Lade Inhalt...

Doch alle schweigen

von Julia Augustin (Autor:in)
173 Seiten

Zusammenfassung

Kristina möchte endlich alles hinter sich lassen: Die Stadt, die Wohnung, die Menschen, eine Vergangenheit. In Hamburg soll alles besser werden. Viel zu kurz war der Urlaub für Miriam. Als Stewardess bleibt wenig Zeit für soziales Leben. Aber vielleicht wartet diesmal jemand in Hamburg auf sie. Nala und Safiya haben gemeinsam alles verlassen: Eine Familie, Tradition und Heimat. Nach zwei Jahren der Trennung werden sie sich in Hamburg endlich wiedersehen. Markus nimmt sich eine Auszeit. Das Lehrerleben langweilt ihn. An ein paar Tagen möchte er mit seinen Freunden das wahre Leben feiern. Nichts in Katjas Alltag geht ohne Stress. Soeben hat ihre mittlerweile offenbar schon an Demenz erkrankte Mutter sie zum Zug gefahren, wo sie für einige Stunden durchatmen kann. Danach warten die Arbeit in der Orthopädie-Praxis, ein gemeinsamer Abend mit Freund*innen und ganz nebenbei eine Familie auf sie. Für Manfred ist alles an diesem Tag Aufregung. In seinem Alter fährt er nur noch selten mit der Bahn. Doch welche Hürden nimmt man nicht für eine geliebte Enkelin auf sich? Ingo ist tatsächlich "Wer". Sein Leben verläuft nach Plan. Immerhin ist er Anwalt. Da kennt er seine Rechte ziemlich genau. Und fast wäre es eine gewöhnliche Zugfahrt, wäre da nicht dieser Vorfall. Mehr als jede zehnte Frau in Deutschland ist mindestens einmal von einer strafrechtlich relevanten Form sexualisierter Gewalt betroffen. Folge sind nicht nur körperliche Wunden, sondern auch seelische. Hinzu kommen zum Teil gravierende Veränderungen des persönlichen Alltags. Nicht umsonst hat die WHO Gewalt gegen Frauen zu einem der größten Gesundheitsprobleme weltweit erklärt. Bedeutend häufiger findet sexuelle Belästigung im Alltag statt. Dies geschieht bei der Arbeit, im vertrauten Umfeld, in der Bahn. Das Erlebte hat ähnlich anderer Formen sexualisierter Gewalt Folgen für die Gesundheit Betroffener. Für die Opfer ist es oft schwierig, über das Erfahrene zu sprechen. Dabei leben sie mitten unter uns, sitzen vielleicht in dem gleichen Zugabteil, schweigen wie auch wir. Zudem müssen doch irgendwo die Täter*innen bleiben. Haben sie sich eventuell genauso unter die Fahrgäste gemischt? Wie sieht denn so ein Leben aus nach der Gewalt? Wie können wir erkennen, wer uns womöglich gegenüber sitzt, seine Reaktionen einordnen, uns am Ende sogar behilflich machen? So wäre es fast eine gewöhnliche Zugfahrt, fände da nicht Gewalt so sichtbar mitten unter uns statt. Und was heißt schon gewöhnlich?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Julia Augustin, Berlin

julia_aug0@gmx.de

Coverfoto: Julia Augustin

Prolog

Es fühlt sich endgültig an.

Wie sie ein letztes Mal den Wecker verschlafen ausstellt.

Ein letztes Mal das Bett richtet.

Den warmen Kaffee schlurft.

Sie wärmt ihre knochigen, weißen Hände an der großen roten Tasse.

Kurz blitzt da eine Erinnerung auf: Ein Morgen fast wie immer. Ein Morgen danach.

Sie stellt das Radio an, lässt die Pop-Musik laufen.

Es schmerzt in den Ohren, ist überhaupt nicht ihr Geschmack.

Doch heute berührt es sie nicht.

Auch das scheint vorbei.

„Guten Morgen. Du bist noch hier?“, steht Lucia neben ihr und reibt sich müde die Augen.

„Ich fahre erst um 10 Uhr“, kaut sie lustlos auf ihrer Toastscheibe mit viel zu süßer Erdbeermarmelade.

„Bist du so schnell mit der Bahn am Hauptbahnhof?“, fragt ihre Freundin und streicht eine dunkle Strähne ihrer langen, spanischen Locken hinter das Ohr.

„Mach dir keine Sorgen, Lucia! Ich habe es schon im Griff“, greift sie wieder nach der Kaffeetasse.

„Ich werde dich vermissen, Kris“, lächelt die Freundin plötzlich traurig und setzt sich ihr gegenüber.

Beinahe erschrocken sieht sie von dem braunen Getränk auf und mustert das zarte Gesicht mit der straffen olivbraunen Haut, den schwarzen feurigen Augen und der spitzen, fast edlen Nase.

„Ich werde wiederkommen“, stellt sie abwehrend das Geschirr zusammen.

„Bevor du mich für immer verlassen möchtest?“, erwidert die Spanierin sofort und runzelt streng die Stirn.

Schweigend spült sie den Teller, der schon einen Sprung am Rand hat, die rote Tasse mit dem Kaffeerand, das Besteck und den Abwasch des vergangenen Abends.

Das Wasser wärmt ihre Haut, bringt ein wenig Leben in die Gefäße.

Um 10 Uhr am Hauptbahnhof.

Ein paar Stunden Zugfahrt.

Natürlich für immer.

Mit gesenktem Kopf trocknet sie ihre schmalen Hände an dem blau karierten Handtuch.

Alles ist hier so gewöhnlich.

Nichts hat mehr seinen Reiz von früher.

Es ist verbraucht.

„Ich kann ein Stück mit dir fahren“, hätte sie beinahe vergessen, dass sie nicht allein ist.

„Geht schon, Lucia. Ich schaffe das“, lacht sie selbst unsicher.

Die Freundin kneift die vollen, dunkelrot geschminkten Lippen zusammen.

„Ich habe es mir vorgenommen“, weicht sie einen Schritt zurück.

Ohne eine klare Emotion, vielleicht mit einem Funken Neugier beobachtet sie sich selbst, wie sie mit der schweren Holzbürste das lange blonde Haar kämmt. Die Strähnen fließen um ihren dünnen Hals.

Mit flauem Gefühl im Bauch starrt sie die grün-grauen ausdruckslosen Augen an, die durch tiefe Ringe müde scheinen.

Das Licht der Morgensonne blendet sie, als sie langsam, gar bedächtig, in ihre enge schwarze Jeans schlüpft, die BH-Träger über die Schulter zieht, innehält.

Da sind sie wieder, die Erinnerungen.

Tief in ihrer Seele.

Verbrannte Erde, verbrannte Haut.

Als wären sie zerbrechlich streicht sie mit den zarten Fingerkuppen über die Schultern, die Oberarme, den Hals…

Sie schließt die Augen.

Ihre Haut brennt überall.

Eine tiefe Traurigkeit umhüllt sie wie ein unsichtbarer Mantel.

Eine ganze Flut aus Erinnerungen lässt sie erstarren.

„Kristina?“, hört sie jemanden an ihre Tür klopfen.

Abrupt reißt sie sich von ihrem Spiegelbild los, zieht den schweren roten Vorhang ein Stück vor, um nicht ganz so stark geblendet zu werden.

Sie seufzt, greift dann nach der blauen mit Blumen bestickten Bluse.

Ihre Finger zittern, als sie sie zuknöpft.

Ihr eigener Atem klingt in den Ohren.

„Kristina? Dein Zug fährt bald“, klopft es erneut an die Tür.

Eilig streift sie sich den beigefarbenen Cardigan über, legt den weißen dicken Wollschal um den Hals.

„Ich bin schon da!“, reißt sie die Tür auf.

Lucia mustert sie eindringlich. Das hat sie häufiger gemacht.

Nie mochte sie es.

Schließlich fühlt sie sich jedes Mal so unbehaglich dabei, als versuche jemand, sie bei der kleinsten Lüge zu überführen, in ihrem Herzen zu wühlen, Gefühle anzurühren, die nicht mehr da waren.

„Du bist spät dran“, runzelt die Freundin wieder streng die Stirn.

„Ich werde es sicherlich schaffen“, wirft sie sich achselzuckend den langen schwarzen Mantel über und schließt den Reißverschluss ihrer schwarzen hohen Stiefel.

„Bis bald!“, umarmt Lucia sie plötzlich und sie macht sich Vorwürfe, weil sie nach einer vierjährigen Freundschaft doch etwas empfinden sollte.

„Bis bald!“, lächelt sie im Türrahmen unsicher und drückt den Knopf für den Fahrstuhl.

„Du siehst gut aus. Guapa1!“, lacht die Spanierin und es soll den Schmerz der Trennung verbergen.

Das ist ihr bewusst.

„Bis bald!“, ruft sie unbeholfen, während sie den schweren Koffer in den Fahrstuhl hievt.

Sie winken.

Fast wie Kinder.

Ehe sich die metallenen Türen direkt vor ihrer Nase schließen.

„Bis bald!“, seufzt sie leise, als ihr die frische Novemberluft entgegen strömt.

Die kleinen Rollen des silbernen Koffers klacken auf dem Bürgersteig mit jedem Schritt.

Klack-klack…

Das ist ein eigentümlicher rhythmischer Klang.

Sie muss Acht geben, dass sie nicht auf den nassen, bunten Laubblättern am Boden ausrutscht.

Die kalte Herbstluft brennt in ihrem Hals.

Eine Frau – so Mitte 30 Jahre alt – schiebt einen marineblauen Kinderwagen langsam vor sich und telefoniert dabei so laut, als müssten alle Passierenden mitreden.

Nervös geht sie hinter ihr.

Allmählich wird die Zeit nämlich tatsächlich knapp.

Auch auf der Straße staut es sich. Manche Autofahrer hupen bereits genervt.

Zu allem Übel beginnt es zu regnen.

Die kalten, nassen Tropfen legen sich auf ihren dunklen Mantel.

„Entschuldigung, Madame!“, rempelt ein Mann mit Glatze und Lederjacke erst sie und danach die Mutter mit dem Kinderwagen an.

„Entschuldigung“, bittet sie die Frau mit einem verlegenen Lächeln und leiser Stimme.

„Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie ebenfalls vorbei wollten. Sie laufen doch schon eine Weile hinter uns“, lacht die Dame gut gelaunt für einen grauen Novembermorgen.

Peinlich berührt senkt sie den Kopf und rennt beinahe den Fußweg zur U-Bahn entlang.

Ein letztes Mal vorbei an den kleinen Geschäften, der Tischlerei, dem Buchladen, dem Gemüseladen.

Ein letztes Mal hebt sie den doch schweren Koffer die Treppen hinunter. Der Fahrstuhl wird wohl auch in Zukunft noch seine Reparatur erwarten.

Ein letztes Mal hält sie plötzlich mitten auf der Treppe, sodass andere Leute um sie einen Bogen machen müssen.

Sie dreht sich um, wirft einen überraschten Blick auf die roten Dächer vor dem Wolken verhangenen Himmel.

Auf einmal lächelt sie leise, denn es fühlt sich zum ersten Mal richtig an.

Auf dem Bahnsteig sammeln sich die Menschen. Jugendliche, deren Musik aggressiv wummert, Ältere und Familien schauen immer wieder zur Anzeigetafel.

5 Minuten Verspätung, liest sie und klopft nervös mit den Fingern auf ihren Koffer.

Ein junges Pärchen umarmt sich immer wieder direkt neben ihr innig. Die langen rot lackierten Nägel der schlanken, blondhaarigen Barbie krallen sich in seinen Nacken.

„Ich will nicht, dass du gehst“, säuselt er und zieht seine Freundin noch näher an seinen muskulösen Körper.

„Nur ein paar Stunden“, lacht sie und legt ihre ungewöhnlich kräftigen Finger auf seine Lippen.

„Liebling“, ertappt die Frau sie, wie sie das Paar ausdruckslos beobachtet, aus den Augenwinkeln.

Ihre Wangen färben sich rot vor Scham.

Die U-Bahn fährt ein.

Erwartungsgemäß drängen sich die Menschen aneinander. Der Ton ist rau wie überall in der Anonymität einer Großstadt.

Nur die Glücklichsten dürfen sich sitzend chauffieren lassen. Für die anderen scheint es fast als Segen, wenn sie sich noch irgendwo festhalten können.

Da kommt sie mit ihrem Koffer sicherlich genau im richtigen Moment.

Tausende Gerüche steigen gleichzeitig in ihre zarte Nase.

Dutzende Stimmen vermengen sich zu einem einzigen unverständlichen Rauschen.

Etliche Sprachen werden zu einem fremden Kauderwelsch.

Die Nähe ist drückend.

Sie ist ihr ohnehin lästig geworden.

Zum Beispiel die Jugendlichen, die sich nicht festhalten möchten und ständig gegen ihren Koffer treten.

„Sorry“, grinsen sie frech und es geht weiter.

Oder aber der Mann, der seinen kräftigen, mit Totenköpfen tätowierten Arm direkt vor ihrer Nase ausgestreckt hat. Er ist ein Riese, wahrscheinlich um einen Meter und neunzig groß. Seine Haut ist selbst im Gesicht mit furchterregenden Kreaturen verziert. Riesige Plug-Ohrringe durchspießen die dicken Ohrläppchen.

Bei jeder Station hofft sie, dass er endlich aussteigen würde, anstatt weiter schmatzend ein Brötchen direkt neben ihr zu verzehren.

Ab der Station Frankfurter Allee als Umstiegsmöglichkeit zur Berliner S-Bahn lässt es sich wieder atmen.

Sie verzieht sich in den gegenüberliegenden Türbereich und schließt ganz kurz die Augen.

Wie gerne wünschte sie sich ein Bett hierher! Wie gerne würde sie den Schlaf ganzer Jahrzehnte nachholen!

Etwas Feuchtes, Kaltes berührt sie an der Hand.

Erschrocken schlägt sie die Augen auf.

Doch glücklicherweise handelt es sich nur um die eingeregnete Rucksackschnalle der Reisenden neben ihr.

Eine junge Frau mit kurzem braunen Haar und einem gewaltigen Wanderrucksack unterhält sich mit ihren zwei Mitreisenden.

Alle drei lachen ausgelassen, reichen ihr Trinken herum.

„Dein Humor“ drückt der eine seinen dunklen Lockenkopf an ihre Schultern.

„Noch eine Station“, zwinkert der andere der Frau frech zu und streicht zärtlich über ihre Hand.

Ihr Atem geht schwerer.

Es gab etliche Situationen wie diese danach.

Etliche Situationen, in denen sie wie eine Stalkerin den ausdruckslosen Blick nicht mehr abwenden konnte.

Etliche Situationen, in denen sich die realen Stimmen mit den Worten von damals mischten.

Schließlich etliche Situationen, in denen sie am Ende keuchend und kaltschweißig ausgestiegen war.

Es war immer und überall möglich.

Die Erinnerungen verfolgten sie stets.

Aber diesmal zwingt sie sich, die kurzen Schlagzeilen auf dem Monitor zu lesen. Wieder die Augen zu schließen, obwohl die Rucksackschnalle sie kalt und feucht hin und wieder berührt, gegen ihren schnellen und kurzen Atem zu zählen.

Schon ist es vorbei.

Schon hastet sie zur Rolltreppe, über den Bahnsteig, in die S-Bahn.

9 : 30 Uhr.

Die Zeit ist mehr als knapp.

Wenigstens findet sie für die wenigen Stationen einen Sitzplatz, kann nervös ihr Ticket studieren.

Den bettelnden Obdachlosen, der in zerschlissener Kleidung um etwas Essbares bittet, nimmt sie kaum mehr wahr.

Sie trommelt mit den Fingern, starrt auf das Wasser der Spree, in das die Regentropfen Wellen schlagen.

Die Universitätsbibliothek rauscht vorbei, das Krankenhaus.

Dann greift sie nach dem Koffer, stößt ihn dabei in der Eile um.

Manche Fahrgäste schütteln mit dem Kopf. Die meisten bemerken jedoch nicht einmal, wie sie sich schnell wieder aufrichtet, mit hochrotem Gesicht am Fahrstuhl wartet, das richtige Gleis sucht.

Diese Beschilderung ist gar nichts für Hektiker!

Drei Frauen mit Kinderwagen in allen Farben steigen mit ihr in den geräumigen Fahrstuhl.

Wieder stehen sie gedrängt.

„Wann fährt unser Zug?“, fragt eine aufgeregte Kinderstimme.

„Wir haben noch eine halbe Stunde, mein Schatz“, beruhigt eine der Mütter.

Niemand wird sie beruhigen.

So wie auch niemand für sie die Zeit anhalten wird.

Ihr bleibt keine halbe Stunde mehr.

Weshalb halten Fahrstühle mit Kinderwagen zudem in jeder Etage?

Noch fünf Minuten…

Die Rollen des Koffers verursachen einen ohrenbetäubenden Lärm, während sie hektisch den Waggon sucht.

Sie prustet vollkommen außer Atem. Die leichte Bluse klebt an ihrer Haut.

„Na, das ist wohl in letzter Minute“, hilft ihr jemand vom Bahnpersonal, den schweren Koffer die steilen Stufen hinaufzuheben.

„Den müssen Sie aber in das Regal stellen“, verabschiedet sich der Mann und mustert sie mit gerunzelter Stirn. Ein wenig erinnert er sie an einen Seebären. Denn er trägt einen grauen langen Bart mit Oberlippenbart. Die Haut ist sonnengebräunt und der Mann selbst bloß mittelgroß, jedoch unwahrscheinlich muskulös.

Im Kofferabteil muss sie ihre Tasche mit viel Kraft in die kleine Nische schieben. Danach winkt sie mehrmals vor der Lichtschranke, bis die gläserne Automatiktür öffnet.

Überrascht stellt sie fest, dass sich ihr Sitzplatz an einem Tisch für vier Personen befindet.

Eine rothaarige, schlanke junge Frau mit frechem Blick und Sommersprossen auf den Wangen und der Nasenspitze mustert sie halb spöttisch.

„Sie wollen jetzt auch noch hierher?“, legt sie dann ihre blaue, lederne Handtasche von dem Sitz und lässt sie Platz nehmen.


  1. Spanisch: hübsch

Kapitel 1

MIRIAM

Das sind mir immer die liebsten Reisenden: In letzter Minute, kurz vor der Abfahrt, steigen sie ein. Alle haben gewartet. Alle haben sich gerade an die Umgebung gewöhnt, bis sie kommen und alles erneut beginnt.

Das ist überall so: Im Flugzeug, im Zug, im Fernbus, selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dort werden die Türen sogar mit Gewalt auseinandergezerrt, sodass die nächste Bahnstörung absehbar wird.

Dann spazieren sie entspannt, als wäre es eine selbstverständliche Gewohnheit, zu ihrem Sitzplatz. Vielleicht trinken sie noch einen Schluck Kaffee aus dem Becher. Ganz genüsslich, während sich noch ein Tropfen auf der Kleidung der Umsitzenden verewigt. Vielleicht hämmert noch die Musik in den Ohren. Vielleicht zeigen sie zumindest im letzten Moment ein entschuldigendes Lächeln.

Die Frau neben mir ist wahrscheinlich um die dreißig Jahre alt. Sie hat langes, blondes Haar, das ihren schmalen Schwanenhals umfließt und an der Stirn klebt. Ihre grün-grauen Katzenaugen mit ungewöhnlich dunklen Augenbrauen suchen gestresst das Abteil ab. Nervös faltet sie in ihren blassen, knochigen Händen ihr ausgedrucktes Zugticket wie zur Beruhigung immer kleiner.

Wahrscheinlich ist sie eine dieser Geschäftsleute, die penibel in Mantel und Bluse gekleidet jede Minute ihrer kostbaren Zeit mit Terminen füllen. Termine gibt es für Kolleg*innen. Termine für Klient*innen. Termine für Familie. Termine für Freund*innen. Alles ist geplant.

Andererseits fällt mir ein aufgegangener Pickel an ihrer linken Wange auf. Tatsächlich gehört sie offenbar zu den wenigen Frauen, die die Natürlichkeit einem Hauch von Schminke vorziehen.

Ich greife mir wieder meinen Liebesroman vom Tisch, um meine Lektüre fortzusetzen. Immerhin erhalte ich nur selten die Gelegenheit. Im Grunde nur in Urlauben wie diesem.

Dabei ist die Zeit viel zu schnell vergangen. Eine Woche in Berlin vergeht wie im Flug. Ich bin viel zu selten dort, obwohl meine Freundinnen und Familie größtenteils geblieben sind. Doch die Arbeit erfordert Zeit und das Reisen wird zum Teil lästig, wenn man ohnehin ständig den Schlafort wechselt, keinen festen Tagesrhythmus hat.

Der Zwiespalt meines Lebens.

Jeder Tag gleicht einem Abenteuer. Ich werde frühmorgens von meinem schwarzen Digitalwecker geweckt, kann mich gerade einmal von der einen auf die andere Seite drehen, ehe ich mich den Überraschungen eines neuen Tages, meines Lebens, stelle.

„Entschuldigung. Aber ich habe mich im Sitzplatz geirrt“, spricht mich die blondhaarige Frau schüchtern an.

Ein wenig belustigt mustere ich sie.

„Ich sitze gegenüber von Ihnen“, zeigt sie mir ihr durch das Falten gemustertes Ticket. Vielleicht ist sie eine Künstlerin, schießt es mir in den Kopf.

Auf jeden Fall einen Faltkünstlerin, muss ich innerlich schmunzeln.

„Tja, das passiert, wenn man in Eile ist. Kein Problem. Ich fahre noch ein Stück“, lächle ich, da sie so vorsichtig fragt, als bereitete ihr die ganze Umwelt Angst.

„Es tut mir Leid“, senkt sie die Augenlider und errötet.

Ich helfe ihr mit ihrer schwarzen überquellenden Handtasche und vertiefe mich wieder in den Roman.

Es ist eine unterhaltsame Geschichte über Zwischenmenschliches, die Höhen und Tiefen einer Liebe. Ein wenig kitschig und unrealistisch, würden Kritiker*innen bemerken. Nicht anspruchsvoll, berieselnd, genau richtig zur Entspannung, finde ich.

Der Zug hält, ich mustere die hereinkommenden Fahrgäste.

Menschen zu beobachten, ist für mich immer unterhaltsam. Je genauer man hinsieht, ihre Mimik und Gestik, ihre Wortwahl oder ihre Interaktion studiert, desto farbenfroher erscheint mir das Leben.

Beispielsweise könnten die Personen in meiner unmittelbaren Zugumgebung kaum unterschiedlicher sein: Da sitzt auf der anderen Seite des Ganges an einem Tisch für vier Reisende ein Mann im Alter von wahrscheinlich fünfzig Jahren. Die Haut beginnt an den Augen, der Stirn und überall im Gesicht faltig zu werden. Die schwarz gerahmte, runde Brille fügt sich für mich gar nicht zu dem ungewöhnlich schmalen, fast ovalen Kopf. Seinen grauen Mantel hat er ordnungsgemäß an den Kleiderhaken am Fenster gehängt. Aus dem grauen Strickpullover ragt der Kragen eines rot karierten Hemdes. Die blaue Jeans passt allerdings nicht zu dem feinen Oberteil.

Er faltet mit großer Bewegung sein Handelsblatt in der Luft, sodass es knistert, streckt die Füße weit nach vorne, was er nur dem Umstand verdankt, allein sitzen zu können. Überhaupt wirkt er arrogant und überzeugt von sich selbst.

Vielleicht gehört er zu jenen Menschen, die bereits am Morgen einen Kniefall vor ihrem eigenen Spiegelbild machen.

Er brummt hin und wieder gewichtig, runzelt dabei die faltige Stirn, hält die Zeitung dabei in ganzer Länge, so als wäre er der einzige Passagier.

Die Schaffnerin möchte die Tickets kontrollieren.

Die nervöse, junge Frau von vorher entfaltet mit vor Scham geröteten Wangen ihr Papier. Aber durch ihr Kunstwerk funktioniert der Scan nicht.

„Sie dürfen ihre Fahrkarte nicht so knicken“, reicht ihr die Bahnfrau mit deutlicher Verärgerung in der Stimme den Zettel zurück und schiebt eine ihrer hellbraunen, glatten Haarsträhnen hinter das Ohr.

Sie ist sehr klein und kräftig gebaut, was sich in dem dunkelblauen Anzug nicht verbergen lässt. Doch das Bahnpersonal hat das Glück, nicht wie wir Flugbegleiter*innen nach Schönheits- und Körpermaßen ausgewählt zu werden.

„Entschuldigung“, senkt die Blondhaarige bedrückt die Lider. Heute muss nicht ihr Glückstag sein.

Der Mann im Abteil gegenüber macht eine abschätzige Bemerkung über Frauen im Allgemeinen.

Leider verstehe ich sie zu schlecht, um darauf zu reagieren.

Niemand gibt ihm nämlich das Recht dazu.

Niemand ist hier nervös, weil das Geschlecht es im Gepäck mit sich bringt.

Menschen, die aber so urteilen, regen mich auf.

So beobachte ich den Mann noch genauer, wie er seine Zeitung wieder hochkonzentriert studiert, die unförmige Brille dabei auf der Nase immer wieder mit dem linken Zeigefinger in Pose schiebt und die Stirn beim Lesen runzelt.

*

KRISTINA

Ich kann nicht entspannen.

Alles ist Stress.

Die Frau mit den roten Haaren, die mir gegenüber sitzt, und wie eine Detektivin Fahrgäste – mich – beobachtet.

Jetzt greift sie wieder nach ihrem Buch mit dem kitschigen Einband.

Ich habe nie verstehen können, wie Menschen ihren Alltag ausgerechnet in einem Liebesroman ertränken können. Wahrscheinlich fehlt mir die Fantasie. Vielleicht hatte ich sie nie.

Der Mann an dem anderen Tisch, der sich wie ein Herrscher ohne Scham ausbreitet, trifft mit seiner Lektüre des Handelsblatts eher meinen Geschmack.

Andererseits fühle ich mich zu müde oder durcheinander, um etwas zu lesen.

Ich verstaue meine Fahrkarte in meiner Handtasche.

Die Schaffnerin musterte mich so abschätzig.

Die rothaarige Frau lächelte mitleidig.

Beide behandelten mich anders.

Beide bemerkten meine Nervosität.

Schon jetzt bin ich angespannt.

Vielleicht schaffe ich es nicht.

Draußen vor dem Fenster fliegen weite Felder und kahle Wiesen vorbei. Die Namen der Ortschaften lassen sich bei dem rasanten Tempo nicht lesen.

Meine Gedanken kreisen.

Ich denke nichts.

Regentropfen lassen das Bild in die Freiheit der Natur verschwimmen.

Ich bin ihr wohl eh nicht nah genug.

„Wohin fahren Sie?“, reißt mich die Rothaarige aus der Leere schwerer Gedanken.

Ich erschrecke richtig, zucke kurz zusammen.

Ich erschrecke über eine Frage an mich.

Denn ich möchte nicht sprechen.

Nicht antworten.

Ich kann es nicht.

Wahrscheinlich erst, wenn ich dort bin.

Ich hoffe es.

„Hamburg“, flüstere ich aber matt aus Höflichkeit. Jedes Wort gleicht nämlich einem Kraftakt.

„Entschuldigung, doch das habe ich nicht verstanden. Meine Ohren sind nicht die besten“, lächelt die junge Frau, weil ich offenbar zu leise spreche. „Wahrscheinlich höre ich zu viel laute Musik“, fügt sie noch zwinkernd hinzu und kichert über ihren eigenen Witz.

Ich mustere sie, weil sie so freundlich ist, obwohl ich mich wie eine Katastrophe auf zwei Beinen seit dem Morgen bewege.

Die roten, Schulter langen Locken haben ein großes Volumen und lassen den eigentlich fahlen und schmalen Kopf viel runder erscheinen. Selten habe ich jemanden mit so vielen Sommersprossen auf den Wangen, dem Nasenrücken und sogar am Hals gesehen.

Die Frau lächelt weiter nett mit sehr zarten Fältchen um die knallrot geschminkten Lippen herum. Die blauen Augen leuchten unter den tiefschwarzen langen Wimpern. Sie könnte jünger sein als ich.

„Hamburg“, räuspere ich mich und weiche ihrem Blick aus, als könnte er bereits zu viel verraten.

„Eine schöne Stadt“, wird ihr Lächeln noch breiter und gibt große, schlohweiße Zähne frei.

„Kennen Sie Hamburg?“, ringe ich mir eine höfliche Mimik ab.

„Ich?“, lacht sie kehlig und wirkt überrascht. „Ich wohne dort.“

„Ach so“, schaue ich wieder aus dem Fenster, da ich mit meinen Fragen wohl noch mehr auffalle.

„Und Sie?“, setzt sie das Gespräch jedoch fort.

„Berlin“, senke ich erneut den Kopf.

„Fahren Sie zum ersten Mal nach Hamburg?“, erkundigt sie sich weiter nach einer erholsamen Pause des Schweigens.

„Ja, genau“, winde ich die Finger umeinander und bemühe mich, unbeschwert zu klingen.

„Das ist ein schönes Ziel für einen Städtetrip“, redet sie weiter und lacht immer wieder kehlig.

„Ja“, wandert mein Blick abwesend hinaus aus dem Fenster, in die Ebene, die noch immer vorbeifliegt.

„Ich komme auch aus dem Urlaub“, erzählt sie mir dann und ich seufze innerlich, da ich die falsche Person für Menschen bin, die sich die Reisezeit mit Gesprächen verkürzen möchten.

„Verstehe“, zucke ich mit den Achseln und spüre, wie meine Beine unruhig werden.

„Sie sind sehr nervös“, stellt sie zu allem Überfluss fest.

„Nein!“, bohrt sich mein Blick verärgert in ihr Gesicht.

„Entschuldigung! Ich möchte Sie nicht stören“, lässt sich mich endlich in Frieden und greift wieder nach ihrem Roman.

Ich lehne den Kopf zurück, warte auf den Moment, in dem das sanfte Ruckeln der Gleise rhythmisch in den Hintergrund rückt, die Stille es schließlich ersetzt, wenn der Schlaf eintritt.

Es funktioniert nicht.

Ich reiße die Auge auf, ertappe die Rothaarige im letzten Augenblick, wie sie mich erneut beobachtet, diesmal verschlossener wirkt.

Vermutlich habe ich sie mit meiner abweisenden Art verärgert.

Das tut mir Leid.

Aber ich bin nicht in Urlaubsstimmung.

Ich fahre nicht in den Urlaub.

Zumindest nicht in einen, wie sie jetzt glaubt.

Doch wie sollte ich es erklären?

Ich krame in meiner Tasche nach meinem Smartphone.

Ich finde es nicht.

Das Fach quillt fast über. Daher muss ich erst den Stadtplan und die Hotelunterlagen auf den Tisch legen, die Trinkflasche von gestern hinstellen, meinen Salat für das Mittagessen hinaus nehmen.

Es ist anstrengend.

Die Salatdose klebt an den Fingern. Der Tomatensaft ist den Rand hinuntergelaufen. Eventuell hätte ich die Büchse besser verpacken sollen. Das wird mir jetzt bewusst. Mit einem Gummi den Verschluss verstärken oder alles in einer Umwelt verschmutzenden Plastiktüte verstauen sollen.

Allerdings ist mir nun die Aufmerksamkeit gewiss. Alle beobachten mich aus den Augenwinkeln.

Die Rothaarige, die die zarte Stirn runzelt und so tut, als setzte sie ihre Lektüre ungerührt fort.

Der Mann mit der Zeitung, der schon vorhin mich abwerten musste.

Der Tag hat wunderbar angefangen.

Ich erinnere mich an Lucias Blick zum Abschied.

Eine verschwiegene Traurigkeit.

Eine leise Mahnung.

Womöglich ein Vorwurf.

Aber es berührt mich nicht.

Ich zerre mein Handy aus der wollenen roten Tasche mit dem gelben lächelnden Smiley darauf. Eine Freundin hatte es mir geschenkt. Offenbar erschien ich ihr zu deprimiert, als könnte ein gelber Kreis mein Leben bessern.

Keine Nachrichten, keine entgangenen Anrufe.

Was hatte ich auch erwartet?

Wer sollte mich schon vermissen?

Ich schließe erneut die Augen, hoffe auf ein wenig Schlaf. Danach wird meine Stimmung sich bessern. Wahrscheinlich werde ich bereits in Hamburg sein, in einen strahlend blauen Himmel blicken, Möwen zählen, träumen, planen, leben.

Ich wünsche es mir.

Niemanden könnte ich erklären, weshalb ich mich ausgerechnet für diese Stadt entschieden habe.

Immerhin war ich tatsächlich nie dort. Wir kennen uns daher nur aus Erzählungen, Reiseberichten, Bildern im Internet.

Aber sie wirkte ganz anders als Berlin mit seinen verwahrlosten Straßen, dunklen, schmutzigen U-Bahnhöfen, vermüllten Parks und Drogenmeilen.

Das Wasser faszinierte mich von Beginn an.

Die roten Backsteinhäuser.

Die Entfernung zu Berlin.

Keine Weltreise, doch weit genug für eine endgültige Trennung.

Der Mann im Gang gegenüber telefoniert laut.

„Das müssen Sie mir schon genauer beschreiben. Ich kann schließlich nicht hellsehen“, schnippt er mit Daumen und Zeigefinger in der Luft und lehnt sich zufrieden zurück.

„Ich kann Ihnen ansonsten keinen Vertrag erstellen. Das muss Ihnen bewusst sein“, schiebt er sich seine Brille zurecht.

Ich schließe erneut die Augen.

Er klingt aggressiv für mich und spricht viel zu laut. Ich denke an die Person am anderen Ende der Leitung. An deren Stelle wäre ich bei einem solchen Ton längst gestresst und verletzt.

„Könnten Sie kurz auf meine Jacke aufpassen, während ich zur Toilette gehe?“, währt meine Ruhe kurz.

„Ja“, weiche ich dem Blick der Rothaarigen aus.

Sie ist schlanker, als ich dachte. Die lange, weite, blaue Hose kleidet sie gut. Ich beneide Frauen mit solchen schmalen Beinen. Ich kann fasten, hungern, Sport treiben, werde nie so aussehen.

„Guten Morgen, Wolfgang!“, führt der Mann am anderen Tisch sein nächstes Gespräch. „Bist du schon in der Kanzlei?“, lacht er laut und kalt.

Meine Augen fallen zu.

Aber auf die Jacke wollte ich Acht geben, mahne ich mich.

„Ich hatte vorhin wieder diese jungsche Dame von gestern am Telefon. Mein Gott, eine Plappertasche!“, setzt sich der Mann nun noch breitbeiniger an seinen Tisch.

Innerlich ertappe ich mich bei dem Gedanken, gar nicht zu Unrecht Sympathien für die Person am anderen Ende der Leitung gefühlt zu haben.

„Blond und Frauen!“, lacht er nun boshaft und streicht sich mit der freien Hand über die Brust.

Ich zucke zusammen und merke kurz, wie mein Magen flau wird.

„Ja, da müssen wir nun durch“, schlägt er mit der Handfläche plötzlich auf den Tisch, sodass ich erschrecke, während ich ihn mit offenem Mund beobachte.

Die Jacke, ermahne ich mich.

„Gut, Wolfgang. Gibt es ansonsten etwas?“, angelt er schon wieder nach seinem Handelsblatt.

Die Rothaarige kommt zurück und lächelt dankbar, weil ich aufmerksam ihr Kleidungsstück im Blick behalten habe.

„Es ist ganz schön voll im Waggon“, zwingt sie mich, meine Aufmerksamkeit nicht mehr diesem Mann zu widmen.

„Tatsächlich?“, frage ich müde und muss gegen ein Gähnen kämpfen.

„Wir werden bald die nächste Station erreichen“, fährt sie fort. „Ich hoffe, dass hier die Plätze nicht belegt sein werden.“

„Hier?“, schaue ich mich nachdenklich um.

„Und Sie reisen allein?“, erkundigt sie sich, als ich gerade an Schlaf denke.

„Wie bitte?“, wende ich mich ihr zu.

„Reisen Sie allein?“, wiederholt sie ruhig.

„Ja, genau“, spüre ich die Nervosität und lächele gequält.

„Ich reise auch gerne allein. Dann muss man weniger Kompromisse eingehen“, schenkt sie mir dieses kehlige Lachen.

Ich wäre gerne so gut gelaunt!

„Haben Sie keine Angst?“, bin ich verwundert.

„Angst?“, leuchten ihre Augen. „Wovor?“

Da habe ich das Problem von Gesprächen. Denn die Gedanken sind sofort zurück und gleich werden alle meine Fassade der letzten Monate durchschauen.

„Ich dachte vielleicht“, winde ich meine Hände umeinander.

„Weil ich eine Frau bin?“, hat sie mich jedoch längst verstanden.

„Ja, vielleicht“, hebe ich die Schultern und versuche, sie dabei anzusehen.

Wir schweigen beide.

Ich habe offenbar das nächste Gespräch beendet.

Die nächste Station wird angesagt.

Ich lehne mich zurück.

Alles ist gesagt.

Vielleicht kann ich nun schlafen.

„Entschuldigung“, stupst mich allerdings bald jemand am Ärmel.

Gähnend schlage ich die Augen auf.

„Darf ich?“, lächelt die junge Frau und zeigt dabei ihre strahlend weißen Zähne, die noch weißer durch die beinahe schwarze Haut wirken.

Ich stelle mich in den Gang, um sie leichter ihren Platz am Fenster einnehmen zu lassen.

Die meisten Sitze sind in der Tat bereits belegt.

Hamburg muss demnach beliebt sein, lächele ich kurz.

„Ist das Ihr Handy?“, fragt mich die junge Afrikanerin. Sie kann kaum älter als 20 Jahre alt sein! Ihre dunkle Haut ist noch so stramm in dem abgemagerten Gesicht. Das schwarze, ganz kurz geschnittene Haar ist vom Regen durchnässt. Sie legt ihre knochigen Arme, die aus einem rosafarbenen Strickpullover ragen, auf den harten Tisch.

„Danke! Das habe ich wohl vergessen einzupacken“, lächele ich sie an und verstaue mein Smartphone, das ohnehin seinen Gebrauchswert verloren zu haben scheint.

Kapitel 2

MIRIAM

Ich bin hellwach.

Ich fahre ganz gerne mit dem Zug.

Das ist bedeutend bequemer, als wenn man sich auf einen schmalen Busplatz zwingen muss und nur kurz in den drastisch gekürzten Pausen die Beine vertreten kann.

Es wird Kaffee angeboten, Tee, ein kleiner Snack.

Das erinnert mich an meine Arbeit.

Ich freue mich ein wenig.

Die Tage sind zwar immer lang und irgendwann dadurch anstrengend. Doch ich unterhalte mich gerne mit den Fluggästen, nehme ihre Wünsche und Sorgen entgegen. Das Team ist angenehm. Wir sind alle jung und auf der Suche nach Abenteuern. Frauen und Männer.

Daher hat mich die Frage der wortkargen Blonden irritiert.

Natürlich weiß ich, dass es immer wieder schockierende Geschichten von allein reisenden Frauen gibt.

Allerdings habe ich selbst bisher nur positive Erfahrungen gesammelt.

Warum sollte ich mich aufgrund weniger Horrorszenarien einengen?

Männer können auch allein reisen.

Mein Freund macht das regelmäßig.

Er war schon in Kuba, Marokko, Vietnam.

Ganz so weit zieht es mich nicht. Beziehungsweise muss sich dafür der Geldbeutel erst füllen.

Jan schickt mir immer schöne Bilder von Natur, exotischen Tieren, den Menschen, den merkwürdigen Bauwerken. Ich höre seinen abenteuerlichen Geschichten zu.

Er kann nämlich sehr anschaulich und dramatisch erzählen, während ich mit geschlossenen Augen in seinem Arm mein Ja und Amen gebe, bis ich glücklich einschlafe.

Durch ihn habe ich das Reisen für mich entdeckt. Das allein Reisen.

Früher gab es immer eine Freundin, die ich für eine Wanderung in den Alpen oder einen Städtetrip begeistern konnte. Heute im Alter von 25 Jahren sparen wir unsere Urlaubstage für die kurzen Besuche. Meine Arbeit erschwert es sehr, gemeinsame Zeiten zu finden. Daher stellte ich mich um, lernte meine eigenen Grenzen kennen.

Man kann sich sehr erholen, wenn man allein reist.

Als Frau allein reist.

Die Fahrkarten werden erneut kontrolliert.

Eine Afrikanerin ist an unseren Tisch zugestiegen. Sie hat eine Narbe an ihrer linken Augenbraue. Die dunkle Haut ist ansonsten makellos und glänzt in dem hellen Licht. Sie hat ihre orange Winterjacke nicht einmal ausgezogen. Die blaue Strickmütze mit Bommel liegt vor ihren mageren Handgelenken, die aus einem rosafarbenen dünnen Strickpullover ragen.

Ich verstehe nicht, wie jemand so dünn sein kann, dass es schon nach einem Hungertod aussieht. Natürlich kenne ich ihre Geschichte nicht, aber das ist gewiss nicht gesund.

„Sie reisen aber jetzt auch allein“, greife ich das Gespräch mit der Blondhaarigen wieder auf.

Sie wirkt auf mich mittlerweile ruhiger. Als könnte sie langsam Abstand zu ihren Ängsten gewinnen.

„Wie bitte?“, setzt sie sich kerzengerade.

Ich wollte sie nicht erschrecken. Doch sie ist jedes Mal angespannter, wenn ich sie anspreche.

„Sie reisen jetzt auch allein. Ich meine nur, weil Sie vorhin das so gefährlich fanden“, lege ich den Kopf schief und lächele.

„Ja“, bleibt sie ernst.

„Ist das Ihre erste Reise allein?“, interessiert es mich plötzlich.

„Ja“, bewegt sie keine Miene.

„Am Anfang ist es eine Umstellung. Ich reiste früher nur mit Freundinnen, bis die Arbeit unsere Pläne durchkreuzt hat“, falte ich die Hände auf dem Tisch.

Sie reagiert nicht, schaut mich bloß ausdruckslos mit großen Augen an.

Okay, denke ich. Vielleicht sollte ich sie mehr reden lassen, damit sie noch aufgeschlossener wird.

„Wie lange wollen Sie in Hamburg bleiben?“, wechsele ich deswegen das Thema.

Sie seufzt, reibt ihre knochigen Finger aneinander.

„Ich weiß es noch nicht“, gesteht sie dann.

„Ach so. Das klingt abenteuerlich!“, lache ich, ohne dass sie es erwidert.

„Sie sollten sich auf jeden Fall die Speicherstadt ansehen“, empfehle ich ihr.

„Speicherstadt“, wiederholt sie abwesend. „Was wird dort gezeigt?“, fragt sie schließlich.

Ich schüttele unwillkürlich meinen Kopf, weil ich keine Reisenden in Hamburg kenne, die nichts von der Speicherstadt gehört haben.

„Oder die Alster oder den Fischmarkt, wenn Sie Architektur nicht so interessiert“, schwärme ich weiter.

Die junge Afrikanerin lächelt leise, als sie uns beobachtet.

„Fahren Sie auch nach Hamburg?“, erkundige ich mich.

„Ich?“, lacht sie und schürzt die Lippen.

Ich lächele noch breiter. Die Blondhaarige schaut weiter ungerührt.

„Ja, aber ich kenne ebenso keine Alster, Speicherstadt oder so...“, lacht sie weiter.

„Interessant!“, muss ich zugeben.

Die Frau mir gegenüber lächelt nun leise.

„Verbringen Sie Ihren Urlaub dort?“, frage ich die Afrikanerin weiter.

„Urlaub?“, lacht sie mich wieder aus und schürzt die Lippen noch mehr.

„Ich komme aus Somalia und möchte meine Cousine im Flüchtlingsheim besuchen“, erklärt sie sachlich.

Die schweigsame Frau hebt verständnisvoll ihre ungewöhnlich dunklen Augenbrauen.

„Wie lange sind Sie schon in Deutschland?“, scheint sie nun interessiert.

„Seit einem Jahr“, zieht die Afrikanerin ihre knochigen Hände in den rosafarbenen Pullover, der die Dunkelheit ihrer Haut wunderschön betont.

„Sie sind noch sehr jung!“, mische ich mich ein.

„19“, nickt sie schüchtern.

„Schön“, lächele ich. „Da wird sich sicherlich Ihre Cousine über Ihren Besuch freuen.“

„Ja, mal sehen“, erwidert sie und ich staune über ihre guten Deutschkenntnisse.

„Sie sprechen sehr gut Deutsch. Haben Sie die Sprache schon vorher gelernt?“, zeige ich mich neugierig.

„Ein bisschen, bevor ich nach Deutschland gegangen bin“, lächelt sie zurückhaltend und schürzt dabei die Lippen. „Das meiste dann aber hier im Wohnheim, beim Deutschkurs. Ich möchte schließlich arbeiten...“

„Hm, ja“, nicke ich nachdenklich.

„Möchten Sie einen bestimmten Beruf erlernen?“, fragt die Blondhaarige mit ihrer zarten Stimme.

„Ich?“, mustert die Afrikanerin sie.

Sie nickt langsam und nachdenklich.

„Ich weiß nicht. Mal sehen, was es gibt“, antwortet sie dann ehrlich.

„Wollen Sie mit Menschen zusammenarbeiten oder lieber im Büro?“, stelle ich die klassische Frage.

„Mit Menschen?“, reißt sie schockiert die schwarzen Augen auf. „Nein! Nicht mit Menschen. Kinder vielleicht. Ich weiß nicht...“

„Kinder sind auch Menschen“, gebe ich zu Bedenken, doch beide Frauen reagieren nicht auf den Scherz.

„Kinder sind lieb“, erwidert die 19-Jährige und zieht ihre dicke Winterjacke vor der Brust zusammen.

„Das ist wahrscheinlich nicht so einfach, einen Beruf zu erlernen, solange wie der Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist“, fügt die Blondhaarige hinzu und runzelt die Stirn.

„Aufenthaltsstatus?“, dreht die Somalierin ihr den Kopf neugierig zu.

„Ja, ich dachte...“, errötet die Frau mir gegenüber sofort.

„Ja, alles ist nicht so leicht. Aber Deutschland ist ein schönes Land“, lacht sie und zieht ein schwarzes Smartphone mit ziemlich großem Display aus der Jackentasche.

Ich greife wieder nach meiner Ferienlektüre, lasse mich noch von dem fantastischen Glück anderer berieseln.

Die andere Frau knetet ihre Finger hin und her. Sie soll jedoch nicht nervös sein, habe ich mir sagen lassen…

Eine Violine spielt eine langsame, immer lauter werdende Melodie. Etwas vibriert dazu.

Die 19-jährige Somalierin rührt sich nicht, sondern liest weiter mit einem leisen Lächeln die Nachrichten auf ihrem Smartphone. Die Blondhaarige kramt in ihrer Tasche, bis die Musik laut in ihrer Hand ertönt.

„Hallo?“, fragt sie leise und mit zittriger Stimme.

„Ja, ich bin im Zug“, räuspert sie sich dann.

Ich bemerke, wie ihre rechte Hand nun aufgeregt gegen die Tischkante klopft.

„Ja, alles ist in Ordnung“, schließt sie die Augen und selbst ich als Fremde glaube es ihr nicht.

Ich stürze mich in den nächsten Absatz der Geschichte. Schließlich gehört es sich nicht, die privaten Gespräche fremder Menschen zu belauschen. Mich fasziniert zwar jedes Mal aufs Neue der unterschiedliche Kommunikationsstil, jedoch habe ich die Erfahrung gesammelt, dass ich selbst mich ebenso wenig wohl dabei fühle, wenn jemand mir als fremde Person zuhört. Zudem möchte ich sie nicht weiter mit detektivischen Beobachtungen erschrecken.

Ich denke an Jan, meinen Freund. Er ist Pilot und ich bin Stewardess. Wir haben uns durch einen gemeinsamen Freund kennengelernt.

Es war Silvester.

Wir feierten ausgelassen.

Der blonde, kleine Mann mit dem fast jugendlichen Gesicht stand etwas abseits mit einigen Kollegen. Ich beobachtete ihn, während meine Freundinnen und Kolleginnen die neuesten absonderlichen Erlebnisse ihrer letzten Tage austauschten. Das ist immer eine Menge und wir lachen sehr viel. Erst recht, wenn der Alkohol allmählich seine Wirkung zeigt.

Unsere Blicke streiften sich. Nicht aufdringlich oder verführerisch, wie man es sich vorstellen könnte.

Etwas anderes hielt mich fest.

Jan ist klein, schlank, blauäugig und scherzt gerne. Alle Menschen um ihn herum lachten, wenn er sprach.

Das fiel mir sofort auf.

„Gut, das erwarte ich nicht“, seufzt die blonde Frau, als sie ihren Telefonhörer wieder vom Ohr nimmt.

Ihr Gesicht sieht wenig glücklich aus. Sie kneift die schmalen Lippen zusammen, während sie das Gerät in ihrer Handtasche verstaut.

Ihre Finger hält sie nun ganz still.

Ob sie jemanden hat wie Jan, der sie beruhigt?

*

KRISTINA

Der Tag musste eine Katastrophe werden.

Meine Eltern haben mich angerufen.

Ich hätte ihnen erzählen sollen, dass ich nach Hamburg fahre.

„Es ist nur für ein paar Tage“, versuchte ich, sie zu beruhigen.

„Wen belügst du gerade? Dich? Uns? Wen willst du schützen?“, fragte meine Mutter mit ihrer besorgten Stimme und einem ständigen Vorwurf auf der Zunge.

„Es ist alles in Ordnung“, murmelte ich wie ein Mantra.

„Wann kommst du denn zurück?“, erkundigte sich mein Vater auf seine betont sachliche Art.

„Ich weiß es nicht“, gestand ich kleinlaut.

Sie schwiegen.

Eine ganze Minute.

Vielleicht länger.

Ich nahm bereits an, dass sie enttäuscht aufgelegt hätten.

„Können wir etwas für dich tun?“, schluckte meine Mutter offenbar ihre Tränen hinunter.

Ich überlegte.

„Im Moment nicht. Danke“, seufzte ich.

„Macht euch keine Sorgen. Ich melde mich, wenn ich angekommen bin“, wollte ich versprechen.

„Fährt Jakob wenigstens mit?“, hörte ich meine Mutter ganz nahe und konnte mir vorstellen, wie sie verzweifelt mit diesem starren Blick meinen Vater anschaute.

„Nein“, antwortete ich tonlos.

Erneut schwiegen sie.

Diesmal noch länger.

Sie wussten es nicht.

Sie wussten gar nichts.

Woher auch?

Schließlich waren sie nie da.

„Gut, melde dich, mein Kind, wenn du angekommen bist“, seufzte meine Mutter.

„Wir werden dich vielleicht besuchen“, überraschte da mein Vater uns beide.

„Gut, das erwarte ich nicht“, spürte ich, wie sich ein Kloß in meiner Kehle breit machte.

Ich legte auf.

Die Rothaarige liest ihren Liebesroman mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Die junge Somalierin geht die Nachrichten auf ihrem Smartphone durch.

Ich war erstaunt über ihre Offenheit. Fast beneidete ich sie darum, mit Fremden über ihre Sorgen sprechen zu können. Überhaupt darüber sprechen zu können.

Ich muss zur Toilette gehen.

Mein Kopf drückt.

Ich spritze mir kaltes Wasser auf die Stirn. Es gibt keinen Spiegel, in dem man über seinen eigenen Anblick erschrecken könnte. Als ich die Tür entriegele, kommt mir die Schaffnerin entgegen.

Ich erinnere mich kurz an das Telefonat mit meinen Eltern.

Sie werden immer so bleiben.

Deshalb wollte ich gehen.

*

NALA

Deutschland ist schön.

Ein bisschen dunkel draußen und verregnet.

Aber ziemlich grün und üppig.

Ich finde die Menschen nett. Sie sind so anders als wir.

Alles ist geordnet. Alles hat ein System.

Die Züge fahren ruhig ohne Schienenbrüche oder Check-Points.

Man muss keine Angst haben, in die falschen Hände zu geraten.

An die falschen Männer.

Es werden meistens wenige Fragen gestellt. Man kann einfach neben den Deutschen gehen, fahren, leben. Sie bemerken einen gar nicht. Nur wenige.

Es ist für mich ungewohnt, daher gleich von zwei deutschen Frauen über meine Situation befragt zu werden.

Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein: Die eine sieht so aus, wie in Erzählungen früher immer die Europäer*innen mir beschrieben wurden. Sie hat fast weiße Haut, blondes, fast goldenes langes Haar und grün-graue Augen mit kräftig gezeichneten Augenbrauen.

Natürlich habe ich schnell gelernt, dass diese Vorstellungen, die verbreitet wurden, unsinnig sind, dass sie sogar in einer gewissen Zeit viel Unrecht brachten, weil eine Diktatur sie in ihrer Ideologie missbrauchte.

Die Deutschen sind so vielfältig wie die Menschen in Somalia. Manche haben blondes Haar, andere wie die Frau auf der Bank gegenüber knallrotes, lockiges. Wieder andere schwarzes oder braunes oder gefärbtes.

Hier ist alles möglich. Das bewundere ich.

Haare können sogar grün sein, blaue Strähnen haben, pink oder grau.

Es gibt Frauen mit Kopftuch, Frauen mit Schleier, Frauen ohne Kopftuch, Frauen mit Garbasaar, unserem Kopftuch.

Verschiedene Religionen leben zusammen: Atheisten, Christen, Muslime, Juden, Hinduisten, Buddhisten und kleine Gruppen.

Am Anfang war das merkwürdig, nicht mehr nur die Frauen in ihrem Guntiino1 und Garbasaar zu sehen. Auf einmal war ich eine von vielen, wenn ich mich in einer durchlöcherten blauen Jeans und einem dünnen Strickpullover mit einem winzigen Ausschnitt in der Öffentlichkeit zeigte.

Ich wollte alles hinter mir lassen.

Als könnte ich damit eine Haut abstreifen.

Meine Geschichte hinter mir lassen.

Neu anfangen.

Das beginnt für mich bei der Kleidung.

Die Frauen waren beide sehr neugierig. Das wurde mir sogar unangenehm.

In Somalia spricht man an sich viel offener über das Leben, hat ständig Gäste zu Hause.

In Deutschland erlebte ich anfangs einen Kulturschock. Alles wirkte viel strenger. Zu Gast war ich zum ersten Mal nach einem Monat.

Das war kein schönes Ambiente. Ich musste eine Wartenummer ziehen. Dann konnte ich die Tür nicht öffnen. Man musste nämlich erst so einen Schalter betätigen, der hinter einem Schild versteckt war. Eine Frau am Informationstresen war deshalb schon genervt. Fünfzig andere warteten wie ich auf unbequemen Holzstühlen vor einem winzigen Bildschirm. Eine Nummer blinkte immer wieder auf. Nervös faltete ich meinen Zettel, den ich am Eingang gezogen hatte. Ich wartete. Die schwarzen Zeiger der sterilen weißen Wanduhr wollten sich nicht wirklich bewegen. Ich dachte viel nach in der Zeit. Zwei Männer diskutierten hinter mir. Sie sahen arabisch aus. Ich wollte schlafen, aber ich betete. Nach einer Stunde durfte ich eintreten. Platz 3. Der Mann wiederholte die Nummer, die auf meinem Zettel stand, emotionslos. Ich zitterte am ganzen Körper. Deutschland ist ziemlich kalt.

„Ich benötige Ihren Pass, Ihren Ankunftsnachweis, Geburtsurkunde, Reiseunterlagen, Fotos oder etwas, das Ihre Fluchtgründe darlegt“, erklärte er mir gelangweilt.

Zögernd nahm ich auf dem Stuhl Platz und holte die Mappe mit den Unterlagen aus meinem blauen Sportrucksack.

Er starrte auf einen Monitor, würdigte mich keines Blickes zu viel. Seine Haare waren ziemlich dunkel, ein fast kastanienfarbener Ton. Er trug einen blauen Kapuzenpullover. An seinem Finger glänzte ein Ring.

„Wie ist Ihr Name?“, fragte er und musterte mich, nachdem er die Dokumente durchgesehen hatte.

„Nala Said Ali“, hauchte ich.

Er stellte einige Fragen, bis er einen Dolmetscher hinzuholte, weil es immer komplizierter für die paar deutschen Sätze wurde, die ich bereits gelernt hatte.

Ich sollte darlegen, woher ich käme, welche Sprachen ich beherrschte, ob Verwandte in Deutschland wären, wie ich gereist sei.

„Welche Religion haben Sie?“, übersetzte die Dolmetscherin, die selbst noch sehr jung war, für mich.

„Keine“, flüsterte ich und korrigierte rasch. „Islam.“

„Sie müssen die Wahrheit sagen“,wurde ich sofort ermahnt.

Aber was war schon wahr?

Mein zweites Mal als Gast war bedeutend erfreulicher.

Freiwillige, die uns im Flüchtlingsheim unterstützten, luden zu einem Stadtrundgang ein. Wir besichtigten alles in Berlin, was die Stadt zu bieten hat, und durften sogar auf den Fernsehturm steigen. Die Aussicht fand ich wunderschön.

An dem Tag lachte ich zum ersten Mal in Deutschland.

Zum ersten Mal erschien es mir schön und wie ein Ausblick in eine bessere Zukunft.

Meine Cousine war schon vor mir in Hamburg.

Sie erwartet ihr erstes Kind.

Es soll ein Mädchen werden.


  1. Guntiino: eine Art Sari in Somalia aus Baumwolle

Kapitel 3

KRISTINA

Die Sommersonne drückte. Die Sonnenstrahlen blendeten mich selbst durch den Vorhang.

Ich wollte nicht aufstehen.

Nicht heute, nicht jetzt, vielleicht demnächst erst einmal nicht.

Lucia klopfte.

Meine strenge Mitbewohnerin.

Meine Freundin.

„Kristina, es ist 11 Uhr. Wir wollten einkaufen gehen“, jammerte sie.

Ich warf mein weißes Federkissen an die Wand, seufzte.

Ich wollte nicht.

Es klopfte erneut. Sie bereitete sich wohl schon vor. Ob alles in Ordnung sei?

Nein.

Natürlich nicht.

Was war das für eine dumme Frage?

Ich wurde wütend.

Weil sie mich triezte.

Weil ich mit ihr einkaufen sollte.

Weil ich meine Ruhe haben wollte.

Weil ich einfach nur schlafen wollte.

Ich riss das große Fenster zur Straße auf.

Warme Sommerluft strömte herein, sodass sich bereits erste Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.

„Kristina!“, rief sie erneut meinen Namen und klopfte vehement.

„Ich komme schon“, bemühte ich mich um einen ruhigen und neutralen Tonfall und zog mir mein blumiges Sommerkleid an. Meine Mutter hatte es mir geschenkt. Niemand anderes wählte ansonsten etwas Geblümtes für mich aus.

Ich kämmte mein blondes Haar, das über Nacht knotig geworden war. Doch ich riss an den Strähnen, um besser wach zu werden. Womöglich wünschte ich, mich dabei besser zu spüren.

„Da bin ich“, stolzierte ich an Lucia vorbei, die mit verschränkten Armen direkt vor meiner Tür wartete.

„Guten Morgen“, sagte sie leise mit ihrer honigsüßen Stimme.

„Gehen wir?“, rief ich ungeduldig den Fahrstuhl.

Wir schwiegen unterwegs.

Liefen nebeneinander – jede mit ihrer Handtasche – und schwiegen.

Die Sonne blendete. Es war heiß.

Wenigstens hielten sich um die Uhrzeit nicht ganz so viele in dem Einkaufsladen auf. Lucia bestellte Wurst und Käse an der Theke. Ich kümmerte mich um das Gemüse. Das teilten wir uns schon lange so auf.

Das Angebot war im Sommer recht ansprechend.

„Ich habe Würstchen gekauft. Suchst du noch immer?“, fasste mich Lucia irgendwann an der Schulter an, sodass ich mich erschrocken umdrehte.

Entgeistert schaute ich sie an.

„Bist du auch so weit?“, wiederholte sie und schob den Korb noch ein Stück näher.

„Fast“, hielt ich nach den Tomaten Ausschau.

Ich wusste, dass ich diesmal langsam war. Meine Gedanken streikten. Wäre ich im Bett geblieben, hätten wir dieses Problem sicherlich nicht gehabt.

Aber ich war aufgestanden. Wofür, verstand ich noch nicht.

Die Klimaanlage ließ allmählich eine Gänsehaut auf meiner Haut stehen, als wir den Einkauf sorgfältig auf dem Kassenband platzierten. Der Korb hatte sich ganz schön gefüllt. Da käme wahrscheinlich eine ordentliche Summe auf uns darauf zu.

Lucia schaute mich an, presste die Lippen aufeinander.

Sie musterte mich, überlegte vermutlich, was sie mir sagen sollte.

Ich wich ihrem Blick aus und beobachtete die Kund*innen an der anderen Kasse.

Wie ein eingespieltes Team luden wir die Waren wieder in den Korb. Ich verpasste nur manchmal meinen Einsatz und erntete dafür strenge Blicke.

Es berührte mich nicht.

Nicht ernsthaft zumindest.

Die Beutel reichten schließlich nicht aus.

„Wir hätten einen Rucksack nehmen sollen“, stöhnte ich ungehalten.

„Beim nächsten Mal nehmen wir einen Koffer mit“, musste ich tatsächlich kurz über den Scherz meiner Freundin lachen. Er kam so unerwartet.

„Jetzt hast du auch gelacht“, grinste sie sofort frech.

„Gut, dann trainieren wir die Armkraft und gehen als Packesel zurück“, hing ich mir zwei Beutel über die Arme.

Wir müssen merkwürdig ausgesehen haben.

Jede trug eine Handtasche, eine Tüte rechts und eine links, etwas klemmte noch unter dem Arm.

Auf einmal fühlte ich mich besser.

„Wie viele Gäste werden heute zu deiner Geburtstagsfeier kommen?“, fragte ich, als mir die Schweißperlen wie Wasser am Körper hinabrannen.

„So zehn, denke ich“, zuckte sie mit den Schultern.

„Du hast mein Geschenk noch gar nicht ausprobiert“, erinnerte ich an die Lautsprecher, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte.

„Keine Zeit“, lachte sie und verdrehte die Augen.

Danach schwiegen wir erneut, bis wir an der Haustür standen.

„Wir müssten einen Eiswagen bestellen“, zwinkerte ich und stellte einen Beutel ab, um die Tür zu öffnen.

Wortlos ordneten wir die Lebensmittel in die Schränke und den Kühlschrank.

Wortlos spülte ich meine Hände unter dem kalten Wasser und spritzte ein wenig in mein knallrotes Gesicht.

Wortlos schlich ich am Wohnzimmer vorbei, wo Lucia bereits die Tische dekorierte.

Wortlos legte ich mich auf mein Bett.

Ich hatte etwas getan.

Ich hatte eingekauft.

Niemand konnte daher behaupten, dass ich faul oder träge gewesen wäre.

Jetzt lag ich jedoch in dem Sommerkleid auf dem Bett und schloss die Augen.

Die Feier kam mir ungelegen.

Doch das war nicht Lucias Schuld.

Die Umstände passten nicht.

Ich passte nicht.

Nicht mehr.

Welche Show sollte ich diesmal darbieten, um alles zu überspielen?

„Kristina, möchtest du essen?“, klopfte meine treue Wächterin an die Tür.

„Nein, danke“, setzte ich an und überlegte es mir.

„Was gibt es denn?“, öffnete ich stattdessen die Tür.

Wir aßen Sandwichs mit Salami und besonders viel Käse. Auf dem Tomatensalat hatte ich bestanden, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen.

„Einer hat abgesagt“, durchbrach meine Freundin plötzlich unsere gefräßige Stille.

„Ach so“, murmelte ich abwesend.

„Wer?“, fügte ich schließlich hinzu, um nicht ganz so desinteressiert zu klingen.

„Ramon“, erwiderte sie kauend und schaute mich mit ihren großen dunklen Augen an.

„Hat er einen Grund genannt?“, bedauerte ich es kein bisschen. Ein Gast weniger bedeutete eine Lüge weniger. Gerade Ramon liebte unliebsame Fragen.

„Kreislaufprobleme“, erklärte sie mit ungläubigem Grinsen.

„Soll vorkommen“, kaute ich weiter und fühlte mich wieder unwohl.

Dann schwiegen wir.

Mein Bauch fühlte sich rund an. Kugelrund. Durstig trank ich etwas Wasser aus meinem Glas.

Sie beobachtete mich.

Wortlos. Aufmerksam. Wie eine Detektivin.

Ich stapelte die Teller und stand auf.

„Hast du Jakob noch einmal gefragt?“, fragte sie mit auf einmal fordernder Stimme.

„Nein. Der kommt nicht“, spürte ich, wie ich schneller atmete. Meine Hände zitterten, als ich die Teller eilig in die Küche trug und das Wasser in das Spülbecken ließ.

„Meldet er sich nicht mehr?“, war sie mir gefolgt.

Ich zuckte zusammen, drehte mich zu ihr.

Sie stand im Türrahmen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Die vollen, roten Lippen waren schmaler geworden, ihr Blick ungewöhnlich fest, kompromisslos.

Ich konnte nicht lügen.

Ich trocknete den Abwasch ab.

Sie blieb stehen.

Ich wusste, dass ich ihr eine Antwort schuldete.

Ich wusste, dass dieser Tag schrecklich werden würde.

Aber ich war aufgestanden.

„Es ist vorbei“, erklärte ich tonlos, als ich neben ihr stand und sich unsere Arme dabei berührten.

Noch immer wich sie keinen einzigen Schritt zurück.

„Vorbei. Mein Leben“, schlug ich meine Zimmertür hinter mir zu.

- Schwere Gedanken für eine Zugfahrt in das Glück.

Ich weiß nicht, warum sie gekommen sind.

Weite Felder rauschen am schmutzigen Fenster vorbei.

Der Regen hat aufgehört.

Die Somalierin tippt auf ihrem Handy seit einer guten Stunde.

Die Rothaarige ist eingeschlafen.

Wir halten.

Ein Mann weckt die Frau mir gegenüber.

Stendal heißt die Station.

Er ist älter als wir.

Seine Haut ist schon in die Jahre gekommen, sonnengebräunt, faltig an der Stirn. Er ist kräftig, richtig muskulös. Wahrscheinlich geht er in das Fitnessstudio, falls Stendal so etwas zu bieten hat.

Ich schließe die Augen.

*

NALA

Meine Cousine heißt Safiya. Das ist Suaheli und bedeutet die Vertraute.

Sie ist zwei Jahre älter als ich und für mich wie eine große Schwester.

Wir waren immer unzertrennlich.

Sie sieht hübsch aus auf den Bildern, die sie mir von ihrem runden Bauch schickt. Ihre Haut ist noch dunkler als meine. Sie hat lange schwarze Locken, die bis zu ihrem Gesäß reichen, wenn sie sie offen trägt. Man kann viele Zöpfe flechten, ganze Frisuren probieren.

Das weiß ich von früher.

Ihr junges Gesicht ist ein bisschen rund, mit richtigen prallen Wangen, was sie besonders zart und freundlich aussehen lässt. Jedem Menschen schenkt sie ein ganz eigenwilliges fürsorgliches Lächeln, durch das ich mich immer angenommen fühle. Immer versprühen ihre dunklen Augen einen ungewöhnlichen Lebenswillen. Es heißt doch, dass sie ein Abbild der Seele seien. Ich glaube, dass es bei Safiya stimmt.

Ihren Mann kenne ich nicht. Sie muss ihn in Deutschland kennengelernt haben. Wahrscheinlich kommt er weiter aus dem Norden, weil er viel hellere Haut hat als wir. Sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten und lässt daher die ersten Falten auf der Stirn erkennen. Er hat eine sehr markante Nase, die kräftig gebogen ist, und breite, buschige Augenbrauen.

Etwas starr blickt er in die Kamera, während meine Cousine vor Glück strahlt und ihre kleinen Hände über den Bauch legt.

>Wann wirst du ankommen?<, schrieb sie mir, sobald ich in den Zug eingestiegen war.

>Ich habe drei Stunden<, antwortete ich und spürte, wie mein Herz vor Aufregung pochte.

Ich habe keine Angst vor einem Wiedersehen, auch wenn unsere letzte Begegnung lange zurück liegt.

Sehr lange.

Für mich in einem früheren Leben.

Was wird von der früheren Safiya geblieben sein?

Ich habe mich verändert.

Ich trage keinen Guntiino mehr, keinen Garbasaar.

Ich habe meine Vergangenheit an der Grenze abgelegt.

Danach ist so viel geschehen.

*

MIRIAM

Ich schrecke aus dem Schlaf auf.

Jemand berührt mich an der Schulter. Nicht hart oder aufdringlich. Doch ich bemerke es.

Wir haben offenbar die nächste Station erreicht. So langsam wird es auch Zeit. Ich kann es kaum mehr erwarten, in Hamburg zu sein. Jan zu sehen, in meine Arme zu schließen.

Eine Woche kann lang sein.

„Entschuldigung, allerdings müsste ich hier durch. Ich habe den Fensterplatz“, verzieht der Mann begrenzt mitleidig sein sonnengebräuntes Gesicht.

Er wird so Ende 30, Anfang der 40er Jahre alt sein. Sein kantiger Kopf hat Falten um die blauen Augen, die fast unauffällig in ihren Höhlen liegen. Das braune kurze Haar hat er, wie es neuerdings modern ist, schräg zur Seite gestylt.

Aalglatter Bursche, hätte meine Oma mit einem Schmunzeln gesagt.

Ich stehe müde und noch ein wenig benommen auf, um ihm den Weg freizugeben.

Gar nicht sonderlich groß ist der Mann. Nur um einen halben Kopf überragt er mich. Das breite Muskelpaket lässt ihn massiver erscheinen.

Doch am auffälligsten bleibt die ganz offensichtlich nicht natürlich gebräunte Haut.

Ich setze mich wieder und gähne vor mich hin.

„Entschuldigung, gibt es hier eigentlich Kaffee?“, stupst er mich wieder an der Schulter an, als ich gerade an Schlaf denke.

„Ich denke schon“, zucke ich mit den Achseln. „Ein Bordrestaurant finden Sie gewiss.“

„Dann muss ich mal schauen. Ich könnte nämlich dringend einen benötigen“, lacht er und in seinem großen Mund strahlen ungewöhnlich weiße Zähne.

„Möchten Sie also wieder aufstehen?“, bin ich irritiert.

„Ne, lassen Sie mal! Ein paar Minuten schaffe ich es noch. Ich möchte Sie nicht belästigen“, winkt er ab und stopft sich schwarze Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren.

Einen kurzen Blick werfe ich auf die beiden anderen Frauen.

Die Somalierin hat ihr Handy beiseite gelegt und schaut verträumt aus dem Fenster. Für sie wird wahrscheinlich einiges neu sein. Oder sie ist in Gedanken bei ihrem geplanten Familienbesuch.

Die Blondine, die überhaupt nicht nervös ist, starrt seit gefühlten fünf Minuten auf denselben nicht vorhandenen Fleck auf dem dunklen Fußboden im Gang.

Ich gähne erneut, greife dann wie alle jungen Menschen nach meinem Smartphone. Jan hat es mir geschenkt. Es war zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest. Ich sollte seine Fotos in der richtigen Qualität sehen, fügte er mit einem charmanten Grinsen hinzu.

Allmählich habe ich wohl Heimweh, dass meine Gedanken immer wieder um ihn kreisen.

Dabei liebe ich genauso die Unabhängigkeit.

Manche meiner Freundinnen haben längst geheiratet.

Manche haben sich noch einmal getrennt.

Mitten in dieser stürmischen Zeit fand ich ihn.

Die Schaffnerin von vorher in dem unvorteilhaften blauen Kostüm kontrolliert erneut die Fahrkarten.

Der Mann neben mir zieht betont lässig sein Ticket aus der hellblauen durchlöcherten Jeans-Tasche. Er möchte anscheinend cool wirken oder jünger oder beides.

„Sagen Sie, gibt es irgendwo Kaffee?“, greift er sein Anliegen sofort auf, bevor die Schaffnerin weitergehen kann.

„Im Bordrestaurant oder hier. Da müssen Sie noch einen kleinen Augenblick warten“, erklärt die emotionslos und geht.

„Wie viel kostet der hier?“, hakt er nach.

„Im Restaurant ist es ein bisschen billiger, glaube ich“, empfehle ich ihm, als die Frau vom Bahnpersonal bereits weitergeht.

„Dann muss ich Sie wohl doch noch einmal belästigen“, lächelt er nett.

„Kein Problem. So werde ich wieder wach“, lache ich und bemerke, wie die Blondine mir gegenüber plötzlich aufschaut und die Nase rümpft.

Ich werfe zum ersten Mal einen Blick aus dem Fenster.

Kaum zu glauben, dass es bald mittags ist.

Dunkle, graue Wolken verhängen den sonst strahlend blauen Himmel. Es regnet erbärmlich, sodass ich gar keine Lust mehr habe, irgendwann aufstehen zu müssen. Aber Hamburg wird selbstverständlich anders sein.

Jan möchte mich am Bahnhof abholen. Allmählich wird er doch noch romantisch.

Früher war das nämlich gar nicht seine Art. Da beneidete ich meine Freundinnen, die überallhin wie eine Königin chauffiert wurden. Doch ich zerredete meine stille Enttäuschung. Sie hatten eben andere Freunde oder Ehemänner. Niemand war so wie mein Jan.

Eines Tages ergab es sich, dass er nachts von einer seiner abenteuerlichen Fernreisen zurückkehrte. Ich kannte schon seine Ankunftszeit, aber dachte darüber nicht näher nach. Stattdessen ließ ich mir ein heißes, entspannendes Bad ein und träumte mit geschlossenen Augen von meinen Abenteuern des Lebens. Da klingelte mein Handy. Einmal, zweimal, bis ich mich wieder angekleidet hatte.

„Hi, ich bin es. Bist du eigentlich zu Hause?“, sprach er überraschenderweise zu nahe am Hörer.

Amüsiert blickte ich auf die Uhr.

„Es ist 23 Uhr! Was denkst du über mich?“, lachte ich.

Er schwieg kurz, was auch nicht zu seiner ansonsten lebenslustigen Art passte.

„Ich bin noch am Bahnhof“, sagte er dann.

„Ja?“, verstand ich nicht, was er mir genau mitteilen wollte.

„Wie lange braucht man bis zu dir?“, überrumpelte er mich dann nach der kurzen Pause.

Ich überlegte ernsthaft. Auf einmal sah ich mich selbst nach einer meiner Städtereisen abends – nicht ganz so spät – auf dem Bahnsteig stehen. Der Bahnsteig hatte sich geleert. Die Stille der Nacht war bereits angebrochen.

Ich stand dort.

Allein versteht sich.

Und suchte meine Straßenbahn.

„Eine Stunde, denke ich“, erwiderte ich und ließ mein Haar aus dem Turban gleiten.

Um Mitternacht läutete es.

Ich war müde geworden. Mein erholsames Bad hatte die Lebensgeister für diesen Tag gebändigt.

Ich öffnete und musterte irritiert meinen Abenteurer.

Ein langer Bart war ihm in den Wochen gewachsen, durch den er wahrscheinlich zehn Jahre älter wirkte. Das blonde Haar hatte er unter eine urkomische Fellmütze gepackt. Langsam stellte er seine beiden Rucksäcke bei mir ab und sah mir tief in die Augen.

„Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid“, flüsterte er und ich schloss die Tür hinter ihm.

*

MARKUS

Ich habe einen Kaffee gefunden. Der schmeckt scheußlich für die Preise.

Aber so what, ich muss fit sein. Schließlich wollen wir noch heute am Abend feiern.

Ich freue mich richtig, meine Jungs von früher zu treffen.

Jedes Jahr organisieren wir uns das jetzt.

Ich mag es.

Ich mag die Stadt. Ich mag die Viertel. Fast alle Viertel. Ich mag die Feste, wie unsere Adventsparade. Ich mag die Bars.

Wirklich alles.

Ich bin sozusagen ein armer Landbursche. Stendal hat nicht viel zu bieten.

Eine kleine Kneipe, wo sich immer die treffen, die regelmäßig gerne tief in das Glas schauen. Da bin ich viel lieber mit dem Rad im Uchtetal unterwegs oder an der Elbe im Naturpark. In der weiten Natur muss ich zudem nicht befürchten, meinen Schülern oder Schülerinnen zu begegnen. Die Jugendlichen sind zwar mein täglich Brot und mir gefällt die Arbeit. Allerdings genieße ich genauso das Gefühl, am Schultor das Kostüm des strengen Lehrers mit seinen flapsigen Witzen ablegen zu können.

Das war jetzt ein bisschen poetisch gesprochen.

Ich unterrichte seit acht Jahren Sport und Geographie, wie es sich für einen ostdeutschen Lehrer gehört.

Nein, Scherz beiseite, das waren die einzigen Fächer, in denen ich das Gefühl hatte, durchzukommen.

Meine Jungs sind alle nach der Schule gegangen. Wir waren nämlich selbst einst Schüler an meiner Schule. (Glücklicherweise gibt es den früheren Direktor nicht mehr.)

Ich bin immer geblieben, habe nur einmal für ein paar Jahre die Universität von Magdeburg kennengelernt.

Die Zeit hatte sicherlich ebenfalls ihren Reiz. Wilde Partys, Kinobesuche…

Nein, eigentlich gar nicht. Meine Kommilitonen waren alle ganz brave Jungs. Wir hatten Lerngruppen, unternahmen Radtouren in die Umgebung oder schauten uns die wunderschöne Altstadt in der Freizeit an. Ich wunderte mich schon manchmal, warum die alle gar nicht Kunst- oder Geschichtslehrer werden wollten.

Das Radfahren habe ich mir beibehalten. Meinen Jugendlichen raten ich immer, fleißig in Gruppen zu lernen. Sie können schließlich ihre eigenen Erfahrungen sammeln.

Manchmal gehe ich noch zum Handball. Das ist eher mein Metier.

Ansonsten passiert nicht viel.

Mittlerweile haben wir alle eine Freundin. Manche mehrere. Manche eine Ehefrau.

Das Leben geht so irgendwie vorbei.

Meine Freundin Judith plant gerade ganz aufgeregt, wie viele Kinder sie haben möchte.

Die bekämen dann Namen wie Karl, Timothy, Clara, Agatha…

Ich nehme sie nicht mehr ernst.

Am Anfang ging sie mir mit ihren ständigen Zukunftswünschen auf die Nerven. Ich hörte mir artig an, wie sie ganze Namenslisten potentieller Kindernamen aufzählte, grummelte irgendetwas, schloss die Augen oder öffnete mir ein Bier.

„Was findest du besser: Kevin oder Anton, Markus-Darling?“

Dieses Markus-Darling hatte sie sich nach einem vollkommen sinnfreien Film angewöhnt und säuselte es immer wie eine echte Liebkosung, während sich mir sofort die Nackenhaare sträubten.

„Ich wäre für einen Doppelnamen. Oder gleich drei hinter einander“, trank ich gierig aus der Flasche.

„Du nimmst mich nicht ernst“, war sie auf der Stelle beleidigt.

„Ich habe andere Zukunftspläne“, schaute ich ernst in ihre zarten grünen Augen und strich eine ihrer langen, braunen Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht.

Kapitel 4

MIRIAM

Ich hatte einige Liebhaber in meinem Leben.

Es gab einige Männer, die kamen, blieben, gingen.

Immer drehte es sich um die gleichen Themen, an denen es dann scheiterte.

Man kann als Frau hübsch sein, attraktiv.

Doch für viele ist man auch nicht mehr.

Früher hatte ich Angst vor der Einsamkeit. Vor dem Moment, in dem sich die Tür meiner Ein-Zimmer-Wohnung laut schloss und mich vier weiße Wände mit einigen unpersönlichen Bildern umgaben.

Ich sang Lieder, hörte die Radiosender rauf und runter. Ich joggte, ging ins Fitnessstudio. Das war überhaupt nichts für mich.

Am besten ist es, aktiv zu sein.

Das schützt davor, sich in das nächste Unglück zu begeben.

So empfand ich meine jungen Jahre irgendwie.

Ich suchte, glaubte zu finden, offenbarte mich, bis alles zerbrach.

Dann kommt irgendwann eine neue Angst, die sich gleich zu Beginn einschleicht. Ein Zweifel, der von Beginn an immer wieder in das Ohr flüstert.

Heute bedaure ich es nicht.

Es waren Erfahrungen. Durch sie bin ich erwachsen geworden.

Durch meinen Beruf bin ich immer noch viel allein. Aber ich fühle mich nicht mehr einsam.

Ich finde immer neue Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme. Mich interessieren ihre Geschichten, ihre Gefühle, ihr Verhalten.

Das lenkt ab von einem selbst.

Als Jan in mein Leben kam, war ich unglücklich.

Er ist ein Einzelgänger.

Er liebt die Freiheit.

Er liebt sie mehr als mich.

Mit der Zeit lernte ich jedoch Bedingungen zu stellen.

Meine Freiheit neu zu erfinden.

Dadurch fand ich mich.

Jan hat gelernt, dass ich da bin, wenn ich es möchte.

Dass ich die Tür hinter mir schließe, wenn er zu weit geht.

Dass ich alles bin, wenn er nur ein bisschen für mich da ist und mehr sieht als sich selbst.

*

NALA

Im Jahr 2000 wurde ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mogadischu geboren. Ich war das erste Mädchen, das meine Mutter nach sechs Söhnen zur Welt brachte.

Ich sei ihr Diamant, erklärte sie mir immer wieder mit ihrem seligen Lächeln.

Sie war es, die meinen Namen auswählte. Nala bedeutet Die Glückliche nach der Geschichte einer Löwin.

Meine Mutter war damals dreißig Jahre alt. Ihr Rücken war bereits von der Arbeit stark gekrümmt.

Sie soll früher sehr hübsch gewesen sein.

Doch mittlerweile hatten Jahre des Hungers, Verlustes und Schmerzes sie gezeichnet. Ihr Gesicht war mager geworden, die Haut bereits an den Augen faltig und das dicke schwarze Haar, das sie am Tage unter ihrem Garbasaar versteckte, zum Teil ergraut. Wenn sie lachte, konnte man zählen, wie viel Zähne sie in den Jahren des Hungers verloren hatte.

Dennoch strahlten ihre dunklen, fast schwarzen Augen vor Lebensfreude und Klugheit. Ihre Lippen lächelten weich, wenn sie mir durch das Haar mit der mageren Hand strich. Das machte sie für mich viel anziehender.

Mein Vater begegnete ihr zum ersten Mal in der Hauptstadt. Sie arbeitete dort in der Schuhfabrik eines Onkels, um sich Geld für ein Studium zu verdienen. Sie war sehr ehrgeizig, hatte in der Schule stets fleißig gelernt und wollte eines Tages Lehrerin werden.

Ich besuchte nie eine Schule.

Als Mädchen in Somalia ist das nicht sehr ungewöhnlich. Wir werden im Haushalt benötigt, bei der Arbeit auf den Feldern, für Verhandlungen, als Pfand für Streitigkeiten…

Auch meine Brüder gingen nie zur Schule. Mein Vater benötigte uns alle für das Hüten seiner Ziegen und Schafe oder die Bestellung seines kleinen Feldes.

Ich erinnere mich kaum an unsere erste Hütte, an das Dorf oder die Tiere.

Es war sehr dunkel im Inneren. Das hat sich eingeprägt.

Meine Mutter arbeitete immer. Am Tage hackte sie den Boden oder half bei der Ernte. Am Abend aßen wir hungrig ein paar Pfannkuchen, die sie irgendwann gemacht haben musste. Selten gab es Reis oder Hirse, was mein Vater irgendwoher erwarb.

Wir waren oft hungrig.

Selbst in jener Zeit.

Trotzdem beklagte sich meine Mutter nie. Trotzdem war sie immer voller Lebenslust. So flocht sie mir am Abend schöne Zöpfe oder sang Lieder, erzählte Geschichten aus der Hauptstadt, aus ihrer Kindheit, aus der Schule.

Manchmal durfte ich mit meinen Brüdern spielen. Die waren jedoch meistens nach der harten Arbeit zu erschöpft oder ließen mich an ihrem Fußballspiel als Mädchen nicht teilnehmen.

„Sei nicht traurig, meine Nala!“, tröstete meine Mutter mich. „Ich habe dir eine Puppe genäht, damit du nicht so allein bist“, reichte sie mir eines Tages meine Deka, die ich von da an überallhin mitnahm.

„Warum darf ich nicht mit den anderen spielen?“, fragte ich noch immer enttäuscht.

Sie strich mir durch das Haar und erklärte in ihrer ruhigen und weisen Art: „Für Mädchen ist Fußball zu gefährlich. Du siehst doch, wie Keynan beim letzten Mal gefallen ist.“

„Durftest du auch früher nie mit den Jungen spielen?“, verschränkte ich die kleinen Arme wütend vor der Brust.

„Nein. Jungen und Mädchen spielen nicht gemeinsam. Die meisten sehen das nicht gern“, erhob sie sich und nähte eine Jacke meines Vaters, bevor ich weiter bohren konnte.

Daher waren meine ersten Jahre die einsamsten meines Lebens.

Außer von meiner Mutter und meinem jüngsten Bruder Keynan wurde ich meistens ignoriert.

Stattdessen erzählte ich der stummen Deka alles, was meine Neugier fesselte.

Das war eine Menge.

Irgendwie mussten sich schließlich die Einsamkeit und das Auf und Ab des Wetters aushalten lassen.

Es gab ständig Katastrophen.

Entweder war es glühend heiß und so trocken, dass die Pflanzen auf dem Feld welkten und vertrockneten, oder es goss wie aus Eimern mit Hagel, Blitzen und lautem Grollen.

Ich hatte schreckliche Angst vor den Tropengewittern, die die Erde in ein Meer verwandelten. Immer kroch ich zu meiner Mutter oder Keynan unter die Decke.

Deka drückte ich fest an mich und sang ihr zur Beruhigung ein Lied, bis einer meiner Brüder mich genervt zum Schweigen brachte.

Als ich gerade sechs Jahre alt geworden war, verflüssigte sich die Erde besonders stark. Seit Tagen hatte es geregnet, waren ganze Bäche aus dem Himmel gekommen. Das Wasser stand bis in unsere Hütte und mein Vater wurde unruhig.

„Die Männer sagen, dass die Flüsse diesmal viel stärker über die Ufer getreten sind. Das Wasser kann in der trockenen Erde nicht versickern“, berichtete er meiner Mutter, die schweigend zuhörte.

„Die ganze Ernte ist zerstört. Die Pflanzen werden sich nicht mehr erholen. Das Wasser ertränkt sie alle“, grübelte er weiter, während es sonst still in der Hütte war.

Wir alle hatten Hunger, denn unsere Vorräte begannen durch die extreme Feuchtigkeit zu schimmeln. Nur die dürftige Milch der Tiere konnte uns nähren.

„Das Wasser wird uns eines Tages mit sich reißen“, prophezeite er übel gelaunt.

„Möchtest du meine Meinung hören?“, erwiderte meine Mutter nach einiger Zeit leise.

„Was soll ich machen? Wir werden verhungern“, schien er ratlos.

„Wir könnten in die Stadt gehen und meinen Onkel um Hilfe bitten“, schlug sie ruhig vor und nur an ihrer Stimme merkte ich, dass sie selbst verzweifelt war.

„Pah! Dein Onkel wird unmöglich uns alle aufnehmen. Er hat dich schon damals nach dem Tod deiner Eltern für ein paar Schilling an mich verkauft“, wehrte mein Vater ab.

Ich wusste nicht, dass er meine Mutter eingekauft hatte. In ihren Geschichten hatte sie mir bisher nie erzählt, weshalb sie nicht studiert hatte, aus der Hauptstadt gegangen war, sondern stets mit einem „Nala, das erkläre ich dir, wenn du älter bist und es verstehen kannst“ abgetan.

Wir gingen tatsächlich nicht in die Hauptstadt, sondern suchten bei einem Bruder meines Vaters, Onkel Jabari, Hilfe.

Der besaß mehrere Felder, auf denen er Sesam anbaute, der sogar bis in das Ausland verkauft wurde.

Anfangs wohnten wir in einem Zelt aus dünnem Stoff, den der Regen sofort durchnässte. Später hatten mein Vater, meine Brüder, Onkel Jabari und meine drei Cousins eine kleine Hütte für uns errichtet.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124910
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Vergewaltigung Belästigung Sexualisierte Gewalt Partnergewalt Sexuelle Belästigung Posttraumatische Belastungsstörung #MeToo Gewalt Frauen und Männer Emanzipation

Autor

  • Julia Augustin (Autor:in)

"Doch alle schweigen" ist der zweite Roman nach "Schluchten zwischen den Welten". In ihren Erzählungen setzt sich die Autorin mit politischen, gesellschaftskritischen und zwischenmenschlichen Themen auseinander. Hauptberuflich ist sie als Ärztin tätig. Außerdem erschienen: "Über große und kleine Kriege", "Schluchten zwischen den Welten"
Zurück

Titel: Doch alle schweigen