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Wenn wir durch den Regen tanzen

von Andrea Ego (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Wie dunkel darf der Schatten sein, wie kalt das Wasser, wenn du springst? Nach einem Schicksalsschlag ist für die junge Architektin Nela klar: Sie wird nie mehr tanzen. Als sie dem attraktiven Corvin begegnet, lässt sie sich von seinem Lachen und der Lebensfreude verzaubern. Doch er ist leidenschaftlicher Tänzer. Kann Nela weit genug springen, um ihre Schatten hinter sich zu lassen? Corvin berühren Nelas unsichtbare Verletzungen, und er möchte den Weg zurück auf die Tanzfläche mit ihr gehen. Doch jeder Schritt bringt sie näher an seine eigenen Wunden, die sie in die Flucht treiben könnten. Um sie nicht zu verlieren, verheimlicht er ihr seine Geschichte, doch damit verliert er auch Stück für Stück ihr Vertrauen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

***

Kein gesunder Mensch tanzt.

(Marcus Tullius Cicero)

Nelas Kopf hämmerte, als hätte sie drei Tage lang nicht geschlafen und keinen Tropfen getrunken. Gierig leerte sie ihre Wasserflasche, an der die Luftfeuchtigkeit zu winzigen Perlen kondensierte. Sie befeuchteten ihre Hand und beruhigten ihr erhitztes Gemüt ein wenig. Unfähiger Chef! Wie kam dieser überhaupt auf die bescheuerte Idee, innerhalb von sechs Tagen eine grosse Eröffnungsfeier organisieren zu wollen? »Habe es vergessen«, hatte er ihr nur patzig auf diese Frage geantwortet und sie aus dem Büro gescheucht.

Sie schüttelte den Kopf und massierte sich die Schläfen. Heute würde sie wieder bis weit nach Einbruch der Dunkelheit in ihrem Büro sitzen und die Verabredung mit ihren Freundinnen verpassen, morgen den geplanten Abend mit ihrer Schwester. Nela seufzte. Es war, als wollte ihr Chef sie absichtlich ins Messer laufen lassen.

Die Aussicht auf ihre dahinschmelzende Freizeit stimmte sie nicht fröhlicher, doch auch stilles Jammern half nichts. Sie musste diese Feier organisieren, und zwar in Windeseile. Nela nahm das Headset von der Halterung, setzte sich aufrecht hin und wählte mit flinken Fingern eine der Nummern, die sie in den letzten Monaten auswendig gelernt hatte, so oft, wie sie mit Herrn Zeller telefoniert hatte.

»Zimmermann, Zeller Holzbau AG, guten Tag.« Die männliche Stimme hörte sich warm und freundlich an. Sie hatte Herrn Zimmermann einmal auf der Baustelle getroffen, ein wenig Macho, mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen. Seinen Pfiff hatte sie nicht vergessen. Vielleicht sass ihm der Schalk zu fest im Nacken, um ernst zu bleiben.

»König, Schwab Architekten und Partner AG, guten Tag.« Sie seufzte so laut, dass er es bestimmt hören konnte. So kurz davor, ihren Chef in die Pfanne zu hauen, war sie noch nie gewesen. Eine kurze Bemerkung, was Herr Schwab verpasst hatte, und die Neuigkeit würde sich wie ein Lauffeuer in der Branche verbreiten. Immerhin hatte ihr Boss sie in die Scheisse geritten, indem er stets behauptete, alles für die Einweihungsfeier vorzubereiten oder wenigstens in Auftrag zu geben.

Nela konzentrierte sich auf das aktuelle Gespräch, auch wenn es ihr nicht leichtfiel. »Wie ausgebucht sind Sie?«

Ein leises Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Privat oder geschäftlich?«

Nela seufzte, diesmal so laut und genervt, dass er es unmöglich überhören konnte.

Einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann räusperte er sich. »Mehrere Wochen.«

Nela schloss die Augen. Genau das hatte sie befürchtet, als Herr Schwab ihr die frohe Kunde verkündet hatte. »Könnten Sie etwas dazwischenschieben?« In knappen Worten umriss sie Herrn Schwabs Vorstellungen der Feier am kommenden Samstag.

Herr Zimmermann lachte, als hätte sie den Witz des Jahres gerissen. »Sie wissen aber, dass es nur noch sechs Tage bis dahin sind?«

»Natürlich.« Das ist auch nicht auf meinem Mist gewachsen. Nela schluckte die Worte hinunter. Am liebsten hätte sie sich die ganze Wasserflasche in den Rachen gekippt. »Es tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe. Der ganze Bauablauf hat mich völlig in Beschlag genommen, und die Feier rückte in den Hintergrund.« Sie kam sich klein und nichtig vor, wie sie sich herausredete, auch wenn sie als Einzige die Herrschaften immer wieder auf die Feier hingewiesen hatte.

Herr Zimmermann rechnete ihr vor, wie lange sie für den angeforderten Pavillon brauchen würden, als hätte sie selbst keine Ahnung von Holzbau und Planung. Natürlich war er der Fachmann, doch sie hatte den Betrieb einmal besucht, um sich selbst ein Bild von der Arbeit zu machen. Ausserdem mochte sie den Geruch nach frisch gesägtem Holz.

Nela verbot sich eine bissige Bemerkung über ihren Chef und seufzte stattdessen leise. Sie hatte genug von diesem Scheiss. »Hören Sie, Herr Zimmermann. Wenn Sie den Auftrag annehmen, bin ich gern bereit, in einer Woche über unsere interne Planung zu sprechen und mich zu erklären. Falls Sie den Pavillon nicht rechtzeitig fertigstellen können, frage ich jemand anderen an.«

»Wir müssten Überstunden leisten«, gab er zu bedenken. »Aber für eine charmante Frau wie Sie werden wir uns ins Zeug legen.«

Sie rollte mit den Augen, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verwehren. »Es spielt keine Rolle, ob die Arbeit teurer wird. Hauptsache, dieser Pavillon steht am Samstag um drei Uhr.«

»Eine Einladung zum Essen hätte auch gereicht.« Herr Zimmermann lachte leise, aber es war kein hämisches oder gar schadenfrohes Lachen, sondern ein ehrlich erfreutes. »Einen Moment bitte. Ich muss das intern kurz besprechen.«

Der Hörer am anderen Ende der Leitung wurde auf den Tisch gelegt, Männerstimmen diskutierten im Hintergrund. Jemand murrte, Herr Zimmermanns Lachen folgte. Die beiden schienen sich wunderbar zu verstehen.

»Ich hab dir doch gleich gesagt, dass es mit dem Schwab irgendwann nicht mehr funktioniert«, warf jemand im Hintergrund ein. Mit jedem Wort wurde die Stimme lauter, als würde sich der Mann dem Telefon nähern. »Aber wenn wir den Auftrag nicht annehmen, verklagt er uns noch.«

Die anderen Männer lachten zustimmend, einer klatschte gar in die Hände.

»Ist das dein ausschlaggebendes Argument?«, vergewisserte sich Herr Zimmermann.

Zu gern hätte Nela gewusst, was der andere gesagt hatte.

Wieder folgte ein undurchdringliches Nuscheln, bis es am Hörer selbst raschelte und sich Herr Zimmermann meldete: »Sind Sie noch dran?«

Nur mit Mühe konnte sich Nela zu einem Lächeln durchringen. »Ja, selbstverständlich.«

»Sie können sich auf uns verlassen.«

Erleichtert atmete Nela aus und schloss die Augen. Jemand hatte zugesagt, der Infopavillon würde rechtzeitig stehen. »Vielen Dank, Herr Zimmermann. Sie wissen gar nicht …«

»Sie werden mir die Pläne noch heute mailen, ja?«, unterbrach er sie. »Wir haben keine Zeit, uns zu unterhalten, wir müssen einen Pavillon bauen.« Selbst durch die Leitung vermeinte Nela sein Zwinkern zu sehen.

Sie strich die Bluse glatt und nickte. »Auf jeden Fall.« Es blieb nur noch zu hoffen, dass ihr Chef die Unterlagen bereits erstellt hatte, doch beim Gedanken an die Pläne beschlich sie eine böse Vorahnung.

Mit flinken Fingern durchsuchte sie den Projektordner, sah im Planverzeichnis nach, dann in den drei falschen Unterordnern und stöhnte schliesslich genervt. Für diesen verfluchten Pavillon gab es nicht einmal eine Ideenskizze.

Ein Arbeitskollege in der Ecke lachte hämisch, und die Sekretärin, die alte Zwetschge, streckte ihren Hals, um Nela zu beobachten. Keine Minute später stand die dürre Fünfzigjährige auf, stöckelte zur Kaffeemaschine und verschwand mit einem heissen Kaffee in Herrn Schwabs Büro. Bestimmt würde sie sich wieder darüber auslassen, wie schlecht die junge Architektin arbeitete, die abgesehen von den beiden Sekretärinnen die einzige Frau im Team von gut vierzig Mitarbeitern war.

Nela biss die Zähne zusammen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Das hatte sie sich geschworen, als sie diesen Job vor gut zwei Jahren angenommen hatte. Dennoch fühlte sie sich wie eine Versagerin. Entgegen all ihren Vorsätzen hatte sie sich vor eineinhalb Wochen um eine Stelle beworben, die einfach zu gut geklungen hatte. Hier wegzukommen … Ein wenig fühlte es sich wie ein Befreiungsschlag an. Deshalb hatte sie sich auch beworben.

Mit neuer Energie durchforstete Nela die Cateringanbieter in Berns näherer Umgebung, besprach sich mit ihnen, holte ein Angebot ums andere ein, bis irgendwann niemand mehr ihre Anrufe entgegennahm und ihr das Büro dunkel und leer entgegengähnte.

Eigentlich wollte sie jetzt auch nach Hause, doch noch immer fehlten die Pavillonpläne, die ihr Chef schon vor Wochen hätte anfertigen müssen. Wenn der Infostand nicht wunschgemäss aussah, würde sie in einer Woche die Kündigung in der Hand halten.

***

»Hey, Mel. Tut mir leid, ich schaffe es heute nicht.« Nela wartete auf den Bus, das Handy fest ans Ohr gepresst. Den letzten hatte sie wegen einer halben Minute verpasst. Noch immer plagten sie Kopfschmerzen, und sie wünschte sich, endlich ins Bett zu fallen und diesen missratenen Tag zu vergessen.

Ihre beste Freundin schnaubte in die Leitung, sodass Nela wunderbar hörte, wie wütend sie war. »Wir warten hier seit Stunden, das Treffen ist schon so lange geplant!«

Sie konnte sich lebhaft und in Farbe vorstellen, wie die rotblonde Schönheit die Arme in die Luft warf und sie mit funkelnden Augen ansah. Nela lächelte müde. »Der Schwab hat es verpasst, die Einweihungsfeier für Samstag zu organisieren, und er will ja einen Pavillon. Aus Holz und draussen.«

»Und so was nennt sich Planer

»Mel, er gibt sein Bestes. Er ist eben ein gefragter Architekt und Planer. Wer mit ihm zusammenarbeitet, kann sehr viel lernen.« Mit jedem Wort pochte ihr Kopf lauter. Sie fühlte sich ausgelaugter als nach ihrem ersten frühmorgendlichen Joggingrundgang, als sie vor etwa vier Jahren damit begonnen hatte.

Im Hintergrund lachte jemand hart auf. Chiara, die schwarzhaarige Architektin und Studienfreundin entgegnete: »Die Bauherren kommen zu uns, weil sie nicht mit diesem Tyrannen zusammenarbeiten wollen. So viel zum Thema gefragt

»Du weisst genau, dass das Geschäftsumfeld hart ist.« Nela stöhnte leise. Unerbittlich hämmerte der Pulsschlag in ihrem Kopf. Sie wollte nur noch ins Bett. »Ausserdem habe ich jetzt Feierabend und will nicht über die Arbeit sprechen.« Sie hatte es gerade noch geschafft, einen Pavillon zu zeichnen, und hoffte, dass sie bei den Infotafeln nichts vergessen hatte. Wenn nur eine Tafel mehr aufgehängt werden sollte … Sie wollte erst gar nicht an die Konsequenzen denken.

Mel seufzte ergeben. »Kommst du noch auf einen Tee vorbei – einen kurzen? Wir vermissen dich, Nelchen.« Vermutlich schob sie jetzt die Unterlippe vor und guckte wie ein treuer Hundewelpe, der ein Leckerli erbettelte.

Sie lächelte besänftigt. Seit ihrer Schulzeit war sie mit Mel befreundet. Nela war immer deutlich kleiner als das hübsche Mädchen gewesen, und der Spitzname Nelchen hatte sich mit der Zeit eingebürgert, bis die pubertäre Mel irgendwann beschlossen hatte, dass sie den Namen entdeckt hätte und nur sie ihn benutzen dürfte. »Aber nur kurz.«

***

Berns nächtliches Rauschen beruhigte Nela zumindest ein wenig. In der Altstadt fuhren die Busse etwas langsamer, die Autos hupten nicht. Selbst ihre Kopfschmerzen rückten dank der gemütlichen Stimmung etwas in den Hintergrund.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie durch das Fenster des Cafés ihre beiden Freundinnen entdeckte, die bei Kaffee und Tee zusammensassen und miteinander quatschten. Eigentlich war sie zu müde, um noch in der Stadt zu bleiben, und doch freute sie sich auf ein wenig Geplänkel.

Mit einem breiten Grinsen liess sie sich auf die Couch fallen, die sie zu ihrem Stammplatz auserkoren hatten. Chiara rührte in einem Sessel versunken in ihrem Tee, während sich Mel im Inneren des Cafés umsah. »Kennst du sie noch nicht alle auswendig?«

Unbeeindruckt zuckte die Verkäuferin mit den Schultern. »Wie die Dinge muss man auch Menschen von verschiedenen Seiten betrachten.« Sie wandte sich ihren Freundinnen zu und bedachte Nela mit einem bedeutsamen Blick. »Sieh dich einmal an. Du arbeitest so hart bei einem Schwein, dass du eines Tages bucklig davon wirst. Also bäh. Aber eigentlich bist du ganz hübsch und nett.«

Nela lachte leise. Sie wusste ganz genau, dass ihre beiden Freundinnen mehr verdient hatten als ein paar kurze Treffen nach der Arbeit – die sie regelmässig absagen musste, da noch kurzfristig etwas zu erledigen war. »Der Schwab hat vergessen, die Feier zu organisieren.«

»War das nicht deine Aufgabe?«, fragte Chiara sarkastisch.

Seufzend lehnte sich Nela nach hinten. »Je nachdem, wen du fragst. Der Schwab würde es auf jeden Fall behaupten. Aber ich gelobe, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, wenn ich beteuere, davon bis vor zehn Stunden keine Ahnung gehabt zu haben.« Sie bestellte sich eine heisse Schokolade, als die Bedienung an ihren Tisch kam. »Und der Schwab ist so dämlich, einen Pavillon aufzustellen, noch dazu draussen bei dieser Kälte.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Als würde sich jemand in der Kälte über den Bau und dessen Abläufe informieren.«

Chiara lachte und hob die Tasse zu einem Prost. »Wie gesagt, die sensationelle Planung vom Schwab.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht wegzudiskutieren.

Nela rollte mit den Augen. »Sogar nach Feierabend muss ich mich verteidigen.«

»Dann such dir einen anderen Job.«

Nela lehnte sich zurück, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Mit ihren Neuigkeiten rechneten die beiden Frauen ganz bestimmt nicht. »Ich habe mich schon beworben.«

»Was?«, kreischte Chiara.

Mel schlug mit dem Handrücken gegen ihre Schulter, ein erstickter Schrei zwischen Kaffee und Freude entkam ihrer Kehle. Sie verschluckte sich, hustete und schnappte nach Luft. »Wirklich? Meine Güte, du entwickelst dich ja richtig, Nelchen.«

Angesichts der unverhohlenen Freude ihrer Freundinnen gelang Nela ein nachsichtiges Lächeln, auch wenn die beiden ständig auf ihrem Chef und der Arbeit herumhackten. »Es ist ein kleineres Planungsunternehmen, das jemanden mit Bauleitererfahrung sucht.«

Chiara nickte wissend. »Beim Kuster? Von der Stelle habe ich gehört, soll aber nicht allzu gut bezahlt sein. Sonst hätte ich dich informiert.« Im Gegensatz zu Nelas Mitarbeiter sprachen Chiara und ihre Arbeitskollegen mit anderen Büros, sodass solche Informationen stets die Runde machten.

Dabei spielte das Geld für Nela nicht so eine wichtige Rolle. »Haha, als wäre ich so eine High-Society-Lady, die den ganzen Tag nichts anderes macht, als shoppen zu gehen«, entgegnete sie sarkastisch.

Mel schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuss, während sie betont gelassen die Augenbrauen hochzog. Sie betrachtete ihre Fingernägel, als gäbe es nichts Spannenderes zu sehen. »Nicht so abfällig, junge Dame. Wer den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hat, als Geld auszugeben, der darf gern zu mir ins Geschäft kommen.«

Mit schiefgelegtem Kopf betrachtete Nela ihre Sandkastenfreundin, die in einer teuren Boutique ihren Traumjob gefunden hatte. Solange sie sich keinen reichen Mann angelte oder den Laden übernahm, vertrieb sie sich die Zeit mit knackigen Burschen und süssen Mädels. »Junge Dame? Du bist nur drei Tage älter als ich«, erwiderte Nela.

Chiara und Mel lachten. »Aber du bist die Einzige von uns, die einem solchen Job nicht schon lange den Rücken gekehrt hat, nur weil sie noch immer glaubt, dass das Ansehen eines cholerischen Architekten positiv auf sie abfärbt.« Versöhnlich zwinkerte Mel ihr zu.

»Obwohl sie nun doch den ersten Schritt gemacht hat«, gab Chiara zu bedenken.

Innerlich musste Nela den beiden recht geben. Doch nachdem sie sich Jahre an ihr Mantra geklammert und geglaubt hatte, dass der Schwab ihre Arbeit eines Tages wertschätzte, konnte sie das nicht so einfach sagen.

Sie trank von ihrer Schokolade und wartete, bis sich das Thema in den Köpfen ihrer Freundinnen etwas verflüchtigt hatte. »Übrigens, Chiara, Manuel hat sich letzte Woche noch nach dir erkundigt«, eröffnete sie wie nebensächlich das zweite Thema, das Mel alles andere vergessen liess. Die Männergeschichten ihrer Freundinnen waren das Einzige, das ihr neben einem reichen Lover den Atem raubte.

Den Architekturstudenten aus dem Semester über ihnen hatten sie letztens im Klub wiedergetroffen. Schon früher hatte Nela den Eindruck gehabt, dass er an Chiara interessiert war, doch diese hatte sich komplett auf ihr Studium konzentriert. Vermutlich hätte sie ihn selbst dann nicht wahrgenommen, wenn er nackt vor ihr gestanden hätte.

Mel fielen die Augen fast aus den Höhlen, als sie den Mund zu einem lautlosen Freudenschrei öffnete und Chiara ansah, als hätte diese den Jackpot im Lotto geknackt. »Wer …? Wie …? Du?«

Nela prustete laut los. Endlich fiel die Last des Tages von ihren Schultern. Sie würde es morgen um sieben bereuen, wenn sie wie eine schlafende Leiche ins Büro torkeln und sich die Nacht aus den Augen reiben würde. Aber jetzt gerade brauchte sie ihre beiden Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und sie, jede auf ihre eigene Art, aufmunterten.

Kapitel 2

***

Es sind nicht alle lustig, die tanzen.

(Christoph Lehmann)

»Hast du eine Latte?« Corvin streckte den Arm aus und wartete, bis sein Arbeitskollege ihm eines der Bretter reichte – vergebens. Als er nach unten sah, grinste Gregor frech, den Kopf zur Seite geneigt.

Gregor trug die übliche Zimmermannskluft, mit schwarzen Hosen und fester Weste, allerdings war sie ihm nicht so wichtig, wie sie es für Corvin war. Seit fast zwei Monaten fehlte einer der Knöpfe, noch immer hatte er es nicht für nötig befunden, ihn anzunähen. »Na, so gut siehst du nun auch wieder nicht aus, dass ich eine Latte hätte.« Sein Arbeitskollege stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit den Augenbrauen, als würde er mit seiner Frau schäkern.

Corvin verdrehte theatralisch die Augen. Das Grinsen erwidernd, beugte er sich nach vorn. »Vielleicht sollte ich mich ausziehen. Meinem Knackarsch konnte noch niemand widerstehen.«

Gregor lachte und reichte ihm endlich das Holzbrett, nach dem er schon lange die Hand ausgestreckt hatte. Corvin nagelte es zur Unterstützung an die Dachkonstruktion, prüfte seinen Halt und kontrollierte den Pavillon, den sie innerhalb von vier Tagen geplant, gezimmert und hier aufgestellt hatten. Noch fehlten das weisse Stoffdach und die durchschimmernden Textilbahnen, die den Infobereich vom Empfang trennten.

Die Cateringmitarbeiterin, die schon den ganzen Tag organisierte, befahl und dekorierte, kam mit federnd leichten Schritten auf den halb fertigen Pavillon zu. Ihr flüchtiger Blick liess ihn automatisch lächeln, doch sie drehte sich weg, noch bevor sie es sehen konnte. Sie beugte sich über einen Tisch, um das Blumengesteck auf dem weissen Tuch zu platzieren. Die Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Hintern, über dem sich der Jeansstoff spannte. Hübscher Knackarsch. Erneut eroberte ein Grinsen sein Gesicht.

»Süss, die Kleine, was?«

Genervt von Gregors Beobachtungsgabe und seiner Bemerkung, rollte Corvin mit den Augen und schwang sich kommentarlos vom Pavillon. Es hätte sowieso nichts geholfen. Gregor war ein alter Schwerenöter, der es auf der Baustelle nicht anders kannte. Da waren Männer unter sich und solche Sprüche an der Tagesordnung. Zwischendurch spielte er sogar mit, es war eine willkommene Abwechslung im Alltag.

Er klopfte sich die Hände vom gröbsten Staub sauber und besah sich das Werk. Ein bisschen stolz war er schon darauf. Warm lag das gehobelte Holz unter seinen Fingern, als er darüberstrich, und sandte den Duft nach Natur und Heimat in den Raum, der diesem Betonbunker niemals eigen sein würde. Für die heutige Eröffnung des neuen Gewerbezentrums mit Ausstellungsräumlichkeiten und modernsten Konferenzräumen hatten die Planer auf den letzten Drücker einen Infopavillon in der Eingangshalle gewünscht. Dem bedeutenden Architekturbüro hatten sie keine Absage erteilen wollen. Dennoch war es ein Kraftakt gewesen, alle Materialien und zeitlichen Ressourcen zu organisieren, um das robuste Zelt in der Halle aufzustellen.

Corvin huschte ein Lächeln über das Gesicht, als er an die Besprechung von Anfang der Woche zurückdachte. Er hatte sich mit dem Boss des Architekturbüros getroffen, um die Details zu diskutieren. Der Herr hatte gemeint, der Pavillon müsse draussen aufgebaut werden. Erst als Corvin erwähnt hatte, dass im Winter kaum jemand in einem offenen Zelt stehen würde, wenn er doch im Warmen Sekt und Häppchen serviert bekäme, hatte der Mann seine Pläne geändert.

Gregor wies mit der Hand zu einer der oberen Ecken. »Dort fehlen noch die Nägel für die Informationstafeln.«

Mit einem misstrauischen Blick sah Corvin hoch. Er hatte doch bei jedem Balken daran gedacht. Doch nach dem langen Tanzabend gestern … »Dann erledigen wir das noch, bevor ich mich für den Abend bereit mache.« Er schob die Leiter unter die Stelle mit den fehlenden Haken, griff sich einen Nagel aus dem Werkzeuggürtel und schlug ihn ein. Wäre es gewünscht gewesen, hätte er es auch hübscher machen können – nur nicht in der kurzen Zeit.

»Seid ihr bald fertig?«, unterbrach eine angenehme Frauenstimme seine Gedanken.

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen drehte sich Corvin um. Die braunhaarige Frau vom Cateringservice, die seit heute Morgen in der Eingangshalle herumwuselte, stand neben Gregor und sah abwechselnd ihn und seinen Arbeitskollegen an. Ihre Augen strahlten von innen, auch wenn sie müde wirkte.

Er nickte ihr flüchtig zu. »Einmal davon abgesehen, dass die sogenannten Planer keine Ahnung von Planung haben … ja.« Er packte den Balken des Pavillons und schwang sich von der Leiter. Bei der Landung deutete er eine Verbeugung an.

»Angeber«, nuschelte Gregor, doch seine grünblauen Augen lachten.

Sie legte den Kopf leicht schief, ein kaum erkennbares Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Ihre Augen funkelten für einen Moment übermütig. »Na, wenn der Herr meint.«

»Es ist so.« Corvin zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig, dabei hatte er bis gestern Abend geschimpft wie ein Rohrspatz. »Aber wenigstens hatte die Planerin einen hübschen Hintern, soweit ich mich erinnern kann.« Vielleicht konnte er sie so etwas aus der Reserve locken.

Ihre Augenbrauen wanderten betont langsam nach oben. Noch immer umspielte ein kaum erkennbares Lächeln ihre Lippen. »So?«

Schien wohl nicht zu klappen. »Vielleicht hätten sie der jungen Dame besser einen erfahrenen Architekten zur Seite gestellt.«

Sie lächelte offen, dennoch wurde er den Eindruck nicht los, dass sie sich heimlich über ihn lustig machte. »Vielleicht wusste der Planer ja auch noch nicht, dass der Bauherr einen Pavillon wünscht. Übrigens fehlt dort noch ein Nagel.« Sie deutete selbstbewusst zur zweiten Seite, die sie montiert hatten. »So können wir die breite Infotafel nicht aufhängen.«

Etwas erschrocken drehte sich Corvin um. Tatsächlich, da prangten nur drei Nägel statt der geforderten vier. Am liebsten hätte er sich an den Kopf gefasst, doch diese Blösse wollte er sich vor ihr nicht geben.

Gregor lachte in sich hinein und wandte sich der jungen Frau zu. »Er kann sich eben kaum konzentrieren, wenn seine Augen eine hübsche Frau erblicken.« Wieder lachte er, diesmal noch lauter.

Ehe sie reagieren konnte, schlug Corvin seinem Kollegen neckisch gegen die Schulter. »Werd nicht frech, Bürschchen.«

»Bürschchen? Na warte!«

Corvin wich dem Blick seines Freundes und Lehrmeisters aus und besah sich gespielt genau die Stelle mit dem fehlenden Nagel. »Dass du auch nicht daran gedacht hast, Gregor.« Er schüttelte den Kopf und schnalzte dabei mit der Zunge.

Die Frau schmunzelte und machte keine Anstalten, sie allein zu lassen, sondern genoss das Schauspiel sichtlich. An ihrer Stelle wäre er wohl auch geblieben.

»Das warst du! Aber es ist kein Wunder, wenn du die ganze Nacht unterwegs bist, dass du dann Nägel vergisst.« Gregor stemmte die Hände in die Hüften. »Und wer ist hier wohl das Bürschchen?«

Die Frau räusperte sich. »Wenn es dem Herrn und dem Bürschchen recht ist, würde ich gern mit der Dekoration fertig werden. Der Nagel und die weissen Tücher fehlen noch.«

Wenn sich Corvin nicht täuschte, rollte sie mit den Augen, doch es war so schwach, dass er sich nicht sicher war. »Haben die Planer auch dir einen Strich durch die Rechnung gemacht? Haben sie etwa erst am Montag angefragt?«

Insgeheim musste er die Planung loben. Während der Bauarbeiten war es zu keinen Verzögerungen gekommen, die weiteren Schritte waren rechtzeitig kommuniziert worden. Für ihre Holzbaufirma war es die erste Zusammenarbeit gewesen, doch er konnte den Ärger anderer Unternehmen über die schlechte Planung nicht nachvollziehen. Informationen kämen nicht oder zu spät, die Bauleitung wäre selten vor Ort und kaum erreichbar. Zumindest bei diesem Projekt hatte die beteiligte Architektin ihr Bestes gegeben.

Die unrühmliche Ausnahme war die Hauruckaktion mit dem Pavillon. Bestimmt hatte die Mitarbeiterin des Caterings auch schon eine Kostprobe vom Können des Architekturbüros erhalten.

Sie musterte ihn mit leicht verengten Augen, als müsste sie abschätzen, wie weit sie gehen durfte – oder er gehen würde. »Sozusagen.« Ihr Lächeln wurde breiter, wieder funkelten die Augen in der hintersten Ecke belustigt auf.

Ein bisschen überrumpelt von ihrer Antwort, lachte Corvin in sich hinein und kratzte sich am Bart, den er jeden Tag sorgfältig trimmte. Er hob die Arme und liess sie fallen, sodass sie gegen seine Seiten klatschten. »Wenn wir erst so spät angefragt werden …« Er zwinkerte ihr zu, was ihr ein noch breiteres Lächeln entlockte.

Sie nickte, das Lächeln wandelte sich zu einem breiten Grinsen. »Genau, die Planung. Es liegt immer an der Planung.«

»Immer diese Architekten.« Leise stöhnte Corvin und verdrehte die Augen. »Wir sind gleich fertig«, beruhigte er sie.

Gregor lachte in sich hinein. »Genau, immer die Architekten, Bürschchen.« Er hatte der kurzen Unterhaltung mit einem süffisanten Lächeln beigewohnt, ohne ein Wort zu sagen.

Corvin stutzte und wandte sich wieder an die junge Frau. »Stimmt! Wer war denn nun mit Bürschchen gemeint?« Vielleicht konnte er ihr so ein Lachen und das Funkeln entlocken, das ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Lachend drehte sie sich weg. »Eine Lady schweigt und geniesst.«

Wenn er ihren verlockend leichten Hüftschwung richtig deutete, dann genoss sie es wirklich. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er sich umdrehte und den Pavillon ein letztes Mal begutachtete.

Sein Freund grinste breit, als er gegen seine Schulter stiess. »Gefällt sie dir?«

»Ich kann mich ja mit ihr unterhalten, wenn es mir Spass macht. Dafür muss mir eine Frau doch nicht gefallen.« Dennoch hinterliess die Frage einen Stich in seinem Herzen, den er schon zu lange mit sich herumtrug und der einfach nicht heilen wollte.

Demonstrativ klappte er die Leiter zusammen, verstaute das Werkzeug und blickte Gregor auffordernd an. Der ältere Mann mit dem rundlichen Bauch folgte seinem Beispiel und wischte den gröbsten Staub zusammen, ehe er die zweite Werkzeugkiste packte. »Weisst du, wer das war?« Gregor bemühte sich, gleichgültig zu klingen, doch ganz schaffte er es nicht.

Misstrauisch warf Corvin ihm einen Seitenblick zu. »Keine Ahnung. Eine vom Catering?« Wieso sollte ihn das auch interessieren? »Lass uns gehen. Ich muss mich für die Feier bereit machen.«

***

In seinen dunkelblauen Anzug gehüllt, trat Corvin in die von Stimmen und warmem Licht erfüllte Eingangshalle. Er zupfte am Hemdkragen, rückte die Krawatte zurecht und räusperte sich. Jetzt erlebte er etwas, das er bei seiner Arbeit als Zimmermann nur selten sah: Das abgeschlossene Gesamtprojekt und das Leuchten, das so viele Leute in den Projekten stets sahen. Ehrfürchtig wanderte sein Blick über die Wände, über die vielen Tische und Sitzgelegenheiten, die sich passend ineinanderfügten. Selbst der Pavillon, der im Gegensatz zum Rest grob und rustikal wirkte, ergänzte das Ambiente. Wer auch immer ihn entworfen hatte, musste diesen harmonischen Kontrast gesehen haben – oder hatte einfach Glück gehabt.

In der Eingangshalle tummelten sich mehr Menschen, als jemals an diesem Projekt gearbeitet haben konnten. Ein jeder von ihnen feierte die Fertigstellung und die Eröffnung des Neubaus. Wärme und Licht luden ihn ein zu vergessen, dass er selbst an einem ganz anderen Ort sein wollte. Er hatte geplant, tanzen zu gehen, doch gestern Abend hatte ihn sein kranker Chef gebeten, an seiner Stelle an der Eröffnungsfeier teilzunehmen. Deshalb stand er nun direkt neben der Eingangstür und kam sich überflüssig und fehl am Platz vor. Diese Leute wussten, was sie hier taten. Er hingegen …

»Der Herr ist also auch hier?«, fragte diese angenehme Stimme, die ein Lächeln mit sich trug und ihn aus seinen Gedanken zurückholte.

Corvin wandte den Kopf und entdeckte die junge Frau von heute Nachmittag, die ihn mit freundlich funkelnden Augen musterte. Sie trug ein Glas Sekt bei sich, ihre Lippen deuteten ein ehrliches Lächeln an. Ein Grinsen bahnte sich einen Weg in sein Gesicht. »Also war nicht ich das Bürschchen.«

Erheitert lachte sie auf. Der Sekt schwappte über, Tropfen hellgelber Flüssigkeit rannen am Glas entlang bis zu ihrer Hand. »Das wird dich den ganzen Nachmittag beschäftigt haben.« Sie zwinkerte und trank einen Schluck.

Ernst nickte Corvin. »Natürlich. Gregor und ich haben uns sogar gestritten, ein Kampf auf Leben und Tod. Wer überlebt hat, siehst du ja.« Er streckte ihr die Hand entgegen und wartete, bis sie einschlug und den Druck erwiderte. »Corvin.« Ihre Haut fühlte sich warm und weich an.

»Nela«, stellte sie sich vor. »Du arbeitest also bei Zeller Holzbau?«

Er nickte. »Schon seit über zehn Jahren.«

Irgendwoher kannte er ihren Namen, der doch nicht so alltäglich war. Auf die Schnelle wollte ihm nicht einfallen, woher. Trotzdem nagte die Ungewissheit wie eine lästige Zecke in seinem Nacken.

Sie lächelte wieder, vielleicht gar ein bisschen frech. »Und hin und wieder vergisst du einen Nagel?« In ihren Augen funkelte es verräterisch, wenn nicht gar vorlaut. Aber das Lächeln machte alles wieder wett.

Er warf ihr einen gespielt beleidigten Blick zu und zog eine Schnute. »Aber nur hin und wieder«, gab er leise zu, um dieses fröhliche Lachen wieder aus ihrer Kehle zu locken.

Sie prustete leise, hielt sich aber die Hand vor den Mund. »Wir sind hier in feiner Gesellschaft. Da sollte ich nicht ständig lachen wie eine Betrunkene«, beschwerte sie sich bei ihm.

Genau das mit der feinen Gesellschaft schlug ihm aufs Gemüt. Er könnte jetzt tanzen. Einziger Lichtblick des heutigen Abends war Nela, die es sichtlich genoss, all das hier zu sehen: Die Menschen, die Lichter und das Werk, das heute Einweihung feierte.

Er gehörte nicht wirklich hierher. Er war Zimmermann, kein feiner Herr. »Ich brauche ein Bier.« Vielleicht half das ja.

Sie zog eine Augenbraue hoch, schloss mit einer Armbewegung die ganze Halle ein und seufzte theatralisch. »Mein Herr, Sie nehmen an einem gesellschaftlichen Anlass der höheren Schichten teil. Bitte halten Sie die niederen Gelüste zurück, bis Sie wieder zu Hause sind.«

Er öffnete den Mund zu einem erschrockenen Schrei, lächelte dann jedoch. »Im Notfall tut es auch etwas Sekt.« Dabei mochte er Sekt nicht einmal. Er trank ihn nur, wenn es keine Alternative gab – und Wasser aus dem Hahn stellte durchaus eine solche dar.

»Dann komm mit.« Nela führte ihn in die Menge und wieder hinaus, bis sie bei einem Buffet ankamen, das seinesgleichen suchte. Bruschettas in verschiedensten Variationen, Lachsbrötchen, Oliven in Öl oder Essig eingelegt, getrocknete Tomaten mit Käse und Speck an einem Spiess, Obst, winzige Nussstangen, Zimtschnecken, eine Ecke mit Weihnachtsgebäck. Allein vom Anblick lief Corvin das Wasser im Mund zusammen. Von der Auswahl ganz erschlagen, starrte er erst einmal nur auf die Auslage, ehe er sich einen kleinen Becher mit Gemüsesticks, einen Quarkdip und ein paar Oliven auf den Teller legte. Den Sekt entdeckte er an einem anderen Tisch.

Nela lachte leise neben ihm. »So gesund?«

Lächelnd nickte er. »Ich hatte keine Wahl.« Das war nicht einmal der verzweifelte Versuch, sich herauszureden, sondern die pure Wahrheit. Mit so einem Buffet hatte er nicht gerechnet.

Sie nickte ernst, doch das Funkeln in ihren Augen blieb. »Natürlich.«

»Ich dachte, dass du auch erst seit Montag von der Einweihungsfeier und dem Auftrag weisst«, wechselte er das Thema. Bereits jetzt musste das Weihnachtsgeschäft bei den Caterern boomen. Dass sie in dieser kurzen Zeit so einen Anlass gezaubert hatten, sprach für den Service.

»Das stimmt so auch.«

Als er sich die erste Olive in den Mund schob, beobachtete er Nela von der Seite. Sie blickte in die Menge, ein Lächeln auf den Lippen, dennoch wirkte sie mit den Gedanken weit weg. Ihre gerade Nase malte einen sanften Schatten auf die Wange. Im Gegensatz zu der roten Bluse von heute Nachmittag trug sie nun ein unauffälliges schwarzes Kleid mit einem dunkelblauen Jackett. Obwohl sie äusserlich zur Gesellschaft passte, wirkte sie irgendwie fehl am Platz.

Corvin räusperte sich. »Lecker. Hast du schon probiert?«

Leise lachend schüttelte sie den Kopf. »Der Chef hat es verboten. Zumindest dürfen wir nicht im grossen Stil zulangen.«

Verständnisvoll nickte er. Wer wusste denn schon, welche Vorschriften Caterer ausarbeiteten. Es gefiel sicherlich nicht jedem Auftraggeber, wenn die Cateringmitarbeiter mehr assen als die Gäste. »Erkennen die Gäste dich denn, wenn du hier so schick angezogen bist?«

Sie sah ihn nachdenklich an und nippte an ihrem Getränk, vielleicht um sich seine Aussage etwas durch den Kopf gehen zu lassen. »So unschick war ich heute Nachmittag auch nicht unterwegs, oder?«

Corvin dachte an die rote Bluse und die hautenge Jeans zurück und schüttelte den Kopf. Sicherlich nicht in seinen Augen. Da hatte alles gepasst – sogar mehr als das.

Inmitten der Gäste entdeckte er Herrn Schwab, den Gesamtprojektleiter des Gewerbebaus. Er schien gerade in kein Gespräch verwickelt. Diese Chance musste Corvin nutzen. Wenn er ihn davon überzeugen konnte, öfter mit ihnen zusammenzuarbeiten, hätten sie für eine ganze Weile ausgesorgt. Der Architekt und sein Team waren heiss begehrt, jedenfalls bei den Bauherren. Ginge es nach Fachplanern und ihm, würde er viel lieber mit kleineren Büros zusammenarbeiten. Herr Schwab war ein Tyrann und behandelte seine Mitarbeiter nicht besonders zuvorkommend. Auch mit Geschäftspartnern ging er offenbar knallhart ins Gericht, wenn sie nicht so spurten, wie er das wollte. Dennoch konnten ihrem Betrieb weitere Kontakte nicht schaden, und Schwabs Büro genoss nach wie vor ein hohes Ansehen in der Region. Genau deswegen hatte sein Chef ihn heute auch hierherzitiert.

»Entschuldige mich bitte.« Ohne Nelas Reaktion abzuwarten, ging er auf den korpulenten Herrn zu. Nach erst einer Sitzung war er ihm unsympathisch, doch er wusste sich zu benehmen. Immerhin war er hier bei der Arbeit. Mit einem Lächeln trat Corvin an Herrn Schwab heran. »Guten Abend, Herr Schwab. Eine wunderbare Feier haben Sie hier organisieren lassen.«

Statt etwas zu erwidern, sah ihn der Patron nur aus dunklen Knopfaugen an.

»Corvin Zimmermann. Heute Abend vertrete ich die Zeller Holzbau AG. Der Geschäftsführer, Herr Roman Zeller, ist leider verhindert.«

Der Architekt schlug ein und nickte ihm knapp zu. »Sie haben auch etwas zu diesem Bau beigetragen?«

»Ja, wir …«

Der Mann griff sich an die Stirn. »Sie haben den Pavillon aufgestellt?«

»Genau, und …«

Herr Schwabs Nicken unterbrach ihn. »Ich habe noch zu tun.«

Mit offenem Mund blieb Corvin stehen und sah dem untersetzten Mann hinterher, wie er sich zum Stadtpräsidenten durchschlug und mit ihm anstiess. Den Sekt in Corvins Händen hatte er nicht einmal gesehen – oder nicht sehen wollen.

***

Wie eine Szene hinter Milchglas gingen die Reden des Stadtpräsidenten, des Bauherrn und eines Gewerbevertreters an Corvin vorbei. In Gedanken war er noch immer bei der Abfuhr des Architekten. Er verstand nicht, wie jemand so unhöflich und gleichzeitig erfolgreich sein konnte. Wer bekannt war, konnte sich wohl alles erlauben. Corvin hatte gehört, dass ein Tiefbauunternehmen unwirtschaftlich gearbeitet hatte, nur um ein Projekt mit dem Schwab zu realisieren.

Eine junge Frau mit braunem Haar und schwarzem Kleid erhaschte seine Aufmerksamkeit. Sie stand neben Herrn Schwab auf der Galerie, die den Raum auf Brusthöhe einrahmte, und beugte sich zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.

Schwabs sowieso schon grimmiger Ausdruck verdüsterte sich, und er machte eine wegwerfende Handbewegung, um sie vom Ort des Geschehens zu scheuchen. Nela zögerte einen Augenblick, schob Kinn und Unterlippe gar etwas trotzig vor, doch dann fielen ihre Schultern in sich zusammen, und sie verliess die Treppe.

Nela … Corvin wusste, dass er ihren Namen schon einmal gehört, vielleicht auch gelesen hatte. Er …

Nela König! Seine Augen weiteten sich, und er starrte die junge Frau an, die niedergeschlagen von der Treppe auf die Menge zuging und darin verschwand, als wäre sie ein Gast. Dabei hatte sie das Projekt gestemmt. Sie hatte den Traum visualisiert, geplant und termingerecht umgesetzt.

Sie war keine Cateringmitarbeiterin, sie war die Planerin mit dem zuckersüssen Hintern, die all das hier erst möglich gemacht hatte. Er hatte sich bei ihr über genau diese Planung beschwert. Und ihren Hintern als herausragendes Merkmal genannt. Verdammte Scheisse! Deshalb also das süffisante Lächeln, und auch Gregor …

Gregor! Wie ein Blitz durchfuhr Corvin die Erkenntnis. Sein Freund hatte gewusst, wer sie war, und ihm nichts gesagt, dieser elende …

Kopfschüttelnd vergass er seinen ehemaligen Lehrmeister. Auf der Baustelle hatte Corvin Nela in Helm und Leuchtjacke nicht als hübsche Frau erkannt – jedenfalls nicht so hübsch. Irgendwo würde er das bestimmt einmal als spezielle Fähigkeit deklarieren können. Ein leises Lachen entkam seiner Kehle.

Die wichtigen Männer hatten ihre Reden beendet, langsam kehrten die angenehmen Gespräche bei Häppchen und Sekt zurück. Das Licht wurde gedimmt, hin und wieder ertönte ein Lachen. Irgendwo wurde leise Jazzmusik gespielt, und der Takt verführte ihn dazu, sich die Tanzschritte vorzustellen, wie er mit einer Partnerin über das Parkett fegen und die Welt um ihn herum vergessen würde.

Auf keinen Fall kam es an das heran, was er eigentlich geplant hatte, wenn Roman ihn nicht um diesen Gefallen gebeten hätte. Noch hatte er geschäftlich nichts erreicht, was es umso schwerer machte, an die verpasste Boogie-Woogie-Party zu denken. Sogar eine Liveband spielte heute. Ginge es nach ihm, würde er nur tanzen und ab und zu eine Bergtour unternehmen. Doch die Touren weckten in ihm stets die Sehnsucht nach dem, was nicht mehr möglich war, also tanzte er lieber.

Elvis war sowieso viel besser als die Jazzmusik im Hintergrund. Er seufzte in sich hinein, leerte den Sekt und entdeckte auf einem Tisch zwei Flaschen Bier. Das an dieser Feier praktisch fehlende Gesöff konnte er sich nicht durch die Finger gehen lassen, also schnappte er sich gleich eine.

Aus den Augenwinkeln entdeckte er Nela an der Bar. Sie sass auf einem hohen Hocker und starrte geistesabwesend in die Menge, während ihr Fuss im Takt der Musik wippte.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Vielleicht konnte er die langweilige Feier ein wenig interessanter gestalten? Wie von selbst trugen ihn seine Beine zu ihr, und er lehnte sich an den Stehtisch. »Immer noch hier?« Dass sie noch nicht gegangen war, überraschte ihn wirklich.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Wenn der Chef ruft, dann habe ich zu gehorchen.« Sie zwinkerte, doch es wirkte wenig überzeugend.

»Dein Chef hat keine Ahnung.« Das hatte er wirklich nicht. Wer ihre grandiose Arbeit nicht wertschätzte, für den hatte Corvin kein Verständnis. Wie der Schwab sie behandelt hatte, machte ihn noch wütender als die Tatsache, dass er eine Abfuhr erhalten hatte.

Sie hob die Augenbrauen. »So?« Da war es wieder, dieses Funkeln. Inzwischen wusste er auch, wieso sie so unschuldig tat. Sie machte sich über ihn lustig.

Er stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab und legte den Kopf in seine Hand. »Lach ruhig über mich. Ich weiss, dass du für den Schwab arbeitest«, brummte er.

Für einen Moment wirkte sie erschrocken, doch als sie sein Lächeln entdeckte, lachte sie befreit los. Sie warf den Kopf in den Nacken und wirkte zum ersten Mal heute Abend nicht fehl am Platz. »Es tut mir leid, dir nicht reinen Wein eingeschenkt zu haben. Es war einfach zu verlockend.«

Er hob sein Bier. »Ich gebe mich auch damit zufrieden, Wein muss nicht immer sein.«

Wieder lachte sie, diesmal allerdings verhalten. Ohne ihm in die Augen zu sehen, nickte sie. »Herr Schwab mag es, wenn er bei Reklamationen direkt einen Mitarbeiter vorführen kann. Ausserdem verabscheut er Bier.«

Corvin warf seinem Getränk einen kurzen Blick zu. »Kann ich nicht verstehen. Aber ich kann auch nicht verstehen, wie eine so fähige Architektin und Planerin wie du für ihn arbeitet und an einem Samstag Blumen und Dekoration verteilt. Wolltest du mich nur hereinlegen?«

Von der Behandlung ihres Chefs nun offenbar abgelenkt, leuchteten ihre Augen freudig auf. Fasziniert von ihrer Begeisterung vergass er fast, ihr zuzuhören. »Im Studium habe ich Vertiefungen in Planung und Innenarchitektur gewählt. Als ich dann vor sechs Tagen den Auftrag bekam, die Feier noch zu organisieren, fand ich niemanden ausser dem Cateringservice, der die Dekoration so kurzfristig übernehmen konnte. Also habe ich es eben selbst in die Hand genommen.«

»Wieso macht das denn nicht der Cateringservice?«

Wieder hob sie die Augenbrauen und sah ihn ungläubig an, lächelte aber gleich darauf wieder. »Hast du mal ihre Bilder gesehen? Die würde ich nicht einmal dann präsentieren, wenn sie Herrn Schwab den Hintern retten könnten.«

Corvin erwiderte ihr Lächeln, obwohl ihm seine kurze Begegnung mit ihrem Chef noch in deutlicher Erinnerung war. Er konnte sich vorstellen, dass die Zusammenarbeit mit ihm nicht immer einfach war. Stets im Schatten zu stehen und keine Anerkennung zu erhalten, obwohl man sich den Arsch aufriss. Ansonsten hätte er sie in seiner Rede wenigstens namentlich erwähnt, denn die Planung war mit keinem Projekt zu vergleichen, bei dem er mitgearbeitet hatte.

Mit einem kecken Funkeln in den Augen riss Nela ihn aus seinen Gedanken. »Corvin Zimmermann ist Zimmermann. Spannende Berufswahl.« Sie lachte leise in sich hinein.

Er blieb an ihrem fröhlichen Schimmern in den Augen hängen. »Man tut, was man kann.«

Sie zuckte mit den Schultern. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Leider war gerade keine Lehrstelle frei.«

Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf leicht schief, ehe er begriff und loslachte. »Hm, Königin, nicht schlecht. Aber beworben hast du dich?«

Jetzt war es an ihr zu lachen. »Nach der Absage von Schweden habe ich aufgegeben.«

Er nickte gespielt ernst, gönnte sich einen Schluck Bier – es war schon fast leer – und sah dann wieder ihren wippenden Fuss. Einer Eingebung folgend hob er die Hand und sah sie offen an. »Möchtest du tanzen?«

Ihr Blick schnellte nach oben, die Augen aufgerissen. Die freudige Stimmung zwischen ihnen splitterte und hinterliess einen Scherbenhaufen, der sich drohend zwischen ihnen aufbaute. Nelas dunkle Augen schimmerten im gedämpften Licht. Zitterte sie? Sie schluckte, lehnte sich zurück und drehte den Oberkörper weg. Ihre Finger klammerten sich an den Stiel des Sektglases, bis dieses noch stärker zitterte als sie.

»Ein Tänzchen in Ehren sollst du nicht verwehren«, versuchte er es mit einem leisen Wink, dass man eine Aufforderung zum Tanz nicht einfach ablehnte. Dabei wusste er gar nicht, ob sie eine Tänzerin war und die Regeln kannte. Aber anhand ihrer Reaktion konnte er sich diese Fragen selbst beantworten.

Es war nicht der geeignete Ort. Wenn Nelas Chef sie tanzend auf einer Einweihungsfeier entdeckte, würde sie am nächsten Tag die Kündigung erhalten – so schätzte Corvin den selbstgefälligen Mann zumindest ein. Dennoch hatte er das Gefühl, dass Nela etwas mit dem Tanzen verband. Allein die Art, wie sie sich bewegte, ihr leichter Hüftschwung, wenn sie ging. Ihr Fuss hatte gewippt, vielleicht hatte sie gar mitgesummt.

Jetzt stand Entsetzen in ihrem Blick, der Mund offen. Zu einer Statue erstarrt, konnte sie sich nicht regen, brachte kein Wort über die Lippen. Es brachte wohl nichts, ihre Hand nehmen zu wollen, egal, wie sehr er sich das Leuchten ihrer Augen von heute Morgen zurückwünschte. Er wollte es wieder sehen.

Für einen winzigen Moment fragte er sich, wieso er sie überhaupt gefragt hatte, warum er dachte, dass sie tanzen wollte.

Ohne ein Wort zu sagen, rutschte Nela vom Stuhl, stellte ihr Glas hart auf den Tisch und eilte in ihren hochhackigen Schuhen direkt auf den Ausgang zu. Es glich einer Flucht, wie sie ihren Mantel nahm, den Schal um den Hals wickelte und sich in den kalten Novemberabend stürzte.

Kapitel 3

***

Besser ein Schritt zu zweit als ein Schritt zu weit.

(Christoph Matthes)

Nela setzte sich an den Cafétisch zu Mel und Chiara. Mel schwang ihre rotblonde Mähne zurück, büschelte ihr Dekolleté und sah auffällig unauffällig in eine Ecke, um sich von dem dort sitzenden jungen Mann abzuwenden. Ein flüchtiger Blick verriet Nela, dass sie einen Kerl bezirzte, der in ihr Beuteschema eines amerikanischen Soldaten passte: kräftig gebaut, finsterer Blick, glatt rasierter Schädel.

Nela schmunzelte. »Hat er schon angebissen?«

Chiara rollte mit den Augen, sodass es Mel nicht sehen konnte, Nela jedoch ein unterdrücktes Lachen entlockte.

Mels übertriebenes Seufzen erfüllte die Luft, doch dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung und nippte am Kaffee, der noch halb voll vor ihr stand. »Ist auch nicht tragisch. Manfred hat sich noch einmal gemeldet. Hinter dem unscheinbaren Namen steckt ein hervorragender Liebhaber.« Um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, fuhr sie sich mit der Zunge über die Oberlippe. »Und, wie lief es?«

Die unschuldige Frage erinnerte Nela an das heutige Vorstellungsgespräch und brachte das hässliche Gefühl von Nervosität und unverständlichen Sätzen mit sich. Sie hatte sich blamiert und keine Chance, die Stelle zu ergattern. Dennoch würde es nun Gesprächsthema Nummer eins sein. »Eine einzige Katastrophe. Ich habe kein Wort rausgebracht. Es war schrecklich!«

Das war es wirklich gewesen. Allein die Erinnerung daran liess ihr Herz schneller schlagen. Sie hasste Vorstellungsgespräche, ganz besonders solche, bei denen sie keinen Parkplatz fand, deshalb wie eine Verrückte durch ein ganzes Quartier rannte und vollgeschwitzt, atemlos und verspätet ankam.

Chiara nickte verständnisvoll. »Hast du deine Erfahrung …«

Noch bevor sie auch nur den halben Satz gesprochen hatte, fiel Mel ihr ins Wort: »Männer kann man auch mit anderen Argumenten überzeugen.«

Während Nela leise lachte, schüttelte Chiara nur den Kopf. »Weisst du eigentlich, dass sie danach mit diesen Männern zusammenarbeiten würde? Wie kämen diese Argumente dann an?«

Mel zwinkerte der schwarzhaarigen Frau zu, deren blaue Augen auffallend hell strahlten, wenn sie sich wohlfühlte. »Hoffentlich würden sie unserer Miss Gebrochenes Herz über ihre Angst hinweghelfen, sich auf einen Mann einzulassen.« Ein Seitenblick verdeutlichte, was sie von Nelas Umgang mit Männern hielt.

Nela bestellte sich einen Tee, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen und gleichzeitig den dumpfen Schmerz in ihrer Brust zu vergessen. So oft hatte sie schon versucht, Kai aus ihrem Leben zu verbannen, doch er hatte ihr zu viel genommen. »Er ist mir inzwischen egal«, erwiderte sie mit gesenktem Blick.

Mel schmunzelte. »Dann möchtest du den Schnuckel da hinten?« Sie nickte in Richtung des Mannes, den sie offensiv angebaggert hatte.

»Nein danke.«

»Sein Blick klebte an deinem Hintern fest, als du reinkamst.«

Nela verdrehte die Augen. Seit Jahren versuchte Mel, sie auf ihre Seite zu ziehen und sich mit Männern zu vergnügen, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Für die grosse, attraktive Frau mit der selbstbewussten Ausstrahlung mochte das passend sein, aber Chiara und Nela konnten diesem Lebensstil nichts abgewinnen.

»Eine Zu- oder Absage habe ich noch nicht bekommen. Ich soll mir das alles durch den Kopf gehen lassen und bis spätestens Montag eine Rückmeldung geben, ob ich weiterhin interessiert bin«, wechselte sie das Thema ungerührt.

»Spricht dich die Stelle denn an?« Mel schien den Themawechsel mit Fassung zu tragen.

Nela zuckte mit den Schultern. »Alles ist besser, als mit diesem Arschloch von Chef zusammenzuarbeiten.« Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihren besten Freundinnen über die enttäuschende Einweihungsfeier zu sprechen. Mit knappen Worten erzählte sie, wie der Bauherr und der Pächter des Gewerbegebäudes ihre Planung gelobt hatten. Es waren kaum Reklamationen eingetroffen, alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Und alles, was sie davon hatte, war ein Lohn am Ende des Monats, doch Anerkennung oder ein Dankeschön, wenigstens das Erwähnen seines Teams, waren zu hohe Erwartungen an ihren Chef. »Und dafür hat er mich zu dieser verfluchten Party geschleppt! Damit er sich profilieren kann und ich weiter im Schatten stehe.« Sie musste sich zurückhalten, nicht zu laut zu werden, so sehr wühlte sie der Abend auf, auch wenn er schon fast eine ganze Woche her war.

»Ach Nelchen, das wusstest du doch von Anfang an.« Mel zog eine Schnute, die ihren Kussmund noch verführerischer machte und Nela ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Chiara legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Bestimmt bekommst du den neuen Job. Und sonst wartet eine grosse Packung Eis darauf, bei Dirty Dancing vernascht zu werden.«

»Apropos vernascht …«

»Nein!«, riefen Chiara und Nela im Chor. Chiara warf der unbekümmerten Verkäuferin einen bösen Blick zu.

Mel lachte und lehnte sich im Stuhl zurück. »Okay, okay, ich gebe mich geschlagen. Keine Männer, kein Vernaschen.«

Erleichtert fiel Nela in ihr Lachen ein, auch wenn der Gedanke an den Film und das Tanzen ihr Herz zu einem Eiszapfen gefrieren liess. Sie wandte sich an Chiara. »Habt ihr etwa damit gerechnet, dass die mich nach einem Hallo direkt aus der Bude schmeissen? Oder weshalb wartet das Eis schon?« Wobei sie nicht im Traum damit rechnen durfte, die Stelle zu bekommen.

Chiara versuchte, ihr Grinsen hinter der Tasse zu verstecken. »Wir wussten ja nicht, ob du vor Nervosität überhaupt hingehst.«

»Oder den Lidstrich bis über die Nase ziehst. Dann hätten sie dich vielleicht wirklich direkt beim ersten Anblick rausgeworfen – oder dir erst gar nicht die Tür aufgemacht.« Mel zuckte mit den Schultern. »Aber du siehst gut aus und bist hingegangen. Wir sind stolz auf dich.«

Wenigstens jemand. Nela grinste. Es tat so gut, mit ihren beiden Freundinnen hier zu sitzen, der winterlichen Kälte zu entfliehen und Kaffee, Tee und Kuchen zu geniessen. »Wenn ich jetzt noch eine Zusage bekomme, bin ich die glücklichste Frau der Welt.«

»Sei da nicht so voreilig«, warnte Chiara leise, doch ihre Augen strahlten. Sie beugte sich nach vorn, als wollte sie ein Staatsgeheimnis lüften, und wartete, bis ihre Freundinnen es ihr gleichtaten. »Ich habe heute Abend ein Date.« Ihre Augen leuchteten plötzlich noch tiefer, das Lächeln schien kein Ende zu finden.

Nela entfuhr ein überraschter Freudenschrei. »Wirklich? Mit Manuel?«

»Hast du schon Kondome? Ich kann dir sonst welche mitgeben.« Trotz ihrer sarkastischen Worte lächelte auch Mel, lehnte sich gar noch etwas weiter nach vorn. Nela stiess sie in die Seite. »Aua!«

Während Chiara von ihrem Date erzählte und dabei aufblühte, versank Nela immer tiefer in ihren eigenen Gedanken. Es war lange her, seit sie für einen Mann so geschwärmt hatte wie ihre Freundin. Sie gönnte es ihr von Herzen, doch ein wenig wünschte sie sich das Glück auch für sich selbst.

Sie liess den Blick über die Schaufenster wandern, die sich vor dem Café aneinanderreihten. Christbaumkugeln, Engel und Tannenzweiggirlanden rahmten Spielzeuge ein, das Kleidergeschäft und ein Schuhladen beleuchteten ihre Produkte mit bunten Lichterketten. Sie entdeckte ein Paar Schuhe, schlicht, und dennoch lösten sie in ihr ein Kribbeln aus, eine Sehnsucht, die sie seit einer gefühlten Ewigkeit mit sich herumtrug und ihr Herz schwer machte. Die Schuhe trugen die Erinnerung an unbeschwerte Tage mit sich, denn sie sahen ihren letzten Tanzschuhen unglaublich ähnlich.

Sie wollte nie mehr tanzen, wollte nie mehr so enttäuscht werden.

Dieser Augenblick von vergangenem Samstag, als Corvin sie zum Tanz aufgefordert hatte … Für einen Wimpernschlag war ihre Freude aus dem Winterschlaf erwacht und hatte in ihr das Leuchten entfacht, das sie damals gespürt hatte. Doch die Angst hatte sich wie ein hungriger Wolf darüber hergemacht und den letzten Rest Hoffnung in ihr zerstört.

Kapitel 4

***

Beim Tanz geigt der Teufel gern auf.

(Redensart)

»Wunderbar! Jetzt noch einmal die linke Hüfte nach oben ziehen. Perfekt.« Aufmunternd nickte Sarah und erhob sich. »Würdest du die Übungen nicht regelmässig machen, wären wir nicht so weit.«

Corvin lachte hart auf. »So weit? Es ist dreizehn Jahre her, und noch immer kämpfe ich mit den Folgen.« Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er wollte seine Physiotherapeutin nicht anfahren, doch er wusste, was er verloren hatte.

Seit einer gefühlten Ewigkeit trug ihn nicht mehr sein eigenes Bein durchs Leben, sondern eine Prothese. »Du hast Glück«, hatten sie gesagt, »es ist nur der Unterschenkel.« Doch es war weit mehr als ein halbes Bein, das er verloren hatte: seine Familie, die Ausbildungsstelle, zwei Beziehungen und ganz viele Träume und Hoffnungen.

Nach all der Zeit noch immer Physiotherapie zu benötigen schmerzte, auch wenn er Sarah mochte. Sie leistete ausgezeichnete Arbeit, hatte sich sogar vor wenigen Jahren selbstständig gemacht und in ihrem eigenen Haus eine Praxis eingerichtet. Anfangs war er etwas skeptisch gewesen, aber die Gegend rund um das alte Bauernhaus mit Blick auf Bern hinterliess in ihm stets ein ruhiges Gefühl. Ein wenig fühlte er sich angekommen, geerdet, so doof es auch klang.

Sarah lächelte nachsichtig. »Aber du kannst fast alles machen, was dein Herz begehrt.«

Das war eine Lüge. »Ich habe auch dafür gekämpft.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Dann sei stolz auf das, was du erreicht hast.« Als er ihr einen bitterbösen Blick zuwarf, schmunzelte sie unbeeindruckt. So ging man nicht mit seinen Patienten um – eigentlich. Doch sie kannten sich seit fast vier Jahren und sprachen über Themen, die er in seiner Familie niemals angesprochen hätte. »Nicht jeder kann mit einer Prothese wandern gehen oder tanzen. Glaube mir, ich spreche aus Erfahrung.«

Corvin verdrehte gespielt genervt die Augen, doch das Aufblitzen darin überführte ihn. »Ich weiss das doch, es ist nur …« Seufzend stockte er. Was er eben hatte sagen wollen, gehörte nicht in ein Gespräch mit der Physiotherapeutin, nicht einmal mit ihr, zu der er so viel Vertrauen hatte. »Wann soll ich wieder kommen?«

Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, ging jedoch nicht auf seine Bemerkung ein, was ihm nur recht war, sondern schlug ihm einen neuen Termin vor.

Der Wind blies ihm kalt um die Nase und kämpfte sich unter seinen Schal und den Mantel, als er das Bauernhaus verliess. Rasche Schritte brachten ihn zum Auto. Erst eine Bewegung im Garten vor dem Haus liess ihn innehalten. Eine junge, braunhaarige Frau pflückte Rosenkohl mit blossen Fingern von den Stängeln. Sie hatte sich in einen kuscheligen Schal gehüllt, trug aber nur einen dicken Pullover und keine Jacke. Sie bemerkte ihn nicht, als sie mit der Schüssel den Garten verliess und das hölzerne Türchen hinter sich schloss. Es knirschte in den Angeln, sie stemmte sich dagegen, bis es sich seinem Schicksal ergab.

Er wollte einsteigen, doch dann erkannte er sie: Nela! Was machte sie hier? Noch mit der Schüssel in der Hand sah sie den Hang hinab, vor dem sich der Nebel wie eine dicke Suppe ausbreitete und den Blick auf Bern verwehrte. Ihre Finger fuhren durch das weiche Haar, das im Licht des Nebels seidig schimmerte. Ein paar Erdklumpen krümelten sich von ihren Händen und versteckten sich in den Locken.

Auf ihren angespannten Schultern lag eine Schwere, die er in einer so jungen und aufgeschlossenen Frau nicht vermutet hätte. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie anzusprechen, und dem Unvermögen, sie aus ihren Gedanken zu reissen, beobachtete er sie gebannt.

Sie streckte das eine Bein aus, atmete tief ein und drehte sich um die eigene Achse. Die Augen hielt sie geschlossen, die Schultern straff. Dann fiel sie in einen rhythmischen Schritt, nicht einmal zwei Takte lang, doch es reichte, um zu erkennen, dass sie tanzte. So leicht hatte er noch keine Frau tanzen sehen, so vollkommen. Dennoch war ihm zum Weinen zumute. Da tanzte sie, allein und einsam, damit niemand es sah. In ihr leuchtete die Musik, das Tanzen erfüllte sie. Sie spürte dieselbe Sehnsucht wie er, wenn er nicht tanzte.

Wie ein magischer Moment zogen sich die Sekunden in die Länge, um ein wenig von der Ewigkeit zu kosten. Dann sackten ihre Schultern in sich zusammen, die Röschen in der Schüssel rollten auf eine Seite, und sie liess den Kopf hängen. Ihre Finger klammerten sich an den Rand der Schüssel, als gäbe er ihr Halt.

Corvin beeilte sich, ins Auto zu steigen. Was er gesehen hatte, war nicht für seine Augen bestimmt gewesen. Dennoch berührten ihn die Verzweiflung und Sehnsucht, die aus den Bewegungen gesprochen hatten. Sie wollte tanzen. Sie musste tanzen. Wahrscheinlich hatte es eine Zeit gegeben, in der es ihr Lebensmittelpunkt gewesen war. Einfach so zeichnete man dieses Muster nicht in einen Kiesplatz. Sie wusste die Musik zu hören, zu interpretieren und neu zu formen. Wieso tat sie es dann nicht? Eine Verletzung, eine Wunde, die nicht heilte – wie bei ihm?

***

Müde nahm sich Corvin ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es und schmiss den Kronkorken in den ehemaligen Eiscremebehälter. Mit einem Seufzen warf er sich neben Jan auf das Sofa und verfolgte einige Minuten das Fussballspiel, das ihm so gar nichts sagte.

Ein erneutes Seufzen verführte seinen Freund dazu, den Fernseher auf stumm zu schalten und ihn anzusehen. »Was ist los?«

Corvin erwiderte den Blick kurz. »Was soll schon los sein?« Er wusste es ja selbst nicht. Seit er Nela heute Nachmittag bei ihrem Tanzversuch beobachtet hatte, ging ihm dieses Bild immer und immer wieder durch den Kopf. Es wollte sich nicht so recht mit jenem von Samstag in Einklang bringen, als sie geschäkert und ihn ein wenig veräppelt hatte. In ihren Bewegungen war sie so verletzlich gewesen wie ein verwundetes Reh, das nicht mehr fliehen konnte.

Jan setzte sich aufrecht hin. Jetzt war ihm seine Aufmerksamkeit sicher. »Du bist die Frohnatur hier. Martin jammert doch nur über die Arbeit, wenn er denn mal auftaucht, und ich lache nicht rund um die Uhr wie du. Also, was ist los?«

Corvin sah den Sportlern zu, wie sie stumm über den Bildschirm rannten. »Was kann dazu führen, dass man etwas, das man liebt, nicht machen will?«

»Hast du Drogen genommen? Oder willst du wieder einmal welche einwerfen?« Jan betrachtete ihn nachdenklich und trank einen Schluck Bier. Mit der eigentlichen Antwort liess er sich viel Zeit. »Meinst du das philosophisch oder auf eine reale Person bezogen? Oder willst du nach dem vergangenen Wochenende nicht mehr tanzen, weil du die Einweihungsfeier so genossen hast und einsiehst, dass Tanzen doch Zeitverschwendung ist?« Er lachte erheitert auf.

Corvin warf ein Sofakissen nach ihm, dem der Primarschullehrer gekonnt auswich. Ein Lächeln blieb an seinem Gesicht hängen. »Ich weiss gar nicht, weshalb ich da war. Die Feier war ein Witz.« Ausser Nela. Sie hatte es nicht besonders lustig gefunden, als er sie um einen Tanz gebeten hatte. »Ich kenne jemanden, der nicht tanzen will. Doch heute habe ich gesehen, wie sie ein paar Schritte tanzte und dabei vor lauter Freude nur so sprühte.«

»Sie?« Jan hatte ein erstaunliches Händchen für Menschen, deshalb durchschaute er ihn.

Dabei erhoffte er sich doch Rat. »Jemand«, korrigierte er sich und wich Jans Blicken aus.

»Ha!« Sein Freund hüpfte vor Freude fast vom Sofa. Erst im allerletzten Moment blieb er an der äussersten Kante sitzen und wirkte, als müsste er sich zurückhalten, nicht auch noch das letzte bisschen nach vorn zu rutschen. »Wie ist sie? Erzähl schon!«

Corvin betrachtete seine Hände, von Schwielen und Kratzern übersät. In den Vertiefungen entlang der Fingernägel klebte Sägemehl, an der Wurzel seines rechten Daumens sammelte ein Harzfleck Staub und Fussel. »Da ist nichts«, gab er mit schwerer Stimme Antwort, die Trauer seines Herzens spiegelnd. »Ich habe sie erst einmal getroffen und zum Tanzen aufgefordert. Ihr Fuss wippte im Takt, und ich dachte … Sie rannte davon. Heute stand sie im Garten meiner Physiotherapeutin und tanzte ein paar Schritte, ehe sie beinahe in Tränen ausbrach. Als würde etwas ihre ganze Freude schlucken.« Aus Angst, Jan könnte zu viel in die Sache hineininterpretieren, sah er ihn immer noch nicht an. Mit Frauen hatte Corvin schon vor langer Zeit abgeschlossen. Sie jetzt verstehen zu wollen war eine Aufgabe für sich.

Der Lehrer wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht verbindet sie ein schlimmes Erlebnis mit dem Tanzen. Eine körperliche Einschränkung vielleicht?«

»Du weisst ganz genau, dass einen auch eine starke körperliche Einschränkung nicht vom Tanzen abhalten kann«, entgegnete Corvin bitter. Er mochte nicht an seine eigenen Probleme erinnert werden.

Jan legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das macht doch aus dir keinen minderwertigen Menschen.«

Da hatte Corvin anderes erlebt, sogar Jan wusste das. Manchmal ging ihm diese »Alles ist gut«-Mentalität auf die Nerven, sein Freund hatte sie zu ausgeprägt verpasst bekommen. Es war nicht gut, dass er diesen Unfall gehabt hatte. Es war nicht gut, dass er nicht mehr klettern und keine Hochgebirgstouren unternehmen konnte. Es war nicht gut, dass er immer noch damit haderte. Er vermisste die Freiheit, die kalte Luft mit Nebelfetzen, wenn er an einer Felswand hing und die nächste Sicherung montierte. Er vermisste seine Freiheit und das unbeschwerte Leben.

Jan zuckte mit den Schultern. »Manche Verletzungen reichen tiefer, als der kleine Schnitt an der Oberfläche vermuten lässt. Und manche verbergen gar den Schnitt, sodass niemand auch nur erahnen kann, dass es eine Verletzung gibt. Wenn sie dir wichtig ist, lass ihr Zeit.«

»Ich kenne sie doch kaum«, murmelte Corvin und war etwas überfordert mit der Tatsache, dass sein Bier schon leer war. »Aber das, was ich heute bei ihr gesehen habe …« Er schüttelte den Kopf, konnte nicht ganz begreifen, wie sich jemand selbst so im Weg stehen konnte.

Nela musste tanzen, um glücklich zu sein.

Sein Freund schaltete den Ton wieder ein und widmete sich dem Spiel, so uninteressant es auch war. Noch knapp zehn Minuten waren zu spielen, und es stand immer noch unentschieden. »Manchmal hilft es, wenn man ins kalte Wasser springt. Ein Schubs in die richtige Richtung sozusagen. Aber manchmal ist das auch der grösste Fehler, den man machen kann.«

Kapitel 5

***

Tanz ist gelebte Musik.

(Helga Schäferling)

»Herr Schwab, Sie wollten mich sprechen?« Nela bemühte sich um ein Lächeln, doch es gelang ihr nur mässig. Herrn Schwab würde das nicht auffallen, denn er war in einen Brief vertieft, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dabei hatte er sie eben erst zu sich gebeten.

Endlich hob er den Blick und sah sie über den Rand seiner Hornbrille hinweg an. »Frau König, schön, Sie zu sehen.« Davon spürte Nela herzlich wenig. Aber das war schon so, seit sie hier arbeitete. »Wir haben da eine Anfrage, die Sie in meinem Namen ausarbeiten werden.« Er wühlte in einem der vielen unordentlichen Stapel, zog eine rote Mappe heraus und streckte sie ihr hin, während er sich wieder auf den Brief konzentrierte.

Nela räusperte sich und drückte den Schreibblock enger an ihre Brust. »Bis wann soll das Dossier denn bearbeitet sein?« Die Frage fiel ihr schwer, sie fürchtete die Antwort. Normalerweise hiess es Heute Abend oder Morgen Mittag.

Doch heute zeigte sich ihr Chef gnädig. »Morgen Abend. Und jetzt bewegen Sie Ihren süssen Arsch hierher, nehmen endlich die Mappe und verziehen sich an Ihren Arbeitsplatz. Ein hübsches Lächeln zieht bei mir nicht, die Leistung zählt.«

Mit schnellem Tippeln erreichte sie Herrn Schwabs Pult, fischte sich den Bericht und wurde den Eindruck nicht los, dass er das Dossier absichtlich etwas zurückzog, damit sie sich vorbeugen musste. Wenigstens trug sie heute eine hochgeschlossene Bluse und den Seidenschal. Seinetwegen stöckelte sie auch in diesen unbequemen Absatzschuhen herum. Einmal hatte er sie darauf hingewiesen, Halbschuhe seien im Büro nicht angemessen, seither schien er sie jeden Morgen zu kontrollieren.

Er war ein Scheisskerl. Aber solche hatte Nela in ihrem Leben schon einige erlebt, also sollte sie besser endlich lernen, mit ihnen umzugehen.

Mit angehaltenem Atem schloss Nela die Tür zum Büro ihres Chefs hinter sich. Sie sammelte sich einen Moment, sich vor dem Blick in das Dossier fürchtend, das schwer in ihrem Arm lag. Schon jetzt wusste sie, dass die Unterlagen wochenlang auf seinem Tisch geruht hatten und nun drängten. Dass es kein einfaches Projekt war. Lange hielt sie es hier nicht mehr aus, sie brauchte die andere Stelle.

Nela stolzierte an ihren Arbeitsplatz, die Augen fest auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Gläserne Türen und brusthohe Trennwände liessen Gerüchte schneller kursieren als die Finger der Sekretärin, wenn sie Kaugummi kauend eine Haarsträhne kringelte und den Chef anschmachtete. Als einzige Frau unter den Projektleitern stand Nela sowieso unter ständiger Beobachtung. Sie hasste es.

Ein Blick auf den Computerbildschirm verriet ihr, dass Herr Zeller versucht hatte, sie zu erreichen. Dass der Geschäftsführer des Bauunternehmens, das vor knapp zwei Wochen erfahren hatte, dass es innerhalb einer Arbeitswoche einen stabilen Pavillon auf die Beine stellen und aufbauen sollte, anrief, konnte nur Reklamationen bedeuten.

»Augen zu und durch«, murmelte sie und fühlte sich dabei so müde wie sonst spätabends.

Das Freizeichen erklang dreimal, dann hörte sie das Rascheln eines abgenommenen Hörers. »Zeller Holzbau AG, Zimmermann.«

Nelas Lippen formten ein freudloses Lächeln. »Architekten Schwab und Partner AG, König. Herr Zeller versuchte, mich zu erreichen?« Sie stützte den Kopf auf ihre freie Hand und massierte sich die Stirn.

»Nela?«

Erschrocken hielt sie inne. Hatte sie Herrn Zeller das Du angeboten und wusste nichts mehr davon? Wann war das denn passiert? So viel hatte sie bei der Einweihungsfeier gar nicht getrunken, noch dazu war er auch gar nicht erschienen.

»Ich bin es, Corvin.« Ein verhaltenes Lachen erklang durch die Verbindung.

Ein Blinzeln später lächelte sie in sich hinein, die Schultern entspannten sich, obwohl auch er reklamieren könnte. Rein theoretisch gesehen. Doch bei ihm wäre es wenigstens charmant formuliert. »Was kann ich für dich tun?«

Die Antwort kam nur zögerlich. »Wie wäre es mit einem Besuch auf dem Zwiebelmarkt?«

»Mit dir?«

Diesmal lachte er lauter. »Würdest du lieber mit Herrn Zeller gehen?«

Sie fiel in sein Lachen ein und fühlte sich zum ersten Mal wohl an ihrem Arbeitsplatz. Gleichzeitig spürte sie die vielen Augenpaare auf sich ruhen, die Aufmerksamkeit der Arbeitskollegen war ihr gewiss. »Ist das eine Einladung?«, fragte sie so leise wie möglich, ohne dass es Corvin auffallen würde.

»Sieht so aus.« Sie hörte die Vorfreude aus seiner Stimme heraus, von Unsicherheit keine Spur.

Ganz im Gegensatz zu ihr. Seit Jahren war sie nicht mehr eingeladen worden. Dass es jetzt so aus heiterem Himmel passierte, noch dazu von einem Mann, den sie einfach hatte stehen lassen, überraschte sie und zauberte ihr gleichzeitig ein Lächeln ins Gesicht, das sie nicht so einfach loswurde. Die Fragen an ihrem Arbeitsplatz würden unausstehlich sein.

Corvin räusperte sich. »Heute nach der Arbeit? Vielleicht um fünf?«

Nelas Blick fiel auf die dicke, rote Mappe – eine Anfrage, die wohl seit einem Monat auf die Bearbeitung wartete. Sie wagte einen flüchtigen Blick ins Innere. Drei Wochen war es her, seit der Verfasser die Projektunterlagen geschickt hatte. Sie seufzte. »Ich kann nicht.«

»Morgen vielleicht?«

»Aber der Zwiebelmarkt ist nur heute.«

Am anderen Ende erklang ein leises, vielleicht etwas verlegenes Seufzen. »Ich würde dich auch zu einem Kaffee einladen. Es müssen nicht unbedingt Zwiebeln sein.«

Seine freundliche Art liess ihren Bauch warm werden, das Lächeln in ihrem Gesicht wurde breiter. Interessierte sich Corvin etwa tatsächlich für sie? Doch schweres Bedauern schlich sich in ihren Brustkorb und unterdrückte das bisschen Hoffnung schneller, als es sich formte.

»Nein, leider auch nicht.« Sie würde heute bis um neun oder zehn im Büro festhängen – und morgen sowieso. Feierabend und Erholung kannte Herr Schwab nicht, zumindest nicht für seine Angestellten. »Wir haben in der Arbeit viel zu tun.«

»Okay.« Trotz der Endgültigkeit, die dieses eine Wort mit sich trug, hing es lange in der Luft, schwang durch den leeren Raum und dehnte ihn zu einer Ewigkeit. Jeden Augenblick hoffte Nela, dass Corvin noch etwas sagen würde. »Dann … wünsche ich dir noch einen schönen Tag. Vielleicht ein anderes Mal.«

Nela hörte ein so leises Seufzen, dass sie es kaum als solches erkennen konnte. Dennoch blieb er am Hörer, und sie war ihm unendlich dankbar dafür. Sie schloss die Augen, sah ihn wieder vor sich, wie er ihr die Hand hingehalten hatte. Möchtest du tanzen? Wenn er nur wüsste, womit sie diese drei Worte verband: mit Schmerz, Verlust und dem Zerplatzen Hunderter Träume. Allein der Gedanke daran, sich zur Musik zu bewegen, löste ein wildes Herzflattern aus.

Sie hatte Angst davor, zu tanzen. Dennoch war da dieser winzige Moment, der erste Funke, als er sie gefragt hatte. Ein Hoffnungsschimmer lag darin, und ganz viel Freude, als würde er ihr einen Teil seines Lachens anbieten – dieselbe Leidenschaft, die sie einmal tief in sich gespürt hatte. Den Übermut, wenn ihre Füsse tanzten und sie die Zeit vergass. Kaum leuchtete der alte Traum in ihr auf, riss die Angst ihn schonungslos in tausend Stücke, damit sie niemals wieder so enttäuscht werden konnte. Doch ihr Herz wollte es. Es wollte wieder Freude spüren, ihr Bauch lachen.

»Corvin?« Sie klang so unglaublich zerbrechlich, und genauso fühlte sie sich auch.

»Ja?«

»Fünf Uhr passt schon.« Ihr Blick wanderte zur Mappe, deren knallrote Farbe zu verblassen schien. »Wollen wir uns bei der LOEB-Ecke treffen?«

***

Der Wind pfiff Nela kalt um die Ohren, einzelne Schneeflocken sanken auf ihren Kopf und warteten geduldig, bis ihre Körperwärme sie schmolz. Sie vergrub die Nase tiefer im Schal und ballte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Lieber als den Zwiebelmarkt hätte sie jetzt ein gemütliches Café besucht oder direkt den Ofen bei ihr zu Hause eingefeuert. Dicke Holzscheite, das Knistern der Flammen und ein heisser Tee waren das, was sie jetzt gerade brauchte.

Jemand tippte sie an der Schulter an, und sie drehte sich um. »Hallo, Nela.« Vor ihr stand Corvin, heute nicht in seine Zimmermannskluft gekleidet, sondern in eine dicke Jacke mit Schal und Mütze. Er versteckte das Gesicht, so gut es ging. »Schön, dass es doch klappt.« Corvin zog den Schal nach unten und zeigte ein strahlendes Lächeln. Offenbar freute er sich wirklich, sie zu sehen. »Kaffee oder Glühwein?«

Sie legte den Kopf leicht schief, aber das Lächeln wich nicht aus ihrem Gesicht. »Ich dachte, du wolltest zum Zwiebelmarkt? Da gibt es doch Glühwein.«

Er lachte. »Da sass ich auch im warmen Büro und hatte keine Ahnung, wie kalt es ist.« Als müsste er seine Worte unterstreichen, schüttelte er sich wie ein nasser Hund.

Erheitert und aufgeregt und überhaupt lachte Nela. Seit zwei Jahren war es heute das erste Mal, dass sie das Büro nicht als Letzte verlassen hatte. Damit hatte sie nicht nur ihren Chef vor den Kopf gestossen, sondern auch die Sekretärin verärgert, die ihr sogar einen Anruf auf das private Handy hatte umleiten wollen.

Sie sah Corvin auffordernd an und wartete, bis er die ersten Schritte in die Spitalgasse machte und sich mit Nela an seiner Seite durch das Getümmel drängte. Als wollte jeder noch kurz zum Markt, noch ein kleines Geschenk oder etwas Dekoration kaufen, schoben sich Menschen unter den Lauben aneinander vorbei.

Endlich lichtete sich die Menge und liess den Blick auf die hübsch hergerichteten Stände frei. Es duftete nach Frühlingsrollen und Zimt, nach Kaffee und Zwiebelkuchen und nach Glühwein. Fast an jedem Stand hingen wundervolle Zwiebelzöpfe. Rotbackige Knollen glänzten mit den weissen um die Wette, kleine Schornsteinfeger lachten sie fröhlich an. Der alljährliche Zwiebelmarkt in Bern war ein Volksfest, das man am besten in der Früh mit einem Glühwein begann und am Abend mit roter Nase gemütlich ausklingen liess.

»Ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier.« Die Worte waren eigentlich nur für sie bestimmt gewesen, doch er hatte sie vernommen.

»Wenn du es nicht magst, können wir auch einen Kaffee trinken gehen. Ist wärmer«, lenkte Corvin ein, ohne zu zögern.

Nela prustete erfreut los. »Vielleicht sollten wir besser eine richtige Jacke für dich kaufen«, schlug sie mit einem Augenzwinkern vor und lenkte in eine erste Gasse zwischen den Ständen ein. »Die letzten Jahre fehlte mir einfach die Zeit, um Märkte oder sonstiges zu besuchen.«

Sie spürte seinen nachdenklichen Blick auf ihrem Gesicht ruhen, doch sein Schweigen dauerte erstaunlich lange. »Wegen der Arbeit?«

Vor einem Stand mit Schmuck hielt sie inne, nahm einen tropfenförmigen Glasanhänger in die Hand, drehte ihn und legte ihn wieder zurück. »Wenn du bei Herrn Schwab arbeitest, hast du keine Wahl. Entweder lieferst du gute Arbeit oder du wirst öffentlich demontiert.« Sie erzählte von einem Arbeitskollegen, dessen Zug verspätet angekommen war und der deshalb einen wichtigen Termin verpasst hatte. »Keine Stunde nachdem der Chef es erfahren hatte, wurde er gekündigt und freigestellt.«

Corvin pfiff durch die Zähne. »Scheint ein toller Arbeitgeber zu sein.« Die Ironie war aus seiner Stimme nicht wegzudiskutieren. »Wie kommt eine talentierte junge Frau dazu, bei so einem Haifisch zu arbeiten?«

Etwas skeptisch betrachtete Nela ihn von der Seite. Wenigstens kurz erwiderte er ihren Blick, sodass sie sich sicher sein konnte, dass er genau wusste, was sie von seiner Kritik hielt. »Es ist die beste Referenz. Kein anderes Architekturbüro weist eine ähnliche Reputation auf wie der Schwab.«

Corvin zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Ansehen ist nicht alles. Wir Unternehmer arbeiten nicht gern mit ihm zusammen, aber hin und wieder lässt es sich nicht vermeiden. Abgesehen davon ist ein gutes Arbeitsklima auch gewisse Einbussen wert.« Er steuerte einen Glühweinstand an und bestellte für sie beide je einen Becher.

Dankend nahm Nela ihren entgegen. Während sie zwischen den Ständen hindurchschlenderten und hier und dort etwas betrachteten, dachte sie über seine Worte nach. »Bist du denn glücklich bei deiner Arbeit?«

Er lachte leise in sich hinein. »Sonst würde ich mir etwas Neues suchen oder die Welt bereisen und so meinen Aussteigertraum leben.«

In ihren Augen passte ein Aussteigertraum eher zu jemandem, der mit der Geschäftswelt in der Schweiz nicht klar kam, nicht zu jemandem, der mit beiden Füssen im Leben stand. Dass er einen solchen Plan in der Hinterhand hatte, liess sie ihn mit neuen Augen betrachten. »Was würdest du denn machen, wenn alle Stricke reissen?«

»Reisen.«

»Und sonst? Der Aussteigertraum?«

Er schwieg so lange, bis sie aus der dichtesten Menge herausgefunden hatten. Nela glaubte schon, er würde ihr die Antwort schuldig bleiben. Corvin lehnte sich gegen ein Geländer, das eine Holzfläche für kleinere Weihnachtsaufführungen und Darbietungen umfasste, und blickte über den Bundesplatz, der in weihnachtliche Lichter, fröhliche Melodien und geschäftiges Treiben gehüllt war. Sie fühlte sich plötzlich ganz in Weihnachtsstimmung versetzt.

Als sie den Blick hob, fing Corvin ihn ein. Seine dunklen Augen fixierten sie, hielten sie fest, als würde das, was er sagen wollte, besonders wichtig sein. »Wenn ich aussteigen würde, dann würde ich mein ganzes Erspartes zusammenkratzen und die Welt bereisen. In jeder Stadt würde ich Menschen treffen, um mit ihnen zu tanzen.«

Augenblicklich erstarrte Nela, alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Obwohl ihr Herz keinen Wank mehr machte, stolperte ihr Puls durch den Körper und verkrampfte jeden noch so kleinen Muskel. Um sie herum wurde alles ganz still und dunkel, nur ein hämisches Lachen drang zu ihr durch.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, doch danach zitterte sie nur noch mehr. »Schön für dich«, stiess sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

»Nela?«

Sie wollte weg von hier, wollte weg von allem, was irgendwie mit Tanzen zu tun hatte. Schon einmal hatte sie deswegen alles verloren, was ihr etwas bedeutet hatte. Diese Gefahr ging sie nicht noch einmal ein. Sie liess nicht zu, jemals wieder so verletzt zu werden, sich so schäbig zu fühlen. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung.« Als er sich ihr nähern wollte, drehte sie sich weg. »Ich muss morgen früh zur Arbeit. Das Dossier, das ich jetzt eigentlich bearbeiten sollte …«

»Nela.« Corvin berührte ihre Schulter so leicht, dass sie gerade noch innehielt, und verhinderte ihre Flucht. »Es tut mir leid.«

»Es muss dir nicht leidtun. Dir nicht«, fügte sie hinzu. Allmählich beruhigte sich das Zittern, sodass sie wenigstens normal sprechen konnte. Nach einem letzten, tiefen Atemzug drehte sie sich mit einem gezwungenen Lächeln zu ihm um.

Entgegen ihren Erwartungen legte er den Kopf schief und presste die Lippen zusammen. »Ich fürchte schon.«

Nela starrte ihn einen Augenblick verständnislos an, dann hörte sie ein paar Takte Musik, die sich deutlich vom Hintergrund abhob – Swingmusik. Fröhliche, hüpfende Musik der Sechzigerjahre, die sie an Rock ’n’ Roll und wilde Tanzeinlagen erinnerte, an durchgemachte Nächte und zerschmetterte Hoffnungen. Freude, Lachen und Leben, nur für sie bedeutete es jedes Mal einen inneren Tod. Von der Seite drangen Menschen auf die Holzfläche. Sie strahlten über das ganze Gesicht. Ein Mann griff nach der Hand einer Frau, gemeinsam wirbelten sie umeinander herum. Wer noch keinen Tanzpartner gefunden hatte, wippte im Takt.

Entsetzt starrte Nela auf die Menge, deren Freude über sie hinwegschwappte und sie unter sich zu begraben drohte. Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Der Becher mit dem lauwarmen Glühweinrest glitt ihr aus der Hand.

Sie war so leer und einsam. Ein kleines Kind in finsterster Nacht. Sie lauschte der hüpfenden Melodie, hörte sie jedoch nicht wirklich, als hätte sie Watte in den Ohren, die sie von der ganzen Welt trennte. Dennoch stach ihr jeder einzelne Ton mitten ins Herz.

Musik, Tanz, das sollte alles weit weg von ihr sein. Stattdessen schien es mit jedem Augenblick näher zu kommen und sie an die schlimmsten Tage ihres Lebens zu erinnern. Stumm schüttelte sie den Kopf, als ihr Blick auf Corvin fiel. Er starrte sie an, teilweise entsetzt und enttäuscht.

»Wieso tust du das?«

Unter seiner Atmung hoben sich die Schultern, verharrten für einen Augenblick und sanken in sich zusammen. Als er sich am Dreitagebart kratzte, wandte er den Blick ab. »Ich dachte, du wolltest tanzen.«

Atemlos stand sie wie ein zu Stein erstarrter Baum vor ihm, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. All die schlechten Erinnerungen, die sie die letzten Jahre verdrängt hatte, brachen durch den Damm und fegten über sie hinweg. Wie sich alle voller Freude zur Musik bewegten und sie als Lachnummer zwischen ihnen stand. Das innere Monster griff nach ihr und dem Leben, das sie sich seit damals aufgebaut hatte, nach den Errungenschaften, die sie trotzdem erreicht hatte.

Endlich füllte sich ihre Lunge wieder mit Luft. Eiskalt zog sie in ihre Brust, um dort die überhitzten Gefühle zu dämmen. Atmen, sie musste nur atmen.

Corvin kratzte sich wieder am Bart und verschob dabei seine graue Mütze. »Vielleicht könnten wir es ausprobieren.«

Wieso hatte sie diesem Funken Hoffnung in ihr so viel Bedeutung beigemessen? Sie hätte die Vergangenheit einfach ruhen lassen sollen, sie war so schon schmerzhaft genug. Corvins Einladung hätte sie nie annehmen dürfen. Nela jedenfalls war nicht bereit, die Vergangenheit aus ihrem Dämmerschlaf zu wecken.

Mit dem letzten bisschen Willen, der ihr geblieben war, sah sie Corvin fest an. »Ich will nicht tanzen.« Ihre Stimme klang eisiger als der Wind, der zwischen den Häusern und Ständen hindurchheulte. »Auf Wiedersehen.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um, zwang sich aber dazu, nicht zu rennen. Diese Blösse wollte sie sich nicht noch einmal geben. Ihre Sicht verschwamm. Ob die Tränen vom kalten Wind oder ihrem eigenen Schmerz kamen, wollte sie nicht wissen. »Verdammte Scheisse!«

Kapitel 6

***

Liebe den Tanz: Er ist die Logik der Beine.

(Polybios Dimitrakopoulos)

Mit brummendem Schädel schlich sich Nela den Gang entlang und versteckte sich so gut wie möglich hinter den Wänden, die ihr nur bis zur Brust reichten. Sie war spät dran. Von Anfang an war das Unterfangen vergebens, ungesehen an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Für die soziale Kontrolle sorgten die niederen Wände und das offen gestaltete Grossraumbüro.

Gestern hatte sie noch bis spät in die Nacht hinein am roten Dossier gearbeitet, um die Eingabe pünktlich zu schaffen. Zu ihrem Schrecken hatte sie tief in den Unterlagen das Logo von Corvins Arbeitgeber entdeckt. Allein der Gedanke an ihn und seine hilflosen Gesten, als er begriffen hatte, dass sie auf keinen Fall tanzen würde, liessen die alten und nun wieder frischen Wunden erneut aufplatzen. Bestimmt war das ganze Dossier, das sie abgeliefert hatte, eine einzige Katastrophe.

Nelas Finger zitterten, als sie den Computer startete und ihre Bleistifte richtete. Sie schloss die Augen, um sich bewusst zu machen, dass sie hier bei der Arbeit war und Professionalität gefordert wurde.

»Frau König!« Die Stimme ihres Chefs donnerte durch das ganze Büro, noch bevor sie ihr Passwort eingegeben hatte.

Nela schluckte. Wenn Herr Schwab so laut rief, bedeutete das nichts Gutes. Hastig zog sie die zum schwarzen Rock passenden, hochhackigen Schuhe an und stöckelte dann zwischen den Schreibtischen ihrer Arbeitskollegen hindurch zum Büro ihres Chefs. Hinter ihr tuschelten Mauro und Justin, als wären sie Weiber, die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatten, als sich über die Nachbarin den Mund zu zerreissen. Selbst die Sekretärinnen reckten ihre Hälse, um zu verfolgen, wie sie steif in die Höhle des Löwen trat.

Herr Schwab sah nur flüchtig auf, als sie die Tür leise hinter sich ins Schloss zog. »Hier, für Sie.« Er streckte ihr einen Umschlag hin, auf dem ihr Name stand.

Mit klopfendem Herzen griff sie danach. Das Papier fühlte sich unter ihren Fingern unnatürlich warm an, fast als wollte es sie trösten. »Was ist das?« Selbst ihre Stimme hörte sich so unsicher an, wie sie sich fühlte.

»Ihre Kündigung.« Herr Schwab sagte es, als würde er ihr erklären, dass der Kaffee ab sofort selbst bezahlt werden musste. Er hob den Blick keine Sekunde vom Dossier, das sie ihm gestern Abend sorgfältig auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. »Samt Freistellung.«

Die harten Worte rissen ihr den Boden unter den Füssen weg, ohne auch nur einen kleinen Halt in ihrem Leben zurückzulassen. Sie hatte alles gegeben und sich hier abgerackert, hatte stets gute Arbeit abgeliefert. Und das war der Dank? »Aber … wieso?«

Erst jetzt löste er sich von dem, was sie gestern zu später Stunde noch getippt hatte. Mit hochgezogenen Augenbrauen liess er die Brille über seine Nase rutschen, um sie über den schwarzen Rand hinweg zu betrachten. »Das hier ist der grösste Schrott, den Sie jemals zusammengetragen haben. Und dann wagten Sie es noch, ihn zu spät abzugeben. Sie hätten besser am Montag noch daran gearbeitet.«

Nela schluckte und wollte sich umdrehen, als sie einer plötzlichen Eingebung folgend auf den Schreibtisch zutrat. »Die Ausschreibung lag drei Wochen unter Ihrer Schweinerei begraben, bevor Sie sie mir in die Hand drückten.«

»Verschwinden Sie.« Der Tonfall duldete keinen Widerspruch, seine Körperhaltung auch nicht. »Ich wusste von Anfang an, dass Sie es nicht schaffen würden. Nicht hier, nicht unter meinem Regime. Frauen taugen einfach nichts, weder auf der Baustelle noch hinter dem Herd.«

Nela wich das Blut aus dem Gesicht, für einen langen Augenblick wusste sie nichts zu sagen. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Doch im Gegensatz zu gestern konnte sie ihn mit einem Räuspern füllen. »Wieso haben Sie mich dann überhaupt angestellt?« Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung und Wut. Hatte er gerade nichts Besseres zu tun gehabt? Oder hatte er sich einfach lustig über sie machen wollen?

Unbeeindruckt zuckte er mit den Schultern und befreite sich von der Brille. »Sie waren ein hübsches Ding. Aber inzwischen gibt es Jüngere. Zudem werden Sie langsam teuer. Wenn ich Sie nun endlich bitten darf.« Er zeigte mit der Hand zur Glastür, hinter der sie Dutzende von sensationsgeilen Augenpaaren vermutete.

Nela schnaubte und stampfte mit dem Fuss auf. »Wissen Sie was, Sie riesiges Arschloch?« Sie hob ein Bein, um einen ihrer unbequemen, hässlichen Schuhe auszuziehen. »Sie können mich mal!« So hart sie konnte, warf sie den Schuh in Richtung ihres Chefs. Sie traf ihn am Kopf, aber leider nur mit dem Riemen und nicht mit dem Absatz. »Ich hoffe, er stinkt!«

Herr Schwab blinzelte sprachlos, den Mund zu einer Widerrede geöffnet. Doch genauso wenig wie sie hatte er mit ihrem Ausbruch gerechnet. Bevor das Donnerwetter über ihr hereinbrach, verliess sie das Büro und knallte die Glastür hinter sich zu.

Mit nur noch einem Schuh an den Füssen humpelte sie an ihren ehemaligen Arbeitskollegen vorbei zum Schreibtisch. Sie nahm sich einen Augenblick, um die persönlichen Gegenstände auf ihrem Tisch zu betrachten: Ein Foto der Familie ihrer Schwester, den kleinen Glasengel, den sie als Glücksbringer von Mel und Chiara erhalten hatte, nachdem sie den Abschluss in der Tasche gehabt hatte. Die Taschentücher und die Thermoskanne für ihren Tee packte sie noch ein, dann verliess sie das Gebäude.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739480435
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Bern Schweiz Liebesroman Tanzen Leidenschaft Romantik Romance Verletzungen Traummann

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Wenn wir durch den Regen tanzen