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Drachentanz

Die Schatten von Mra'Theel 3

von Andrea Ego (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Ein Bote, der seinem Gott verfällt. Eine Schmiedin, zum Tanzen geboren. Ein Fürst, der in seinem Feuer aufgeht. Sunyu brennt. Nach der verheerenden Schlacht schwört sich der verzweifelte Schmiedegeselle Rache, um den ohnmächtigen Schmerz in seinem Inneren zu betäuben. Doch die Gefahr aus den Drachenbergen ist nicht gebannt. Um gegen die Abtrünnigen zu bestehen und die Göttinnen zu schützen, tritt er seinem Hass zum Trotz das Erbe seines Vaters an. Doch der Preis für das Vertrauen der Fürstinnen ist hoch und der Gesandte des Vergessenen lauert in den Schatten, als der Dunkle Gott zum unausweichlichen Kampf gegen das fragile Bündnis ruft …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Glossar

Die Völker

Menschen: Sie leben in Kerase und Erendal. Ihre Gesellschaft ist einfach strukturiert. Ihre Felder versorgen die Bewohner von Mra’Theel weit über die Landesgrenzen hinaus mit Nahrungsmitteln. Zudem ist das Mittelgebirge bekannt für seine Bodenschätze. Die Länder sind allerdings weder besonders angesehen noch einflussreich.

Irin: Sie gelten als die am weitesten entwickelte Art in Mra’Theel und bevölkern das Land Vehni. Ihr Hang zu Forschung und technischer Entwicklung lässt die Städte zu Wissenshochburgen werden. Neben den Wissenschaften unterhalten sie eine angesehene Armee.

Kvor: Die Kvor sind zwar kleiner als Menschen, aber durch ihre gedrungene Statur zäh und überraschend ausdauernd. Sie gelten als friedliebendes Volk, das sich an den Küsten und in den Hügeln von Kvora niedergelassen hat. Ihre Leidenschaft gehört dem Bergbau, selbst einige Dörfer sind in den Berg gebaut.

Larhun: Die Larhun sind gefürchtete Krieger, gross und massig, und ein streitsüchtiges Volk, das sich nicht darauf einigen konnte, unter einem Banner zu gehen. Sie leben in den Nebelreichen, umgeben von Nebel, Bergen und Hügeln. Das Leben konzentriert sich auf wenige Stadtstaaten und ein paar Höfe rundherum. Die raue Lebensweise und die aufbrausende, kämpferische Art verhindern jeden Kontakt zu Mra’Theels Ländern.

Die Götter

Seylani: Als Göttin der Liebe, des Lebens, des Tages und des Krieges wird die blonde Göttin mit dem entschlossenen Ausdruck in den Augen verehrt. Ihr werden wilde Feste und das Lachen zugesprochen. Bei jungen Frauen ist sie äusserst beliebt. Sie gilt als unnachgiebig und hart, aber auch als gerecht.

Doana: Doanas Haut und Augen sind so dunkel wie die Nacht, die sie verkörpert. Als Göttin des Todes, der Ruhe und der Dunkelheit findet sie weniger Anhänger als ihre helle Schwester, dennoch wird sie geschätzt. Sie beendet einen Tag und läutet den nächsten ein, lässt Altes vergehen und Neues erblühen. Ihr grösstes Versprechen ist das eines Neuanfangs.

Der Graue: Der männliche Gott wird nur noch in den Nebelreichen angebetet, in denen der Nebel und die Welt dazwischen bei jedem Atemzug präsent sind. Er ist gerüstet, aber friedliebend. Wenn es notwendig ist, greift er zu den Waffen und lässt sich nicht bremsen, aber er selbst beginnt keinen Kampf. Nur wenige kennen ihn auch unter dem Namen Herrwhig.

Der Vergessene: Der Gott, dessen Antlitz auch in den alten Tempeln nicht mehr erkennbar ist, wurde vergessen. In ihm wohnt Schwärze und er sinnt auf Rache. Seine Anhänger sind jene, die in den Augen der Göttinnen keinen Gefallen finden: Gesetzlose, Abtrünnige und Freiwild. Niemand kennt ihn, sein Name ist nicht überliefert, doch in den Nebelreichen wird er gefürchtet.

Als Leserin bin ich keine Freundin davon, bei jedem neuen Städtenamen zur Karte am Anfang des E-Books zu springen und wieder zurück. Deshalb habe ich auf meiner Webseite die Karte samt Glossar zum Herunterladen und Ausdrucken hochgeladen.

https://andreaego.jimdo.com/bücher/buchvorstellung-schattenwanderer-1

Prolog

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Dein Licht ist erloschen, dein Lachen vergangen. Ich habe gesehen, wie deine Seele den Körper verlassen hat, wie du in dich zusammengefallen bist.

Eigentlich hatte ich mit dir abgeschlossen, es wenigstens geglaubt. Doch der Schmerz beweist das Gegenteil. Bei Seylanis dürrem Arsch, dein Lachen, das Strahlen deiner Augen … Du hast die Freude in mein Leben zurückgebracht, wenn auch nur kurz. Du hast mein Leben zurückgebracht.

Nun hast du den Tod auf dem Schlachtfeld gefunden. Es tut weh, zerreisst mich. Dabei hättest du ein Zuhause, einen liebenden Mann und eine Kinderschar verdient. Ich wünschte dir alles Glück im Leben, alles, was du dir erträumtest. Ich hätte es dir von Herzen gegönnt.

Doch es sollte nicht sein.

So unterschiedlich wir auch waren, so viele Gemeinsamkeiten habe ich entdeckt. Nach und nach, Stück für Stück.

Am liebsten hätte ich dich an mich gedrückt, wenigstens ein einziges Mal. Dich gerochen, deine Haut unter meinen Fingern gespürt. Aber du hättest es nicht zugelassen – nicht bei mir.

Dein Leben habe ich zur Hölle gemacht, dein Lachen im Keim erstickt. Deine Leistungen waren in meinen Augen nichts wert.

Doch du warst die Einzige, die den Mut fand, mich zu suchen. Du warst die Frau, die mich beflügelte und mein Leben erst lebenswert machte. Die mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich würde meine Seele hergeben, könnte ich noch einmal einen Kampf gegen dich fechten. Gegen dich und dein Schwert, das bis in alle Ewigkeit mit dir tanzt.

Möge Doana dir einen Neuanfang schenken. Möge deine Seele erneut erstrahlen und Sonne in den Herzen der Menschen um dich herum verbreiten. Mögest du, mein Herz und mein Leben, gross und stark werden, wie du es in diesem Leben warst. Möge Doana ihre Hand schützend über dich halten, während du zu einer wunderschönen Frau heranwächst. Möge sie dir all das zu Füssen legen, worauf du im vergangenen Leben verzichten musstest.

Möge Seylani mir beistehen, wenn der Hund seinen Kopf verliert. Ich werde ihn richten.

Für dich, für deine enttäuschten Träume.

Für mich.

Ketten

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Sunyu

Sunyus Schritte hallten durch den dunklen Palast. Schwer und dunkel klangen sie, wie die drohenden Trommelschläge, wenn ein Heer vor den Toren zum Angriff bläst. Wie der Nebel, der nicht nur droht, eine Stadt zu verschlingen, sondern es tut, bis er alles Leben erstickt. Wie die See, die gegen den Fels brandet, um in Tausenden von Jahren das Land zu vernichten. Ein Drache auf der Suche nach Rache.

Doch es war weder ein Heer noch ein Drache, der auf dem Weg zu Vilgrims Gemächern war. Es war viel schlimmer.

Er war es, Sunyu.

Blutrote Flammen schossen aus seiner Hand auf die verschlossene Tür zu. Mit einem ohrenbetäubenden Knall barst das Holz in winzige Stücke, die bis in den hintersten Winkel von Vilgrims steinernem Palast stoben und ihm den Weg frei machten. Ohne seinen Lauf zu verlangsamen, trat Sunyu unter dem noch brennenden Türrahmen in das Gemach des Fürsten.

Vilgrim stand spärlich bekleidet vor seinem Bett und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Neben ihm stand Kirjana, seltsam berührt, als er für einen Wimpernschlag ihren Blick suchte. Doch Sunyus Aufmerksamkeit galt dem kleinen, kalten, schäbigen Fürsten.

»Du hast sie umgebracht!«, grollte Sunyu. Seine Stimme donnerte durch den Raum, verstärkt von seinen wütenden Flammen, die bis weit über seinen Kopf loderten. Mit jedem Wort, bei jedem Atemzug stoben sie auf, spiegelten das wider, was in seinem Inneren vor sich ging.

Chaos. Wut. Hass. Und wie er Vilgrim hasste, diesen Scheisskerl, den er am besten bei der ersten Begegnung schon zu Seylani und ihrem verfluchten Arsch geschickt hätte.

Selbst Weltenspalter summte nicht mehr. Nein, er schrie.

Vilgrim schluckte, doch seine Stimme klang betont gelassen. »Du hast den Befehl an deine Männer gegeben.«

Sunyu zerriss innerlich. Das wohlgehütete Geheimnis in seiner tiefsten Seele, das goldene Licht in der Dunkelheit, erlosch. Nichts hielt ihn mehr auf, keiner stellte sich ihm in den Weg. Vilgrim ahnte nicht, dass er mit diesen Worten sein eigenes Ende besiegelt hatte.

Jeder Schritt fühlte sich an wie eine Stufe auf dem Weg zur Göttin des Todes. Schwere Glockenschläge in seinem Bauch, die das Atmen erschwerten, die Kälte anlockten. Doana würde auch einem elenden Hund wie Vilgrim einen Neuanfang gewähren. Diese Gnade war zu gütig für diese falsche Schlange.

»Du wusstest es?« Er hob das flammende Schwert an. Die das Licht schluckende Klinge glühte unter seinem wütenden Feuer auf, das die Farbe von frischem Blut trug und sich nach dem Lebenssaft verzehrte.

Alles in ihm brannte: sein Herz, seine Brust, die Augen. Doch Sunyu wollte keine Schwäche zeigen. Für sie.

Vilgrim lächelte. »Wir wissen vieles nicht, nicht wahr, Sunyu?« Ein wenig strahlte er wieder die Selbstsicherheit aus, die ihn für gewöhnlich umgab. Er warf Sunyu einen kurzen Blick zu, ehe er sich an Kirjana wandte.

Erst jetzt fiel Sunyu auf, dass die Offizierin gefesselt war. Sie folgte Vilgrims Bewegungen mit den Blicken, in ihren Augen standen gar Tränen. Kirjana weinte nicht. Er kannte sie als starke Frau – eine Offizierin, die für ihre eigenen Wünsche kämpfte.

Vilgrim umrundete sie, bis er wieder vor seinem Bett stand. »Wusstest du, dass sie und Amelia Freundinnen sind? Dass sie sich aus der Zeit kennen, als Kirjana noch kein Freiwild war?«

Sunyu schluckte. Die Ruhe des Fürsten verunsicherte ihn. Ein flammendes, Welten durchtrennendes Schwert war auf Vilgrim gerichtet, doch er faselte von Kirjana und ihren Freundinnen?

»Sie wollten mich hintergehen.« Vilgrims kalte Stimme liess ihn aufhorchen.

Kirjana warf dem Bastard einen Blick zu, ehe sie die Augen zukniff. Ihre Hand entspannte sich und entliess einen Dolch aus dem harten Griff. Er klimperte hell, als er auf dem Steinboden aufschlug.

Der Blick des Schmieds wanderte nach oben. Seine Freundin – die einzige Larhun, der er je vertraut hatte – weinte lautlos. Heisse Tränen benetzten ihre Wangen.

»Sie wollte mich im Namen der ehemaligen Fürstin von Grimsvik ermorden.« Vilgrim lächelte einseitig, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

Die hellen Flammen in seinem Inneren glühten in den kalten Augen. Sunyu wusste, wie gefährlich das eisige Feuer war, doch sein eigenes brannte heftiger. Sobald er das blasse Gesicht der jungen Schmiedin vor seinem inneren Auge sah …

Er brummte und hielt im selben Moment inne. Tindra hatte ihm gesagt, er sei brummig – nein, ruppig. Dabei hatte sie leise gelacht und sich von ihm abgewandt, doch die Freude in ihren Augen schimmerte noch immer – in seiner Erinnerung.

Lebhaft sah er sie vor sich, wie sie beschwingt neben ihm auf dem Kiesweg gehüpft war, um ihn nach dem Grund seiner schlechten Laune zu fragen. Er hatte sie barsch abgewiesen.

Wie er sie vermisste! Der Schmerz riss sein Herz in hundert Stücke und warf sie in alle Himmelsrichtungen davon. Sie war tot. Tot!

Vilgrims Mundwinkel zogen sich nach oben. Bevor Sunyu reagieren konnte, schlugen Flammen aus der Hand des Fürsten und entrissen ihm Weltenspalter. Sunyus Schwert sog Vilgrims Kräfte in sich auf, als hätte es heute noch nicht genug gesammelt, obwohl es so viele Leben in sich aufgenommen hatte. Es freute sich, jubelte. Die Waffe gierte nach mehr Macht, nach Blut und Leben.

Und Vilgrim bot vieles davon. Sein Feuer würde hineinsickern und die Waffe stärken. Sobald Sunyu sie wieder in den Händen hielte, würde er davon profitieren. Alles, was sie kostete, stärkte ihn. Das Frohlocken der Klinge in ihrem Rausch drang bis zu seinem zerrissenen Herzen.

Der Fürst entliess Weltenspalter mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Griff seines Feuers. Es klimperte, als die Klinge auf den steinernen Boden fiel, für Sunyu unerreichbar.

Wieder flackerte Vilgrim auf. Seine Augen leuchteten so hell wie sein Feuer und fixierten Sunyu. Er wirkte besessen, wie er sich auf den Bastard konzentrierte. Ohne Vorwarnung schossen die Flammen auf Sunyu zu und hüllten ihn komplett ein. Kälte umfing ihn. Jeder einzelne Gedanke formte sich unkontrollierbar träge. Unter dem lodernden Eis, das der Fürst ihm entgegenwarf, prickelte seine Haut, als würden Hunderte von Nadeln ihn drangsalieren. Sein Körper erlahmte. Er war gezwungen, das zu tun, was der Fürst von ihm verlangte.

Vilgrim drehte sich zu Kirjana um. »Zieh dich aus.«

Sunyu wusste nicht, was kälter war: Vilgrims Feuer, seine Stimme oder die Augen. Er fror, die Härchen auf Armen und Beinen richteten sich auf, obwohl er innerlich glühte.

Verunsichert huschte Kirjanas Blick von Vilgrim zu Sunyu und wieder zurück. Ihre Stirn war leicht gerunzelt, die Lippen geöffnet. Sie traute ihrem Fürsten nicht.

»Zieh dich aus!« Vilgrims Finger fuhr über die weiche Haut an Kirjanas Hals.

Vielleicht spürte sie nichts, doch Sunyu konnte die Flammen sehen, die in sie eindrangen und Angst in ihr verbreiteten. Das Blut hätte auf der Stelle gefrieren, zu einem bläulich roten Strang erstarren müssen. Dennoch atmete sie weiter, wenn auch erstickt. Das Feuer wütete in ihr, Angst troff aus ihren Augen, wie der Saft eines reifen Apfels, wenn man hineinbeisst.

Vilgrims Flammen schlugen aus, um Kirjanas Fesseln zu verbrennen. Sie schluckte, tat aber, wie ihr Herrscher es ihr befahl. Offensichtlich ging ihm das zu langsam. Unter seinem Willen fingen ihre Kleider eiskaltes Feuer, flackerten kurz und lösten sich auf, als wären sie nie da gewesen. Eiskristalle überzogen die rosige Haut, wanderten mit rasender Geschwindigkeit auf Bauch und Oberschenkel zu.

Sunyu wehrte sich gegen die Starre, doch die Magie des Fürsten hielt ihn zurück. Er war gezwungen, zu beobachten, was Vilgrim mit Kirjana anstellte. »Vilgrim, hör auf!«

Der Fürst lachte. Seine kalten Finger wanderten weiter über den Körper der gefallenen Fürstentochter, bis er bei ihrem Busen ankam. Die Brustwarzen ragten keck nach vorn. Feuer züngelte an ihnen, konzentrierte sich auf dem dunklen Rund. Kirjana keuchte auf, vielleicht vor Schmerz, vielleicht auch vor Lust.

»Hast du sie auch so geneckt?«, fragte Vilgrim, ohne Sunyu anzusehen. Dennoch war klar, mit wem er sprach. »Sie mag es, gefoltert zu werden. Davon kann sie nicht genug bekommen.« Um seine Worte zu unterstreichen, liess er die Flammen über den kräftigen Körper flackern, der unter den Berührungen erzitterte.

Wieder keuchte Kirjana. Sunyus Blut wallte auf, Verlangen schäumte durch seine Adern. Er wollte sie – er wollte ihr diese Töne entlocken, er wollte das Stöhnen hören.

Schlagartig wurde ihm bewusst, was Vilgrim mit ihr anstellen würde. Er kannte Kirjanas Schicksal. Er musste sie retten! »Tu es nicht!« Er hörte sich nicht mehr halb so sicher an wie zuvor.

Vilgrim schenkte ihm einen flüchtigen, aber äusserst zufriedenen Blick, bevor seine Aufmerksamkeit wieder der Fürstentochter galt. Er bückte sich, um den Dolch vom Boden aufzuheben, drehte ihn hin und her. Einmal blitzte das Metall im Licht der Flammen auf. »Vergiftet?«, richtete er sich mit unbewegter Stimme an seine Gespielin, die sich einem anderen Mann hingegeben hatte.

»Tu es nicht, Vilgrim«, bettelte Sunyu. Nach Tindra auch noch Kirjana zu verlieren war etwas, was er nicht ertragen würde.

Kirjanas Widerstand fiel zusammen, ihr Körper erschlaffte, der Kopf sank nach vorn auf ihre Brust. Deutlicher hätte ihre Antwort nicht ausfallen können.

Verächtlich warf Vilgrim die Waffe zur Seite und fixierte die Frau, die aus ihm einen Mörder gemacht hatte. Sunyu kannte die Geschichte. Er hatte alles aufgegeben, um sie in seiner Nähe zu wissen. Dafür hatte er ihre Mutter umgebracht, Kirjana zu einer Handlung gezwungen, die einer geachteten Frau den Funken der beiden Göttinnen entzogen hatte, und sich selbst zum Fürsten ernannt. Es war alles ein abgekartetes Spiel gewesen.

Die Flamme an ihrem Oberarm konzentrierte sich auf eine Stelle. Die Farbe vertiefte sich. Neue Eiskristalle entstanden, wuchsen zu einem undurchdringlichen Geflecht und färbten die Haut blau. Spröde sprang sie auf und brachte das pulsierende Blut zum Vorschein, das augenblicklich gerann. Dass Kirjana bei diesen Temperaturen überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder, doch das war vermutlich Vilgrims Flamme geschuldet.

Der Fürst hob die andere Hand, führte sie an Kirjanas Schulter. Wieder beobachtete er die Kälte, wie sie Haut zum Aufreissen und Blut zum Gefrieren brachte. Eine Wunde an der ansonsten makellosen Wange der Offizierin.

»Du Schwein!«

»Na, na«, meinte Vilgrim beschwichtigend. »Nur nicht so vulgär. Immerhin hast du sie vor meiner Nase gevögelt.« Sanft wie der Flügelschlag eines Vogels riss Vilgrims Flamme eine weitere Wunde am Innenschenkel auf. Ein Tropfen Blut schaffte es auf den Boden, gefror dort zu einem dunkelroten Fleck. Riss für Riss malte Vilgrim auf Kirjanas Haut.

Sie keuchte auf, biss sich auf die Unterlippe und versuchte, den Schmerz zu unterdrücken. Immer wieder schloss sie die Augen, um die Schwäche nicht zu zeigen. Ihr Körper, über und über mit eiskalten Wunden übersät, sackte in sich zusammen, wurde jedoch von der Magie aufrecht gehalten. Sie zitterte. Die Kraft, die Pein zu unterdrücken, ging ihr aus. Kirjanas Aufschrei entliess all das Leid in ihr, es hallte zwischen den steinernen Wänden wider und setzte sich ganz tief in Sunyus Brust fest.

Er grollte. Sein Inneres bebte. Das Feuer begehrte auf, die unsichtbaren Ketten erzitterten.

Vilgrim sah ihn abschätzig an. »Du hast keine Chance gegen mich, Bastard.« Sein Blick fiel auf das Schwert, das am Boden lag, dann grinste er. »Wie war das? Du erhältst Kraft von jenen, die deinem Schwert zum Opfer fallen?«

Sunyu wollte ihn daran hindern, wollte Vilgrim von seinem Plan abbringen, doch die Stimme verwehrte ihm den Dienst. Er fühlte sich kraftlos, konnte sich nicht bewegen. Mit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie sich Vilgrim bückte und das Schwert aufhob. Sofort gierte es nach den hellblauen Flammen, doch der Fürst verwehrte ihm den Zugriff, so gut er konnte. Es gelang ihm nicht gänzlich. Er presste die Lippen zusammen, um das Keuchen zu unterdrücken, das seine Schmerzen offenbarte.

Als die Klinge Kirjanas Hals berührte, konnte Sunyu die Vorfreude auf die Lebenskraft der jungen Frau spüren. Es machte keinen Unterschied, ob Kirjana Freiwild war. Sie lebte, allein das zählte. Sie trug die gleiche Kraft in sich wie die junge Larhun in Djord oder jeder Kvor, den er in den Reichen des Nebels umgebracht hatte.

Langsam drückte Vilgrim zu, ein Stöhnen kam über seine Lippen. Erst dehnte sich die Haut, bis sie unter dem Druck der scharfen Schneide nachgab. Kirjana riss Mund und Augen auf, doch kein Ton kam über ihre blauen Lippen. Dickere Eiskristalle eroberten ihren Körper, zeichneten magische Muster auf ihre Haut.

Die Klinge schnitt weiter durch das Fleisch, sog freudig alles auf, was die Offizierin zu bieten hatte: ihr Lachen, das Verlangen, den Willen. Und ihre Liebe zu Vilgrim, dem Fürsten, der ihr alles genommen und nur wenig gegeben hatte.

Noch atmete sie, doch ihr Blick wurde leer und stumpf. Vilgrims Magie hielt sie länger im Diesseits, als Seylani und Doana es erlaubten.

Mit unerwarteter Entschlossenheit packte der Fürst sie an den Haaren und hob ihren Kopf an, bis sie ihm in die Augen sah. »Hättest du dich nicht einem anderen hingegeben, wärst du jetzt meine Fürstin«, zischte er. Ruckartig beugte er sich zu ihr hinunter und verschloss ihre Lippen mit seinen. Die Schreie erstarben unter dem harten Kuss. Mit einem schnellen Schnitt trennte er den Hals vollständig durch. Der kopflose Körper fiel mit einem dumpfen Poltern auf den Boden, während ihre schreckgeweiteten Augen in den Raum starrten, als würde sie noch leben.

Eine Welle der Wut schwappte über Sunyu hinweg, raubte ihm jeglichen Verstand. Seine Flammen begehrten gegen die des Fürsten auf, loderten heller, höher. Einem Befreiungsschlag gleich zerrissen sie die magischen Fesseln. Sunyu streckte die Hand nach Weltenspalter aus, der aus dem Griff des Fürsten sprang und von blutroten, zornigen Flammen zum Schmied getragen wurde.

Erschrocken wandte sich Vilgrim zu Sunyu um. Seine Augen weiteten sich, als er das unheilvolle Lodern erblickte. Er rief sein eigenes Feuer. Kälte kämpfte gegen Hitze, versuchte mit aller Macht, sie zu durchdringen, scheiterte jedoch kläglich.

Das hellblaue Feuer war so erbärmlich. So winzig.

Sunyu triumphierte, seine Flammen frohlockten. Weltenspalter sang das Lied des Sieges, als er die Luft zum Vibrieren brachte. Mit jedem Schritt, den sich der Schmied dem Fürsten näherte, sank dieser mehr in sich zusammen, bis er als kleines Häufchen Elend vor ihm kniete.

»Steh auf.« Wie hatte Sunyu nur jemals glauben können, dass seine Flammen so viel kleiner waren als die des Fürsten?

Vilgrim erhob sich folgsam. Trotz der Angst forderte er den Schmied mit einem trotzigen Blick heraus. »Ohne mich bist du nichts!«, schrie er verzweifelt, ängstlich. »Ich bin ihr Fürst, mir werden sie in die Schlacht folgen.«

Sunyus Augen wurden schmal. Er legte den Kopf leicht schief und betrachtete den Fürsten, der zitternd vor ihm stand. Jeglichen Bezug zur Gegenwart hatte der kleine Larhun verloren, die Gier schwang in seinen Zügen mit. Er erwartete tatsächlich, dass die Fürstinnen ihm folgen würden. Dieser Wurm glaubte, dass er, Sunyu, von ihm abhängig war.

Seine Hand schnellte nach vorn und umschlang den dünnen Hals des Fürsten. Mühelos hob er den kleinen Mann mit den schwarzen Locken in die Luft. Die Magie in ihm tobte, wurde wilder, lauter. Niemand war in der Lage, ihn jetzt noch aufzuhalten.

»Falsch.« Sunyu verengte den Griff gerade so weit, dass Vilgrim zu viel Luft bekam, um zu sterben, aber zu wenig, um zu leben. »Eskild schaffte es beinahe, die Reiche zu einen. Ich bin sein Sohn. Wenn sich die Larhun unter einem Banner vereinen, dann unter meinem. Wenn sie unter einem Befehl marschieren, dann unter meinem. Und wenn sie jemanden bejubeln, einen Fürsten erwürgt zu haben, der nicht würdig war, auf dem verfluchten Thron zu sitzen, dann mich.«

»Du bist ein Bastard!«

»Ich bin Eskilds Sohn.« Sunyus Finger schlossen sich, Vilgrim röchelte. Seine Beine zappelten, doch für den kräftigen Schmied stellte das keine Herausforderung dar. Macht durchströmte Sunyu. Er gebot über Leben und Tod, hier und jetzt. Wäre er gnädig, könnte er dem kleinen Fürsten ein Leben im Exil gewähren, doch er wollte sehen, wie diese unwürdige Kreatur ihren letzten Atemzug tat. Wie er mit den Blicken bettelte wie ein Hund.

Vilgrims Augen rollten, das eisblaue Feuer flackerte ein letztes Mal auf, bevor es dunkel und schwach wurde. Blutrote Flammen erstickten es im Keim. Sunyu bemerkte nicht einmal, dass es seine Haut berührte, so wild loderte sein eigenes Ov’Enn’Tre.

Irgendwann baumelte der Fürst regungslos an seiner Hand. Jegliche Anspannung war aus dem gedrungenen Körper gewichen. Mit einem verächtlichen Grunzen warf Sunyu ihn in eine Ecke und verliess den Ratssaal.

Vilgrim war tot.

Sunyu war frei – und mit ihm auch Tindra.

Durch das Fenster entdeckte er Schneeflocken, die vom Himmel fielen und die Landschaft rund um die verfluchte Stadt der Larhun mit einer weichen Decke überzogen.

Halle

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Arin

Ruhelos irrte er durch das konturenlose Nichts. Die Schatten trennten ihn von der wirklichen Welt, von ihrem Lärm, dem Gestank und den Farben. Von allem, was ihm schaden konnte.

Er hielt inne. Diese düstere Welt kannte er, doch die Grenze fühlte sich anders an. Normalerweise spürte er, wie sich der Schnitt zwischen der Wirklichkeit und der Welt dahinter wie eine zweite Haut um ihn legte. Nun jedoch stand er irgendwo im Nichts, als formten sie einzig für ihn eine Halle um ihn herum.

Er setzte sich wieder in Bewegung und versuchte, sich an etwas zu erinnern, an irgendetwas. Doch so leer seine Gefühle waren, so zäh flossen die Gedanken. Er kannte seinen Namen: Arin. Immerhin ein kleiner Lichtblick – ein Mann ohne Namen war nichts wert. Er konnte sich kein Zimmer in einer gut betuchten Gegend nehmen. Wer wollte denn schon einen Namenlosen beherbergen?

Auch an die Schatten konnte er sich erinnern, nur anders. Dennoch wusste er, dass sie es waren. Sie formten eine Art Schlucht zwischen den Welten, einen Ort, an den er sich jederzeit zurückziehen konnte, ohne dass ihm jemand folgte. Nur wenige ausgewählte Menschen nahm er hierhin mit. Die meisten hatten sich nach dem ersten Besuch von ihm entfernt, keine Zeit mehr gefunden und den Kontakt abgebrochen. Sie fürchteten sich vor dem, was er zu tun imstande war. Vielleicht hätten sie sich in dieser grossen Schattenhalle wohler gefühlt als in der Enge, mit der sich der Welten trennende Schleier bisher um ihn gelegt hatte?

Als er in einen Flussarm stieg, tauchten erst seine Füsse in munter fliessendes Wasser und bald stand er bis zu den Knien darin. Vermutlich war es kalt. Schneeflocken segelten vom Himmel, doch er spürte weder die Kälte noch die Kraft der Wassermassen. Die Schatten beschützten ihn. Sie schützten ihn vor allem, was in der realen Welt passierte.

Auch wenn das geheimnisvolle Tuch jegliche Farbe aus der echten Welt raubte und ihm nur das liess, was innerhalb ihrer Grenzen lag, so konnte er dennoch alles einschätzen: Tageszeit, Jahreszeit, den Weg. Hinter dem Schneefall vermutete er ein weites Tal. Die dunklen Wolken hingen tief und kratzten an den schuttbedeckten Bergflanken. Ein verzweigter Fluss trennte die unwirtliche Seite von einem Teil mit Wald und etwas Wiese, auf der ein Pferd friedlich graste. Hinter den Bäumen konnte Arin eine Klippe erkennen, die wie ein Herrschersitz über dem Meer thronte. Eine Stadt nahm den obersten Punkt ein, der dunkle Palast schlug Feinde allein durch seinen Anblick in die Flucht.

Mit langsamen Schritten drehte er sich um die eigene Achse. Plötzlich blitzte etwas auf, ein Leuchten stahl sich in seine Schatten. Grünlich blau. Metallisches Schimmern. Er stoppte, verengte die Augen. Lag dort jemand?

Vorsichtig näherte er sich. Farben zeigten sich in der Schattenwelt nur von jenen, die sich darin befanden. In äusserst seltenen Fällen, ganz vereinzelt, überbrückte etwas die Grenzen des Vergessenen.

Der Vergessene – sein Gott. Selbst der Name war vergessen. Arin begann sich an ihn zu erinnern, an den Gesichtslosen, der keinen Namen trug. Im Gegensatz zu seinem Bruder, dem Grauen, dessen richtiger Name zwar nicht ausgesprochen, aber immerhin einigen bekannt war, fristete der Vergessene ein Leben in der Versenkung. Fast jedenfalls. Einige erinnerten sich an den unscheinbaren Gott, so wie Arin.

Wieder leuchtete es auf, diesmal erkannte er es deutlich. Es kam von einer der vielen Kiesbänke mitten im Fluss, bewegte sich jedoch nicht. Mühelos watete er durch das Wasser, überwand eine kleine Insel und den nächsten Flussarm. Dann blickte er in das Gesicht einer scheinbar schlafenden Frau. Ihr Gesicht war schmutzig, wirkte erschöpft, dennoch erkannte er die Schönheit in ihren Zügen, die Sanftheit ihrer Seele, die selbst im Tod noch strahlte. Auf der Wange sass ein Muttermal, dunkel und etwas erhöht. Sie war genauso grau und farblos wie der Rest der Umgebung und löste dennoch eine unbekannte Sehnsucht in ihm aus – und Schmerzen. Seine Brust glühte wie die Kohlereste eines erloschenen Signalfeuers, das sich nach der Kraft der Flammen verzehrt.

Arin fiel auf die Knie, legte der Frau die Hand auf den Arm, doch sie glitt durch ihren Körper, als wäre sie Luft. Das Schwert an ihrer Seite war das, was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die Klinge durchdrang die Grenzen der Schatten und summte so laut, als befände sie sich in seiner Welt. Doch das war nicht das, was ihn zerriss. Gefühle, die er nicht kannte, spalteten sein Innerstes. Ein Schrei seines Herzens verhallte ungehört, schlug so hohe Wellen, dass Arin lautlos aufschrie. Er sprang auf, drehte sich von der jungen Frau weg. Er musste weg, einfach weit weg.

Sie war tot, und mit ihr war die richtige Welt gestorben. Niemals wieder würde er auch nur einen Fuss in die Welt der Farben setzen, keinen einzigen Atemzug mehr an die Leute dort verschwenden. Genau wie die junge Frau wollte er im Nichts aufgehen und niemals wiederauftauchen.

Er rannte, bis alles nur noch grau und still und dunkel war. Bis er zu Hause ankam.

Feuer

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Sunyu

Schwarz. Alles war schwarz. Der kühle Sessel seines Vaters, in dem er gearbeitet hatte, die Gänge zwischen den Bücherregalen, in denen sich Schätze und gefährliche Schriften fanden, die nur ein gestörter Mensch sammeln konnte.

In ihm war es schwarz. Leer. Schwärzer als leer. Nur ein Funke in ihm leuchtete: Das Bild einer jungen Frau, die zwischen Kieselsteinen und schmutzigen Fussabdrücken lag. Blass und schwach und tot. Doch selbst der Funke leuchtete schwarz und frass jedes Licht, obwohl es keines gab. Schlimmer noch als sein verfluchtes Schwert.

Wie konnte sie es wagen, einfach zu sterben? Sie hätte ihr geweihtes Schwert nie weggeben sollen. Es hätte sie beschützt. Sie war so dumm gewesen, einfach nur dumm. Und naiv. Und sein Leben.

Zitternd atmete er ein und lenkte den Blick durch das Fenster nach draussen in die lichtlose Nacht. Was machte er sich eigentlich vor? Es war nicht ihre Schuld, dass sie im Dreck verreckt war. Es war einzig und allein seine Schuld. Er hatte den Befehl erteilt und seine Männer auf die Irin losgelassen. Er hatte gewusst, dass sie unter ihnen gewesen war.

Sunyu stützte die Ellbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht hinter den Händen. Noch immer waren sie voller Blut. Warme, salzige Tropfen verwischten die getrockneten Kampfspuren. Auch wenn es nicht Tindras Blut war, hatte er Leben genommen.

Mit einem einzigen Befehl hatte er ihr Leben beendet.

Er hasste sich dafür.

Vielleicht sollte er sich Weltenspalter durch die Brust rammen. Bestimmt würde das schwarze Schwert jeden noch so kleinen Tropfen Blut in sich aufsaugen, bis es voller Leben und Kraft glühte, um auf den Boden zu klimpern und ohne seinen Träger zu versauern.

Sein Blick fiel auf die glanzlose Klinge. So schlicht sie war, so tödlich schwang sie sich im Kampf durch die gegnerischen Reihen. In seiner Hand wurde aus dem Stück Metall ein tanzender Wille, der alles Leben in sich aufsog, dessen er habhaft werden konnte. Bestimmt würde Weltenspalter auch das seine nehmen.

Bedächtig schob sich seine Hand zum Heft des Schwertes. Unter seiner Haut fühlte es sich so unendlich vertraut an, als wäre es ein Teil von ihm selbst. Seine Finger strichen über das Leder und berührten die Parierstange. Ein Meisterwerk, von ihm erschaffen. Er hätte ein berühmter Schmied werden können, einer, der bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt gewesen wäre. Stattdessen hatte er die Frau seines Herzens kaltblütig abgeschlachtet.

Kurz entschlossen packte er das Schwert, umfasste die scharfe Klinge mit blossen Händen und stand auf. Er richtete sie gegen sich selbst. Sein Herz pochte in der Brust, die Spitze drückte sich in die Haut. Noch ein kleiner Stich, dann wäre er Geschichte. Niemand würde um ihn trauern, keiner ihn vermissen.

Nur eine winzige Bewegung.

Weltenspalter blieb ruhig. Der Blutdurst schien gestillt oder er erkannte seinen Schöpfer.

Sunyu schloss die Augen, holte tief Luft und stach entschlossen zu. Die spitze Klinge presste sich in sein Fleisch, für einen Augenblick stockte ihm der Atem. Erschrocken keuchte er auf, als sich die Lunge weitete, um einen tiefen Zug zu tun. Er hatte erwartet, die Kälte der Klinge in seinem Fleisch zu spüren, ihre Gier, das Verlangen nach Blut und Leben, irgendetwas, doch die Waffe schwieg.

Mit zitternden Beinen ging Sunyu langsam in die Knie. Seine Finger lösten sich vom Heft, das Schwert fiel klimpernd zu Boden.

Sunyu sah an sich hinab. An Weltenspalter klebte kein Blut, er lag so kühl und regungslos da wie ein unbearbeitetes Stück Metall. Sein Hemd war nicht schmutziger als zuvor, kein Blut floss aus einer Wunde.

Er hatte sich nicht erstochen. Der Schmerz, den er gespürt hatte, war einzig und allein dem Druck geschuldet. Nicht einmal ein kleiner Fleck Blut erschien, kein warmes Rinnsal floss über seine Haut.

Entsetzt zerriss Sunyu das Hemd. Er musste es mit eigenen Augen sehen. Eine vollständig unversehrte Brust offenbarte sich ihm, die sich unter den tiefen Atemzügen hob und senkte, während die rechte Hälfte mit dem tätowierten Drachen zerfetzt war.

»Bei Seylanis verfaulter Scheisse!«

Heisse Tränen rannen über seine Wangen, die verätzte Gesichtshälfte brannte. Jedem anderen konnte er das Leben aussaugen, doch sein eigenes nicht beenden, obwohl er kein Licht mehr sah.

»Verdammte Scheisse, beim verfluchten, verfaulten Zeh dieser dürren Kriegsgöttin, die einen Scheiss von der Welt versteht.«

Sunyus Stimme zitterte, sein Atem ging stossweise. Er ballte die Hände zu Fäusten, stürmte zur Tür und rammte mit der Schulter ein Bücherregal. Polternd fiel es um. Vorbei an den vielen leeren Zimmern, hinunter in den grossen Empfangsraum, auf die offene Strasse hinaus. Der Nebel hing tief und kratzte an den höchsten Dachspitzen. Ansonsten war es dunkel – genau wie in seiner Seele.

Doch es kümmerte ihn nicht. Nichts kümmerte ihn. Er achtete nicht auf die Blicke, die ihm die Larhun zuwarfen. Mitten auf der Strasse hielt ein Kind in seinem Spiel inne, als es den Furcht einflössenden Mann erblickte. Die kleinen Mundwinkel zogen sich nach unten, während die Mutter aufsprang und zu ihm eilen wollte. Sie war zu langsam.

Sunyu trat zu dem Kind und hielt nur eine Handbreit vor seinen Füssen an. Er beugte sich zu dem Mädchen hinunter, betrachtete es einen Moment, dann schrie er seinen Schmerz in die Welt hinaus. Sie kreischte, dass ihm die Ohren klingelten, und sprang in die Arme ihrer Mutter, die ihn kopfschüttelnd anstarrte. Der hässliche Mund stand ihr offen.

Sunyu eilte weiter. Die Gassen waren wie leer gefegt, und waren sie es nicht, flüchteten die Larhun, wenn sie seine Flammen über den Schultern sahen. Immer höher loderten sie. Je härter das Herz gegen seine Brust klopfte, desto wilder brannten sie. Er spürte die feinen Stiche, wenn neue Flammen durch seine Haut stachen, doch die Reste seines Hemdes berührten sie nicht. Es brannte, als gäbe es den Stoff nicht.

Endlich entdeckte er das runde Gebäude, in dem die beiden Göttinnen und der Graue hausten. Mit weiten Schritten ging er darauf zu, die Augen verengt. Selbst aus seiner Hand leckte das Feuer, um etwas zu verzehren, irgendetwas. Was genau, war ihnen egal, und ihm war es erst recht egal. Ginge es nach ihm, könnten sie alles und jeden in Schutt und Asche legen. Alles zerreissen, wie der Schmerz ihn zerriss.

Er reckte das Kinn nach vorn, als er die Stufen emporstieg. Ein kühler Wind stellte sich ihm entgegen, doch der konnte ihn nicht stoppen. Keine Chance hatte das laue Lüftchen gegen ihn und seine Flammen. Sie stoben auf, sandten Funken in den düsteren Nachthimmel und züngelten an den feinen Stoffen, die anstelle von Wänden das Innere des Tempels vor allzu neugierigen Blicken schützten.

Wie eine kalte, unsichtbare Wand stellte sich ihm der Wille der Göttinnen in den Weg. Doch Doana und Seylani waren ihm egal. Tindra war tot.

Er nahm die letzte Treppenstufe und trat in den heiligen Kreis. Da sah er sie, die drei Statuen. Zu seiner Rechten thronte Seylani, das Kinn vorgereckt, mit dem Schwert in der Hand, zu seiner Linken Doana mit ihrem milden Lächeln.

»Was nützt mir dein beschissenes Lächeln, wenn du mir alles nimmst, was ich je hatte?«, brüllte er durch den leeren Raum. Er näherte sich ihr. Eine Hand schoss nach vorn, die Handfläche nach oben gerichtet. Das Feuer brannte so heftig, dass es den gesamten Tempel erhellte. »Sie hat dich angebetet, du verfluchte Hurentochter!«

Ein Strom seines Feuers fegte auf die Statue zu, die noch immer lächelte, als könnte niemand ihr etwas anhaben. Wie eine Walze umspielten die blutroten Flammen den dunklen Marmor. Sie blieb so schwarz und unberührt wie eh und je.

»Ich dachte, du liebst deine Tochter!« Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Er erinnerte sich an den Tag, als Tindra hier gekniet und um den Schutz der Dunklen Göttin gebeten hatte, obwohl sie Seylani so viel ähnlicher sah.

Seylani …

Sunyu schnellte herum. Dort stand sie, hielt das Schwert in der Hand und predigte, dass keine Frau jemals eine Waffe führen sollte. Sie, die Göttin des Krieges und des Lichts, wollte ihre Anhängerinnen beschützen.

»Hat es dir Spass gemacht, sie zu schlachten? Hast du dir angesehen, wie die Wärme ihren Körper verliess, wie das Lachen aus ihrem Gesicht schwand?« Er trat an die Statue heran und legte die Hand auf den weissen Marmor. »Du bist ein verlogenes Schwein, Seylani. Jede Frau steht unter deinem Schutz, sagst du. Aber was hat Tindra denn getan? Du verlässt sie einfach, jagst sie durch ganz Mra’Theel und lässt sie dann im Dreck verrecken wie einen gemeinen Hund!«

Sein Feuer fand die Risse im Gestein und fuhr hinein. Blutrote Adern glühten im Gesicht der makellosen Göttin auf.

Sunyus Stimme zitterte, als er weitersprach. »Nicht einmal deine Priesterinnen beschützt du. Du verfluchtes, verlogenes Stück Scheisse, wärst du hier, ich würde dich …«

Er schüttelte den Kopf. Ihm fehlten die Worte, die das ausdrückten, was in ihm vorging. Seylani hatte Tindra in den Kampf geschickt. Das Feuer in ihren Rissen glühte auf. Nur ein Gedanke und die Statue wäre Geschichte – wie Tindra.

Die Flammen zogen sich gegen seinen Willen aus dem Stein zurück. Sie wurden herausgedrückt, verjagt. Die Göttin wehrte sich.

Sunyu wich zurück, nur ein paar Schritte, doch der Wind nahm weiter zu. Die Flammen sammelten sich um ihn, fegten um ihn herum.

Es schmerzte.

Tindra fehlte.

Er schlang die Arme um den Oberkörper, sank in sich zusammen, während das Feuer höher stieg. Es durchbrach die Decke, loderte weiter. Im Zentrum, ganz zuunterst, wiegte sich Sunyu selbst hin und her. Er weinte die Tränen, die er sein ganzes Leben zurückgehalten hatte.

Die Tränen, die er beim ersten Schlag seines Vaters gegen seine Mutter hätte weinen sollen. Jene, die ihrem schwindenden Lachen gegolten hätten: ihre eigenen.

Tindras Schmerz, als sie erkannt hatte, dass der Junge mit den haselnussbraunen Augen das grösste Arschloch der Schule, nein, ganz Mra’Theels war. Als sie nach und nach vergessen hatte, wer er gewesen war, dieser Junge, den sie am ersten Tag im neuen Ort angelächelt hatte. Als er selbst vergessen hatte, wer er hatte sein wollen. Der Verlust ihrer Göttlichkeit, als sie das Schwert erhoben hatte, um ihn zu schützen, zu befreien. Und er hatte sie von sich gewiesen.

Heisse, schmerzhafte Tränen. Sie brannten sich nicht nur in die verätzte Haut, sondern auch in sein Herz. Jetzt blutete es. Es hätte besser geblutet, als er sich das Schwert zwischen die Rippen gestossen hatte.

Als er den Blick hob, konnte er durch all das Wasser keine Umrisse erkennen, doch er wusste, dass vor ihm Doana stand. »Wieso hast du sie nicht beschützt?«, fragte er mit tonloser Stimme. »Wieso hast du sie mir genommen?« Er senkte den Kopf, um das Gesicht hinter den Händen zu verbergen. Obwohl es nicht ihr Blut war, das seine Finger so dunkel färbte, war es auch nicht seines. »Wieso hast du mir den Neuanfang verwehrt?«

Der Himmel war grau. Kräftige Hände ergriffen seine Arme, zerrten ihn hoch und schleiften ihn aus dem Tempel. Sie machten nicht auf dem Platz davor halt, nicht vor den Palasttoren und auch nicht vor Vilgrims Amtsraum.

Sie zerrten ihn auf den dunklen, harten Thron.

Neuanfang

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Tindra

Sie schlug die Augen auf. Weisse Schneeflocken glitten zu Boden oder berührten ihr Gesicht, auf dem sie zwischen all den Wassertropfen schmolzen und sich mit ihnen zu Perlen verbanden, um über ihre Wange zu fliessen. Wasser rauschte um sie herum, laut und gleichzeitig so weit entfernt.

Tindra holte tief Luft, hustete und stemmte ihren Oberkörper in die Höhe. Etwas fiel auf die Steine neben ihr, doch der Schmerz in ihrem Kopf sandte helle Sterne durch ihr Sichtfeld. Sie stöhnte leise und kniff die Augen zusammen, bis das Pochen hinter ihrer Stirn nachliess.

Abgesehen vom Kopf und den steifen, viel zu kalten Gliedern fühlte sie sich wie die letzten Tage auch schon: zerschlagen und müde. Doch sich jetzt noch einmal hinzulegen kam nicht infrage, dafür war es zu kalt. Und der Boden zu hart. Diese verdammten Steine.

Um sich abzulenken, sah sie sich um. Sie befand sich auf einer kleinen Insel zwischen unzähligen kleineren und grösseren Flussarmen. Ein leichter Windstoss liess die Schneeflocken tanzen und Tindra frösteln. Sie war allein, nicht einmal Leichen lagen herum, nur Schwerter, Schilde und ein verlassener Schuh.

Obwohl ihre Beine protestierten, stand sie auf. Dabei fiel ihr Blick auf die Klinge, die vorher zur Seite gerutscht war und geheimnisvoll in einem grünlich blauen Schimmern leuchtete. Ihr Mund klappte auf. Das Schwert, das Sunyu geschmiedet und ihr geweiht hatte, ohne es zu wissen. Es leuchtete intensiver als jemals zuvor. Mit zitternder Hand hob sie es auf, strich über das seltene Metall, das die Kvor in ihren Bergen abbauten und nur zu horrenden Preisen zu bekommen war.

Sie hatte die Klinge tot geglaubt. Nun lag sie völlig unversehrt da und flüsterte ihr verführerische Worte ins Ohr. Sunyus Schwert, nein, ihr Schwert, das sie nach Grimsvik begleitet hatte, um den jungen Schmied zu befreien. Wie war es möglich, dass es wieder so hell strahlte?

Seit sie die Klinge aufgehoben hatte, sang sie. Frohlockend durchströmte das Lied Tindras gesamten Körper, nahm sie ein und stärkte sie bis in die Fingerspitzen. Das Schwert war glücklich, gefüllt mit schönen Erinnerungen, die ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberten.

In Tindra selbst jedoch war alles dunkel. Was sie jemals ihr Eigen oder Recht genannt hatte, war vergangen. Derjenige, für den sie das alles geopfert hatte, hatte sie hintergangen. Er hatte die Seiten gewechselt und diente dem kleinen Fürsten der Larhun, dessen Augen kälter waren als der Schnee, der zu Boden schwebte und das Leben unter sich begrub.

Und Arin war tot. Der Bote, der sie von Anfang an unterstützt und geliebt hatte. Sunyu hatte ihn mit einer einzigen Bewegung und seinem verfluchten Feuer zur Seite gefegt. Danach hatte die Schlacht begonnen. In dem ganzen Durcheinander hatte sie die Orientierung und Arin verloren.

Eine Träne zog eine kalte Spur über ihre Wange. Tindra schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase trocken – erfolglos. Ihre Hand war genauso nass wie die verrotzte Nase.

So ganz ohne Ziel kam sie sich nutzlos vor. Sie könnte sich zurück nach Steinwacht schlagen und versuchen, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen. Ihr Lehrmeister Juang würde sie sicherlich bei sich aufnehmen, besonders da er nicht nur sie, sondern auch seinen Gesellen Sunyu verloren hatte. Er hing an ihnen beiden, der Abschiedsschmerz war überdeutlich in seinen Augen geschrieben gewesen.

Tindra blickte auf das in der Ferne rauschende Meer hinaus. Eigentlich hätten drei Schiffe der Kvor sie unterstützen sollen. Sie hatten bei den Versunkenen Inseln vor der Küste der Larhun gewartet, ausser Sichtweite der Nebelreiche. Dass sie zu Beginn der Schlacht nicht schon angelegt hatten, hatte niemanden erstaunt. Aber dass nun immer noch kein Anzeichen von Unterstützung zu sehen war … So viele waren nicht übrig, um erstaunt zu sein.

Ihr Blick wanderte weiter und blieb an Grimsvik haften. Die gut bewehrte Stadt der Larhun hatte über einer den Wellen trotzenden Klippe den perfekten Platz gefunden. Zwar führte ein breiter Weg zu einer Seite hoch, doch vom Meer her konnte niemand angreifen. Dafür waren die Wellen zu hart und die Klippe zu hoch. Dennoch umrundete eine Mauer Grimsvik.

Gegen Westen schützte ein mächtiger Wall die Stadt vor jeglichen Angreifern – die perfekte Lage für Grimsvik und das Versteck des Verräters, für den sie ihre Zukunft aufgegeben hatte.

Mit einem Schnauben erhob sie sich. Hier hatte sie nichts mehr verloren. Entschlossener als sie sich fühlte, stapfte sie in die Nacht hinein. Auf der schmalen Kiesbank konnte sie keine Wurzeln schlagen, es war zu kalt und zu gefährlich. Sie durfte nicht stehen bleiben, wenn sie nach Hause wollte. Falls sie Steinwacht noch vor dem grossen Schneefall erreichen wollte, musste sie sich beeilen. Die Winter in den südlichen Reichen der Larhun waren streng und die Aussicht auf eine Reise durch kniehohen Schnee war nicht sonderlich verlockend.

Tindra schlang die Arme um ihren Oberkörper. Unfassbar, wie kalt so viel Stoff sein konnte. Der Mantel, den sie bei ihrem Besuch in Nebelwehr geschenkt bekommen hatte, war wesentlich wärmer gewesen.

Auch wenn ihre Situation ausweglos schien, wollte Tindra leben – für sich und für Arin. Und vielleicht, wenn die Umstände es erlaubten, wollte sie zwei Köpfe rollen sehen. Der eine trug schwarz gelockte Haare und hatte eisig blaue Augen, der andere war ein Bastard von einer Menschenfrau und einem Krieger der Larhun.

Unter den Bäumen lag noch kein Schnee, der Boden war teilweise gar trocken. Immer weiter ging Tindra, schlich sich zwischen den Baumstämmen hindurch, obwohl die kalten Beine sie kaum trugen. Wie Lumpen hingen ihr die nassen Kleider vom Leib. Sie fror. Unglaublich, wie kalt die Nacht sein konnte.

Obwohl Tindra nicht wusste, wie man ein Feuer entzündete, hielt sie irgendwann inne, um trockene Äste zu sammeln. Ihre klammen Finger schlangen sich um das Holz, zitterten und liessen die Zweige kraftlos fallen. Fassungslos starrte sie erst ihre Hände und dann die Äste an.

Tindra lehnte sich gegen einen Baum und schloss die Augen. Als sie schluckte, kämpfte sich der Kloss in ihrem Hals wieder hoch. Heiss brannten die Tränen in ihrem Gesicht. Wie allein sie sich gerade fühlte, so einsam und hilflos.

Sie hörte das Reissen, als ihr Herz entzweibrach. Schmerz überrollte sie, liess sie in sich zusammensinken. Ihre Schultern schüttelten sich unter dem Schluchzen, während sie tiefer in der Dunkelheit versank. Sie versteckte das Gesicht hinter den Knien, schlang die Arme um die Beine und wiegte sich vor und zurück.

Arin war tot.

Arin war tot!

Ein neuer Weinkrampf schüttelte sie. Sie schluchzte, während die vielen schönen Momente mit dem Boten vor ihrem inneren Auge in frischer Farbe erstrahlten. Als sie sich begegnet waren, wie er sie zum Lächeln gebracht hatte. Seine Unterstützung, den unerschütterlichen Glauben an sie, auch als sie Freiwild geworden war, wie er sie immer aufgemuntert hatte. Auf dem Schiff der Larhun hatte er sie beinahe geküsst und sie dann glauben lassen, dass es eine seiner Illusionen gewesen war.

Nun war sie auf sich allein gestellt. Mit einem Schlag fühlte sich die Welt viel kälter an. Glanzlos. Ihr eigenes Leben war nichts wert. An ihrer Seite stand niemand, dem sie ihre Sorgen und Ängste anvertrauen konnte. Um sie herum sammelte sich Nebel, doch sie konnte ihn als Einzige wahrnehmen. Niemand sonst sah ihr Gefängnis, die bodenlose Hoffnungslosigkeit in ihr. Ein Strudel aus Trauer, Angst und Wut riss sie tiefer und tiefer.

Den Aufschlag würde sie nicht überleben, so hart würde er ausfallen. Und niemand würde sie auffangen.

Doch noch lebte sie. Es wäre Arin gegenüber undankbar, aufzugeben. Er hatte ihre Zielstrebigkeit so sehr geschätzt. Nun war es an ihr zu beweisen, dass er mit seiner Einschätzung nicht danebengelegen hatte.

Sie musste leben, für Arin. Für ihn wollte sie leben.

Mit einem letzten Schniefen hob Tindra den Kopf und lehnte sich gegen die raue Baumrinde. Noch lebte sie, das stimmte. Noch war sie nicht erfroren oder von einer Horde wilder Larhun überfallen und ausgebeutet worden.

Vermutlich wusste jeder Larhun in den Nebelreichen, dass die Irin in eine Schlacht gegen Grimsvik gezogen waren. Jeder, der sie sah, würde sie als Teil der Armee der Irin erkennen – egal, wie unwahrscheinlich es war, dass jemand der Angreifer die Schlacht überlebt hatte. So viele bewaffnete Menschenfrauen streiften nicht durch die Wälder der Nebelreiche. Zweifel kämen keine auf. Jeder Larhun würde versuchen, sie zu töten.

Wenn sie doch nur besser zugehört hätte, was die Irin planten, wenn der vorgesehene Überfall nicht erfolgreich verlief. Doch sie hatte auf Arin vertraut. Er war da gewesen, er hatte gewusst, was zu tun gewesen war.

Tindra vergewisserte sich, dass sie die grünlich blau schimmernde Waffe noch immer an ihrer Seite trug. Klingentanz. Es war ein würdiger Name für die Klinge, die sie beschützen würde.

Zärtlich fuhr sie mit den Fingern vom Heft über die Parierstange zum kalten Metall. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sunyu hatte das Schwert für sie geschmiedet, hatte es ihr sogar geweiht. Irgendwann würde er das bereuen.

Irgendwann hatte sie ihm etwas bedeutet.

Als sie die Freude über das geweihte Schwert realisierte, schnaubte sie wütend. Es war egal, dass sie ihm einmal etwas bedeutet hatte, er hatte sie hintergangen und Arin das Leben genommen. Trotz schwerer Beine und weinendem Herzen würde sie nicht ruhen, bis sie ihn gerichtet hatte.

Solange es so kalt war, durfte sie weder rasten noch einschlafen. Dass sie sich hingesetzt hatte, hätte schon ein tödlicher Fehler sein können, wäre sie nicht doch noch rechtzeitig aufgestanden. Nebel strich um die Baumstämme. Ihr war, als flüsterten unheilvolle Schatten ihr zu, als wollten sie sie in eine Falle locken. Der Geist des Schlafes rief besonders durchdringend. Immer und immer wieder versuchte er, sie zu einer wohlverdienten Pause zu überreden, doch sie ging weiter.

Als ihr das helle, warme Schimmern im Nebel auffiel, war sie dem Feuer schon nahe. Tindra hatte sich so auf den Waldboden vor ihren Füssen konzentriert und darauf, nicht einzuschlafen, dass sie die Umgebung komplett vergessen hatte. Verdutzt hielt sie inne. Das Schimmern brachte den Duft nach Braten mit sich. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

Mit so leisen Schritten, wie es ihr trotz der kalten Beine möglich war, näherte sie sich dem Feuer. Spätestens als sie das Brutzeln von Fleisch hörte, warf sie fast alle Bedenken über Bord. Sie lockerte Klingentanz in der Scheide, streckte den Rücken durch und holte tief Luft. Egal, wer dort ein Lager aufgeschlagen hatte, es gab Essen und ein warmes Feuer. Da liess sie sich nicht zweimal bitten.

Festen Schrittes trat sie aus dem Nebel, hinein in den Feuerschein. Die Männer, die ihr am nächsten sassen, sahen erschrocken zu ihr auf.

In der Eile zählte Tindra ein Dutzend Kvor, die auf dicken Decken sassen, teilweise aneinandergerückt, und in saftiges Fleisch bissen. Es musste frisches Wild sein, vielleicht ein Reh oder ein Hirsch, denn es war noch leicht rosa. Der Hunger liess ihren Magen laut knurren.

Ohne auf die Reaktionen der Männer zu achten, setzte sie sich grinsend zu den kleinen Leuten. »Wohin des Weges?«

Sie fragte sich, weshalb sie hier so viele Kvor antraf, die ihnen nicht geholfen hatten, als sie es am dringendsten gebraucht hatten, doch im Moment setzten Magen und Beine ganz andere Prioritäten: Essen und Ruhen.

Für jeden sichtbar legte sie das Schwert in ihren Schoss und lehnte sich etwas zurück, tat betont entspannt.

Einige Münder standen offen, zwei Männer erwiderten ihr Grinsen. Einer davon nickte in ihre Richtung. »Wie gut kannst du mit dem Schwert umgehen?«

Tindra hielt es für überflüssig, Klingentanz’ wahren Wert zu verheimlichen. Wer auch immer ihn stahl, hätte keine Freude daran, denn er würde weniger als ein Klumpen lebloses Metall helfen. Nur ihr gehorchte er, allen anderen verweigerte er den Dienst. Klingentanz schnitt nicht, schlug nicht, holte nicht aus. Dafür rutschte er an jedem noch so dünnen Stoff ab, falls er überhaupt traf.

»Nicht sehr gut«, gab sie zu und lächelte fein. »Aber es kann gut mit mir umgehen. Eine geweihte Waffe ist Vihtan wert.« Es war mehr als das grünlich blau schimmernde Metall der Kvor wert, das wusste auch Tindra.

Jemand pfiff anerkennend durch die Zähne, doch die anderen reagierten kaum auf die Neuigkeit. Der Mann, der vorher schon mit ihr gesprochen hatte, nickte. »Bist du dir sicher, dass es dir geweiht ist?«

Tindra lachte hart auf. »Was auch immer du dir jetzt gerade ausmalst, bedenke, dass ich als Freiwild ganz allein in den Nebelreichen umherstreife.« Bei einer kurzen Pause verengte sie die Augen, um die Reaktion des Mannes besser abschätzen zu können.

Er schluckte, nickte dann jedoch.

»Ich habe Hunger.« Es war keine Feststellung, sondern eine Aufforderung. »Wenn ich euch nicht an eure Königin verrate, gebt ihr mir ein Stück?«

Der Mann hob die Augenbrauen. »Wieso verraten?«

Während sie den Mann fixierte, beugte sie sich nach vorn. »Eure Königin hat den Irin Unterstützung im Kampf gegen die Larhun zugesagt. Eine Einheit der Hochgeborenen gelangte durch ein magisches Tor hierher und griff Grimsvik an. Von den Versunkenen Inseln sollten drei Schiffe zur Verstärkung aufkreuzen, um den Larhun in den Rücken zu fallen, doch die Irin unterlagen, bevor die Schiffe ankamen.« Sie liess die Worte einige Zeit in der Luft hängen, ehe sie mit einem tiefen Atemzug fortfuhr: »Ich bin die einzige Überlebende.«

Noch ein Hinweis, dass sie durchaus in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Dass es Glück gewesen war und jemand sie am Hinterkopf getroffen hatte, sodass sie ohnmächtig auf den Boden gesackt war, musste sie ja nicht in die Welt hinausschreien.

Der Mann lachte auf. »Schätzchen, unsere Königin hat uns einen ganz anderen Auftrag erteilt.« Entspannt lehnte er sich zurück. »Wir sind seit mehreren Zyklen des Blauen Mondes hier.«

»Nenn mich nicht Schätzchen«, grollte Tindra.

Jetzt lachte nicht nur der Kvor, der mit ihr gesprochen hatte, sondern die Hälfte der Anwesenden, die ihrem Gespräch aufmerksam folgten.

»Ich mache, was ich will, und dich nenne ich, wie ich will.« Sein Blick schweifte über ihren Körper, schien abzuschätzen, ob sie das Risiko wert war, bis er das Schwert in ihrem Schoss entdeckte. Offensichtlich erinnerte es ihn an die Gefahr, die von Tindra ausging, denn er räusperte sich und fuhr sich über den kurz geschnittenen Bart. »Du sagtest, Leila habe sich mit Thea verbündet.« Es war mehr eine Frage denn eine Feststellung.

Tindra gönnte sich ein einseitiges Lächeln. »Der Hunger scheint meine Erinnerungen zu fressen.«

Entgegen ihren Erwartungen wurde der Mann nicht wütend, sondern lachte laut auf. »Du gefällst mir. Bediene dich nach Herzenslust. Zwischen den heissen Steinen sollte auch noch das eine oder andere gegarte Stück Gemüse liegen.«

Das liess sich Tindra nicht zweimal sagen. Als ihr der Duft von Fleisch und Knollengemüse in die Nase stieg, sog sie ihn tief ein. Ihr Magen knurrte abermals.

Die Männer lachten, als sie sich das zweite Stück Fleisch gönnte, beim dritten warfen sie sich gegenseitig erstaunte Blicke zu. Als ihr Bauch gegen die Uniform der Irin drückte, leckte sie sich die Finger sauber und lehnte sich mit einem wohligen Seufzen zurück. Die Kvor wussten wirklich zu kochen. Am liebsten hätte sich Tindra schlafen gelegt, denn sie fühlte sich träge, doch sie hatte mit Antworten gelockt, um ein reichliches Mahl zu erhalten, nun musste sie ihre Schuld begleichen. In knappen Worten erzählte sie also, dass Kvora und Vehni zusammenarbeiten wollten, um die Gefahr der Larhun zu bannen, doch dass die versprochenen Schiffe nicht aufgetaucht waren.

Als sie mit ihren Ausführungen endete, nickte der Kvor. »Dass keine Unterstützung kam, ist nicht allzu überraschend, immerhin sind die Versunkenen Inseln den Larhun seit jeher treu. Zwar hausen dort Piraten und Halunken, und ich möchte keinesfalls auch nur einen Fuss an Land setzen, eher würde ich ertrinken, doch dadurch, dass die Nebelreiche nicht geeint sind, kümmert sich niemand um die Gesetzlosen, solange sie die Larhun selbst in Ruhe lassen.« Zum ersten Mal, seit Tindra in ihr Lager geplatzt war, wandte der Anführer der Kvor den Blick ab und starrte gedankenverloren in den dunklen Nebel, der ausserhalb des Feuerscheins mit der Nacht verschmolz. »Ruh dich aus, wenn du magst. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Eine kalte Hand weckte sie, als sie die Uniform an ihrer Hüfte zur Seite schob. Jemand atmete schwer an ihrem Ohr, im Hintergrund hörte Tindra gieriges Lachen. Die Hand schlüpfte unter den Stoff, weiter nach oben, wo sie den Ansatz ihrer Brüste fand und innehielt. Das Atmen wurde heftiger.

Ihre Hand zuckte, als sie nach ihrer Klinge griff. Freudig folgte das Schwert ihrer Aufforderung, jubelte bei der Aussicht auf einen Kampf. Tindra spannte ihren ganzen Körper an, holte tief Luft und rollte sich zur Seite. Sofort brachte sie die Beine unter den Körper und drückte sich vom Boden weg. Noch in der Bewegung holte Klingentanz aus und trennte die Hand vom Arm des aufdringlichen Kvor.

»Ich habe euch gewarnt«, erinnerte Tindra den Mann, doch es schwächte ihr Zittern nur geringfügig. Sie hasste es, jemanden zu verletzen. Auch wenn die Dunkle Göttin Doana sie auf ihrem Weg begleitete, fühlte es sich falsch an. Nein, nicht falsch, aber unnötig. Wieso auch waren Männer so dumm? Kein Wunder, dass sich die beiden männlichen Götter vor langer Zeit zurückgezogen hatten. Wenn sie die Gebete und Wünsche solch dummer Geschöpfe annehmen sollte, hätte sie auch das Weite gesucht.

Das Schwert in ihrer Hand sang so laut, dass ihr Körper die Schwingung aufnahm. Es sog das Blut auf, zehrte von der Energie, die es ihm entnahm und schenkte sie Tindra. Ein Beben durchlief sie, ähnlich einer Ekstase.

Mehr, das Schwert wollte mehr. Noch gebot sie ihm Einhalt, doch als sich der zweite Kvor auf sie stürzte, liess es sie herumwirbeln und befreite den Mann von einem Bein, sodass er an ihr vorbei auf den Boden stürzte.

Jemand schrie auf und rannte davon. Wenigstens einer hatte es begriffen.

Der am Boden liegende Kvor drehte sich mit schmerzerfülltem Fluchen auf den Rücken. Als das Leben zusammen mit dem ausströmenden Blut aus ihm wich, wurden die Schreie leiser und erstarben schliesslich.

Hätte Tindra Klingentanz nicht zurückgehalten, hätte er sich in das Fleisch des sterbenden Mannes gebohrt, um ihm das zu nehmen, was er sich noch nehmen konnte. Er gierte nach Blut, nach Leben, wollte sich am Leid anderer laben.

Tindra schluckte. Sunyu hatte dieses Schwert geschmiedet. Seine Verzweiflung, seine tiefsten Wünsche hatten sich auf die Waffe übertragen. Dass in dem jungen Mann so wenig Hoffnung und derart viel Hass schlummerten, hatte sie nie in Betracht gezogen – selbst dann nicht, als sie die Wahrheit hinter seiner Kindheit erfahren hatte.

Einen Augenblick dachte sie an den Tempel in Le’Lhio, als Seylani ihr das Schicksal ihrer ehemaligen Priesterin offenbart hatte. Diese Priesterin war Sunyus Mutter gewesen, deren Freude sich Stück für Stück aus ihrem Leben geschlichen hatte, bis alles, wofür sie noch gelebt hatte, der kleine Junge mit den haselnussbraunen Augen gewesen war.

Nun war er von Hass zerfressen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er explodierte und etwas Schreckliches in seiner Nähe geschah. Immerhin trug er das Ov’Enn’Tre und damit wahre Magie in sich. Verlor er die Kontrolle über sich, verlor er auch die Kontrolle über das Feuer.

Das Schwert in ihrer Hand wirbelte herum, die Bewegung katapultierte sie zurück in die Gegenwart. Gerade noch sah sie, wie sich die Klinge in einen Bauch grub, einen Augenblick verweilte, um sich in den Blutrausch zu trinken, bevor sie nach hinten schwang, um den nächsten Angreifer zur Strecke zu bringen.

Tindra öffnete sich dem Schwert. Sie hatte die Männer gewarnt, hatte ihnen nicht verheimlicht, dass Klingentanz ihr geweiht war und alles tun würde, um sie zu schützen. Berechnende Kälte flutete sie, ihr Herzschlag beruhigte sich. Von ihr Besitz ergreifend, lenkte die Waffe ihre Gedanken und den Körper. Der Wille des Schwertes wurde zu ihrem eigenen, sie wusste, was es tun würde, was der Gegner tun würde.

Zwischen all den Männern vollführten die beiden ihren schaurigen Tanz. Als Einheit sprangen sie in die Luft, drehten sich um die eigene Achse und liessen das kalte Metall durch warmes Fleisch fahren. Sie nahmen Leben und labten sich daran.

Als sie endlich zum Stillstand kamen, ging Tindras Atem etwas schneller, doch angesichts des Kampfes war er viel zu ruhig. Sie spürte kein Mitleid, keine Nachsicht, keinen Funken Reue. Sie hatte das Recht, sich zu verteidigen, und wusste es zu nutzen.

Mit einem verwegenen Grinsen drehte sie sich zum letzten schlagenden Herzen in der Umgebung um. Verborgen im Schatten stand der Kvor, mit dem sie gesprochen hatte. Er fürchtete sich nicht, stand einfach da und beobachtete sie. Als er ihren Blick auffing, nickte er.

»Willst du es auch noch versuchen?« Tindra hätte die Frage nicht stellen müssen. Klingentanz hätte längst gespürt, wenn der Mann ihr an die Wäsche oder Gurgel wollte.

Er lachte hart auf und kratzte sich am Bart. »Danke, aber nein.«

Fürst

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Sunyu

Mit festem Blick passierte Sunyu das Tor. Vor Angst, dass ihn jemand an Tindra erinnern könnte, starrte er geradeaus und mied die Gesichter. Sie jubelten ihm zu, einige klopften ihm gar auf die Schultern. Lobende Worte kamen ihnen über die Lippen, doch er verstand sie nicht. Alle Freuden, jede Anerkennung der Welt bedeutete nichts, wenn das Lachen verschwunden war.

Und er hatte alles Lachen in seinem Leben getötet, eins nach dem anderen. Kein Tod war beabsichtigt gewesen, doch das änderte nichts daran, dass es passiert war.

Endlich kam der Palast in Sichtweite. Die Menschenmenge löste sich nach und nach auf, bis er allein durch das Tor schritt und in den leeren Hof trat. Aber auch hier verweilte er nicht. Er ging weiter, in den Amtsraum des Fürsten. Nun war es sein Amtsraum.

Seit er Vilgrim getötet hatte, war er Fürst. Er, Sunyu, ein Bastard, würde über die Zukunft von Grimsvik entscheiden. Eskild, der grosse Heerführer und sein Vater, war kurz davor gewesen, die Reiche zu einen, bevor er mit seiner geliebten Menschenfrau abgehauen war.

Froh, allein zu sein, setzte er sich auf den Thron. Er war weder bequem noch besonders schön, erfüllte jedoch seinen Zweck: Er jagte Furcht ein. Noch hing der schwere Duft nach Blut im Raum, doch ihm fiel es kaum auf. So viel Blut, wie er seit gestern vergossen hatte, gehörte es zu ihm.

Er lachte zynisch in sich hinein. Der Fürst mit der Blutspur würden sie ihn nennen, oder der, dem der Tod folgte.

Mit zusammengepressten Lippen schloss er die Augen. Es war egal. Tindra war aus dem Leben geschieden, hatte ihr Licht mit sich genommen. Sie war der einzige Grund gewesen, noch zu bleiben. Obwohl er versucht hatte, sie vor allem Bösen zu beschützen, war sie tot.

Er könnte seines genauso beenden wie die aller anderen. Eine andere Waffe vielleicht … oder er sprang von den Klippen in die wütende Brandung des Meeres.

Eigenhändig hatte er Tindra bis nach Steinwacht begleitet, damit sie ihr Leben weiterführen konnte. Sie wäre eine wunderbare Schmiedin geworden, hätte Frauen mit ihren Schmuckstücken entzückt und Männer wären scharf auf ihre Waffen gewesen. Das Feuer in ihr hätte gebrannt, vom frühen Morgen bis spät in den Abend. Vielleicht hätten sie beide …

Bei Seylanis faulendem Zeh, diese verfluchte Scheisse! Sunyu holte tief Luft, sein Brustkorb zitterte. Er bebte am ganzen Körper, und die Gefühle in ihm erst recht.

Mit leerem Blick trat er ans Fenster. Schneeflocken verbargen die Sicht, doch er wusste, dass dort unten irgendwo auf einer Insel aus tristem Kies Tindra gelegen hatte, als sein Feuer sie erfasst hatte.

Hätte er doch nur früh genug begriffen, was sie ihm bedeutete … Zeichen dafür hatte es genug gegeben. Er war einfach zu dumm für sein eigenes Glück. Vielleicht hätte Tindra ihm eines Tages verziehen, vielleicht hätte sie sich auf ihn eingelassen. Doch vielleicht half ihm nicht weiter.

Schritte hallten durch den Raum, doch er nahm sie nur am Rande wahr. Erst als sich jemand neben ihm räusperte, wandte er den Kopf.

Obwohl Bram mit hinter dem Rücken verschränkten Armen dastand, als wollte er in das Tal mit dem Fluss Grimsar blicken, sah er den neuen Fürsten von Grimsvik an. Tiefe lag in seinem Blick. »Vilgrim hat damals auch um Kirjana getrauert.«

Sunyu lachte hart auf. »Damals!« Es war gestern gewesen. »Er hatte keine Zeit, sie zu betrauern, dafür habe ich gesorgt.«

Bram gelang ein leichtes Lächeln mit schmalen Lippen. »Ich meinte die Zeit, als er ihre Mutter hinterhältig ermordete und sie zu Freiwild machte.«

Neugierig hob Sunyu die Augenbraue. Auch wenn er grob wusste, wie sich Vilgrim den Thron unter den Nagel gerissen hatte, kannte er keine Details – schon gar nicht hatte er geahnt, dass Vilgrim überhaupt trauern konnte.

Bram wandte den Blick auf das Schneetreiben vor der Scheibe. »Er liebte Kirjana auf seine eigene Art und Weise. Vilgrim wollte den Thron, doch ihre Mutter hätte ihn niemals an ihrer Seite akzeptiert.« Der Offizier machte eine kurze Pause. »Um beide Ziele zu erreichen, blieb ihm keine andere Wahl.«

Sunyu nickte. Wenn Kirjana damals erfahren hätte, dass er ihre Mutter umgebracht hatte, um an den Thron zu gelangen, hätte sie ihn niemals um sich werben lassen. Er hatte sie als Freiwild an sich binden müssen. Doch sie hatte andere Bedürfnisse entwickelt – Bedürfnisse, die dem kranken, verlogenen Schwein entgegengekommen waren.

Bram seufzte. »Er bereute es bis zu seinem Tod. Im Geheimen jedenfalls.«

»Du standest ihm sehr nahe«, hielt Sunyu fest und beobachtete den Befehlshaber von Grimsviks Armee genau. Jeder, der Vilgrim zu treu ergeben war, würde versuchen, sich an Sunyu zu rächen, und war damit eine potenzielle Gefahr für ihn.

Ein Fürst hatte keine Freunde. Es gab nur Leute, die ihn nicht umbringen wollten, und solche, die es eben wollten. Zu welcher Sorte Bram gehörte, musste sich erst noch zeigen.

Der Larhun mit der imposanten Erscheinung und den kurz geschorenen Haaren nickte. »Ich diene Grimsvik, nicht der Fürstin – oder einem Fürsten, der es gar nicht sein will.« Ein freches Grinsen schlich sich auf das harte Gesicht.

»Habe ich eine Wahl?«

Bram seufzte. »Du könntest verzichten. Doch die Thronfolge ist ungeklärt, wer hier einziehen würde mehr als fraglich. Es könnte gar sein, dass sich einer von Kleifars Soldaten den Thron aneignen und Grimsvik bald zu Amelias Reich gehören würde.« Der ältere Mann legte dem Bastard eine Hand auf die Schulter. »Wenn ich dir einen Rat geben darf: Lass es zu. Es gibt nur einen Eskild. Seine Legende lebt hier weiter, egal, ob er starb oder in einem kleinen Dorf irgendwo in Mra’Theel eine Familie gründete. Und du bist sein Sohn.«

Sunyu schluckte. Trotz der aufmunternden Geste verdeutlichte das Gewicht von Brams Hand die Last auf Sunyus Schultern. »Diesen Ruhm, die ganze beschissene Anerkennung hat er nicht verdient«, flüsterte er. Es war eine Art Geständnis, niemand hier in den Reichen der Larhun wusste davon.

»Der Glaube ist manchmal wichtiger als das, was ist.«

Bram hörte sich so selbstsicher an, dass Sunyu geneigt war, ihm zu vertrauen. Der junge Schmied schloss für einen Moment die Augen. »Würdest du mir zur Seite stehen?« Er hasste es, wenn er so schwach klang, so unsicher.

Bram lachte auf. »Grimsviks Bevölkerung steht hinter dir, selbst die Frauen haben dir ihren Respekt gezollt. Als sie es taten, warst du noch nicht einmal Fürst. Wenn nicht du, wer dann?«

Sunyu schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich aber nicht gemacht.« Er fing den festen Blick des Offiziers ein. »Ich will in einer Schmiede Waffen herstellen, tüfteln, neue Legierungen ausprobieren. Über die Leben anderer zu entscheiden liegt mir nicht.«

»Wie willst du das denn anstellen?« Bram machte eine weit ausholende Armbewegung, die ganz Grimsvik und die Ländereien rundherum einschloss. »Hier könntest du nicht bleiben. Von Eskilds Sohn, der den Mörder der geliebten Fürstin beseitigt hat, wird man verlangen, das Reich zu neuer Blüte zu führen. Dass du dich als einfacher Schmied zurückziehst, ist undenkbar – ganz besonders nach dem, was du bereits getan hast.«

Der junge Mann lehnte den Kopf gegen die Scheibe und schloss die Augen. »Und wofür? Es wird weitere Schlachten geben. Tote, Blut, Verluste.« Seine Stimme zitterte, doch es war nichts im Vergleich zu dem Sturm, der in ihm tobte.

Jeder einzelne Gedanke an einen Kampf lähmte ihn, erinnerte ihn zu stark an Tindra. Blass und regungslos hatte sie auf dem feuchten Kies gelegen, ihr Gesicht von Nebel und Schneeflocken umspielt … Bei Seylanis dürrem Arsch und ihrem verfaulenden Zeh, sie hätte in Steinwacht bleiben sollen! Sie sollte leben, nicht er.

Als der Offizier sprach, hörte es sich hart und wütend an. »Tindra ist tot, Kirjana ist tot und viele andere auch. Sie alle haben die Entscheidungen getroffen, die sie bis an den Punkt geführt haben, an dem Doana sie zu sich gerufen hat. Aber da draussen gibt es Männer, die ihre Frauen noch nicht verloren haben. Sie werden für ihre Kinder kämpfen, für ihre Frauen, für die Liebe und ihre Heimat.« Er machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen und sich ein wenig zu beruhigen. »Du hast es in der Hand, das Leid möglichst gering zu halten. Wenn du deine Verantwortung nicht wahrnehmen willst, kannst du gehen, und zwar sofort.« Seine Augen verengten sich. »Falls du wie ein Feigling den Schwanz einziehst, dann schwöre ich dir, werde ich dir den Kopf abschlagen, wenn wir uns wiedersehen. Bleibst du, werde ich dir bis in den Tod folgen – oder in ein geeintes Reich der Larhun.«

Sunyu atmete tief ein. Ganz bewusst liess er die Luft langsam wieder entweichen. Dennoch zitterte er. Bram hatte recht, für Tindra konnte er nichts mehr tun, auch wenn er sich am liebsten in einem Schneckenhaus verkrochen hätte.

Die Summe an Entscheidungen hatte ihn hierher, zum Fenster dieses Raumes, geführt. Sein Leben, das Resultat der Scheidepunkte. »Was weisst du über den Angriff?« Sunyus Stimme hörte sich rau an.

Bram warf ihm einen langen Blick zu, er spürte ihn auf dem Gesicht, erwiderte ihn jedoch nicht. Dann seufzte der Heerführer. »Es waren die Versunkenen Inseln, die ihren Angriff zum Scheitern verurteilten. Die Piraten sind sozusagen das siebte Reich der Larhun. Um sich und uns zu schützen, haben sie drei Schiffe offenbar bis zum Angriff bei sich ankern lassen und sie dann versenkt.« Er zuckte mit den Schultern und schob die Unterlippe vor. »Jedenfalls war das ihr Plan. Dass hier noch immer keine Kvor aufgekreuzt sind, sehe ich als Zeichen dafür, dass er geglückt ist.«

Sunyu nickte.

»Um die Bevölkerung hinter dich zu stellen, könntest du ein Fest in Grimsviks Strassen geben. Vergiss nicht, die umliegenden Bauern und Siedlungen einzuladen. Und dann sollten wir zusehen, dass wir nach Ferde kommen, um Verbündete zu finden. Allzu lange wird der Schnee nicht mehr auf sich warten lassen.«

Insel

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Sunyu

Sunyu sass auf dem unbequemen Thron. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, musste er dieses nutzlose Stück Metall entsorgen lassen. Vielleicht würde er es auch selbst einschmelzen.

Bram stand vor ihm, die Augen stur auf den neuen Fürsten von Grimsvik gerichtet. »Was willst du nun tun?«, fragte er angespannt.

Sunyu seufzte. Es war eine kurze Nacht gewesen. Nur Bram war es zu verdanken, dass er das Amt des Fürsten überhaupt angenommen hatte und nun hier sass. Es war kein Entschluss gewesen, der aus Nächstenliebe herangewachsen war. In Grimsvik hatte er vermutlich das gefunden, was einer Heimat am nächsten kam, und er hoffte, sich irgendwann hier angekommen zu fühlen.

Der neue Fürst nickte ergeben. »Lass uns das Fest ausrichten. Beauftrage jemanden damit, der Ahnung hat – und sich mit unseren Vorräten auskennt. Ich will nicht, dass wir wegen eines Festes den Winter über hungern müssen. Vilgrim erwähnte, dass die Ernte mager ausgefallen ist.« Er unterbrach sich, stand auf und begab sich zum Fenster. Es war sein liebster Platz im Amtsraum. Hier konnte er sehen, wo Tindras Reise in ein neues, freies Leben begonnen hatte. Jedes Mal, wenn er daran dachte, zerriss es ihn innerlich, doch er durfte es sich nicht anmerken lassen. Er holte tief Luft, um seiner Stimme Festigkeit zu geben, bevor er gezwungen war, das nächste Wort zu sprechen.

Grimsvik brauchte einen starken Fürsten, besonders in Zeiten wie diesen. Sunyu war nicht bereit, diese Hoffnung so kurz, nachdem er sie gefunden hatte, wieder aufzugeben. Und ein Grimsvik ohne einen Fürsten könnte sich im schlimmsten Fall zu einer gesetzlosen Stadt wandeln.

Bram nickte. »Ich werde es veranlassen. Sonst noch etwas?« Dass Vilgrims ehemaliger Freund ihm so gut diente, erleichterte Sunyu. Bram selbst bezeichnete sich als Grimsviks Diener, nicht des Fürsten.

Der neue Regent nickte und drehte sich entschlossen um. »Schick mir zwei Boten. Einer wird nach Kleifar aufbrechen, um Amelia über die neuesten Geschehnisse zu unterrichten. Einer soll nach Ferde reisen, um Bogolf und Haukur zu informieren, dass ich ein paar Tage später komme.«

»Sehr gut.«

»Und dann machen wir einen Abstecher zu den Versunkenen Inseln. Ich muss wissen, was es damit auf sich hat, dass sich die Kvor dort eine Anlegestelle kaufen wollten.«

Ein Lächeln erschien auf Brams Gesicht, als er sich umdrehte und auf die Tür zuging, bei der er kurz innehielt. »Ich bin froh, dass du auf dem Thron sitzt.«

Überrascht hob Sunyu die Augenbrauen. Bram war schon verschwunden, als sich ein Lächeln auf seine Lippen schlich, das er nicht einmal bemerkte. Jemand war froh, dass er hier war. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das jemals jemand zu ihm gesagt hatte.

Der Wind peitschte ihm um die Nase, während sich Sunyu mit kalten Händen an der Reling festklammerte. Er hatte nicht einmal geahnt, wie beschissen es einem Menschen – oder Larhun – gehen konnte, wenn er in einer Nussschale mitten auf dem Ozean gefangen war, und Wind und Wellen damit spielten wie ein Herbststurm mit trockenem Laub.

Sein Magen zog sich zusammen, er krümmte sich über das Holz und gab den Fischen sein Frühstück – jedenfalls den kümmerlichen Rest, den er noch bei sich behalten hatte. Die Bewegung des Schiffes presste ihn gegen die nasse Reling, sodass er kaum mehr Luft bekam, der Druck auf seinen Magen vergrösserte sich, und er übergab sich nahtlos ein weiteres Mal.

Es war vorbei, es musste einfach vorbei sein, bei Seylanis dürrem Arsch. Niemand konnte sich pausenlos übergeben.

Für einen lauten Fluch war er zu müde. Erschöpft drehte er sich um und liess sich an der Innenseite der Schiffswand auf die Planken gleiten. Selbst ein Schlucken brachte keine Erleichterung.

Mit einem breiten Grinsen kam Bram auf ihn zu, kauerte sich neben ihn und hielt ihm einen Wasserschlauch vor die Nase. Ungeduldig schob Sunyu ihn weit weg. Wenn er nur schon daran dachte …

Mit weit aufgerissenen Augen stand er auf. Das Deck bewegte sich unberechenbar unter seinen Füssen. Er torkelte und bevor er die Reling erreicht hatte, machte sein Magen dem Gedanken an frisches Wasser überdeutlich Ausdruck.

Als sich Sunyu schwer atmend wieder setzte, grinste Bram noch ein Stückchen breiter. Verdammte Scheisse. Und er fand nicht einmal die Kraft, den Offizier in die Schranken zu weisen.

»Noch nie zur See gefahren, Fürst?«

Sunyu schüttelte den Kopf – ganz langsam.

Der Offizier mit den kurz geschorenen Haaren lachte laut auf. »Die meisten gewöhnen sich daran«, fuhr er im Plauderton fort. »Nur ein paar wenige Ausnahmen konnten selbst nach einem halben Jahr auf See keine Mahlzeit bei sich behalten. Die haben wir dann ausgemustert.«

Sunyu schluckte. Dieses Mal reagierte sein Magen nicht mehr ganz so empfindlich. »Wie haben die das so lange auf See ausgehalten?«

»Wir haben sie angebunden.« Brams Grinsen war nicht mehr ganz so sorglos. »Es kommt hin und wieder vor, dass einer springt, wenn es ihm zu übel wird.«

»Klingt verlockend.« Nur zu gut konnte Sunyu den Drang nachvollziehen, als er abermals aufsprang und sich übergab. Bei Seylanis faulendem Zeh, wie lange dauerte die Reise noch?

»Wir sind bald da«, hörte er den Offizier hinter sich sagen, als hätte dieser seine Gedanken gelesen. »Soll ich dich an den Mast fesseln oder bleibst du auch so an Bord?«

Sunyu brummte. Vielleicht sollte er Bram nach der Rückreise in die tiefsten Wälder hinter Grimsvik schicken, damit er ein paar Tage Ruhe vor ihm und seinen dummen Sprüchen hatte. Seine Flamme würde bestimmt eine verfluchte Lichtung für den Taugenichts finden.

»Dann lasse ich dir also deine Freiheit.« Von Sunyus finsteren Gedanken schien Bram nichts zu ahnen, als er aufstand und sich sicher über das schwankende Deck bewegte.

Verdammter Arsch der Seylani, diese Tortur sollte endlich ein Ende finden. Die Reise zog sich, nichts kam Sunyu unendlicher vor als die Wellen, das Meer und der Wind. Wolken hingen über ihren Köpfen, sodass alles in einem tristen Grau verschwand. Doch irgendwann wurde das Schwanken weniger, der Aufprall nach jeder Welle schwächer.

Ein wenig Zeit blieb ihm, um sich von den Strapazen zu erholen. Langsam glitten sie in eine Festung hinein, die aus dem Meer zu erwachsen schien. Nur ein schmaler Durchlass blieb zwischen zwei mächtigen, dunklen Säulen, die das Ende der Mauern markierten. Über ihnen hörte er, wie Männer einander Befehle zuriefen. Schwerter rasselten, Armbrüste wurden gespannt. Diesen Klang kannte Sunyu nur zu gut. Und sie alle sahen den neuen Fürsten von Grimsvik, der sich, vollgekotzt wie ein Besoffener, an die Reling klammerte. Einen wunderbaren ersten Eindruck machte er.

Mit einer leichten Berührung an der Schulter zog Bram seine Aufmerksamkeit auf sich. Er führte ihn in eine Kabine, in der neben einer Schüssel mit lauwarmem, aber sauberem Wasser ein Stapel Kleidung auf ihn wartete. Erleichtert atmete Sunyu aus. Er hatte schon damit gerechnet, mit schmutzigen Kleidern durch Hermosa zu spazieren. Eine trockene Weste und saubere Hosen hatte er beim besten Willen nicht erwartet.

Als sie nach einigen Verhandlungen zu einer Anlegestelle begleitet wurden, stand er zuvorderst am Bug und besah sich Hermosa. Es war mehr eine Stadt denn ein Ort, wenn auch ungleich chaotischer. An der steilen Bergflanke klebte ein Gebäude neben dem anderen, eine Ordnung war nicht zu erkennen. Über einem winzigen Häuschen thronte eine Villa, fast so gross wie der Palast in Kleifar, am Hafen befand sich das Freudenhaus direkt neben dem Schiffsbauer, der seine Gesellen wie Hunde durch die Gegend jagte.

Die Stimmung war gedrückt, wenn nicht gar düster. Wäre es Abend, hätte Sunyu einzelne Lichter und jede Menge dunkler Gestalten erwartet, nun entdeckte er jedoch nur die dunklen Gestalten. Sie lungerten an jeder Hausecke, blickten auf der Suche nach seltenen Schätzen mit wachen Augen um sich.

Unvermittelt versicherte sich Sunyu, dass Weltenspalter fest in der Scheide an seiner Hüfte sass. Das schwarze Schwert, das sich mit seinen Flammen verband, war sein wichtigster Garant dafür, hier heil wieder herauszukommen.

Vielleicht hätte er Brams Ratschlag folgen und in Grimsvik bleiben sollen, damit er sich auf das Fest vorbereiten konnte. Doch er musste mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich ging.

Ging es um die Nebelreiche, waren sich alle anderen Länder einig: Sie gehörten nicht nach Mra’Theel und wurden nur geduldet, weil niemand den Mumm besass, gegen sie vorzugehen. Wagte jedoch jemand den ersten Schritt, würden sich die Länder nicht zurückhalten. Die Larhun galten als Inbegriff des Bösen, des Schlechten.

Er konnte dieses Bild nur bestätigen, Sunyu selbst war der beste Beweis. Er hatte in einer einzigen Nacht eine ganze Stadt ausgelöscht und mit einem einzigen Befehl seine grosse Liebe zur Dunklen Göttin Doana befördert.

Über den Steg folgte er Bram an Land. Kritische Blicke musterten sie, doch wie der Offizier liess sich auch Sunyu nichts anmerken. Bram wusste genauso gut wie er, dass sie innerhalb weniger Augenblicke an jedem Ort in Mra’Theel auftauchen konnten, den Sunyu kannte. Es gab keinen Grund, sich übermässig Sorgen zu machen – aber auch keinen, unbeschwert durch die Gassen zu stolpern.

Auf den ersten Blick erkannte Sunyu nur Larhun, die ihre Gesichter zu verbergen versuchten, hin und wieder begegnete ihnen ein Mensch, der sich hierherverirrt hatte. Ihre Sprache war grob, der Umgang miteinander noch viel rauer. Auf den Strassen tummelten sich nur vereinzelt Frauen. Das Freiwild vor dem Freudenhaus wirkte abgestumpft, ihnen fehlte das Feuer in den Augen, der Funke der Göttlichkeit. Anders als bei Tindra war bei ihnen der Verlust sogar sichtbar.

Einen Augenblick hielt Sunyu inne. Wäre Tindra hier gewesen, hätte sie ihm und allen anderen die Leviten gelesen. Ihre Augen hätten gefunkelt, die Stimme gedonnert.

Hätte er ihren Gerechtigkeitssinn, wäre er nicht dort, wo er jetzt war. Schon Vilgrim hatte grosse Opfer gebracht, um den Thron und seine Liebste sein Eigen nennen zu können. Am Ende jedoch hatte wohl Kirjana das grösste Opfer gebracht.

Sein Herz wurde schwer, als er an die beiden Frauen dachte. Obwohl beide als Freiwild durchs Leben gegangen waren, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können.

»Wir sind bald da«, riss Bram ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn damit in die Gegenwart zurück.

Sie hielten auf eine hölzerne Hütte zu, die inmitten von prächtigen Bauten und Eselskarren fast verschwand. Sunyu hob die Augenbrauen. Konnte eine so armselige Hütte wirklich ihr Ziel sein?

Selbstsicher trat Bram ein. Scharfer Rauchgestank brannte Sunyu in den Augen und der Brust. Während sich Bram wunderbar unter Kontrolle hatte, hustete Sunyu, bis ihm Tränen in die Augen traten.

Bram ging auf den Tisch auf der anderen Seite des Raumes zu, setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl davor und betrachtete den kleinen Mann mit dem dicken Buch kritisch. Der Stift flog nur so über die Seiten, wenn er hinter der faltigen Stirn nicht gerade eine neue Zahl berechnete.

Irgendwann sah der Mann auf und blickte Sunyu direkt an. Die Flügel seiner Knollennase flatterten, als er tief Luft holte und ein gedehntes Seufzen in den Raum entliess. »Die Reise ist dir nicht gut bekommen, wie?« Der Mann schielte, die Brauen wuchsen ihm über die verschieden grossen Augen. Schönheit war anders.

Dass er stank, konnte Sunyu nachvollziehen, doch dass er so sehr stank, dass es den Rauch übertönte und er direkt als Quelle des Gestanks erkannt wurde, hatte er nicht erwartet.

Der neue Fürst brummte. »Geht dich etwa so viel an wie der feuchte Scheiss der Seylani.«

Bevor die Situation eskalieren konnte, schaltete sich Bram ein. »Wir sind hier, weil wir wissen wollen, was mit deinen Landsleuten geschehen ist.«

»Ha!« Der Mann lachte auf und lehnte sich in seinem knarzenden Stuhl zurück. Während er die beiden Larhun mit schmalen Augen musterte, kreuzte er die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe viele Landsleute.«

Bram nickte. »Leider.« Offenbar war ihm der Geselle nicht sehr sympathisch. »Aber du weisst, wovon ich spreche: Von den Schiffen, die hier anlegen sollten, um Grimsvik anzugreifen.«

Der Kvor deutete mit einem Kopfnicken zur Tür. »Da ist der Ausgang.«

Lachend schüttelte Bram den Kopf. »Wir gehen erst, wenn du uns sagst, was wir wissen wollen.«

Unbeeindruckt spuckte der Kvor auf den Holzboden. »Die Prinzessinnen wünschen sonst noch?« Verächtlich zog er eine Augenbraue hoch.

Mit grossen Schritten brachte Sunyu die Distanz bis zu dem Tisch hinter sich. Er stützte sich auf die zerfurchte Holzplatte und näherte sich ganz langsam mit dem Gesicht der ungewollten Ausgeburt der hässlichen Seylani. Selbst den Atem konnte er auf der Haut spüren. »Wenn die Reiche der Larhun die Versunkenen Inseln weiterhin in Ruhe lassen sollen, dann erzählst du uns sofort alles Wichtige.«

Der Kerl grinste so frech, dass Sunyu geneigt war, ihm die Faust in die hässliche Fratze zu donnern, doch er hielt sich zurück. Noch konnte er sprechen, das mussten sie ausnutzen.

»Von den sechs Reichen wirst du sieben Meinungen erhalten, wie mit den Inseln zu verfahren ist.«

Sunyu glaubte, dass sein eigenes Grinsen gar ein bisschen breiter ausfiel als das des Kvor – er hoffte es aus tiefstem Herzen. »Das war, bevor ich, Sohn von Eskild, zum Fürsten von Grimsvik wurde.«

Der Kvor schnappte nach Luft, seine Haut wurde blass. Er schluckte, doch es half keinen Scheiss. Im schwachen Kerzenschein konnte er es nicht mit Sicherheit sagen, doch Sunyu glaubte, dass sich winzige Schweissperlen auf der fahlen Haut bildeten.

Sein linker Mundwinkel zog sich weiter nach oben. »Ich werde die Larhun unter einem Banner einen. Ob die Versunkenen Inseln hinweggespült werden oder nicht, liegt ganz allein in deiner Hand.«

Der Mann würde spuren, Sunyu wusste es. Die Angst in seinen Augen war gross genug, das Zittern verriet ihn. Zufrieden erhob sich Sunyu wieder, froh, dass sein Körper ohne einen Schwächeanfall mitgemacht hatte. Die Reise hierher war nicht das gewesen, was er unter erholsam verstand.

»Sie wollten drei Schiffe hier anlegen lassen, für ein paar Tage«, lenkte der Hafenmeister ein. Mit einem Mal wirkte er klein und unsicher. »Obwohl ich einen horrenden Preis verlangte, zeigten sie sich einverstanden, ohne zu murren. Doch sie kamen nicht.«

Sunyu verengte die Augen. »War es ihnen zu teuer, und sie haben nichts gesagt?«

Der Kvor schüttelte vehement den Kopf. »Das ist es ja gerade. Sie hatten schon bezahlt.«

Als Bram scharf die Luft einsog, zischte es. »Wie viel hast du verlangt?«, wollte er tonlos wissen.

Ungerührt zuckte der kleine Mann mit den Schultern. »Kvorschiffe sind hier nicht gern gesehen, deshalb wollte ich drei Gold und zwei Silber – pro Schiff.«

Anerkennend pfiff Bram durch die Zähne. »Damit hättest du in Rente gehen können.«

»Das ist nicht für mich, das ist für den Hafen«, bellte der Zwerg mit blitzenden Augen.

Wieder lachte Bram. Wenn Sunyu ihn nicht besser kennen würde, dann hätte er gedacht, dass er auf einem Fest mit einem Freund schäkerte. »Als ob du die zwei Silberstücke nicht in deiner eigenen Tasche hast verschwinden lassen. Oder war es gar ein ganzes Goldstück?«

Der Hafenmeister schwieg.

Mit einem Brummen stand Bram auf und drehte sich von dem Kvor weg. »Dreckspack«, zischte er so leise, dass nur Sunyu es hören konnte.

An der frischen Luft sogen sie die salzige Meeresbrise ein. Das sanfte Rauschen erinnerte Sunyu an die Wellen auf dem Schiff, doch mit einem Räuspern zwang er sich, an ihr Ziel zu denken.

Bram seufzte. »Ich dachte, sie hätten die Schiffe versenkt«, gestand er, als er sich in Bewegung setzte.

Zu Sunyus Überraschung lag ihr Schiff noch immer vor Anker. Der Kapitän, den Sunyu während seiner Kotzpausen nur zwei- oder dreimal flüchtig gesehen hatte, verhandelte mit einem zwielichtigen Gesellen, sah sich ein wenig zu offensichtlich um, ehe er sich wieder in das Gespräch vertiefte.

Sunyu beeilte sich, zu Bram aufzuschliessen, der auf direktem Wege auf das Bordell zusteuerte. »Bram!«

Der Offizier drehte sich grinsend zu Sunyu um. »Ja, mein Fürst?«

»Wir können doch nicht einfach …«

»O doch!«, widersprach der Offizier. »Natürlich können wir. Ich suche Informationen, und du brauchst eine Frau. Dein Mädchen ist tot und Kirjana nicht da, um dich zu trösten. Suche Zerstreuung zwischen den Beinen des Freiwilds und …« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Hast du eigentlich auch mal eine richtige Frau gevögelt oder nur Freiwild?« Die Frage war ihm offenbar so wichtig, dass er mitten auf der Strasse stehen blieb und den neuen Fürsten musterte.

»Das geht dich einen Scheissdreck an.«

Finger

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Sunyu

Bram trat ein, als wäre er Stammgast im Freudenhaus.

Genauso stumpf, wie das Freiwild vor der Tür die vorbeieilenden Piraten beobachtete, wurden sie von einer Dame in knapper Bekleidung willkommen geheissen. Ihr Blick schweifte von ihren Köpfen zu den Füssen und zurück, ehe sie den Arm ausstreckte und mit einer weichen Bewegung den gesamten Raum einschloss. »Herzlich willkommen.«

An den Wänden entlang versteckten sich winzige Tischchen hinter Holzwänden, gerade so abgetrennt, dass man intim werden konnte, ohne die störenden Blicke der anderen Männer auf sich zu spüren. In der Mitte warteten zwei wuchtige Tische auf Gäste, die sich die Auswahl genauer ansehen wollten, ehe sie eine Entscheidung trafen.

Bram zeigte mit dem Daumen auf Sunyu und grinste. »Der hier braucht ein Rasseweib.«

Die Frau, vermutlich auch Freiwild, zuckte mit den Schultern. »Such dir was aus.« Dieses Mal betrachtete sie Sunyu eingehender. »Wenn ein Halbling wie du mit meinen Mädels überhaupt mithalten kann.« Sie grinste breit und stemmte dabei die Hände in die Seiten, vielleicht nicht zuletzt, um auch ihre eigenen Vorzüge zu präsentieren.

Mit einem Schnauben wandte sich Sunyu ab und setzte sich an einen der kleinen Tische, während Bram das Mittagessen bestellte. Dass er schon beim Gedanken an Fleisch fast auf den Tisch kotzte, konnte er als Fürst wohl kaum zugeben, also wählte er ebenfalls.

Er seufzte. Bei Seylani, er hatte eine Aufgabe übernommen, von der er wusste, dass er an ihr scheitern würde. Die Schmiede wäre genug für ihn gewesen, ein Fürstentum oder gar die Reiche der Larhun brauchte er nicht.

Die Frau brachte zwei Platten, eine gefüllt mit Fleisch, die andere voll mit Brot und Früchten. Bram griff mit strahlenden Augen zu, während Sunyu nur hin und wieder einen Blick auf das Essen warf. Der Geruch des Bratens reichte schon, um seinen Magen Pirouetten drehen zu lassen. Doch noch schaffte er es, nicht auf den Tisch zu kotzen.

»Also, warum genau sind wir hier?«, fragte Sunyu, um Bram von dem Freiwild abzulenken, das sich mit gespreizten Beinen auf den grossen Tisch vor ihnen gesetzt hatte. Sie spielte lasziv mit ihrem eigenen Schoss, wollte locken, verführen und sich ein gutes Abendessen verdienen. Hellbraune Locken umrahmten das breite Gesicht, volle Lippen standen im Gegensatz zu kleinen Brüsten. Es war ekelhaft. Nicht sie selbst, sondern ihr Verhalten.

Vor wenigen Tagen hätte Sunyu die Gelegenheit wahrscheinlich nicht ausgelassen, doch nun wandte er den Kopf ab.

Bram nickte in ihre Richtung. »Du willst doch …« Bedeutungsvoll hob er die Augenbrauen.

Sunyu schüttelte den Kopf.

Ein breites Grinsen huschte über das Gesicht des Offiziers. »Hier gibt es den besten Braten, sagt man.«

Unter dem tiefen Atemzug hoben und senkten sich Sunyus Schultern. Er musste dringend das Thema wechseln. »Wie wollen wir mehr über die verschwundenen Schiffe erfahren?«

Mit einem Anflug von Stolz lächelte der Offizier, wischte sich den Mund sauber und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Ich vermute ein Täuschungsmanöver.«

Sunyu sog scharf die Luft ein.

Bram senkte die Stimme. »Weisst du, die Kvor sind heimtückisch. Eigenbrötler. Obwohl sie sich nach aussen hin mit den Irin verbündet haben, verfolgen sie ihre eigenen Pläne.« Er pausierte kurz, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und hob einen Finger. »Dass sie sich zusammenschliessen, ist an sich keine Überraschung, immerhin stehen sich die beiden Länder seit jeher nahe.« Er holte tief Luft, sprach aber nicht direkt weiter, sondern gönnte sich ein weiteres Stück Brot mit Braten. Schliesslich spülte er den letzten Bissen mit einem halben Humpen Bier hinunter. »Ich weiss noch nicht so recht, was ich davon halten soll. Einerseits tauchen seit einiger Zeit diese Käfer auf, andererseits plant Kvora einen Überfall mit den Irin, macht im letzten Moment jedoch einen Rückzieher.«

Sunyu trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Als wollten sie Soldaten verschwinden lassen«, murmelte er.

Wie vom Blitz getroffen, verharrte Bram stocksteif. »Das ist es«, flüsterte er mit tonloser Stimme. »Sie haben drei Schiffe mit Soldaten irgendwo versteckt.«

Überrascht sah Sunyu seinen Offizier an, doch dieser registrierte es nicht einmal. Eigentlich hatte er seine Idee als naive Eingebung abgetan, doch als Bram es aussprach, ergab es irgendwie Sinn.

Sunyu lehnte sich zurück und schloss erschöpft die Augen. Wenn sich die Kvor nicht geziert hätten, dann wäre er tot und nicht Tindra. Es wäre besser gewesen. Er sehnte sich nach dem Tod, nach Doanas Versprechen, einem Neuanfang – falls sie ihm diesen gewährte, nachdem er die Statue ihrer Hellen Schwester beinahe in tausend Stücke gesprengt hätte.

»Es ist weder deine Schuld noch die der Kvor«, unterbrach Bram geduldig die Gedanken des neuen Fürsten. »Es ist, wie es ist. Mach das Beste aus dem, was du hast – oder gehe unter.«

Als Sunyu die Augen öffnete und den Offizier neugierig musterte, schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht des älteren Mannes.

»Grimsvik war schon lange nicht mehr in so guten Händen wie heute.«

Ungläubig schüttelte Sunyu den Kopf. Dass Bram so viel Hoffnung und Vertrauen in ihn setzte, konnte er nicht glauben – abgesehen davon, dass sie sich kaum kannten.

»So, und nun entscheide dich für eine, wir haben nicht ewig Zeit.«

»Und du?«

Bram grinste. »Ich suche mir die, die am meisten weiss.« Er hob eine Hand in die Höhe. »Diese Finger entlocken Frauen jedes Geheimnis.«

Letzte Schneeflocken segelten vom Himmel, als sich Grimsviks Einwohner und die Bauern aus der Umgebung in den Strassen der Stadt versammelten. Schon seit einiger Zeit brannten die Feuer und spendeten zumindest im direkten Umkreis etwas Wärme. Über ihnen wurden Fleisch und Gemüse gebraten, auf den Tischen standen Brot, Wein und haufenweise Früchte. An einem Tisch schaufelte eine Gruppe Strassenkinder gierig Brot in sich hinein, die Umgebung mit grossen Augen betrachtend. Kam ihnen jemand zu nahe, sei es auch nur unbeabsichtigt, zogen sie sich in die Schatten zwischen den Häusern zurück.

Sunyu hielt inne und betrachtete die Kinder eine Weile. Tindra hätte sich zu ihnen gesetzt und mit ihnen gespielt. Wäre sie noch am Leben und hier, hätte er sie ganz bestimmt zum Tanz aufgefordert. Bei Doana, hätte er auch nur noch einmal die Gelegenheit, ihr zu zeigen, was … Ja, was? Dass er hässlich war? Eine ganze Stadt in einer einzigen Nacht auslöschte und dabei keine Träne vergoss? Dass er ein Monster war?

Er würde ihr zeigen, wie wichtig sie ihm war.

Die Gewissheit, niemals wieder in ihre Augen zu sehen, das fröhliche Lachen zu hören oder sie beim Schwingen eines Hammers zu beobachten, formte einen Kloss in seinem Hals. Sunyu wollte hier weg, wollte die Birne gegen einen Baum knallen und sich in seiner eigenen, beschissenen Welt verkriechen. Zum ersten Mal überhaupt konnte er verstehen, dass jemand in den Rausch flüchtete.

Um sich abzulenken, warf er Bram einen Seitenblick zu. Nachdem die Finger des Offiziers zwei Frauen beglückt hatten, hatten sie sich gerade noch rechtzeitig auf den Rückweg gemacht. Ihnen war kaum noch Zeit für die Vorbereitungen für das Fest geblieben, wobei Bram diese in fähige Hände gelegt hatte. Dennoch, nach der Überfahrt hatte sich Sunyu ein Bad gegönnt.

Vor zwei hoch lodernden Feuern wartete ein langer Tisch auf den Fürsten und sein Gefolge, das aus einem Offizier und einigen Wachen bestand. Diese waren keineswegs dazu da, ihn zu unterhalten, sondern um den neuen Fürsten zu beschützen, obwohl es sie laut Bram nicht gebraucht hätte.

Trotz Sunyus menschlicher Herkunft war er grösser und massiger als der frühere Fürst, weshalb er noch immer seine Offiziersuniform trug. So schnell würde sich das auch nicht ändern, wollten sie doch morgen früh schon aufbrechen, um in den anderen Reichen der Larhun nach Verbündeten zu suchen. Um Verbündete zu betteln wäre der richtige Ausdruck.

Sunyu setzte sich auf seinen Stuhl, jemand schenkte ihm vom honiggelben Nebelwein ein, und er trank geistesabwesend einen Schluck. Bram liess sich mit einem Seufzen neben ihm nieder – das einzige Anzeichen von Erschöpfung.

Sunyu sah ihn aus leeren Augen an. »Wie alt bist du?«

Erstaunt hob Bram eine Augenbraue. »Achtunddreissig. Wieso?«

»Weil du heute zwei Frauen gevögelt hast. Ich fragte mich, ob ich mich auf das Alter freuen soll, weil ich dann mehrere Frauen beglücken kann, oder ob es mir Angst macht. Wenn ich mehrere Frauen brauche, dann will ich nicht alt werden.«

Bram lachte hart auf. »Wenn du so weitermachst, wirst du nicht alt.« Er trank ebenfalls einen Schluck und schwieg einen Moment, ehe er in ernstem Tonfall fortfuhr: »Gute Männer sterben früh.«

»Soll ich schlechter werden?«

Brams Lachen klang alles andere als fröhlich, beantwortete seine Frage jedoch nicht.

Sunyu lehnte sich zurück, den schweren Nebelwein in der Hand. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen, sodass ihm der verfluchte Wein rasch zu Kopf stieg. »Ich bin nicht gut«, widersprach er.

Bram legte ihm die Hand auf die Schulter, der junge Schmied zuckte zusammen. »Unterschätze dich nicht, Jungchen.« Er grinste. »Übrigens, die drei Schiffe der Kvor sind tatsächlich unterwegs, aber nicht in die Reiche der Larhun und auch nicht erst seit ein paar Tagen. Sie sind im Sommer nach Süden aufgebrochen. Seither hat man nichts mehr von ihnen gehört. Über den Auftrag ist nichts bekannt, vermutet wird aber, dass die Männer nach Vehni reisen. Wahrscheinlich wollten sie, dass wir alle denken, sie wären vor den Versunkenen Inseln versenkt worden.«

Sunyu legte die Stirn in Falten. Das hörte sich alles verdammt verworren an.

Brams Grinsen wurde etwas breiter. »Und ich konnte noch etwas anderes in Erfahrung bringen.« Um die Spannung zu erhöhen, machte er eine kurze Pause.

»Verflucht, sag schon«, brummte Sunyu.

Lachend lenkte der Offizier ein. »Die Kvor haben die meisten ihrer Bodenschätze ausgeraubt. Besonders das berühmte Vihtan kann kaum mehr abgebaut werden, weil die Vorkommen versiegen. Wird dennoch an einem Ort noch eine Ader entdeckt, ist es nur ein Fürzchen, dessen Abbau sich nicht lohnt. Jetzt haben sich Gruppen auf die Suche gemacht, neue Vorkommen ausserhalb Kvoras zu finden.«

»Das Metall entsteht nur dort, wo sich auch Berge bilden«, wandte Sunyu ein.

»Genau.«

Der neue Fürst kniff die Augen zusammen und sah Bram lange an, ehe er das Wort ergriff. »Abgesehen von den Reichen der Larhun gibt es in ganz Mra’Theel keinen einzigen nennenswerten Gebirgszug.«

»Das Mittelgebirge und die Drachenberge.«

Überrascht wandte Sunyu den Kopf. »Im Mittelgebirge gibt es kein Vihtan.« Das hatte ihm Juang in all den Jahren beigebracht. Innerlich dankte er dem besonnenen Schmied für die umfassende Ausbildung, die er genossen hatte.

Den Gebirgszug ganz im Osten Mra’Theels kannte er zwar, doch davon gesprochen hatte seit langer Zeit niemand mehr. Im Leben der Steinwachter gab es die Drachenberge praktisch nicht, sie existierten einzig als weisser Fleck auf der Landkarte. Mit etwas Glück stand dort Drachenberge.

Aber er wusste es besser, er hatte die spitzen Gipfel und bewaldeten Hänge auf dem Relief von Vilgrims Tisch gesehen. Früher hatte er geglaubt, dass es ein paar wenige Hügel waren, doch dass das Massiv diese Ausmasse annahm, hatte er nicht erwartet.

Sunyu seufzte. »Wie wollen sie denn das ganze Vihtan nach Kvora transportieren? Das braucht eine Kolonne an Eselskarren oder Schiffsladung um Schiffsladung.«

Bram nickte, seine Augen wurden noch ein wenig kleiner. »Was vielleicht auch der Grund ist, wieso sie hier sind.«

»Ich dachte, wegen des Vihtans?« Sunyu hob eine Augenbraue.

»Wir Larhun sind ein wenig bewandert, wenn es um Bodenschätze geht. Immerhin bauen wir selbst unsere eigenen Metalle ab. Es sind nur wenige Minen, dafür aber herausragende – in Qualität und Menge.« Brams Strahlen zeugte vom Stolz, den der Larhun gerade verspürte.

Hätte doch auch Sunyu nur einmal im Leben so stolz sein können. Früher hatte er geglaubt, dass er stolz wäre, wenn er etwas erreicht hätte, doch nun sass er auf dem Thron und fühlte sich leer, wie die Strohpuppe einiger Männer, ein Sklave seines eigenen Gewissens – das er eigentlich weggesperrt hatte. Bis Tindra zu seiner Befreiung in Grimsvik angekommen war, hatte das auch ganz gut funktioniert.

»Unter den Reichen der Larhun schlummern Vulkane. Die Berge in Kvora und die Drachenberge sind jedoch nicht vulkanischen Ursprungs. Hier sind die Voraussetzungen für Metalle demnach ganz andere als an anderen Orten. Vihtan findest du in den Nebelreichen nicht. Beim Grauen und den Göttinnen, wir haben es schon oft genug versucht.«

Dass der Larhun die beiden Göttinnen Seylani und Doana im selben Atemzug mit dem Grauen nannte, fiel Sunyu noch immer auf. Aus Steinwacht kannte er nur Seylani und Doana, wobei die Dunkle Göttin im Gegensatz zu ihrer Schwester eine untergeordnete Rolle spielte. Dennoch hatte er persönlich Doana gemocht. Er konnte ja nicht Seylani anbeten und ihren Hintern in jedem zweiten Satz verfluchen.

Ein wenig überfordert strich sich Sunyu durch die Haare. »Sie wollen etwas anderes in den Nebelreichen.«

Bram nickte. »Zwei andere Dinge: Holz und Krieg.«

»Krieg?« Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand anderes sich freute, seine Klinge in lebendes Fleisch zu bohren.

Geräuschvoll kratzte sich Bram am Bart. »Ja, aber sie wollen ihn nicht anzetteln. Jedenfalls vermute ich das.« Die Denkpause war nur kurz. »Überleg doch. Wenn sie offen gegen uns vorgehen, werden die anderen Länder ihnen nicht folgen. Also haben sie mit den Scharmützeln angefangen, einzelne Schiffe der Larhun versenkt, zwischendurch eine Siedlung oder gar Stadt angegriffen. Einmal hat es sogar die Nichte einer Fürstin auf ihrer Reise erwischt, aber die wollte sie sowieso loswerden, also befand sie den Verlust für nicht besonders tragisch.«

Leise lachte Sunyu in sich hinein. Das sah den Larhun ähnlich.

»Irgendwann haben die beiden Fürstinnen Trianne und Mariogga im Norden unserer Reiche ihrerseits begonnen, kleine Blitzangriffe auszuführen. Dafür haben sie ihre besten Soldaten in zwei oder drei Gruppen durch Kvora geschickt.«

»Also hofften sie, dass die anderen Länder Mra’Theels gemeinsam mit ihnen gegen uns vorgehen werden.«

Bram nickte seufzend. »Das taten sie ja dann auch, nur wurden sie von den Kvor im Stich gelassen. Der Grund dafür bleibt mir schleierhaft.«

Sunyu schwieg, auch er fand keine Antwort auf die Frage.

»Ausserdem haben uns zwei Meldungen erreicht«, informierte Bram ihn wie nebenbei. »Jemand hat Djord komplett ausgelöscht, und ein Lager der Kvor mit drei ihrer verfluchten Käfer wurde bis auf einen Mann vernichtet. Der Überlebende sprach von einer Frau.«

Zorn

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Sunyu

Bei Seylanis dürrem Arsch, wer auch immer hier gewütet hatte, zerstörte gründlicher als ein Orkan. Seufzend erhob sich Sunyu. Im weichen Waldboden zeigten Spuren ein faszinierendes Muster aus Schritten und Sprüngen. Der Kämpfer wusste mit einem Schwert umzugehen, die Stiche waren präzise ausgeführt, Hände sauber abgetrennt worden.

Auch als er sich zum wiederholten Male im Lager umsah, erkannte er keine Auffälligkeiten. Es war ruhig, als würden die Kvor in den Zelten schlafen – nur lagen auch dort Leichen.

Bram trat zu ihm, das Schwert noch immer in der Hand. »Das stinkt mir gewaltig.«

Mit einem breiten Grinsen drehte sich Sunyu zu seinem Offizier um. »Das liegt daran, dass hier Leichen liegen. Beim Verwesen fangen die an zu stinken. Ist ganz normal.«

»Werd bloss nicht frech, Bürschchen.«

Sunyu lachte unwillkürlich auf. Sein Körper schüttelte sich, vibrierte mit dem Ton, der aus seiner Kehle drang. Es war ein merkwürdiges Gefühl, befreiend und beängstigend zugleich. So lange hatte er nicht mehr von Herzen gelacht, hatte sich in seinem schlechten Leben und Selbstmitleid gewälzt, ohne selbst etwas an der Situation zu ändern. Nun rollte dieses Lachen über ihn hinweg, liess die Sonne scheinen und brachte seine Lebensfreude für die Dauer eines Augenblicks zurück.

Als der Offizier sein Schwert in die Scheide schob, grinste er offen. »Es tut gut, dich so zu sehen«, gab er zu, um im nächsten Augenblick einen der toten Kvor zu mustern. »Der hat die Hosen unten. Vielleicht wurde er im Schlaf überrascht.« Schulterzuckend drehte er sich weg und trat neben sein Pferd. Wortlos stieg er auf, um den Hengst zu wenden.

Deutlicher konnte der Offizier sein Unbehagen nicht ausdrücken. Zum Leichengestank gesellte sich die Gewissheit, dass hier jemand Käfer und Soldaten problemlos umgebracht hatte. Niedergemetzelt. Den Spuren nach zu urteilen handelte es sich um einen Einzelkämpfer. Im Vergleich zu den gepanzerten Biestern waren ein Larhun und ein Bastard leichte Beute.

Sunyus Schwert verhielt sich ruhig. Solange sich das nicht änderte, konnte er bedenkenlos durch Mra’Theel wandeln, da war er sich sicher. Spätestens seit dem Kampf um Kleifar, als die Flamme und das Schwert etliche Käfer und Soldaten der Kvor in den Tod gerissen hatten, vertraute er der Waffe mehr als seinem eigenen Instinkt. Weltenspalter war nun seine Intuition, sein Bauchgefühl, auf das er sich nicht nur im Kampf verliess.

Nachdenklich folgte er Bram. Der schwere Leichengeruch kitzelte ihn in der Nase, auch wenn er noch nicht stark war. Zu sehen gab es nicht mehr, als sie schon gesehen hatten.

Schweigend ritten sie weiter, bis sie auf einer Anhöhe einen trockenen Platz unter zwei Tannen fanden. Sie holten den Proviant aus den Satteltaschen und bissen hungrig in die mit Fleisch und gebratenem Gemüse gefüllten Fladenbrote. Die Köstlichkeiten waren beim gestrigen Fest übrig geblieben. Wenn er weiterhin so bevorzugt behandelt wurde, konnte er sich das Leben als Fürst sogar vorstellen.

Die dunklen Tannenbäume kratzten am Bauch des Nebels, als wollten sie ihn damit vertreiben, doch je mehr sie ihn ärgerten, desto dichter wurde er. Durch die düstere Umgebung und die Feuchtigkeit in der Luft konnte Sunyu gerade noch drei oder vier Baumreihen weit sehen, bevor alles im grauen Nichts verschwand.

Unerwartet zuckte sein Schwert, ohne dass er es berührte. Er sah sich um und lauschte, hörte jedoch nichts. Ein Kribbeln in seinem Nacken warnte ihn.

»Ist was?« Bram hob nur kurz den Blick, ehe er den letzten Bissen seines Mittagessens verschlang.

Unsicher legte Sunyu die Hand ans Heft und schloss die Augen. Er konzentrierte sich auf den Wind, der ihm die Geräusche der Umgebung wie von Zauberhand zutrug, wenn er es wollte, doch heute blieb er still. Es gab keinen Wind, dem er zuhören konnte. Zögernd schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Ohne sein Zutun rief Weltenspalter nach seiner Hand. Die schwarze Klinge sprang ihm entgegen, liess ihn herumwirbeln. Im selben Moment hallte der helle Ton von sich kreuzenden Schwertern durch die Luft. An der Nase konnte er sogar einen Lufthauch spüren, so nah war die gegnerische Waffe. Das grünlich blau schimmernde Schwert entfernte sich, um neu auszuholen.

Fassungslos liess ihn das leuchtende Schwert zurück. Sunyu starrte zu der Stelle, an der es verschwunden war. Er kannte sein eigenes Werk, das er unbewusst für Tindra geschmiedet und ihr mit auf den Weg in ihr neues Leben gegeben hatte. Bei Doanas Neuanfang hatte sie gut bewaffnet sein sollen. Niemals hätte jemand sie wieder so ausnutzen können, wie die Männer es im Diesseits dachten.

Doch Tindra war tot und jemand anderes trug ihr Schwert.

Seine schwarze Klinge führte ihn, liess ihn sich unter dem zweiten Schlag hinwegducken. Sunyu rollte über den Boden, stiess mit der Schulter gegen eine Wurzel und ignorierte den brennenden Schmerz.

Siegessicher wirbelte er herum. So schnell konnte der Angreifer gar nicht sein. Weltenspalter führte ihn, würde jeden Angriff schon lange vor dem Beginn vorhersehen. Doch zu seinem Entsetzen schoss die Waffe nach oben, um den Schlag im allerletzten Moment abzufangen. Sein Kopf wäre sonst um eine Gehirnhälfte leichter gewesen.

Bei Seylanis vertrocknetem Arsch, was sollte das?

Sunyu rief die blutroten Flammen. Sie schossen in sein Schwert und liessen es in Erwartung eines blutigen Kampfes aufleuchten, dunkel und gleichzeitig strahlend.

Er liess sich nach vorn fallen, doch der Unbekannte war schon wieder verschwunden und attackierte von hinten. Einmal parierte Weltenspalter, ein zweites Mal. Schritt für Schritt, Angriff für Angriff wich Sunyu zurück.

Erst jetzt fielen ihm die frühlingsgrünen Augen auf, die unheilvoll glühten, und der tanzende Zopf. Hätte sich sein Schwert nicht über die Flammen mit Sunyu verbunden, hätte er es fallen lassen und wäre gestorben. Ein einziger präziser Schlag hätte ihn zum wiederholten Male fast den Kopf gekostet.

»Tindra!«

Bei Doana, es war Tindra! Sie lebte! Erleichtert atmete er aus, jegliche Spannung fiel von ihm ab, ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Sobald sie realisierte, wer vor ihr stand …

Doch die junge Frau hielt nicht in ihrem tödlichen Tanz inne. Ihre Blicke begegneten sich. Ohne Anzeichen, dass sie ihn erkannt hatte, hieb sie weiter auf ihn ein, drängte ihn zurück, bis ihn ein Baum im Rücken stoppte.

»Tindra«, versuchte er erneut, sie mit sanfter Stimme zu erreichen, doch sie zögerte keinen Augenblick.

Als ihm ihre Gleichgültigkeit bewusst wurde, knurrte er und verzog den Mund zu einem wütenden Grinsen. Diesmal loderten die Flammen aus dem Schwert hoch auf, stoben gen Himmel und verloren sich. Zornig leckten sie an der Klinge und an allem, was sie berührten. Er holte weit aus, das Feuer brannte hell. Weltenspalter sauste wie ein Wirbelwind auf Tindra nieder. Im letzten Moment wollte Sunyu innehalten. Ihr Kopf! Er durfte ihren Kopf nicht spalten!

Die Luft um sie herum vibrierte, als die beiden ebenbürtigen Klingen aufeinanderprallten. Tindra stöhnte, hielt dem Angriff jedoch stand. Als sich die Schwerter voneinander lösten, sprang sie zurück.

Beim nächsten Angriff wich Tindra weiter von ihm weg. Es war nur ein kleiner Schritt, doch grössere würden folgen. Bis sie nicht entwaffnet vor ihm stand, würde er mit aller Härte gegen sie vorgehen. Er war Sunyu, Fürst von Grimsvik, Vilgrims Mörder und Eskilds Sohn.

Das schwarze Schwert, das alles Licht schluckte, und die grünlich blaue, schmale Klinge, die Tindra zu einem tödlichen Berserker werden liess, tanzten miteinander. Fasziniert lauschte Sunyu dem Klang, der sich als Melodie in den Himmel erhob, beobachtete die Spuren im Nebel, die sie hinterliessen, bis sie beide mit gekreuzten Klingen innehielten.

Tindra würde ihn nicht besiegen, doch er sie auch nicht.

Sunyu atmete beinahe so heftig wie sie. Wo hatte sie nur kämpfen gelernt? Wann? Obwohl er lächelte, wich die Kälte in ihren Augen nicht. Sie verstärkte sich eher. Hass. Es war nichts als blanker, purer Hass.

Sunyu erstarrte, alles Leben wich von ihm. Ein wilder Sturm fegte jeden Gedanken hinfort, der sich noch einen Wimpernschlag zuvor vor seinem inneren Auge geformt hatte. Er verlor sich in ihrer Abscheu, wusste, dass sie ihm mit jedem Atemzug schaden wollte. Sie hatte von Anfang an gewusst, gegen wen sie kämpfte. Es war kein Versehen, keine blinde Wut, sondern ein Mordversuch.

Mit einem dumpfen Geräusch fiel Weltenspalter auf den Boden. Tindra hasste ihn.

Unfähig, sich zu rühren, beobachtete er, wie sich das grünlich blaue Schwert auf seinen Hals zubewegte. Dahinter blitzten Tindras wunderbare Augen auf, warm und gleichzeitig so kalt.

Hätte er sie doch nur besser behandelt. Hätte er ihr doch nur gesagt, was gesagt werden musste.

In Erwartung seines Todes schloss Sunyu die Augen. Wenn sein Ableben ihr grösster Wunsch war, konnte er ihr wenigstens diesen erfüllen. Doch der erwartete Stoss blieb aus. Stattdessen hörte er Tindras lauten Atem. Vermutlich hätte er ihn auch spüren können, wenn sie nicht zu klein dafür gewesen wäre und deshalb gegen seine Brust geatmet hätte.

»Du hast Arin auf dem Gewissen!«, schrie sie und presste dabei ihr Schwert gegen seinen Hals. Erstaunlich, dass es noch nicht schnitt, so viel Druck, wie sie aufbaute. »Er war … Er ist …« Sie schnaubte. »Verdammte Scheisse!«

Nur zögerlich liess Sunyu die Luft aus seiner Lunge weichen und wagte es endlich, sie anzusehen. Eine Klinge am Hals ermutigte nicht wirklich zu einem lockeren Flirt.

Tindras Augen funkelten zornig. In ihnen standen der Abgrund der Welt und ein verräterisches Funkeln. Ihr Atem ging unruhig, doch er befürchtete, dass es mehr mit ihren überschäumenden Gefühlen zu tun hatte als mit dem Kampf. Wüsste er es nicht besser, würde er behaupten, all die Wärme wäre aus ihrem Leben gewichen.

Wusste er es denn besser?

Er schluckte, sodass die Klinge fester gegen seinen Hals drückte. Dennoch begegnete er ihrem vor Hass und Ablehnung glühenden Blick. Sie wünschte ihm den Tod von Herzen. Auch wenn das Schwert nicht schnitt, könnte Tindra ihn noch erwürgen – wäre er nicht zwei Köpfe grösser als sie und deutlich stärker. Mit nur einem Arm würde er es schaffen, sie zu Boden zu ringen.

»Du hast Glück, dass Klingentanz seinen Schöpfer erkennt«, zischte sie. Die Verachtung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Er hatte es geahnt. Jede Frau würde ihn am Ende des Tages für das hassen, was er war: ein Bastard, ein Mischling, weder Larhun noch Mensch. Ausserdem trug die Geschichte mit seinem Vater nicht zu viel Vertrauen und Sympathie bei und seine Verletzungen machten ihn zu einem hässlichen Mann.

»Du lebst«, sagte er plump. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Falls es überhaupt noch möglich war, blitzten die Funken in ihren dunklen Augen noch zorniger. »Du hast mein Leben zerstört, du verdammter Idiot!« Sie trat noch ein bisschen näher. »Arin wollte mich zu einer geachteten Frau machen, und du hattest nichts anderes zu tun, als ihn mir zu nehmen. Irgendwann befördere ich dich eigenhändig in ein neues Leben. Eine Schande, dass Doana auch einem Bastard wie dir einen Neuanfang gewährt.« Tindras Augen verengten sich noch mehr. »Entschuldige, Bastard ist viel zu nett für einen Verräter wie dich.«

Sie wandte sich von ihm ab und stapfte in den Nebel hinein, während Sunyu ihr fassungslos hinterhersah. Er hatte sie doch gerade erst wiedergefunden, sie durfte nicht wieder verschwinden. »Klingentanz ist ein passender Name.«

Tindra hob eine zur Faust geballte Hand und streckte den Mittelfinger, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.

Bram lachte laut. Nicht einmal Sunyus strafender Blick liess ihn verstummen. Dieser Verräter.

»Was willst du nun tun?« Irgendwie musste er sie daran hindern, im Nebel zu verschwinden. »Wir haben Essen.«

Brams Lachen wurde noch lauter. »So willst du eine Frau bei dir behalten? Schon im Freudenhaus hast du dich nicht besonders begabt gezeigt.«

»Sei still!«, zischte Sunyu und hoffte, dass Tindra Bram nicht gehört hatte.

Mit einem abschätzigen Blick über die Schulter blieb sie stehen. »Meine Pläne gehen dich einen feuchten Scheissdreck an.« Sie hielt kurz inne, zögerte, doch die Kälte in ihren Augen liess ihn frösteln. »Arin konnte Frauen übrigens wunderbar beglücken.«

Sunyu eilte ihr mit grossen Schritten hinterher und packte sie an der Schulter, um sich zu erklären, wie er im Freudenhaus gelandet war und …

Wie ein brennender Blitzschlag schoss der von Tindra ausgehende Schmerz in seinen Arm, jagte durch ihn hindurch und zwang ihn mit einem erstickten Stöhnen in die Knie. Um nicht zu schreien, sich nicht noch weiter zu blamieren, presste er die Lippen aufeinander. Bei Seylanis dürrem Arsch und ihrem verfaulten Zeh, was für eine Scheisse war das denn?

Für einen Wimpernschlag blitzte in ihren Augen dieselbe Frage auf, ehe sie ihn abweisend musterte. »Ich werde deinen fickenden Fürsten richten.«

»Tindra, das bist nicht du.« Dieselben Worte. Es waren genau dieselben Worte, mit denen sie ihn an einer dummen Tat gehindert hatte. Er bemerkte es zu spät. Am liebsten hätte er sie zurückgenommen, sie ungesagt, ungehört gemacht. »Du fluchst nicht so. Du bist … anders.«

Ihre Kälte stellte gar Vilgrims Eis in den Schatten. »Ich war anders.« Als sie sich abermals umdrehte, war es ein Abschied für immer. Entweder akzeptierte er es oder riskierte eine Klinge an seinem Hals.

»Tindra, ich …«

Er hatte ihre Drehung nicht kommen sehen. Ehe er sich auch nur auf die Beine kämpfen konnte, presste sie ein kaltes Stück Metall an seine Brust. Die Waffe schimmerte nicht, war aus gewöhnlichem Stahl gefertigt, keine Magie würde sie am Töten hindern.

»Ich habe ihn umgebracht«, brachte Sunyu mit gepresster Stimme hervor.

Das Erstaunen in Tindras Zügen und der leicht offene Mund liessen ihn hoffen. Sie würde einsehen, dass es nichts brachte, einfach zu verschwinden. Das hier war eine Chance, vielleicht gar ein Neuanfang, der ihm mit ihr geschenkt wurde. Ein Wunder der Dunklen Göttin, ein Zeichen ihrer Gnade.

Doch die aufziehenden Wolken in Tindras normalerweise frühlingsgrünen, warmen Augen zerstörten jegliche Hoffnung im Keim. Wie ein Wintersturm fegten sie über ihn hinweg, bis auch die kräftigsten Pflanzen erfroren. »Also bist du nun ihr Fürst?«

Er zögerte. Wie auch immer seine Antwort ausfiel, er konnte nur verlieren. Bei Seylanis dürrem Arsch, seit wann gab er so viel auf ihre Meinung? »Ich bin der Fürst von Grimsvik.«

Tindra schien in sich zusammenzufallen, als sie die Tragweite seiner Worte begriff, realisierte, dass es kein Zurück mehr gab. Sie wandte den Blick in die Ferne, zog die Nase hoch und nahm das Schwert von seiner Brust weg. Entschlossen stiess sie es in die Scheide.

»Es tut mir leid«, flüsterte er.

Als sie Luft holte, zitterte Tindra. »Sieh zu, dass du mir nicht noch einmal über den Weg läufst. Das nächste Mal bringe ich dich um. Trotz deines Schwertes.« Sie bückte sich und zog Weltenspalter aus seiner Scheide. Sunyus Flammen gierten nach ihrem Blut, bohrten sich in ihr Fleisch, doch er rief sie rigoros zurück.

Schmerzhaft verbiss sich sein Schwert in ihrer Hand und zehrte von ihrer Kraft, um sie ihm zu geben. Es war kaum ein Rinnsal, dennoch musste es sich für sie anfühlen wie hundert eiskalte Stacheln, die sich tief in ihr Fleisch bohrten. Sie verzog das Gesicht nur ein wenig. Vilgrim hätte um Gnade gewinselt.

»Wieso tötest du mich nicht gleich?« Bettelte er etwa um seinen eigenen Tod?

Auf ihren Lippen zeichnete sich ein kaltes Lächeln ab. »Ich sehe es in deinen Augen. Du wirst leiden – in deinen Träumen, in Erinnerungen. Dir den Tod zu schenken wäre zu gnädig, denn Doanas Neuanfang kann nicht ansatzweise so grausam sein wie dein jetziges Leben. Du verdammtes Arschloch hast mir alles genommen, und ich schenke dir das, was du niemals wolltest.«

Ihre tonlose Stimme jagte ihm einen Schauder über den Rücken, liess ihn innerlich frösteln. Wo war Tindra geblieben, die lachende, unbeschwerte Frau, die er in Steinwacht kennengelernt hatte?

»Ich hasse dich.«

Obwohl sie nur flüsterte, stach jedes Wort wie ein Messer in seine Brust und schnürte ihm die Kehle zu. Er hielt den Atem an, als er ihren harten Blick erwiderte. Das war keine Einbildung, sie hatte es tatsächlich gesagt. Kalt und überlegt und gefühllos.

Sie hasste ihn.

Sie wollte ihm das Leben rauben.

Mit diesen Worten hatte sie ihm mehr geraubt, als er jemals besessen hatte.

Hölle

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Tindra

»Hungrig hasst es sich so schlecht. Aber wenn du möchtest, lädt dich der Fürst von Grimsvik zum Essen ein.«

Verwirrt von Sunyus Worten, hielt Tindra einen Moment inne und starrte ihn verständnislos an. Wie konnte er in diesem Moment so etwas sagen? Dabei glaubte sie, die Wunde ihrer Worte in seinem Inneren gesehen zu haben. Doch sicher war sie sich nicht.

Der Fürst deutete zu ihrem Lager. »Die Fladenbrotrollen schmecken wirklich.«

Allein beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen, der Magen knurrte. Sunyu wagte ein unsicheres Lächeln.

Sie setzte sich weit weg von Sunyu und Bram. Der Offizier brachte ihr eine Auswahl an Früchten, Fleisch und die gelobten Fladenbrotrollen. Sie rochen köstlich.

Während sie ihren Hunger stillte, beobachtete sie die beiden Männer. Bram erwiderte ihren Blick, während Sunyu mit hängendem Kopf auf seine Hände starrte und in Gedanken weit weg schien. Sie hatte seinen und Vilgrims Tod gewollt. Dass Vilgrim seinen Kopf schon verloren hatte, kam ihr entgegen, auch wenn sie ihn gern selbst rollen gesehen hätte. Doch dass Sunyu nun Fürst war, hatte ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. Und er schien keineswegs unglücklich darüber, im Gegenteil.

Vielleicht hatte eine kleine, naive Tindra in ihr geglaubt, dass er sich noch ändern konnte. Dass er seine Gründe hatte, sich auf Vilgrims Seite zu stellen. Dass er, ganz tief in seinem Inneren, noch immer der Junge mit den Haselnussaugen war, der sie am ersten Schultag in Steinwacht angelächelt hatte.

Nun wirkte Sunyu entspannter und glücklicher, als sie es jemals erlebt hatte, obwohl er sich wie ein geschlagener Hund verhielt. Er wollte Fürst sein, über andere herrschen und den Larhun dienen.

Nachdenklich betrachtete sie Klingentanz. Ihre Worte hatten tiefere Wunden geschlagen als die Waffe. Sie hatten Sunyu die Hoffnung gestohlen und die Freude getötet. Wenn sie nun noch eine Klinge tief genug in seinen Hals bohren könnte, sodass das Leben seinen Körper verlassen würde, hätte sie ihr Ziel erreicht – oder sie liess ihn an ihren Worten verbluten. Verlockende Aussichten.

Als sie Bram betrachtete, zeigte sich ein einseitiges Schmunzeln in seinem Gesicht. »Hast du Djord ausgelöscht?«

Ahnungslos schüttelte sie den Kopf. »Wer ist das?«

Der Offizier seufzte, um sich zu Sunyu umzudrehen. »Dann müssen wir dort noch nach dem Rechten sehen. Wer in einer einzigen Nacht eine ganze Stadt tötet, den muss man ernst nehmen.«

Sunyu brummte. Genau so kannte sie ihn. Er wich dem Blick des Offiziers aus und liess die Hand unauffällig über das Heft seiner Furcht einflössenden, schwarzen Klinge streichen.

Tindra verengte die Augen. Sunyu hatte etwas zu verbergen. Um das zu erkennen, kannte sie ihn lange genug. »Du warst das.« Ihr Finger zeigte anklagend auf den Fürsten.

Der junge Schmied hob den Kopf, haselnussbraune Augen fixierten sie. Er schluckte. Für einen winzigen Augenblick sah Tindra den Jungen, den sie in der Vision von Seylanis Priesterin gesehen hatte, das Kind, das lachte. Es mischte sich mit dem Anblick desjenigen, der ihr am ersten Schultag freundlich Hallo gesagt, und mit dem, der ihr in der Schmiede jeden Tag das Leben zur Hölle gemacht hatte. Dabei war sein eigenes Leben schlimmer als jede Hölle gewesen. Inzwischen wusste sie das, Seylanis Priesterin hatte es ihr gezeigt.

»Du bist so von Hass zerfressen, Sunyu, dass du mir schon fast leidtust. Was du erlebt hast, ist nicht einfach, aber das Recht, so viele andere Leben zu nehmen, hast du nicht.«

Er schnaubte. »Du aber schon?«

Als hätte er sie geschlagen, zuckte sie zusammen.

»Bist du nicht auch von Hass zerfressen? Von dem Gedanken nach Rache? Du wolltest doch Vilgrims und meinen Kopf rollen sehen.« Erregt sprang Sunyu auf und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. »Du wolltest gegen die Nebelreiche vorgehen, nein, du bist gegen sie vorgegangen. Du hast Leben zerstört, Kindern ihre Väter genommen, Frauen zu Witwen gemacht.«

Trotzig sah Tindra zu ihm auf. »Na und? Die Larhun sind Mra’Theels Abschaum. Keiner stört sich daran, wenn sie endlich verschwinden.« Gelassen zuckte sie mit den Schultern.

Seine Augen zitterten, als er ihren Blick auffing und ihn festhielt. Gezwungen ruhig tat er einen Atemzug. »Die Larhun haben mir das gegeben, was ich für mich verloren geglaubt hatte: Leben.«

»Ha!«, rief Tindra, doch unter seinem Blick fühlte sie sich nicht mehr halb so selbstsicher wie noch wenige Momente zuvor. »Ist ja auch nicht schwer bei dir. Was weisst du denn schon vom Leben? Leben ist nicht, genug Essen und Trinken zu haben oder dass man mit Leuten sprechen kann. Leben ist ein Gefühl. Wenn man hofft, sich freut, bangt, liebt. All das gehört zum Leben. Vor allem die Liebe.« Auf einmal war ihre Stimme ganz ruhig geworden. In Gedanken wanderte sie zu Arin, zu seinem Lachen und der Wärme, die er stets ausgestrahlt hatte.

Und sie hatte von diesem Idioten geträumt, der vor ihr stand und ihr zu erklären versuchte, was im Leben wichtig war. Langsam erhob sie sich und blinzelte, um das Brennen ihrer Augen zu löschen. Alles wirkte so dunkel und leer, so unglaublich gross, dass sie fürchtete, darin zu versinken. Niemand würde jemals in der Lage sein, diesen Schmerz in ihr zu lindern. Der Bote war ihr Rettungsanker gewesen, derjenige, der sie im Schwimmen unterrichtet hatte. Dummerweise hatte ihn jemand mit seinem Feuer verbrannt, bevor sie es gelernt hatte.

»Aber was weisst du denn schon von Liebe?«, flüsterte sie. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und entfernte sich von den beiden. Sie wollte allein sein. Ihre Pläne, die Schuldigen für Arins Tod zu richten, waren so zerrissen wie ihr Leben.

»Lass es mich dir zeigen«, erklang Sunyus raue Stimme hinter ihr.

Sie schluckte und schloss die Augen. Ihr Herz machte einen verbotenen Satz, als die Worte bis zu ihm drangen und die Sehnsucht nach einem Freund aufblühen liessen. Er klang so unglaublich weich und warm. Ein bisschen kehlig vielleicht, wie es typisch für einen Larhun war. Es erinnerte sie an den ersten Tag in Steinwacht, als er sie mit einem Lächeln begrüsst hatte. Heute war er mit dem verätzten Gesicht, den Narben und dem harten Ausdruck auf seinen Zügen kaum mehr wiederzuerkennen. Und dennoch träumte sie von ihm.

»Verdammt, Tindra!« Trotz des Fluches hörte er sich sanft an. »Die Larhun tragen dieselben Hoffnungen, Ängste und Gefühle in sich wie wir auch. Lass es mich dir zeigen – bitte«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

Seit wann zeigte sich Sunyu so verletzlich?

Schritte näherten sich ihr, einzelne trockene Tannennadeln brachen unter seinem Gewicht.

»Wieso kann ich dich nicht töten?«, flüsterte sie und schloss dabei die Augen. Ein Kloss sass in ihrem Hals, dennoch zwang sie die nächsten Worte hervor. »Ich hasse dich, Sunyu.« Sie wusste ganz genau, dass er sie verstand. Sie hörte sein Schlucken. »Du ziehst eine Spur aus Tod und Zerstörung hinter dir her. In deinem Herzen trägst du Verachtung und Hass. Wieso gehst du nicht einfach?« Noch immer hielt sie die Augen geschlossen und besann sich darauf, was Sunyu alles getan hatte. »Ich dachte immer, da drin wohnt sicher noch irgendwo der Junge, der mich am ersten Schultag so freundlich begrüsst hat. Doch er ist tot, nicht wahr?«

Tindra rechnete nicht mehr mit einer Antwort, als er schliesslich mit der Hand über die Stoppeln an seinem Kopf strich. »Weil ich keine Wahl hatte.«

»Ich auch nicht«, schoss es aus ihr heraus. Erschrocken riss sie die Augen auf und drehte sich zu dem Fürsten um. So zugänglich hatte sie ihn noch nie erlebt. Er starrte sie mit zusammengepressten Lippen an, die Blicke zuckten zwischen ihren Augen hin und her.

Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. In Steinwacht hatte er es geliebt, sich zu präsentieren, seinen gestählten Körper, den perfekt getrimmten Bart. Er war stolz gewesen, dass ihn die Frauen so sehr bewundert hatten. Doch mit verätztem Gesicht und dem verletzten Drachen auf der Brust sprach Verachtung aus jeder seiner Bewegungen. Vielleicht hasste er Mra’Theel, vielleicht hasste er sie, Tindra. Doch kein Hass der Welt kam an den heran, den er sich selbst gegenüber fühlte.

Sunyu nickte bedächtig. »Haben wir jetzt eine Wahl?«

Sie versuchte, ihn möglichst fest anzusehen, doch sie spürte, wie sie immer wieder abschweifte. »Du schon.«

Ein feines Lächeln zeigte sich auf seinen schmalen Lippen. »Nicht wirklich. Ich bin Grimsvik verpflichtet. Egal, wie beschissen es mir geht, ich muss in erster Linie an die Bevölkerung denken.«

Sie nickte, obwohl sie es nicht verstand. Sunyu hatte sich noch nie um andere gekümmert.

»Doch du bist frei.«

Mit angehaltenem Atem sah sie ihn an. Am liebsten wäre sie zurückgewichen, um vor seinen Worten zu fliehen. Sie wollte nicht, dass er weitersprach. Sie musste ihn von ganzem Herzen hassen, damit sie kein Mitleid empfand, wenn er eines Tages ging. Aber sie fürchtete, dass sie ihn für das, was er jetzt sagen würde, vielleicht sogar mögen könnte.

Sunyu lächelte leicht. »Du bist Freiwild – frei und wild.«

Tindra liess ihren Atem nur langsam entweichen, sog jede seiner Regungen in sich auf. Sie wusste, dass er sie nicht für das achtete, was sie war, im Gegenteil: Er verachtete sie. Dennoch fürchtete sie, dass genau diese ehrlichen Worte es ihr eines Tages schwermachen würden, Rache an ihm zu nehmen.

»Du verlogenes Arschloch.« Sie musste sich selbst schützen. Um ihm nicht noch mehr von sich selbst zu verraten, verengte sie die Augen. Er sollte sie nicht lesen wie sonst immer.

Dessen ungeachtet nickte Sunyu in Richtung ihres Schwertes. »Was wirst du jetzt tun?«

»Töten.« Wenigstens ein kleines, erschrockenes Aufblitzen in seinen Augen liess sie innerlich jubeln. Sie zuckte mit den Schultern, ein ungewolltes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Dabei sollte er ruhig denken, dass sie seine Leute auslöschen würde. »Indem du Arin zu Doana befördert hast, nahmst du mir alles, was ich noch hatte. Doch du machst mir richtig Mut: Ich bin wild und frei. Irgendeine Zukunft werde ich schon haben – im Freudenhaus zum Beispiel. Ich bin Abschaum, ein Dorn im Auge der Gesellschaft. Egal, was ich tue, es interessiert niemanden.«

Sunyu hob die Hand an sein Kinn und strich über die verätzte Stelle. Ihrer Abneigung zum Trotz schmerzte es sie, ihn so verletzt zu sehen. Das hatte sie sich nicht für ihn gewünscht.

Er wandte sich ab. »Mich«, flüsterte er so leise, dass sie es fast nicht hörte.

Tindra schnaubte verächtlich und hoffte insgeheim, dass er weitersprechen würde. Jemand, der an ihrer Seite stand. Jemand, dem wichtig war, was sie tat. Auch wenn es Sunyu war. Auch wenn es der Mensch war, den sie von allen am meisten verachtete.

»Ich will nicht, dass du so wirst wie ich.« Er räusperte sich. »Wenn du mich begleitest, kann ich dich beschützen.«

Er bot ihr einen Traum an – nur dass sie in ihrem Traum an Arins Seite stand und nicht an Sunyus. »Ich muss nicht beschützt werden«, entgegnete sie härter als gewollt. Doch es war besser so.

»Ich weiss.« Sunyu lächelte schwach, dennoch ein wenig stolz. »Doch den Kampf gegen den alles zerstörenden Hass gewinnt man nicht mit der Klinge. Der Kampf gegen sich selbst ist der schwerste von allen.«

Sie hätte kämpfen sollen, bis einer von ihnen am Boden elendig verblutet wäre. Er sollte auf keinen Fall glauben, dass sie ihn mit einem sauberen Stich ins Herz getötet hätte. »Wieso schmierst du mir Nebelwein um den Mund?«

»Hättest du ihn lieber getrunken?«

Das verschmitzte Lächeln warf sie komplett aus der Bahn. Stumm starrte sie ihn an. Nur ihr Herz klopfte lauter, als sie es ihm erlaubt hatte. Seine haselnussbraunen Augen begegneten ihrem Blick offen und ehrlich, so wie in dem Moment, als er sie erkannt hatte.

Wieder floh ein Lächeln aus dem Gefängnis, in das sie es gesperrt hatte. »Auf jeden Fall würde es mehr nützen.« Sie hätte gern ruppiger geklungen, weniger aufgeschlossen, doch ihr Körper führte ein fieses Eigenleben. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie ihn umbringen wollen.

Nun stand er mit seinem schelmischen Grinsen vor ihr und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich glaube, wir haben eine Flasche dabei.«

»Du willst mich abfüllen? Jetzt?« Fassungslos schüttelte Tindra den Kopf. »Hättest du doch nur nicht die Seiten gewechselt. Hättest du …« Sie schluckte, unsicher, ob sie die nächsten Worte sagen sollte, obwohl sie schon so lange in ihr brodelten. »Hättest du dieses Lächeln von Anfang an getragen …« Sie wäre ihm verfallen, mit Haut und Haar und Herz. Doch nun hatte er Arin auf dem Gewissen – und ihre Zukunft.

»Komm mit uns«, unterbrach Bram wie selbstverständlich ihre Unterhaltung, als wären sie Freunde und er würde sie zum Tee einladen.

»Über meine Leiche!« Sie warf erst Sunyu, dann Bram und wieder Sunyu einen erschrockenen Blick zu. Sie wollte nicht mit den beiden reisen. »Ich muss nach Erendal. Im Osten sind Kämpfe ausgebrochen. Abtrünnige Kvor wollen die Götter in die Tempel bringen und dabei Doana und Seylani vernichten. Es gibt niemanden mehr, der sich ihnen in den Weg stellen könnte. Ich kann nicht mit euch durch die Wälder watscheln und Käfer vernichten.« Die Irin verbündeten sich mit den Kvor, um die Larhun zu vernichten. Das hatten sie mit dem Angriff auf Grimsvik bewiesen. Womöglich wussten sie nicht einmal von der Gefahr aus den Drachenbergen.

Über Brams Lippen huschte ein Lächeln, das augenblicklich erstarb, als sie den Kopf schüttelte. Sie konnte nicht mit diesen beiden Verrätern mitgehen und sich zum Affen machen. Ein tiefes Seufzen entwich ihrer Kehle. Selbst als sie das Heft von Klingentanz berührte, spürte sie weder Wut noch Blutdurst – wenigstens etwas von beidem hatte sie erwartet. Das kalte Herz hätte ihr einen kühlen Kopf beschert und von der Angst abgelenkt. Drohende Einsamkeit bäumte sich unüberwindbar vor ihr auf, um ihr jegliche Aussicht auf eine normale Zukunft zu stehlen. Sie würde für immer ungeliebtes Freiwild bleiben.

»Sunyu.« Tindra blickte den Bastard herausfordernd an.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492131
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Magisches Feuer Magische Schwerter Fantasyroman Fantasyromantik Göttinnen High Fantasy Starke Frau Schmiedin Fantasy düster dark Romance

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Drachentanz