffe, dass du noch mal in dich gehst und zu einer guten Entscheidung kommst. Morgen findet nach der zweiten großen Pause ein Gespräch in der Schule statt. Ich hoffe, dass du dich bei deinem Lehrer entschuldigst und nicht noch mehr Einfälle hast, wie man sich richtig unbeliebt macht. Ich fände es schade, wenn du dir auch hier wieder alle Möglichkeiten auf eine Zukunft verspielst. Langsam wird die Luft für dich dünn. Irgendwann ist die Endstation für dich eine geschlossene Jugendeinrichtung und ich denke nicht, dass du das möchtest.“

Mit diesen Worten verabschiedete sich die Heimleitung. Eine längere Kommunikation machte aktuell keinen Sinn. Lisa mauerte. Sie ließ niemanden an sich heran, blockte ab und sorgte mit allen Mitteln dafür, dass ihr kein Mensch zu nahekam. Sicherlich gab es hierfür Gründe, aber solange sie diese nicht benannte, mussten alle vor der Mauer stehen bleiben und zusehen, wie sie mit einem Vorschlaghammer jeden, der ihre Unterstützung anbot, niederschlug. Dieses Verhalten war nicht abnormal für Jugendliche, die in einem Heim wohnten, durch einen Schicksalsschlag aus ihrem alten Leben gerissen wurden und nun einen neuen Platz finden mussten. Besonders solche Klienten wie Lisa, die ständig von A nach B geschoben wurden, weil sie überall aneckten, fassten sehr schwer Vertrauen, was auf gewisse Weise auch verständlich war. Wer in regelmäßigen Abständen mitgeteilt bekommt, dass er zu anstrengend und zu kompliziert sei und niemanden findet, der sich intensiv mit ihm beschäftigt, einen Blick hinter die harte Fassade wagt und sich die Zeit nimmt, eine engere Vertrauensbasis aufzubauen, wird eiskalt und stahlhart. Bis zu einem gewissen Grad konnte sie sich in das Mädchen hineinversetzen. Es war keine einfache Lage. Allerdings fehlte ihr das Verständnis dafür, dass Lisa weder sich noch der Wohngruppe überhaupt irgendeine Chance gab. Sie hatte sich selbst bereits so aufgegeben, dass sie es gefühlt darauf anlegte, schnellstmöglich weitergeschoben zu werden.

Mit einem leisen, verzweifelten Seufzen schloss Frau Hummel die Apartmenttür hinter sich. Ihrem Gesichtsausdruck sah man die Sorgen, die sie sich machte deutlich an. So konnte es nicht mehr lange weitergehen.

Im Mitarbeiterbüro angekommen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und stützte ihren Kopf auf ihre Hände. „Wie soll ich diesem Mädchen bloß helfen?“

 

Kurz nachdem die Tür des Apartments ins Schloss fiel, brach Lisa in Tränen aus. Kalte, salzige Tropfen rollten über ihre Wangen und tropften an ihrem Kinn herunter. In ihr brodelten Anspannung und Wut. Aggressiv presste sie die Fingernägel der rechten Hand in ihren linken Unterarm. Der Schmerz, der dadurch ausgelöst wurde, hielt sie davon ab, zu explodieren. Sie fühlte sich wie eine Ladung Sprengstoff, die ohne Sicherung in der Gegend herumstand, mitten in einem brennenden Gebäude. Warum konnte sie nicht so sein wie andere? Wieso? Sie wollte das alles nicht. Sie wünschte sich ein richtiges Zuhause, Menschen, die sie akzeptierten, wie sie war, die ihr das Gefühl von Geborgenheit gaben, doch das Einzige, was sie jedes Mal erreichte, war innerhalb kürzester Zeit gehasst zu werden. Sie führte sich ekelig auf, wusste nicht wohin mit ihren vielen Gefühlen, ließ niemanden an sich heran und wer es doch wagte, sich in ihre Nähe zu begeben, wurde verletzt. Sie wünschte sich jemanden, der zu ihr stand, schickte jedoch jeden, der es wagte, auch nur ansatzweise an das Gute in ihr zu glauben, zum Mond. „Ich bin ein Monster ...“, schluchzte sie vor sich hin und krallte dabei ihre Fingernägel so tief in die Haut, dass es anfing zu bluten. Ihre dunkle Schminke unter den Augen verlief durch die Tränen und ihre Mundwinkel verzerrten sich durch die Verzweiflung. Vorwurfsvoll blickte sie aus dem Fenster in Richtung Himmel. „Warum? Warum tust du mir das an?“ Ihre Stimme glich einem Flehen. Nach außen hin tat Lisa stark. Sie spielte die Randaliererin, die sich gegen alles und jeden stellte, die sich laut zeigte, voller Aggressionen und Hass, doch in Wirklichkeit war sie ein kleines, verletztes Mädchen ...

Kapitel 3

„Hast du mit ihr geredet“, erkundigte sich Herr Moosbach, als er nach dem Abendessen in die Dienstwohnung kam. „Na ja, reden kann man das nicht nennen“, sagte Frau Hummel. Seitdem sie im Büro angekommen war, beschäftigte sie sich mit einem Eintrag in Lisas Akte. Nach wichtigen Gesprächen oder Vorfällen musste jedes Mal eine schriftliche Zusammenfassung des Ereignisses eingetragen werden, damit auch die Kollegen aus den nachfolgenden Diensten Bescheid wussten und auf den neusten Stand kamen. „Sie hat wie immer abgeblockt, sich desinteressiert gezeigt und getan als wäre ihr alles gleichgültig.“ „Hmmm. Beim Abendessen war sie ebenfalls nicht anwesend.“ „Das habe ich mir fast gedacht. Sie meidet den Kontakt zu jedem.“ „Ja, es ist verdammt schwer, an sie heranzukommen. Sie hat sogar noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt.“ „Ja, das hat sie mir auch erzählt. Sie möchte nicht auspacken, weil sie sowieso nicht sonderlich lange hierbleiben wird.“ Herr Moosbach nahm sich einen Stuhl und setzte sich seiner Chefin gegenüber an den Tisch. „Und wie geht es nun weiter?“

Herr Moosbach arbeitete mittlerweile seit vier Jahren in der betreuten Wohngruppe. Davor hatte er seine Ausbildung in einem geschlossenen Jugendwohnheim absolviert. Dort hatte er schon mehrfach Kontakt zu Jugendlichen, die es ihm nicht gerade einfach gemacht hatten, eine Kommunikation zu gestalten. Wer mit sogenannten „Problemjugendlichen“ arbeitet, weiß, dass nicht jeden Tag Friede-Freude-Eierkuchen herrscht. Es gibt fast täglich kleinere oder größere Schwierigkeiten. Zu sagen, dass man irgendwann abstumpft und sich daran gewöhnt, wäre falsch, denn das tut man nicht. Aber nach einer bestimmten Berufszeit wird man ruhiger und gelassener und die Definition des Wortes „schwierig“ verschiebt sich. Doch Lisa gehörte definitiv zu den Klienten, die man ohne Zweifel auch als berufserfahrener Mitarbeiter als „schwierig“ einstufen musste.

„Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht“, gab seine Chefin zu. „Ich bin ratlos.“ Hilfesuchend sah sie ihn an. „Ich bin echt ratlos. Ich weiß es nicht.“ Wiederholte sie, so als ob sie es selbst nicht glauben könnte. „Ich muss zugeben, dass ich derzeit der Meinung bin, dass wir ihr nicht das geben können, was sie benötigt. Sie braucht eine engere Überwachung, vielleicht sogar therapeutische Hilfe. Diesen Rahmen können wir hier nicht geben. Wir haben eine Sorgfaltspflicht ihr gegenüber und auch den anderen Jugendlichen. Das, was sie sich in den wenigen Wochen, die sie nun hier ist, geleistet hat, sprengt den Rahmen.“ Verständnisvoll nickte Herr Moosbach. Er konnte ihre Äußerungen nachvollziehen. „Morgen ist die Aussprache in der Schule. Ich hoffe, dass sie sich dort zusammenreißt. Wenn sie der Schule verwiesen wird, stehen wir vor einem weiteren Problem. Dann gibt es kaum noch Optionen. So leid es mir tut ... dann muss ich Kontakt zum Jugendamt aufnehmen.“ „Das wäre doof.“ „Ja, aber was soll ich anderes tun? Wir haben unser Bestes versucht. Ich kann nicht einen Mitarbeiter dazu einstellen, sich alleine darum zu kümmern, die Probleme, die sie verursacht wieder geradezubiegen.“ Herr Moosbach konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Zumal ein einziger Mitarbeiter dazu wahrscheinlich gar nicht ausreicht.“ Frau Hummel zwang sich ebenfalls zu einem ironischen Lächeln. „Ja, leider ja.“ „Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Warten wir morgen das Gespräch ab und schauen, was passiert. Ich hoffe, dass sie sich zusammenreißt und den Ernst der Lage begreift“, versuchte er seiner Vorgesetzten Mut zu machen. Ihr war die belastende Sachlage anzumerken. So nachdenklich hatte er sie bisher nur sehr selten gesehen. Normalerweise war sie eine lebensfrohe Natur, die durchweg das Positive, selbst in den negativsten Situationen, sah.

 

Die Nacht verlief äußerst unruhig. Nachdem sie eine Jogginghose und ein viel zu großes T-Shirt zum Schlafen angezogen hatte, legte sich Lisa in ihr Bett. Da sie komplette Dunkelheit nicht ausstehen konnte, ließ sie jede Nacht den Rollladen an dem Fenster offen, damit das Mondlicht hereinschien. Da heute Vollmond herrschte, war somit ihr Zimmer besonders hell ausgeleuchtet.

Unruhig wälzte sie sich von rechts nach links, knüllte ihr Kopfkissen zusammen, entfaltete es wieder und warf es anschließend komplett aus dem Bett. Ihre Gedanken waren so laut, dass ihr Körper kaum zur Ruhe kommen konnte. Sie fühlte sich alleine. Sie befand sich in einem Haus voller Menschen, keine fünf Meter von ihrem Zimmer entfernt schlief ihre Mitbewohnerin, zwei Stockwerke unter ihr befand sich das Personalzimmer, in dem eine Betreuerin Nachtwache hielt ..., aber dennoch kam sie sich verloren und allein gelassen vor. Sie gehörte nicht hierher. Sie passte nicht zu den anderen. Das spürte sie immer wieder aufs Neue. Gleichgültig, in welche Einrichtung sie kam, durchweg kam sie sich vor wie ein Fremdkörper. Sie vermisste das Gefühl irgendwo anzukommen. Ihr Leben glich einer Flucht. Ja, sie floh. Nirgends blieb sie lange, ständig verspürte sie Unruhe in sich, Angst, Furcht und den Willen wegzulaufen.

Wovor sie wegrannte? Das wusste sie nicht. Ein Psychologe hatte ihr vor knapp einem Jahr erklärt, dass sie vor sich selbst weglaufen würde. Das sie Angst hätte vor dem, was sie sei. Aber was wussten diese seltsamen Psychologen schon? Die waren meistens genauso ungebildet, wie die ganzen Sozialarbeiter und Erzieher. Sie besuchten eine Schule, studierten anschließend auf einer Universität, besaßen ein intaktes Elternhaus, mussten sich nie mit größeren Problemen herumärgern und behaupteten dann, dass sie den kompletten Durchblick im Leben hätten. Doch einen Scheiß hatten sie. Sie wussten nicht von den Schwierigkeiten und den hinterhältigen Plänen, die das Schicksal für manche Personen bereithielt. Sie konnten sich nicht in sie hineinversetzen.

Mit Schwung drehte sie sich auf ihre linke Seite und rollte sich unter der Zudecke zusammen. Anschließend ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern. In der Ecke hinter der Tür standen ihre noch gepackten Koffer. Diese auszupacken würde sich nun auch nicht mehr lohnen. Morgen oder spätestens übermorgen wäre sie sowieso wieder weg von hier. Hörbar atmete sie aus. Sie wusste, was das Gespräch in der Schule bedeutete und sie verstand ebenfalls, was es hieß, dass es ihre letzte Chance darstellte. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Innerhalb von Rekordzeit hatte sie selbst die Betreuer aus einer angeblich erfahrenen Wohngruppe an ihre Grenzen gebracht. Niemand wollte sie haben. Warum auch? Wer wollte schon so einen Emo wie sie haben? Ein Mädchen, das nie lachte, durchweg schwarze Klamotten trug, die Augen dunkel geschminkt hatte, alte Narben unter Armstulpen versteckte, kaum sprach und mehr Unsinn anstellte, als alle anderen Jugendlichen im Haus zusammen. Sie war ein Fehler. Niemand wollte einem Fehler wie ihr Obdach bieten ... Nein, nicht sie redete sich ein, dass sie ein Fehler war, sondern diesen Begriff hatte sie schon in mehreren Pflegefamilien gehört. Mit ihr konnte man sich nicht sehen lassen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, aber gekonnt hielt sie diese wie immer zurück. Sie wollte nicht weinen. Es gab keinen Grund, traurig zu sein, schließlich war sie eigenständig an ihrer Lage schuld. Sie hatte schon oft die Gelegenheit besessen, sich anders zu verhalten, aber sie verspielte jede Chance. Warum? Weil vielleicht genau das für sie eine Möglichkeit war, um zu überleben. Manchmal machte man Dinge, bei denen man genau wusste, dass sie einem Schaden, dass sie nicht gut sind, aber man sah keinen alternativen Ausweg.

Das Leben ist wie ein großer Raum mit ganz vielen Türen. Man steht in diesem Raum und hat eine scheinbar unbegrenzte Anzahl von Türen vor sich. Im Laufe der Zeit oder durch falsche Entscheidungen schließen sich einige Türen oder manche gehen auch wieder auf. Es wird nie der Fall sein, dass alle Türen geschlossen sind. Doch bei einigen Menschen spielt das Schicksal nicht fair. Es verschließt mehr Türen, als es öffnet. Die Anzahl der Türen wird zunehmend geringer und durch äußere Umstände, die zu der bescheidenen Auswahl hinzukommen, bleiben nur noch wenige offen. Es macht sich eine Art Platzangst in einem breit. Man möchte im Leben weiterkommen, nicht ständig an derselben Stelle, im gleichen Raum, stehen bleiben. Kopflos und ohne über mögliche Folgen nachzudenken, flüchtet man durch eine Tür, die offen steht. Selbst, wenn einem bewusst ist, dass diese Tür kein positiver Weg ist, rennt man hindurch, weil es sich besser anfühlt, als bewegungsunfähig stehen zu bleiben ...

 

Auch Frau Hummel grübelte in dieser Nacht noch lange. Mit einem Glas Rotwein setzte sie sich auf dem Sessel im Wohnzimmer und überlegte, wie es weitergehen sollte. Der morgigen Aussprache in der Schule sah sie pessimistisch entgegen. Selbst wenn sich Lisa für ihr Verhalten entschuldigen sollte, gab es noch ein Dutzend weitere Schwierigkeiten, die ihr den Weg in die Gemeinschaft hinein versperrten. Es war schwer, jemanden zu integrieren, der sich nicht integrieren wollte. Was auch immer dieses Mädchen in ihren jungen Jahren für Erfahrungen gemacht hatte, es war auf jeden Fall nichts, was sie leicht vergessen konnte. Etwas hatte sie geprägt.

Kapitel 4

Der nächste Morgen startete damit, dass Lisa unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. „Aufstehen, hast du deinen Wecker schon wieder überhört?“, maulte eine Betreuerin, deren Namen sie schon, kurz nachdem sie sich vor drei Wochen vorgestellt hatte, wieder vergessen hatte. Namen merken war sowieso unnötig. Denn erfahrungsgemäß blieb sie ja nie lange an einem Ort. „Nein, ich habe erst gar keinen Wecker gestellt“, rief sie verschlafen. Die Betreuerin, die nun ihr Fenster öffnete, um Lisa mit der kühlen Morgenluft aufzuwecken, schüttelte den Kopf. „Du bist mir echt ein Rätsel. Dir ist klar, dass in Deutschland Schulpflicht herrscht und Schulbildung für deine Zukunft wichtig ist?“ Lisa gähnte und richtete sich auf. Mit einem gespielten Lächeln antwortete sie: „Welche Zukunft?“

 

Das Frühstück stellte für Lisa ein Mittel zum Zweck dar. Während die anderen Klienten des Hauses herumalberten und sichtlich Spaß hatten, schmierte sie sich ein Brötchen und aß es. Bei jedem Bissen hatte sie das Gefühl, dass ihr das Essen im Hals stecken blieb. Allerdings lag das nicht daran, dass es trocken war, sondern daran, dass ihr die Angst vor dem Gespräch in der Schule die Kehle abschnürte. Es hatte einen Grund, weshalb sie den Mathelehrer angespuckt hatte. Sie konnte ihn nicht leiden. Er ekelte sie an. Er sah aus wie ein Schuldirektor, mit dem sie vor einigen Jahren zu tun hatte. Bei der Erinnerung an diesen Menschen kam ihr das Frühstück fast wieder hoch. Sie musste gegen einen Würgereiz ankämpfen. Hastig legte sie das restliche Brötchen zurück auf ihren Teller, sprang auf und flüchtete aus dem Speisesaal. Verwirrt schauten ihr die anderen aus dem Raum hinterher. Niemand wunderte sich mehr über ihr merkwürdiges Verhalten oder ärgerte sich darüber. Es war bereits bekannt, dass sie sich hin und wieder seltsam verhielt. „Boa, was ist denn jetzt schon wieder mit der los?“, meckerte Toni, einer der eher ruhigeren Klienten. „Keine Ahnung, die will bestimmt im Mittelpunkt stehen“, antwortete Mandy. „Na ja, bald sind wir sie ja los. Die bleibt bestimmt nicht mehr lange. Sie leistet sich so viele Vergehen und passt einfach nicht zu uns“, ergänzte Cindy, die sich schon seit Tagen nichts Sehnlichster wünschte, als dass Lisa endlich aus ihrer Wohnung verschwand. In einer Wohngruppe zählte es zur Normalität, dass Klienten einzogen, mit denen man sich gut verstand und dass es welche gab, die man weniger gut leiden konnte. Damit musste man sich abfinden, aber solch eine Katastrophe wie Lisa gab es selten. In Cindy kochten bereits Aggressionen hoch, wenn sie allein ihren Namen hörte! Seitdem Lisa bei ihr eingezogen war, herrschte Chaos in der Wohnung, das Bad stank nach Zigarettenrauch und ständig verschwanden Dinge, die ihr gehörten. „Könnt ihr euch bitte um eure eigenen Dinge kümmern und damit aufhören über andere zu lästern?“, unterband die Betreuerin, welche die Tischaufsicht hatte, die aufkeimende Diskussion. „Ja, aber stimmt doch! Bevor sie zu uns kam, gab es bedeutend weniger Probleme!“ „Toni!“, der Ton der Betreuerin wurde härter. „Jeder hat einen Grund, weshalb er hier ist und jeder besitzt eine Vorgeschichte. Die meisten von euch waren am Anfang nicht einfach.“ „Nicht einfach? Dieses Mädchen ist eine Katastrophe!“

 

Lisa spürte weiterhin Ekel in sich. Er saß in ihrer Kehle fest. Wie sollte sie diesen Tag bloß überstehen? Mit Schwung schloss sie die Apartmenttür hinter sich und verschwand auf Toilette. Panisch riss sie den Toilettendeckel nach oben, beugte sich nach vorne und übergab sich. Mit der linken Hand drückte sie in ihre Magengegend und die rechte Hand versenkte sie fast vollständig in ihrem Rachen. Tränen schossen in ihre Augen. Tränen des Ekels, des Selbsthasses und des Schmerzes. Erst als ihr Frühstück vollständig aus ihrem Magen entfernt war, hörte sie damit auf, sich den Finger in den Hals zu stecken. Erschöpft ließ sie sich zu Boden sinken. „Wenn die gesamte Welt dich ankotzt, dann kotze einfach zurück“, diesen Satz setzte sie seit mittlerweile knapp zwei Jahren wortwörtlich in die Tat um. Sie übergab sich nicht, um schlank zu sein oder die Kalorien, die sich in ihr befanden, loszuwerden, sondern ihr Grund war allein der Ausdruck von Selbsthass und Verachtung gegenüber dem eigenen Körper. Es stellte für sie eine Art Druckabbau dar. Wann immer ihre innere Anspannung zu stark wurde und sie das Gefühl verspürte, von innen heraus zu explodieren, steckte sie sich den Finger in den Hals, zerkratzte sich die Arme oder ritzte sie sich mit scharfen Gegenständen auf. Für sie stellte diese Weise mit Stress umzugehen die einzige Möglichkeit dar, nicht vollständig kaputt zu gehen.

Entkräftet richtete sie sich auf. Ihre Beine zitterten durch die Anstrengung und das Adrenalin, welches durch ihren Körper schoss. Kotzen hörte sich zwar leicht an, doch stellte für den Organismus eine gewaltige Anstrengung dar. Sie stützte sich mit ihren Händen auf dem Rand des Waschbeckens ab und öffnete den Wasserhahn. Aus dem Spiegel starrte sie ein Geist an. Ein Mädchen mit schwarzem, dünnem Haar, totenblasser Haut, geröteten Augen, dunklen Ringen darunter ... Das sollte sie sein? Nein, dieses Mädchen kannte sie nicht. Sie war ihr völlig fremd. Wer auch immer diese Person im Spiegel war, sie sah traurig und leblos aus.

Fast zwei Minuten lang hielt Lisa ihre Handgelenke unter den eiskalten Wasserstrahl. Die Kälte holte sie zurück in die Realität. Sie durfte die Kontrolle nicht verlieren. Sie musste funktionieren. Ihre Schutzmauer um ihre Gedanken und Gefühle sollte nicht anfangen zu bröckeln. Nie, niemals wieder würde sie es erlauben, dass noch einmal jemand sie verletzte! Lieber blieb sie kalt wie ein Stein ohne Gefühle und reglos ohne Emotionen, anstatt noch einmal so extrem verwundet zu werden!

 

Um halb acht herrschte Aufbruchsstimmung in der Einrichtung. Die Jugendlichen mussten sich auf den Weg in ihre Schulen, Berufsschulen oder Ausbildungsstätten begeben. Einige taten das zu Fuß und andere, die einen zu weiten Fußweg hatten, wurden von einem Betreuer gefahren.

Normalerweise befand sich Lisas Schule in einer Entfernung, die innerhalb von fünfzehn Minuten zu Fuß erreichbar war, doch da bei ihr „besondere Umstände“ herrschten, wurde ihr heute das Privileg gestattet ebenfalls mit dem Auto mitzufahren. Wobei sie dies nicht wirklich als Privileg ansah. Die Aussage „du darfst heute mit dem Auto mitfahren, Herr oder Frau XY wird dich in die Schule fahren“, stellte mal wieder eine typische Formulierung für Erzieher dar. In diesem Satz wurde auf nette Weise ausgedrückt, dass die Heimleitung fürchtete, dass sie gar nicht erst im Schulgebäude ankam und ein Betreuer durch das Bringen kontrollieren sollte, dass sie tatsächlich pünktlich zum Unterricht erschien. Die Worte „du darfst“ verlieh dem Ganzen noch ein bisschen das Gefühl, dass es sich um eine Belohnung handeln sollte, was natürlich nicht der Fall war. Es handelte sich vielmehr um eine Strafe, oder einen Versuch Kontrolle auszuüben. Allerdings wurde dieses Anliegen durch das „du darfst“ höflich formuliert.

 

Zähneknirschend saß Lisa auf dem Beifahrersitz des Autos. Ihr passte es überhaupt nicht, dass sie den Schulweg nicht laufen durfte. Sie hätte gerade die kühle Frühlingsluft gebraucht, um ihren Kopf abzukühlen und ihre Gedanken auszuschalten. Außenstehende sahen aktuell ein eingeschüchtertes Mädchen, welches in leicht geduckter Haltung dasaß, deren Augen eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung ausstrahlten, doch in ihr drinnen tobten viel mehr Emotionen.

Sie hatte Angst. Angst vor ihren Mitschülern, Angst vor dem Gespräch, Angst vor ihrer Zukunft. Sie wollte nicht in die Schule, sie wollte niemanden sehen, sie wollte mit niemandem reden. Was nützte eine Aussprache, wenn es keine Zukunft gab? Was brachte es, sich an einen Tisch zu setzen, wenn die Beteiligten übereinander sprachen und nicht miteinander? Was war es wert, jemanden eine zweite Chance zu geben, der sich selbst nicht einmal eine erste Chance gab? Wieso sollte man an jemanden glauben, der selbst nicht an sich glaubte? Ihr Mund blieb still, doch in ihrem Kopf wurde es zunehmend lauter. Ihr Leben schien sich zum unendlichen Male im Kreis zu drehen. Egal, wo sie hinkam, in welche Einrichtung, in welche Stadt, in welches Bundesland, sie kam nicht von der Stelle. Nirgendwo hielt sie es aus, sie eckte bei Mitschülern an, bei Lehrern, bei Betreuern ... Sie konnte das alles nicht mehr aushalten.

Je näher sie der Schule kamen, desto mehr beschleunigte ihr Herzschlag. Zuerst stiegen zwei Mädchen bei der Berufsschule aus und danach ein Junge beim Bahnhof. Panik breitete sich in ihrem Körper aus. Ihre Hände wurden schwitzig und ihre Muskeln versteiften. Als die Betreuerin den Wagen abbremste und in einer Haltebucht einparkte, schnürte es ihr die Luft ab. Ihre Augen weiteten sich. In ihren Gedanken tobte ein Krieg. Alles fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Sie kannte diese Situation, zu oft stand sie schon an dem Punkt. Sie wusste, wie es ausging. Wollte sie sich das antun?

„Möchtest du nicht aussteigen?“, fragte die Betreuerin. Unsicher schüttelte Lisa ihren Kopf. „Nein, ich kann das nicht.“ Irritiert schaute sie sie an. „Die Tür ist nicht verschlossen. Du kannst ganz normal aussteigen.“ Erneutes Kopfschütteln. „Es liegt nicht an der Tür. Es liegt an mir ...“ Ihre Stimme hörte sich ungewohnt fremd an. Dünn und zerbrechlich, so, wie sie sich aktuell auch fühlte. Eine kurze Schweigepause entstand. Niemand schien zu wissen, was er sagen sollte. Die Betreuerin war verwirrt von der Reaktion der Klientin und Lisa gelähmt von ihren eigenen Gedanken. „Ich kann das nicht“, wiederholte sie. „Ich gehöre nicht hierher. Ich weiß, dass mich niemand haben möchte und das Gespräch nachher kann man sich sparen. Ich kann mich nicht ändern. Ich will das nicht.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich verdiene diese Chance nicht, wenn ich sie nicht nutzen kann.“ Überforderte schnaufte die Betreuerin laut aus. „Wieso solltest du diese Chance nicht verdienen?“ „..., weil ich ein Arschloch bin.“ „Quatsch.“ „Was wissen Sie schon über mich? Sie kennen meine Akte, aber nicht meine Geschichte!“ Lisas Ton klang vorwurfsvoll. „Jetzt übertreibst du aber“, versuchte die Betreuerin sie zu beruhigen. „Ich verstehe, dass die Lage unangenehm für dich ist, und dass du vielleicht auch etwas Angst hast, aber das ist kein Grund sich hängen zu lassen.“ Entrüstet schaute Lisa ihr ins Gesicht. „Sie haben keine Ahnung ...“ Bereits jetzt schon bereute sie ihr Verhalten. Wie konnte sie annehmen, dass sie jemand verstehen würde?

Niemand, der nicht das durchgemacht hatte, was sie erlebt hatte, könnte auch nur annähernd nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie kannte es, es fühlte sich an, wie sterben. Ihre Gedanken klinkten sich aus der Realität aus. Die Umrisse um sie herum verschwammen. Geräusche entfernten sich. Sie saß in einem Zug. An ihr rauschte alles vorbei. Der Zug beschleunigte. Das Einzige, was sie noch wahrnahm, war das Heulen des Fahrtwindes und irgendwo in der Ferne die Stimme der Betreuerin. Sie sagte etwas, aber ihre Worte kamen nicht mehr bei ihr an. Lisa schloss die Augen. Der Lokführer des Zuges schien wahnsinnig! Er fuhr deutlich zu schnell. In ihren Gedanken machte sich eine Mischung aus Panik und Resignation breit. Zu oft saß sie schon in diesem Zug, zu oft hatte sie schon versucht, ihn zu stoppen und zu oft war sie daran gescheitert. Es gab kein Halten. Die Notbremsen waren defekt und der Lokführer nicht mehr ansprechbar. Bilder tauchten vor den Fenstern auf. Bilder, die negative Emotionen auslösten, Angst, Furcht, Wut, Hass und Aggression. Und dann, plötzlich, wie aus dem Nichts tauchte eine Wand auf. „Lisa?! Hey, hörst du mir überhaupt zu?“ Panisch riss Lisa die Augen auf. Die Wand befand sich direkt vor ihr. Sie wusste, dass die Kollision unvermeidbar war. Sie besaß keinerlei Kontrolle mehr über den Zug, der die Richtung und das Tempo ihres Handels vorgab. Hastig drückte sie den Verriegelungsknopf der Autotür neben sich zu und schnappte nach Luft. Ihr Gesicht besaß kaum noch Farbe.

„Ich kann das nicht“, begann sie zu stottern. Ihr Körper zitterte dabei. Flehend drehte sie sich zu der nun völlig perplexen Betreuerin um. „Ich kann das wirklich nicht. Es geht nicht.“ Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange. „Können wir bitte zurückfahren.“ Weitere Tränen folgten der Ersten. Sie wirkte wie ein Häufchen Elend.

Zunächst überlegte die Betreuerin, die Klientin aufzumuntern und ihr Mut zuzusprechen. Allerdings fielen ihr derzeit keine richtigen Worte ein. Die Situation kam zu plötzlich und überrollte sie. In einer Sekunde schien noch alles in Ordnung. Neben ihr saß ein motziges Mädchen, das eine große Klappe besaß, definitiv nicht auf den Mund gefallen war und mehr Selbstvertrauen besaß, als ihr gut tat, und keine Minute später brach genau dieses Mädchen ohne offensichtlichen Grund in sich zusammen. Warum und weshalb, konnte man nicht einmal erahnen, aber es musste einen Grund geben. Ihr Bauchgefühl verriet ihr, dass dieses Verhalten weder etwas mit Aufmerksamkeitssuche noch mit Schauspielerei zu tun hatte. Es musste etwas Ernsteres sein. Nach kurzem Zögern seufzte sie und startete den Motor. „Ich hoffe, du hast eine gute Begründung dafür, dass ich dich wieder mit zurück zur Wohngruppe nehme.“

 

Die Fahrt zurück zu der Einrichtung verlief schweigend. Keiner der beiden schien zu wissen, was er sagen sollte. Die Stimmung war bedrückend. Die Betreuerin dachte darüber nach, wie sie der Heimleitung erklären sollte, dass Lisa sich weigerte, den Unterricht zu besuchen, und Lisa kämpfte damit, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Ihre harte Schutzmauer hatte einige Risse abbekommen. Diese galt es schnellstmöglich zu flicken, bevor noch mehr Steine aus dem Schutzwall herausbrachen.

 

Bei der Wohngruppe angekommen, zog sie den Türverriegelungsknopf nach oben, schnappte sich ihren Schulranzen, den sie im Fußraum abgestellt hatte und versuchte zu fliehen. Sie wollte so schnell wie möglich in ihr Zimmer verschwinden und alleine sein, doch wie zu erwarten, hinderte sie die Betreuerin daran. „Warte, nicht so eilig. Ich glaube, Frau Hummel möchte mit dir sprechen. Sie interessiert es bestimmt, wieso du nicht in der Schule bist.“ Lisa verlangsamte ihre Bewegungen. Ihr war bewusst, dass es zu einem Gespräch kommen würde und dass sie sich rechtfertigen musste. Innerhalb von Sekunden analysierte sie die Lage in ihrem Kopf. Würde sie sich jetzt widersetzen und wortlos in ihr Zimmer verschwinden, würde ihr das lediglich Zeit verschaffen. Es würde einige Minuten, oder wenn sie Glück hatte auch eine oder zwei Stunden länger dauern, bis Frau Hummel sie aufsuchte oder sie in ihr Büro zitieren ließ, aber was nützte ihr diese Zeit? Das Gespräch komplett verhindern war unmöglich, sie hatte es schließlich mit Sozialpädagogen und Erziehern zu tun! Notgedrungen sah sie ein, dass es womöglich besser schien keinen weiteren Streit anzufangen und sich sofort die Moralpredigt der Heimleitung anzuhören. Aktuell befand sie sich noch in einem tranceähnlichen Zustand, in dem ihre Gefühle nicht ganz so verletzbar waren. Diese Eigenschaft hatte sie sich seit einigen Jahren selbst beigebracht. Wobei hatte sie es sich beigebracht? Nein, es war auf einmal da. Sie hatte es lediglich gelernt gezielt einzusetzen. Wann immer ihr die Welt um sie herum zu chaotisch, zu stressig oder zu anstrengend wurde, stieg sie aus ihrem Körper aus. Ihre Hülle blieb zurück und ihre Gedanken und Emotionen flogen weg. In diesen Momenten funktionierte sie. Nach außen wirkte es, als wäre sie anwesend, doch in Wirklichkeit schwebte sie gedanklich in einer anderen Welt. Diese Fähigkeit hatte ihr schon einige Male vor weiteren seelischen Verletzungen gerettet. Es war, als wenn eine andere Person in diesen Momenten ihr Leben führte. Eine Art unsichtbarer Klon. Sie, die echte Lisa, begab sich in den Hintergrund und schaute dem Schauspiel aus der Ferne zu, und der Klon meisterte die Situation. Er setzte sich hin, wenn ein unangenehmes Gespräch geführt werden musste, hielt Mobbingattacken von Mitschülern und Mitbewohnern aus, Schläge, Tritte, Gewalt ... einfach alles, was sie nicht erleben wollte.

Allerdings besaß dieser Klon leider auch einen eigenen Willen. Er half ihr in vielen Lagen, nicht noch weiter kaputtzugehen, und schützte sie, aber dummerweise brachte er sie auch oft genug in andere unangenehme Situationen hinein. Während Lisa im Normalfall eine ruhige Person war, die Gewalt aus dem Weg ging, lieber unscheinbar war und flüchtete, tat der Klon genau das Gegenteil. Er randalierte, beschimpfte, schlug um sich und unternahm sämtliche Dinge, um aufzufallen. Es wirkte, als wenn zwei unterschiedliche Persönlichkeiten in ihr leben würden. Aber natürlich war das nicht der Fall! Wie sollten schließlich zwei Personen in einem Menschen leben? Das funktioniere nicht und außerdem würde das bedeuten, dass sie verrückt war und das war sie garantiert nicht! Sie war ein bisschen speziell und besaß einige Eigenarten, doch mehr auch nicht.

Schnell verwarf sie den Gedanken daran, dass sie nicht normal sein könnte wieder. Ihr Kopf spielte ihr einen Streich. Wie kam sie überhaupt darauf, dass zwei Personen in ihr leben könnten? Solch ein Quatsch! Sie besaß keinen Klon, niemand anderes außer sie selbst übernahm ihr Handeln, und dass sie ihre Emotionen gerade abgeschwächt wahrnahm, lag nicht an irgendwelchen anderen Leuten in ihr drinnen, sondern daran, dass sie sich überfordert fühlte. Ab und zu kam sie auf echt seltsame Gedanken!

 

Mit gesenktem Blick folgte sie der Betreuerin in das Büro der Heimleitung, die sie verwundert anschaute. Mit ein paar kurzen Sätzen erklärte die Betreuerin der Leitung, weshalb sie die Klientin wieder mit zurückgebracht hatte. Anschließend zog sie sich in den Nebenraum zurück, um Lisa mit ihrer Chefin alleine zu lassen.

Frau Hummel deutete Lisa mit einer Handbewegung, dass sie sich auf den Stuhl, der ihr gegenüberstand, setzen sollte. Skeptisch nahm die Klientin Platz.

„Jetzt habe ich die Geschichte aus einer Perspektive von außen gehört, nun würde ich sie gerne von dir hören. Wie ist deine Sicht der Dinge?“ Nervös griff sich Lisa in die Ärmel ihres Pullovers. Wieso sollte sie ihre Sicht schildern? Was gab es da zu erklären? Sie hatte die Kontrolle über sich verloren, sie wollte nicht in die Schule, sie hasste diesen Ort und die Aussprache mit dem Lehrer besaß keinen Sinn. Sie würde sich nicht entschuldigen, er würde ihr nicht verzeihen und über Probleme zu reden, löste sie noch lange nicht. „Hast du deine Zunge verschluckt? Ich hätte gerne eine Antwort von dir“, drängte Frau Hummel. „Es hat keinen Sinn.“ „Was hat keinen Sinn?“ „Alles.“ Seufzen. „Dein Optimismus haut mich echt um. Es ist nie alles sinnlos. Es ist nur sinnlos jemanden helfen zu wollen, der jede Unterstützung abwehrt, niemanden an sich heranlässt, Gespräche verweigert und Schwierigkeiten lieber ausweicht, anstatt sich ihnen zu stellen.“

Wumps. Diese Ansage hatte gesessen. Die Worte der Leitung trafen bei Lisa erneut ins Schwarze. Mit glasigen Augen schaute sie sie an. „Ja ... Ja, verdammt, da haben sie recht!“ Ihr Tonfall glich einer Mischung aus Flehen und Schreien. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Frau Hummel sie an. Mit dieser Reaktion ihrer Klientin hatte sie nicht gerechnet. „Gut, dass wir zwei einer Meinung sind. Und wie soll es deiner Auffassung nach weitergehen?“ Lisa zuckte mit den Schultern. Sie besaß keine Ahnung, wie es weiterlaufen sollte. Am liebsten würde sie unsichtbar werden, ein anderes Leben haben oder nicht mehr existieren, doch diese Wünsche konnte sie nicht aussprechen. Außerdem wären sie zudem auch nicht erfüllbar. „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. Ihre Verzweiflung über die aktuelle Sachlage war ihr anzuhören. Oft behaupteten Erwachsene, dass Lisa keine Motivation besaß, ihr Leben in den Griff zu bekommen, dass sie sich beabsichtigt danebenbenahm, es darauf anlegte ständig Ärger zu bekommen, doch das stimmte nicht. Zumindest nicht zu einhundert Prozent.

Selbst sie fand sich an vielen Tagen unausstehlich und hoffte, dass sich endlich etwas an ihrem Verhalten und ihrer Einstellung ändern würde. Die Heimleitung strich nachdenklich mit ihrer Hand durch ihr Haar. „Macht das Gespräch in der Schule überhaupt Sinn oder sagst du, dass es für dich keinen Zweck hat, weil du dich sowieso nicht entschuldigen wirst?“ Lisa zuckte unwillkürlich zusammen. Sie saß schon viel zu lange in dem Büro. Normalerweise war es nicht ihre Art, sich auf solche Unterhaltungen einzulassen. Sie sollte fliehen, sie sollte niemanden hinter ihre Maske schauen lassen, sie sollte abblocken, doch aus irgendeinem Grund besaß sie heute nicht den Willen, fies zu sein. Heute bevorzugte sie es ehrlich zu sein. Ehrlich zu ihrer Umwelt und vielleicht auch das erste Mal ehrlich zu sich selbst. „Nein.“ „Was nein?“ „Nein, ich kann diese Chance nicht nutzen. Ich werde mich nicht entschuldigen und ich werde auch nicht mehr in diese Schule zurückgehen.“ „O. k. und was möchtest du stattdessen tun?“ Achselzucken. Gewöhnlich war das der Punkt, an dem es zu einer Diskussion kam, die sich recht schnell zu einem Streit entwickelte. Wieso verhielt sich Frau Hummel so anders? Weshalb versuchte sie nicht, sie zu überreden? Warum redete sie ihr nicht ins Gewissen? Begriff sie etwa, dass es keinen Zweck hatte? Hatte sie sie bereits aufgegeben? „Ich weiß, was du denkst. Nein, ich habe dich nicht aufgegeben. Ich versuche mich in deine Lage hineinzuversetzen und eine Lösung zu finden, mit der wir beide einverstanden sind“, unterbrach Frau Hummel Lisas aufkommendes Gedankenkarussell, bevor es überhaupt Fahrt aufnehmen konnte. „Wir zwei sind uns ähnlicher, als du denkst. Ich verstehe dich besser, als du annimmst. Und mein Ziel ist es nicht, dich irgendwo reinzupressen, wo du dich unwohl fühlst. Ich will wissen, was du brauchst, wie du dich entscheiden möchtest.“

Langsam wurde ihr die Frau unheimlich. In den seltensten Fällen erriet jemand, was sie dachte oder fühlte, doch die Leitung dieser Einrichtung schien sie lesen zu können. Das war alles andere als gut! „Ich will hier weg.“ „O. k., und wohin?“ „Keine Ahnung.“ Frau Hummel seufzte. „Wohin möchtest du? Ist es wirklich dein Ziel bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr von Einrichtung zu Einrichtung zu pilgern? Sehnst du dich nicht danach irgendwann mal anzukommen? Ein längerfristiges Zuhause zu finden? Anschluss, Freunde, das Gefühl von Zugehörigkeit?“ „Nein, ich komme sehr gut alleine zurecht!“ Ihr Tonfall wurde deutlich kühler und aggressiver. Innerhalb von Sekunden zog sie eine Betonmauer um ihr Inneres nach oben. Diese Mauer sollte verhindern, dass die gesagten Worte ihr Schmerzen zufügten. „Also verstehe ich das richtig: Ich soll das Jugendamt anrufen, denen mitteilen, dass wir ebenfalls mit dir überfordert sind und sie bitte einen anderen Aufbewahrungsort für dich zu suchen?“, vergewisserte sich Frau Hummel fassungslos über den Dickschädel ihrer Klientin.

Jetzt schaffte es Lisa nicht mehr zu antworten. Stumm nickte sie. Ja, es war das, was sie sich wünschte und nein, im Grunde wollte sie genau das nicht. Sie war überfordert. Sie wollte gehen und gleichzeitig bleiben, nicht geliebt werden, aber zeitgleich hören, dass sie jemand mochte ...

Der Gesichtsausdruck von Frau Hummel spiegelte Traurigkeit wieder. Wie konnte solch ein junger Mensch so perspektivlos sein? „Gut, dann werde ich mich darum kümmern. Wenn es dein Wunsch ist, ewig vor etwas wegzulaufen, vor dem du nicht fliehen kannst, dann werde ich dich nicht aufhalten.“

Kapitel 5

Fassungslos ließ sich Lisa in ihr Bett fallen. Die salzigen Tränen, die über ihre Wangen rollten, lösten ein brennendes Gefühl auf ihrer Haut aus. Sie hatte das erreicht, was sie wollte, und was sie zugleich verachtete. Sie hatte es mal wieder geschafft, dass sie alle hassten und dass sich niemand mehr getraute, an sie zu glauben. Sie stieß alle von sich weg, schrie die Menschen verbal an oder signalisierte ihnen mit ihrem Verhalten, dass sie Abstand halten sollten, aber gleichzeitig hoffte sie, dass wenigstens eine Person bleiben würde. Frau Hummel hatte recht: Sie floh vor etwas, vor dem sie nicht weglaufen konnte. Sie versuchte, vor sich selbst wegzurennen. Wie eine Geisteskranke hetzte sie quer durch Deutschland, von a nach b, von b nach c, ständig auf der Flucht vor etwas, was nicht hinter ihr her war, sondern in ihr drinnen steckte. Gleichgültig wie schnell sie rannte, oder wie oft sie ihren Wohnsitz änderte, sie konnte sich selbst nicht loswerden. Ihre Vergangenheit, ihre Erinnerungen und ihre Gefühle klebten an ihr wie ein dunkler Schatten. Es waren Dämonen, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten, die ihr die Kraft raubten, sie festhielten und ein Weiterkommen unmöglich machten. Nach außen hin wirkte es oftmals, als hätte sie sich selbst aufgegeben, doch das entsprach nicht der Wahrheit. Die Realität war, dass sie kämpfte. Tagtäglich kämpfte sie um ihr Überleben.

 

Bis zum Nachmittag geschah nichts. Frau Hummel verkroch sich im Büro, wälzte Akten, durchsuchte ihren Schrank und schaute noch mehr Aktenberge durch. Hin und wieder murmelte sie etwas vor sich hin, doch dass, was sie sagte, konnte niemand, außer sie, verstehen. Obwohl ihr Schreibtisch nach drei Stunden aussah, als hätte eine Verwüstung stattgefunden, schien sie einen festen Plan vor Augen zu haben. Ganz so einfach, wie sich Lisa ihren Auszug vorstellte, wollte sie es ihr nicht ermöglichen. Sicherlich stellte es keine Lösung dar, sie zum Hierbleiben zu zwingen, aber sie abzuschieben war ebenfalls kein akzeptabler Lösungsweg. Sie benötigte jemanden, der ihr Halt gab und wieder Perspektiven aufzeigte und diesen jemand würde sie nicht finden, wenn sie ununterbrochen die Einrichtung wechselte. Das Mädchen war nicht dafür gemacht in einer Gruppe zu leben. Ein normaler Alltag überforderte sie. Sie war nicht von Grund auf böse und wollte auch nicht um jeden Preis auffallen, so wie es in ihrer Akte mehrfach vermerkt stand, sondern ihr Verhalten war ein Hilfeschrei. Sie schrie um Hilfe, nur nicht mit Worten, sondern mit Taten. Wieso wurden solche Hilferufe so häufig ignoriert?

Frau Hummel konnte sich sehr gut, vielleicht auch zu gut, in die Sechzehnjährige hineinversetzen. Und vermutlich war genau das der Grund, weshalb sie in der Mittagspause zum Telefonhörer griff und einen alten Freund anrief. Das Gespräch dauerte nicht sonderlich lange. Obwohl die Zwei schon seit Jahren nicht mehr gesprochen hatten, war ihr Anliegen recht schnell geklärt. Frau Hummel schien eindeutig die Dominantere der beiden zu sein. Ihre Aussagen klangen fest, bestimmend, während die Antworten des Mannes mehr einem widerwilligen Murren glichen. Er beschwerte sich nicht über den Anruf, doch wirkte auch nicht begeistert davon. Als Frau Hummel sich verabschiedete, sah sie erleichtert aus. Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sie sich auf ihrem Bürostuhl zurück.

Der unbekannte Mann hingegen fühlte sich nach dem Telefonat aufgewühlt. Er mochte Elisabeth, so hieß Frau Hummel mit Vornamen, sie hatte ihn in einer nicht ganz einfachen Phase seines Lebens begleitet und vor Jahren hatten die Zwei auch mal eng zusammengearbeitet, doch diese Zeit war vorbei. Schon lange hatten sie nichts mehr voneinander gehört oder miteinander gesprochen. Zwar waren sie damals nicht im Streit auseinandergegangen, allerdings hatte es trotzdem Gründe, weshalb beide den Kontakt zueinander einstellten. Es gab keine Basis mehr, auf die man sich hätte berufen können. Jeder ging seinen eigenen Weg. Und dass sich seine ehemalige Kollegin ausgerechnet jetzt und auch noch mit solch einem unpassenden Anliegen meldete, passte ihm überhaupt nicht. Verärgert knirschte er mit den Zähnen. Leider konnte er Elisabeth keinen Wunsch abschlagen oder besser gesagt: Er durfte es nicht. Als sie sich damals voneinander entfernten, versprach er ihr, ihr zur Seite zu stehen, wann immer sie Hilfe benötigte. Eigentlich hatte er diese Aussage auf andere Dinge bezogen und nicht erwartet, dass sie sich nach all den Jahren noch einmal meldete und dann auch noch mit einem so unmenschlichen Anliegen ... aber gut, wer sein Wort gibt, der muss dazu stehen.

 

Nach dem Telefonat mit ihrem alten Freund rief Frau Hummel bei dem Jugendamt, das für die Unterbringung von Lisa verantwortlich war, an. Der Betreuer, mit dem sie sprach, kümmerte sich seit Anfang an um die Klientin und kannte sie und ihre Verhalten in den Einrichtungen somit ziemlich gut. Als er ihren Namen hörte, lief ihm deshalb sofort ein kalter Schauer über den Rücken. Konnte dieses Mädchen sich nicht einmal zusammenreißen? Als Frau Hummel den Frust und die Enttäuschung in seiner Stimme hörte, erklärte sie eilig: „Nein, keine Sorge, ich rufe nicht an, um ihnen mitzuteilen, dass wir Lisa nicht mehr in unserer Wohngruppe behalten können, sondern um mit ihnen eine Idee zu besprechen.“ Der Felsbrocken, der dem Mitarbeiter vom Herzen fiel, war förmlich durch das Telefon zu hören. Erleichtert schnaufte er aus und hörte sich den Vorschlag der Heimleitung an.

„... und Sie meinen, dass das tatsächlich funktioniert?“, erkundigte er sich ungläubig. „Na ja, das kann ich nicht sagen, aber ich denke, wir alle wissen, dass die aktuelle Vorgehensweise keinerlei Erfolge zeigt. Wir haben im Grunde nichts zu verlieren.“ Nachdenklich malte der Mitarbeiter mit einem Kugelschreiber ein paar undefinierbare Linien auf einen Schmierzettel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Wenn er telefonierte und dabei nachdachte, tat er das oft. Das unterstützte den Denkprozess. „Ich weiß es nicht. Bei allen Ehren, Frau Hummel, ich bin mir nicht sicher, ob diese Maßnahme zum Wohl des Kindes beiträgt.“ „Was wäre die Alternative? Denken Sie allen Ernstes, dass es zum Wohle des Kindes beiträgt, wenn Lisa ständig den Wohnort wechselt, hin und her geschoben wird, in einer geschlossenen Einrichtung landet und als hoffnungsloser Fall aufgegeben wird. Sie ist niemand, der sich dadurch fängt, wenn man ihr die Freiheit wegnimmt. Das Mädchen ist eingesperrt in ihren negativen Erinnerungen und schlechte Erfahrungen halten sie fest, sie wird sich nicht frei fühlen, wenn man sie einsperrt.“ Verärgert grummelte der Jugendamtsmitarbeiter. Die Frau am Telefon sagte die Wahrheit. „Es mag vielleicht die einfachere Lösung sein, einen aufmüpfigen Jugendlichen in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, aber integrieren wird sich nie jemand dadurch, dass man ihn wegsperrt“, setzte sie noch einen obendrauf. „Ich verstehe Ihre Ansichten, Frau Hummel, allerdings sehe ich ein großes Problem an Ihrem Plan. Lisa ist sechzehn Jahre alt und somit noch schulpflichtig. Wie stellen Sie sich die Einhaltung regelmäßiger Schulbesuche vor?“ „In sieben Wochen sind Sommerferien. Bis dahin wird sich vermutlich keine Schule finden, die Lisa unterrichtet und nach den Ferien wird es darauf hinauslaufen, dass sie das letzte Schuljahr wiederholen muss. Sie besitzt mehr Fehltage als Anwesenheitstage. Ich denke, da macht es keinen Unterschied mehr, ob sie die letzten sieben Wochen des Jahres anwesend ist oder beurlaubt wird.“ „Hmmm“, langsam gingen ihm die Argumente aus.

Lisa zählte zu seinen absoluten Sorgenkindern. Bis jetzt gab es noch keine Jugendliche, die ihm so viele Probleme und schlaflose Nächte bescherte wie sie. Er wünsche sich nichts sehnlicher, als dass sich endlich ein Weg finden würde, um sie ruhiger zu bekommen. Schließlich besaß er noch andere Betreuungsfälle, um die er sich ebenfalls kümmern musste. „O. k. Wir starten einen Versuch. Ich vertraue Ihrem Instinkt. Sie haben von mir die Freigabe Ihre Idee umzusetzen. Allerdings werde ich mich in regelmäßigen Abständen vergewissern, dass es zu Fortschritten kommt.“ „Damit kann ich leben.“

Frau Hummel grinste über ihr gesamtes Gesicht, als sie den Hörer einhängte. Jetzt musste sie nur noch Lisa von ihrem Plan überzeugen.

 

Kurz bevor sie Feierabend hatte, besuche sie ihre Klientin in deren Apartment. Mit den Mitarbeitern ihres Teams war mittlerweile alles abgeklärt. Alle wussten Bescheid, nur Lisa noch nicht. Sie würde von dem Plan vermutlich nicht begeistert sein, aber viele andere Möglichkeiten blieben ihr nicht. Energisch klopfte Frau Hummel gegen die Tür. Da sie wusste, dass sie sowieso nicht hereingebeten werden würde, trat sie direkt danach ein. Lisa saß zusammengekauert auf ihrem Bett. Sie wirkte ungewöhnlich verängstigt und ihre Augen sahen aus, als hätte sie lange geweint. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sich Frau Hummel den Schreibtischstuhl und setzte sich vor das Bett. „Wie geht es dir?“ „Haben sie das Jugendamt angerufen?“ „Ja, habe ich.“ „Hmmm. Und wie lange muss ich noch hierbleiben?“ „Bis morgen.“ „O. k.“ Verwundert sah die Heimleitung in das reglose Gesicht von Lisa. „Dich lässt es völlig kalt, dass du morgen wieder ausziehst?“ Lisa zuckte mit den Achseln. „Und dich interessiert es gar nicht, wo du hinkommst?“ Lisa zuckte erneut mit den Achseln. „Was würde es mir bringen, wenn ich wüsste, wohin ich käme? Würde es das besser machen?“ „Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich wäre nicht so cool, wie du gerade bist.“ Lisa zwang sich zu einem Lächeln. „Das macht die Übung. Ich bin es gewohnt ständig umzuziehen. Deshalb packe ich ja auch erst gar nicht mehr meine Koffer aus. Das spart Arbeit.“ Verstehend nickte die Heimleitung. „Vielleicht ändert sich das morgen.“ Lisa zog die Augenbrauen nach oben. „Glauben Sie an Wunder?“ „Nein, zumindest nicht an Wunder direkt. Aber ich glaube daran, dass jeder Mensch jeden Tag eine neue Chance bekommt sein Leben zu ändern und dass es nie zu spät ist, die Richtung zu wechseln.“ „Aha!“ „Ja, und ich bin mir sicher, dass sich morgen Einiges für dich ändert.“ „Das haben schon viele gesagt ...“ „Ich bin aber nicht viele. Wenn ich etwas sage, dann meine ich das auch so.“ „Das haben auch schon viele behauptet.“ „Gut, du wirst es morgen sehen.“

 

Nachdem die Heimleitung ihr Zimmer verlassen hatte, stürzte Lisa ab. Der Boden unter ihren Füßen öffnete sich, der Himmel verfärbte sich dunkel und sie verlor ihr Gleichgewicht. Wie ein Hochseilartist musste sie sich tagtäglich auf einem schmalen Grat bewegen. Bei jedem Schritt musste sie aufpassen, wo sie ihren Fuß absetzte. An manchen Tagen gelang ihr das gut und sie balancierte mit Leichtigkeit auf dem Seil und an anderen Tagen stürzte sie mehrfach ab. Ihre Gefühle schlugen auf sie ein und schmissen sie aus der Bahn oder ihre Gedanken zogen sie in die Tiefe. Niemand sah dieses Seil, über das sie balancierte, nur sie spürte es. Es war unsichtbar und doch gleichzeitig nicht zu übersehen.

Eine Psychologin nannte sie mal eine „Grenzgängerin“. Damals, vor zwei Jahren konnte Lisa mit diesem Begriff nichts anfangen, doch heute verstand sie, was die Psychologin vermutlich ausdrücken wollte. Das Seil markierte eine Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Welten. Auf der einen Seite war alles zerstört. Stürzte sie in diese Richtung ab, regierten sie Wut, Hass und Zorn. Befand sie sich auf dieser Seite, bekam jeder, der ihr in die Quere kam ihren innerlichen Hass ab. Sie schrie, randalierte, begann Ladendiebstähle, verprügelte Leute, die sie doof anschauten ... Kurz: Alle Gefühle, die sie in sich spürte, kehrte sie nach außen. Wie ein brodelnder Vulkan explodierte sie und brach aus. Sie wollte gesehen werden und nicht still sein. Diese Welt war laut – ganz anders wie die Welt auf der anderen Seite. Dort herrschten Ruhe und Einsamkeit. Stürzte sie auf diese Seite ab, wich jegliche Farbe aus ihrem Leben. Die Schatten der Erinnerung legten sich über die Sonne, es wurde kalt und sie fühlte sich verloren. Die Fesseln der Einsamkeit schlangen sich um ihren Brustkorb und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie zog sich zurück, ergriff die Flucht, wollte alleine sein und wurde still. In dieser Welt gab es kein Ventil ihre Gefühle nach außen herauszulassen, sondern sie richtete all ihren Hass und ihre Wut gegen sich selbst. Keine der beiden Seiten war wirklich gesund oder vorteilhaft. Sie schadete sich mit allen Verhaltensweisen. Das eine Extrem war genauso unpassend wie das andere Extrem.

Fröstelnd zog Lisa die Zudecke über ihre Schultern und kuschelte sich ein. Gerade verlor sie sich selbst in der Welt der inneren Einsamkeit. Sie fühlte sich wie der letzte Mensch auf Erden. Verlassen und aufgegeben. Sicherlich war sie nicht unbeteiligt an ihrer Lage, sie hatte es provoziert, aber eigentlich war das trotzdem nicht ihr Verschulden. Doch wenn sie der Heimleitung erklärte, dass sie das alles gar nicht wollte, und sie ihr Verhalten in manchen Situationen gar nicht steuern konnte ... dann würde es das nicht besser machen. Wie erklärt man schließlich jemanden, dass man etwas tut, was man gar nicht tun will, und es dann doch macht, weil sie nicht sie selbst ist – ohne am Ende als verrückt dazustehen? Beschützend rollte sie sich auf der Seite zusammen. Das Leben war kompliziert. Eventuell hatte sie doch einen Dachschaden. Das würde zumindest erklären, wieso sie überall aneckte, nie Freunde fand und sich auf keinen Menschen einlassen konnte.

 

 

Kapitel 6

In der Nacht träumte Lisa unruhig. In einem Zoo stand eine Menschentraube um einen pinken Elefanten herum versammelt. Einige der Leute fotografierten das verängstige Tier, manche fassten es an und wiederum andere schienen schockiert von dem außergewöhnlichen Anblick. Der Elefant verstand die Aufregung um sein Wesen nicht. Er sah verängstigt, fast schon panisch aus. Nervös trippelte er auf der Stelle, doch er wusste, gleichgültig wohin er floh, in dem Zoogehege gäbe es keinen Ort, wo er unbeobachtet wäre. Die Besucher würden ihn finden und weiterhin anstarren. Er spürte, dass er etwas Besonderes war, er unterschied sich von den restlichen Elefanten, doch dieses „besonders sein“ war für ihn nichts Positives. Zu gerne wäre er wie die anderen. Einfach normal. Nicht pink und keine Attraktion. Wehmütig betrachtete Lisa das Schauspiel aus der Ferne. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich mit ihm verbunden. Der Elefant war ihr ähnlich. Auch sie war anders und wurde deshalb oft angestarrt. Wenn sich jemand mit ihr unterhielt, wusste sie nie, ob es ernsthaftes Interesse an ihr war oder ob derjenige sich nur für ihr außergewöhnliches Verhalten interessierte ...

 

Am nächsten Morgen wurde sie von Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben schlugen, geweckt. Das Wetter hatte sich ihrer düsteren Stimmung angepasst. Obwohl es schon nach 8.30 Uhr war, herrschte draußen noch fast Dunkelheit. Schlaftrunken quälte sie sich aus dem Bett und schwankte unter die Dusche. Das kühle Wasser vertrieb die Müdigkeit. Sie schloss ihre Augen und ließ es über ihr Gesicht rinnen. In ihrem Kopf regierte absolute Leere. Der gestrige Tag kam ihr wie ein Traum vor. Er wirkte wie ein Schweizer Käse. Erinnerungslücken, seltsame Gespräche, bei denen sie körperlich anwesend war, das Gefühl nicht mit dem Kopf dabei gewesen zu sein, das Wissen, dass sie heute umziehen sollte ... sie kannte das alles. Es war ihr nicht fremd, aber doch kam es ihr unwirklich vor. Sie beugte sich leicht nach vorne, von dem Wasserstrahl weg und schnappte nach Luft.

 

Frau Hummel war an diesem Morgen pünktlich um acht Uhr an ihrem Arbeitsplatz. Die Nacht hatte sie nicht sonderlich gut geschlafen. Die Gedanken an Lisa und den nächsten Morgen hielten sie wach. Wie würde die Klientin auf ihren Plan reagieren? War es die richtige Entscheidung solch einen Schritt zu wagen? Oder würde sie damit gegen eine Wand fahren? Bald würde sie es erfahren.

 

Pünktlich um zehn Uhr begab sich Lisa mit ihren gepackten Koffern nach unten zum Mitarbeiterbüro, wo die Heimleitung bereits wartete. Obwohl ihre Nerven blank lagen und sie am liebsten gebettelt hätte, dass sie bleiben dürfte, strahlte sie nach außen Coolness aus. Ihr Make-up war noch dunkler als sonst und wurde durch ihre schwarzen Klamotten zusätzlich verstärkt. An ihren Handgelenken trug sie Nietenarmbänder, um ihren Hals ein Pentagramm und auf ihrem T-Shirt stand der Spruch „Fuck dieses beschissene Leben“.

„Wow. Dir liegt offensichtlich sehr viel daran ja keinen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen“, lobte Frau Hummel mit deutlich erkennbarer Ironie in der Stimme. Lisa antwortete darauf mit einem breiten Lächeln, das puren Sarkasmus ausstrahlte. Ja, ihr lag wahrhaftig nicht viel daran, einen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es von Vorteil war direkt klarzustellen, wie sie tickte. Dadurch nahm sie ihren zukünftigen Betreuern unverzüglich die Hoffnung, dass sie jemals ein liebes, braves Mädchen werden würde. Ein extravaganter Kleidungsstil eignete sich hierfür hervorragend. Die Gesichter ihrer Mitmenschen sprachen Bände, wenn sie in diesem Outfit aus dem Auto stieg. Außerdem mochte sie es, wenn der Mitarbeiter vom Jugendamt wegen der, wie er es nannte „viel zu schwarzen, gothic-ähnlichen Fummeln, die sie wie eine depressive Satanistin wirken ließen“, die gesamte Fahrt über mit ihr schimpfte. Sie konnte diesen Anzugträger nicht ausstehen. Er hatte ihre Akte gelesen und meinte sie deshalb zu kennen. Einmal, ein einziges Mal, hatte er in den ganzen vier Jahren ein Einzelgespräch mit ihr geführt und dieses fand direkt zu Beginn statt und dauerte maximal eine Stunde. Seitdem sah sie ihn nur, wenn sie mal wieder eine Einrichtung wechseln musste oder in eine andere Pflegefamilie kam. Er interessierte sich weder für ihre Beweggründe, noch für ihre Interessen, Gefühle oder sonst etwas. Ihm reichte es, wenn er die Akten der Einrichtungen durchlas, mit den Betreuern telefonierte oder Arztbriefe überfliegen konnte.

Für ihn war sie eine Nummer. Eine von vielen. Ein Problemfall, den er loswerden wollte, es aber nicht schaffte. Lisa verabscheute ihn. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie solch ein Mensch auf die Idee kam, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, er interessierte sich sowieso nur für seinen Papierkram und glaubte mehr den Erwachsenen anstatt dem minderjährigen Klienten. Ab und zu erlangte sie sogar den Eindruck, dass er Kinder und Teenager überhaupt nicht leiden konnte. Der Typ war seltsam.

Vor der Tür angekommen blickte sie sich irritiert um. Sie hatte fest damit gerechnet, dass vor dem Haus der Mitarbeiter vom Jugendamt mit seinem teuren Dienstwagen warten würde, um sie abzuholen, doch hier warteten kein fremdes Auto und kein Anzugträger vom Jugendamt. „Wir nehmen den Dienstwagen der Einrichtung“, erklärte Frau Hummel, die hinter ihrer Klientin stand und für einen kurzen Moment das irritierte Gesicht genoss. In Gedanken malte sie sich aus, wie Lisa reagieren würde, wenn sie begriff, wo ihre Fahrt sie heute hinführte.

Sie öffnete den Kofferraum des roten Opels und Lisa lud ihren Koffer und Rucksack ein. „Fahren sie mich in die neue Einrichtung?“ „Ja, sieht ganz so aus.“ „Wieso?“ Lisas Stimme war die Verwunderung anzumerken. Sie wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass Frau Hummel sie begleitete. „Dein Betreuer vom Jugendamt ist heute verhindert und hat mir erlaubt, dich an deinen neuen Aufenthaltsort zu bringen. Außerdem kenne ich dort jemanden, den ich gerne besuchen möchte.“ Weiterhin verwirrt stieg Lisa auf der Beifahrerseite ein. Die Gesamtsituation hatte was Seltsames. Noch konnte sie nicht benennen was, aber es fühlte sich befremdlich an. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften. Die Luft um sie herum kühlte ab, ihre Gedanken wurden leise, in ihrem Kopf breitete sich eine Art Nebel aus und die Zeit blieb stehen. Wie durch einen Tunnel nahm sie wahr, wie die Heimleitung das Radio einschaltete.

Einige Sekunden lang sah Lisa noch die Straße vor ihren Augen, doch dann verschwammen die Konturen der regennassen Fahrbahn und andere Bilder tauchten auf. Schreckliche Bilder. Erinnerungen, an die sie sich nicht mehr erinnern wollte. Sie saß im Zimmer ihres ehemaligen Schuldirektors. Gegen die Scheibe peitschte Regen und Sturm rüttelte an den Rollläden. Der Rektor, der zeitgleich auch ihr Mathelehrer war, saß vor seinem Schreibtisch. Sie wagte es nicht, ihn anzuschauen. Sein Aussehen widerte sie an. Ängstlich überschlug sie ihre Beine und schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, um sich zu schützen. Wieso sie so angsterfüllt war, wusste sie selbst nicht.

Herr Walter war ein guter Freund ihres Vaters. Sie kannte ihn schon seit ihrer Kindheit. Er war streng, aber gerecht. Hin und wieder wurde er etwas lauter, wenn die Jungs in der Klasse störten, doch nie schrie er sie an. Zu ihr war er immer nett. Ungewöhnlich nett. Sicherlich fürchtete er sich davor, Ärger mit ihrem Vater zu bekommen, wenn er sie unfair behandelte. Angestrengt starrte sie gegen die Fensterscheibe. Wieso fühlte sich die Atmosphäre in diesem Raum beklemmend an? Was hatte sie verbrochen? Weshalb besaß sie solch eine Angst, den Mann ins Gesicht zuschauen?

„Meine kleine Lisa“, hauchte Herr Walter. Seine Stimme löste eine Gänsehaut auf ihrem Rücken aus. „Meine ängstliche kleine Lisa.“ Im Augenwinkel nahm sie sein breites Grinsen wahr. Seine Augen funkelten ungewohnt. Sie erkannte den Gesichtsausdruck kaum wieder. „Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand wird dir etwas tun. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz.“ Herzrasen. Panik. Lisa schnappte nach Luft. Die Umrisse ihrer Umgebung begannen sich zu drehen, ihr wurde schwindelig. Sie schloss ihre Augenlider. Als sie sie erneut öffnete, sah sie die Scheibenwischer, die sich auf der Frontscheibe ununterbrochen hin und her bewegten. Ihr Herz schlug weiterhin wie wild, doch die Bilder waren aus ihrem Kopf verschwunden.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte Frau Hummel, die mitbekam, wie Lisa in den letzten Sekunden plötzlich immer blasser und blasser wurde. Zögerlich nickte sie. Sie konnte nicht in Worte fassen, was gerade passiert war. In den letzten Monaten kam es zunehmend häufiger vor, dass irgendwelche Bilder ohne Vorwarnung in ihren Gedanken auftauchten und sich in den Vordergrund drängten. Erst dachte sie, dass diese kurzen Erinnerungsfetzen sie lediglich ärgern wollten, doch diese Theorie wurde recht schnell widerlegt. Denn diese Erinnerungsfetzen konnten sie nicht ärgern, es waren nämlich nicht ihre Erinnerungen. Die Orte, an denen die kurzen Ausschnitte spielen, kannte sie meistens und die Menschen, die dort auftauchten auch, aber die Handlungen waren ihr völlig fremd. Ihr Gehirn bastelte sich vollkommen falsche Filme zusammen und versuchten ihr diese, als wahr zu verkaufen. Sie fantasierte. Sie besaß keine Angst vor Herrn Walter. Wieso auch? Er war immer nett zu ihr, kümmerte sich um sie, sie hatte bei ihm gute Noten, er gab ihr teilweise sogar Nachhilfeunterricht, damit ihre Noten noch besser wurden. Sie mochte ihn.

„Es hat gerade gewirkt, als wärst du gedanklich in einer vollkommen anderen Welt“, hakte Frau Hummel nach. „Nein, es ist alles o. k.“ „Du warst komplett weggetreten.“ „Es ist alles in Ordnung“, zischte Lisa. Sie wollte nicht darüber reden und die Nachfragen der Heimleitung nervten sie. Eine kurze Schweigepause entstand. „Wieso tun Sie das?“ „Was?“ „Das.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Sie sind nett zu mir, obwohl ich ein Arschloch bin. Sie fahren mich in die neue Einrichtung, andere Betreuer waren froh, wenn sie mich so schnell wie möglich losgeworden sind. Wieso suchen Sie weiterhin den Kontakt zu mir?“ „Hmmm ... Vielleicht bin ich verrückt oder vielleicht will ich dich einfach nicht kampflos aufgeben. Außerdem habe ich dir nie erzählt, wohin wir fahren. Womöglich verfolge ich einen anderen Plan, als du annimmst.“

Der letzte Satz der Antwort stimmte Lisa misstrauisch. Was hatte das zu bedeuten? „Wohin fahren wir?“ Triumphierend lächelte Frau Hummel ihre Klientin an. „Das wirst du sehen, wenn wir dort sind.“ Fassungslos blieb Lisa der Mund offenstehen. Wut breitete sich in ihr aus. Sie hatte ein Recht darauf zu wissen, wohin die Fahrt führte. Wieso wollte sie es ihr nicht sagen? Wurde sie etwa in eine geschlossene Einrichtung gebracht? Oder in eine Psychiatrie?

„Alles gut“, beruhigte sie Frau Hummel. „Du brauchst deine Fäuste nicht zu ballen und auch keinen roten Kopf zu bekommen. Vertraue mir, ich arbeite nicht mit Zwang. Du wirst nicht weggesperrt. Ich denke, dass dir die neue Umgebung guttun wird.“ Wütend schnaufte Lisa durch die Nase. Faszinierend, wie alle offensichtlich zu wissen meinten, was ihr guttat und was nicht.

Angestrengt starrte sie aus dem Fenster und versuchte einen Hinweis zu erkennen, wo sie sich befanden. Die Umgebung um sie wurde flacher und die bebauten Gebiete weniger. Die Gegend wirkte sehr ländlich, fast schon abgelegen. Die anfänglich breite Straße wurde schmaler und nach einigen Kilometer ging sie in einen Feldweg über. Lisas Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie ahnte Schlimmes. Sie bereute es, in das Auto eingestiegen zu sein. Angespannt knirschte sie mit den Zähnen und knetete ihre Fäuste. Die Schlaglöcher schüttelten den Wagen durch und der Matsch spritze seitlich der Reifen davon. Noch ein letztes Mal bogen sie an einer Abzweigung ab und dann verlangsamte sich die Fahrgeschwindigkeit. Sie fuhren durch ein altes Holztor und dann bremste Frau Hummel. Mit großen Augen schaute Lisa sich um. „Das ist nicht ihr Ernst! Das können sie nicht machen.“ „Und ob ich das kann“, lächelte Frau Hummel. „Willkommen in deinem neuen Zuhause.“ „Nee. Das können Sie vergessen. Hier steige ich nicht aus! Das ist ein Bauernhof. Ich werde garantiert nicht mitten im Nirgendwo in einem Matschloch leben!“ „Du wirst keine andere Wahl haben.“ Zornig verschränkte Lisa die Arme vor ihrer Brust. „Nein!“ Kopfschüttelnd zog Frau Hummel den Schlüssel aus dem Zündschloss und öffnete ihre Tür. „Kommst du mit?“ „Nein!“ Wie ein trotziges Kind zog sie ihre Mundwinkel beleidigt nach unten und als sie die Heimleitung bittend ansah, drückte sie den Türverriegelungsknopf nach unten. „Ich steige hier nicht aus!“ „Ich verstehe“, seufzte die Heimleitung. „Wenn du mich suchst, ich gehe schon mal rein in die warme Stube.“

Wütend schaute Lisa ihr hinterher, wie sie ausstieg, durch den Matsch stampfte und an der Tür klingelte. Ein Mann öffnete ihr. Er sah aus wie ein einsamer Almbewohner. Er trug eine dunkelbraune, deutlich abgenutzte Cordhose, ein blaurot kariertes Holzfällerhemd, und ein grauer, langer Bart verdeckte fast sein gesamtes Gesicht. Er nickte Frau Hummel zu und sie wechselten ein paar Worte. Was genau sie sagten, verstand Lisa im Auto nicht, aber begeistert schien der Mann nicht zu sein. Er runzelte die Stirn und schaute nachdenklich in ihre Richtung. Eingeschüchtert ließ sie sich auf dem Beifahrersitz ein Stück nach unten sinken und machte sich klein. Sein Blick hatte etwas Seltsames. Selbst auf die mehreren Meter Entfernung konnte sie erkennen, dass er smaragdgrüne Augen besaß. Mit diesen schien er alles sehen zu können. Nicht nur das, was andere Menschen erkannten, sondern mehr. Er drang durch das Fahrzeug hindurch, bis zu ihr und selbst da schien sein durchdringender Blick keinen Halt zu machen. Es fühlte sich an, als könnte er sie durchleuchten. Sie hasste solche Menschen, die die Fähigkeit besaßen auf Anhieb hinter ihre Fassade sehen zu können. Wieso war sie bloß in dieses Auto gestiegen? Weshalb hatte sie das magische Talent ständig von einer doofen Situation in noch eine bescheidenere Situation zu rutschen?

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Frau Hummel mit dem Mann im Haus verschwand. „Na toll!“, fluchte sie. „Echt toll gemacht! Jetzt bist du auf einem Bauernhof gelandet, der sich mitten im Nirgendwo befindet und darfst wahrscheinlich täglich Kühe melken und Schweineställe sauber machen! Echt genial! Wie doof kann ich eigentlich sein?“ Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange, die sie jedoch schnell wegwischte. Sie wollte nicht weinen, nicht jetzt. Besonders in den ersten Stunden in einer neuen Umgebung war es wichtig zu demonstrieren, wie hoch die Mauern um ihre Gefühle gebaut waren. Niemand durfte erkennen, wie schwach und verletzlich sie war.

 

Minuten vergingen, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine Stunde? Jede Sekunde fühlte sich für Lisa an wie eine Ewigkeit. Unruhe breitete sich in ihr aus. Sie verlor den Überblick über die Zeit. In Wirklichkeit wartete sie knapp zwanzig Minuten, doch ihrem Gefühl nach handelte es sich um Stunden. Ihre Gedanken kreisten um alles Mögliche und gleichzeitig war ihr Kopf vollkommen leer. Erneut verschwammen Grenzen zwischen alten Erinnerungen und der Realität. Sie verlor sich in sich selbst.

 

Ihr alter Freund bat sie in die Küche einzutreten und sich an den hölzernen Tisch zu setzen. Mit einem Seufzen ließ sich Frau Hummel auf die in die Jahre gekommene Eckbank nieder. „Es ist schön, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ „Hmmm“, der alte Mann grummelte wenig begeistert. „Ich habe es dir versprochen. Aber bilde dir ja nichts darauf ein. Ich tue es nur wegen des Versprechens.“ Frau Hummel versuchte, ihm in die Augen zu sehen, doch der Herr wich ihr aus. „Danke Andreas. Vielen, vielen Dank. Ich denke, Lisa wird es guttun ein paar Wochen hier zu sein. Und dir auch!“ „Hmm ... Ich weiß es nicht. Es wirkt nicht so, als wäre sie erfreut darüber ihre Zeit hier verbringen zu dürfen.“ „Ach was. Sie braucht nur ein bisschen um sich einzugewöhnen.“ Müde lächelte der Mann sie an. „Bei aller Liebe? Dieser Aussage glaubst du jetzt selbst nicht, oder?“ Frau Hummel seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich hoffe es und wünsche es ihr und auch dir. Ich wüsste keine Alternative, die besser wäre. Früher hast du oft mit solchen Jugendlichen gearbeitet. Es gibt niemanden, dem ich mehr zutraue als dir. Du schaffst das.“ „Früher!“, unterbrach sie der Mann, der nun grimmig, fast schon verärgert schaute. „Ja, früher habe ich das getan. Aber damals herrschten noch andere Umstände. Da war ich nicht alleine.“ „... du musst jetzt auch nicht alleine sein. Falls du es noch nicht begriffen hast, das Leben geht weiter. Die Vergangenheit ist um, die Welt ist nicht stehen geblieben.“ Zornig knirschte der Herr mit den Zähnen. Am liebsten hätte er erneut widersprochen, doch ihm fehlten die Kraft und die Motivation das gefühlte tausendste Mal über dieses Thema zu diskutieren. Er wollte nicht schon wieder alte Wunde aufreißen. „Du gehst mit Problemen anders um als ich“, murmelte er leise. „Ja, das tue ich“, antwortete die Heimleitung selbstbewusst.

 

Während die alten Freunde im Hausinnern miteinander sprachen, wurde Lisa im Auto zunehmend unsicherer. Nervös knetete sie ihre Hände. „Päh! Kühe melken, Schweine füttern, Ställe misten, als wenn das meine Probleme lösen würde.“ Voller Missgunst betrachtete sie durch die verregneten Autoscheiben die Umgebung. Überall standen Pfützen. Außer dem Hauptgebäude, welches offensichtlich als Wohngebäude diente, gab es noch eine größere Scheune, die einige Meter rechts daneben anfing und ca. fünfzehn Meter lang war. Sie war somit ungefähr halb so lang wie das Hauptgebäude. Das Wohngebäude bestand aus Stein und die Scheune aus Holz. Beide schienen bereits etwas in die Jahre gekommen zu sein. Zwischen den Gebäuden führte ein Schotterweg hindurch. Wohin konnte man aus dem Auto heraus nicht erkennen. Vermutlich auf den hinteren Teil des Grundstücks. Links neben dem Wohngebäude stand ebenfalls ein weiteres Gemäuer. Der Abstand zwischen den beiden Gebäuden war deutlich größer als zu der Scheune und es stand quer zu der Wohnung. Verlängerte man in Gedanken das Hauptgebäude, bis es an das andere Gebäude anstieß, entstand eine T-Form. Vom Aussehen her musste es eine Stallung sein. In der Mitte der langen Seite befand sich ein zweiflügliges Holztor und darüber stand „Hof Lindenhof“.

Lisa runzelte die Stirn, als sie die zum Teil schon abgeblätterte, dunkelbraun aufgemalte Schrift auf dem wohl ehemals weißen, nun eher grauen Gebäude las. „Hof Lindenhof“, das klang erstens doppelt gemoppelt und zweitens hörte sich das an, als wenn man versuchte, etwas Hässliches schön zu reden. Unter dem Namen Lindenhof dürfte man sich im Normalfall etwas Prachtvolleres vorstellen als einen veralteten Bauernhof. Hoffentlich musste sie nicht allzu lange in dieser Einrichtung bleiben. Das Gelände war ihr bereits jetzt schon unsympathisch!

Weitere Minuten vergingen. Langsam wechselte Lisas Ungeduld in Verärgerung. „Was machen die so lange in dem Haus?“ Auch wenn sie keinesfalls vorhatte mehr Zeit hier zu verbringen, als es tatsächlich von Nöten war, fühlte sie sich aktuell vernachlässigt und vergessen. Sie war schließlich eine neue Klientin. Eigentlich müsste sie die Einrichtung gezeigt bekommen, man müsste ihr ein Zimmer zuweisen, die Regeln erklären ... und sie nicht in einem mittlerweile schon eiskalten Auto sitzen lassen. Zornig riss sie die Tür auf, zog ihre schwarze Sweat-Shirt-Jacke enger um ihren Körper und verließ das Auto. Mit großen Schritten und wohlbedacht in keine Pfütze zu treten kämpfte sie sich in Richtung Hauseingang.

 

„Ah, hast du dich doch dazu entschieden auszusteigen?“, neckte Frau Hummel, als sie nach dem Klingeln die Tür öffnete und ihre Klientin vor der Tür stehen sah. „Offensichtlich ist es dir doch zu kalt und zu langweilig geworden im Auto zu warten.“

Ohne auf diese Aussage einzugehen, folgte Lisa ihr durch einen kleinen Flur in die Küche des Hauses, wo der Mann, den sie vorhin in der Tür stehen sah, am Esstisch saß. Er schaute mürrisch aus. Von Nahem wirkte sein Gesicht noch härter als von der Ferne aus. Tiefe Falten zeichneten seine Stirn. Mit solch einem alten Betreuer hatte sie es noch nie zu tun. Wieder schien sein Blick durch sie hindurchzugehen.

„Das ist Lisa“, stellte Frau Hummel das Mädchen vor. „Und das ist Herr Volkmann. Bei ihm wirst du deine nächste Zeit verbringen.“ Desinteressiert schaute sie zu Boden, während der ältere Mann ihr zunickte. Keiner der beiden wirkte darüber erfreut den anderen kennenzulernen. Die einzige Person, die in diesem Raum ein Lächeln im Gesicht trug und optimistisch aussah, war Frau Hummel. „Möchtest du dich erst ein wenig zu uns setzen, oder willst du direkt dein Gepäck reinholen?“ Ohne großartig zu überlegen, antwortete Lisa: „Ich würde mich gerne in mein Zimmer zurückziehen. Ich habe kein Interesse daran hier irgendwen kennenzulernen oder zu reden. Mittagessen oder Abendessen brauche ich auch nicht.“

Mit großen Augen schaute der Mann sie an. Sein Gesichtsausdruck wirkte nicht schockiert oder entsetzt, sondern lediglich erstaunt, was Lisa verwunderte. Normalerweise schaffte sie es mit solchen schnippigen Worten, direkt zu Beginn eines Kennenlernens, ihr Sympathiepunkte zu verlieren. In den meisten Fällen verärgerte sie damit ihr Gegenüber so, dass dadurch bereits die erste kleinere Diskussion provoziert wurde. Doch Herrn Volkmann blieb unbeeindruckt. Stattdessen entgegnete er ihr in einem kühlen Ton: „Ich weiß nicht, welche Vorstellungen du hast, aber viel mehr Menschen zum Kennenlernen wirst du hier nicht finden. Ich bin der Einzige, der auf dem Hof wohnt.“

Lautlos klappte Lisa ihren Mund auf. Sie fühlte sich wie in einem falschen Film. Bis eben dachte sie, dass sie die Situation noch halbwegs einschätzen und unter Kontrolle hatte, doch das war nun nicht mehr Fall. Welches Spiel wurde mit ihr gespielt? „Moment ...“, versuchte sie Ordnung in das Chaos zu bringen. „Ich bin die einzige Jugendliche, die hier wohnen soll?“ „Ja, sieht wohl so aus.“ Entsetzt starrte sie ihre ehemalige Heimleitung an, die weiterhin ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte. „Was soll ich hier? Was ist das für eine bescheuerte Einrichtung? Weiß das Jugendamt, dass Sie mich auf einem Bauernhof aussetzen?“ In ihrer Stimme schwang ein leichter Tonfall von Panik mit. „Ganz ruhig Lisa. Ja, das Jugendamt weiß Bescheid“, versuchte Frau Hummel zu beschwichtigen. „Ich setze dich nicht aus. Es ist alles abgesprochen. Ich wollte gestern mit dir reden, erinnerst du dich? Da hast du ein Gespräch allerdings lautstark abgewehrt. Herr Volkmann ist ein alter Freund von mir. Ich kenne ihn schon ewig. Wir haben vor Jahren zusammengearbeitet. Er hat hier, auf diesem Hof, eine Jugendeinrichtung geleitet, in der Jugendliche aufgefangen wurden, die ansonsten auf der Straße gelandet wären. Mithilfe von Arbeitstherapien hat er jungen Menschen neue Hoffnung gegeben und Perspektive aufgezeigt, wie sie wieder zurück in ein normales Leben kehren können.“

Das Entsetzen war und blieb Lisa weiterhin ins Gesicht geschrieben. Die gesprochenen Worte traten kaum noch an sie heran. Sie hörte sie wie durch einen Dunst. Die Realität um sie herum entfernte sich und aufgeschnappte Wortfetzen setzen sich neu zusammen. Arbeitstherapie, Jugendliche, die kurz davor waren auf der Straße zu landen ... das alles kannte sie. In einem Buch hatte sie bereits davon gelesen. Sie musste sich in einem Bootcamp befinden! Wut und Angst breiteten sich in ihrem Körper aus. „Wie können Sie mir das antun?“, zische sie.

Der Mann, der bis gerade noch teilnahmslos dem Gespräch folgte, lachte laut auf. „Genau das habe ich sie auch gefragt. Wie kannst du mir das antun?“ Perplex schaute Lisa ihn an. „Ja, das meine ich ernst: Denkst du etwa, ich bin davon begeistert? Seit zwei Jahren wohnen keine Jugendlichen mehr auf dem Hof. Ich habe mich an meinen Frühruhestand gewöhnt.“ Ungläubig schüttelte das Teenagermädchen den Kopf. Konnte bitte jetzt der Regisseur des Filmes aus seinem Versteck herauskommen und ganz laut „cut“ rufen? Das, was gerade geschah, konnte nicht ernsthaft geplant sein. Bestimmt wollte ihr die Heimleitung einen Streich spielen, um ihr vor Augen zu führen, was geschah, wenn sie sich weiterhin nicht benehmen wollte. Oder vielleicht hingen auch irgendwo versteckte Kameras und jemand versuchte sie zu veralbern.

„Du schaust so ungläubig“, meinte Frau Hummel. „Oh ja, das tue ich! Ich glaube Ihnen kein Wort! Sie lügen mich an. Sie dürfen mich gar nicht in ein Bootcamp schicken. Das ist in Deutschland verboten!“

Herr Volkmann prustete laut los. „Bootcamp?! Wirklich?“ Zornig funkelte Frau Hummel ihn und danach Lisa an. Ihre Fröhlichkeit wich langsam Unsicherheit. Offensichtlich prallten hier zwei Dickköpfe aufeinander. Vor wenigen Stunden hielt sie es noch für eine absolut geniale Idee, Lisa auf den Hof zu bringen, doch nun war sie sich nicht mehr sicher. Würde ihr Freund mit Lisa zurechtkommen oder würde es in einem gigantischen Streit enden? Sie hatte dem Mitarbeiter vom Jugendamt zugesichert, dass es der Klientin guttun würde und auch sie selbst steckte große Hoffnungen in die alternative Wohngruppe, aber was tat sie, wenn der Versuch nach hinten losging und scheiterte? Soweit sollte sie besser noch nicht denken.

 

Nach etwas Überredungskunst überzeugte Frau Hummel Lisa davon, dass sie sich in keinem Bootcamp befand, und sie bitte ihre Koffer aus dem Auto ausladen sollte. Herr Volkmann wollte ihr dabei helfen, um ihr anschließend ihr Zimmer zu zeigen.

Die Stimmung schien wie eingefroren. Keiner der Beteiligten gab ein Wort von sich. „Sicherlich müssen sich alle noch an die neuen Umstände gewöhnen“, machte sich Frau Hummel in Gedanken selbst Mut. Lisa sah man an, dass sie sich überfordert und verunsichert vorkam. Sie hatte nicht damit gerechnet, auf einem Bauernhof zu landen. Und ihr Freund musste sich ebenfalls erst daran gewöhnen wieder menschliche Gesellschaft um sich herum zu haben. Zwei Jahre lebte er nun schon alleine. Seit dem Vorfall damals hatte er sich völlig zurückgezogen und von seiner Umwelt abgekapselt.

Kapitel 7

Den Nachmittag verbrachte Lisa in ihrem Zimmer. Mit seitlich ausgestreckten Armen hatte sie sich rückwärts auf die Matratze fallen lassen, die Beine nach unten auf den Boden hängen lassend. Ihr Blick war starr gegen die Holzdecke über sich gerichtet.

Das zugeteilte Zimmer befand sich im Obergeschoss des Hauses. Über eine Tür, die vom Eingangsflur abging, gelangte man über eine schmale Treppe in den ersten Stock. Bei jedem Schritt knarrten die Stufen unter ihren Füßen und es stellte eine Herausforderung dar, nicht bei jedem Meter mit dem Gepäck an die Wand anzustoßen. Oben angekommen ging die Treppen in einem langen Flur über. Ein ca. zwei Meter breiter Korridor führte an der äußeren Hauswand, die Richtung Vorderseite des Grundstückes, also zu dem Eingangstor und Vorplatz hinzeigte, die komplette Hausseite entlang. Alle paar Meter war ein Fenster in die Wand eingelassen, sodass ein gleichmäßiger Lichteinfall vorhanden war. Der Boden bestand aus einem alten, wohl ehemals roten, mittlerweile jedoch eher bräunlichen Teppich. An den Wänden hingen alte Fotos und Zeichnungen. Da der Herr des Hauses ein strammes Tempo vorgab, blieb ihr allerdings nicht allzu viel Zeit, die Bilder genauer zu begutachten. Das Einzige was ihr auffiel, war, dass auf den meisten Bildern Pferde abgebildet waren.

An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zweigten zahlreiche Türen in unterschiedliche Zimmer ab. Wie viele es exakt waren, war in der kurzen Zeit nicht zu erfassen. An der dritten Tür blieb Herr Volkmann das erste Mal stehen.

„Hier befindet sich das Badezimmer. Toilette, Badewanne, Dusche, Waschbecken. Keine Luxuseinrichtung, aber immerhin hast du warmes Wasser“, erklärte er, dann ging er eine Türe weiter und öffnete diese. „Und das wird dein Zimmer sein. Ebenfalls kein Luxus, aber zum Leben reicht es.“

Des Weiteren setzte er sie in Kenntnis, dass die restlichen Räume der Etage tabu seien, mit der Ausnahme er würde es ihr erlauben eines der Zimmer zu betreten. Zum Beispiel den Wäscheraum, um frische Wäsche zu holen oder schmutzige Sachen zu waschen. Besonders die Türen am hinteren Ende des Flurs würden sie nichts angehen. Sollte er sie jemals in diesem Bereich des Korridors erwischen, würde er grantig werden. Lisa ging diese Drohung solide gesagt am Hintern vorbei. Sie besaß nicht den Plan, sich freiwillig in dem Haus umzusehen. Lustlos hatte sie ihr Gepäck in die Ecke neben der Tür geschleudert und mit eindeutigen Blicken und Gesten den zwei Erwachsenen signalisiert, dass sie alleine sein wollte. Mit Handbewegungen scheuchte sie beide von der Tür weg und schloss diese direkt vor deren Nase.

In letzter Sekunde schaffte es Frau Hummel gerade noch, ihrer ehemaligen Klientin einen positiven Start auf dem Hof zu wünschen und sich zu verabschieden. Von Lisa kam allerdings keine Antwort mehr zurück.

 

Nun lag sie hier, wie ein nasser Sack auf dem unbezogenen Bett. Das Bettlaken und der Bettüberzug lagen noch auf dem Schreibtischstuhl, der vor dem Tisch an der gegenüberliegenden Wand stand. Daneben stand der Kleiderschrank und in der Ecke dahinter lag ihr lustlos abgeworfenes Gepäck. Gegenüber der Zimmertür befand sich ein zweiflügeliges Fenster, das von einem halb zugezogenen Vorhang verdeckt wurde. Der Vorhang war bunt geblümt und sah aus, als würde er aus dem vorherigen Jahrhundert stammen. Überhaupt wirkte die Einrichtung veraltet.

Während sie wie versteinert dalag und die hölzernen Latten der Deckenverkleidung betrachtete, kamen ihr immer wieder Bilder in den Kopf. Erinnerungen an alte Einrichtungen und Pflegefamilien. Wie bei einem Film im Fernsehen schaute sie sich verschiedene Episoden ihres Lebens an und nahm die dazugehörigen Gefühle noch einmal wahr. Bei ihrem ersten Einzug in eine Wohngruppe fühlte sie sich sehr traurig.

Ihre Eltern waren noch keine Woche tot, und sie wurde aus ihrer alten Umgebung herausgerissen. Von jetzt auf gleich musste sie mit einem Betreuer vom Jugendamt zwei Koffer packen und kam anschließend in eine Wohngruppe, die mehrere Kilometer von ihrem alten Heimatort entfernt lag. Großeltern oder Verwandte, die sie aufnehmen gekonnt hätten, gab es nicht.

Die ersten Wochen in der Wohngruppe stellten für sie die reinste Qual dar. Immer wieder sah sie den Unfall, ihren toten Vater auf dem Fahrersitz und ihre Mutter, wie sie von Sanitätern reanimiert wurde. Sie selbst saß bei dem Unfall auf dem Rücksitz. Wie durch ein Wunder überlebte sie den Aufprall fast unbeschadet. Sie erlitt lediglich ein paar Kratzer, Schürfwunden und Prellungen. Zumindest äußerlich. In ihr drinnen sah es allerdings komplett anders aus. Seelisch starb sie bei dem Ereignis. Seit diesem Tag hatte sie nie wieder richtig lachen können. Sie gab sich selbst die Schuld daran, dass ihr Vater die Kontrolle über den Wagen verlor. Zwar versuchten ihr sämtliche Menschen aus ihrer Umgebung, einzureden, dass sie keinerlei Schuld an dem Tod ihrer Eltern besaß, doch sie selbst wusste es besser. Sie war schuldig. Sie hatte ihre Eltern umgebracht.

Bei einem Gespräch mit einer Psychologin rastete sie deswegen sogar einmal so aus, dass sie anschließend mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt werden musste. Die Psychologin probierte ihr klarzumachen, dass gewisse Dinge auf der Welt passieren und dass man diese nicht verhindern kann. Niemand ist daran schuld, es passiert einfach. Man musste nur einen Weg finden, wie man damit zurechtkam. Sich selbst alles aufladen, für das Schicksal verantwortlich fühlen und ein Leben lang zu leiden, sei allerdings kein Weg, um damit irgendwann abschließen zu können. Diese Aussage erzeugte in ihr eine extreme Wut. Die Frau besaß keine Ahnung von dem, was sie sagte. Sie wusste nicht, weshalb der Unfall zustande gekommen war, sie kannte den Auslöser nicht und sie konnte auch nicht nachvollziehen, was in ihren Gedanken vorging. Sie hatte studiert und Bücher darüber gelesen, wie sich Betroffene nach solch einem Verlust fühlen müssen, doch von wahrem Leben hatte sie keinerlei Ahnung. Lisa konnte nicht vergessen, was passiert war und sie wollte es auch gar nicht vergessen.

Nach und nach wurde sie zunehmend stiller. Ihre Schuldgefühle und ihre Trauer schienen sie von innen aufzufressen. In der ersten Wohngruppe gehörte sie zu den Ältesten. Sie teilte sich ein Zimmer mit zwei jüngeren Mädchen, die sie jedoch gnadenlos dominierten. Sie stahlen Geld aus ihrem Portemonnaie, versteckten ihre Sachen und kippten Kleister in ihren Schulranzen. All das nahm sie schweigend hin. Nach außen hin zeigte sie kaum Gefühl. Da sie Mobbing bereits von ihrer alten Schule kannte, wusste sie, dass es keinen Sinn hatte sich zu wehren. Je mehr sie auf die Mobbereien einging, desto schlimmer würde es werden.

Gedanklich schweifte sie bereits in dieser Zeit öfters ab. Seitdem sie denken konnte, besaß sie eine Fähigkeit sich aus unangenehmen Situationen gedanklich herauszuziehen. Sie schloss ihre Augen, wünschte sich weit weg und danach war es, als wenn sie in einer anderen Welt wäre. Ihr Körper blieb weiterhin anwesend und funktionierte, aber sie selbst, also ihr Inneres Ich, ihre Gedanken und Gefühle verschwanden hinter einer Nebelwand. Verschwommen nahm sie noch wahr, was um sie herum geschah, doch es interessierte sie nicht mehr. Sie fühlte sich wie in Watte eingepackt. Meistens konnte sie dieses Gefühl genießen. Wie auf einer Wolke schwebte sie dann davon. Doch manchmal passierten auch seltsame Dinge, während sie in Gedanken abdriftete. Hin und wieder flog ihre Wolke mit ihr so weit weg, dass sie sich kaum noch an die letzten Stunden erinnern konnte. Sie schaute auf die Uhr und auf einmal war es drei Stunden später oder sie befand sich an einem anderen Ort. Wie sie dahin kam oder was in der Zwischenzeit vorgefallen war, wusste sie nicht. Diese Momente kamen ihr unheimlich vor. Jedoch machte sie sich nie größere Gedanken darum. Warum auch? Sie kannte es, es war nichts Abnormales oder Beängstigendes für sie. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob dieses Davonfliegen tatsächlich etwas Besonderes war. Nie hatte sie mit jemandem darüber geredet, weil sie annahm, dass jede Person das ab und zu tat. Vielleicht nicht in der Intensität, in der sie es tat, aber Tagträume hatten doch fast alle Menschen, oder? Und etwas anderes war dieses „sich entziehen“ aus unangenehmen Situationen auch nicht.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739443980
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Borderline Vergewaltigung Depression Psyche DIS

Autor

  • Laura Adrian (Autor:in)

Laura Adrian wurde am 19.4.1992 in Südhessen, wo sie auch heute wieder lebt, geboren. Ihre Bücher handeln größtenteils von eher "schwierigen" Themen. Bisher hat sie sieben Werke veröffentlicht. Weitere befinden sich in Planung. In ihrer Freizeit ist sie ehrenamtlich beim THW (Technisches Hilfswerk) aktiv.
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Titel: Zersplitterte Seele