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Tod auf dem Campus

John Mackenzies neunter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
240 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 9

Zusammenfassung

Romantik liegt in der Luft: Während die Raben im Tower mit der lang ersehnten Familiengründung beschäftigt sind, laufen die Vorbereitungen für die Hochzeit von Beefeater John Mackenzies Nichte Renie auf Hochtouren. Just am Valentinstag jedoch wird eine Studentin in Cambridge getötet. Schon findet sich John, der in der Studentenberatung der Universität aushilft, erneut in einen Mordfall verwickelt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

 

Flach geduckt kauerte Leo im hohen Gras der Uferböschung. In der klaren Februarnacht war kaum ein Laut zu hören. Auch die Wasser des Flüsschens Cam glucksten nur leise auf ihrem Weg nach Norden, wo sie sich mit der Great Ouse vereinigen würden.

Im Licht der schmalen Mondsichel war das Mauseloch kaum zu erahnen. Aber Leo wusste, dass dort drinnen ein recht wohlgenährtes – jedoch bedauerlich flinkes – Exemplar wohnte. Mehrere Nächte hatte er schon damit verbracht, auf diese Beute zu lauern, doch bisher stets vergeblich. Heute würde sie ihm nicht wieder entwischen!

Als eine zierliche Schnauze sich aus dem Loch schob, witternd die Tasthaare nach vorn gestreckt, verharrte der Kater reglos. Nun kamen die Vorderpfoten in Sicht … gleich würde der gesamte Körper das schützende Erdloch verlassen haben. Offenbar wähnte das Tier sich in Sicherheit. Leos Schnurrhaare sträubten sich erregt. Die Muskeln in seinen kräftigen Hinterbeinen spannten sich an, bereit zur tödlichen Attacke –

Dumpfe Tritte ließen den Boden vibrieren. Blitzartig war der appetitliche Nager wieder verschwunden.

Gänzlich in den Rhythmus ihrer Schritte und in die Musik versunken, die aus ihren Kopfhörern drang, federte eine junge Läuferin vorbei. Aus der Uferböschung folgten ihr ungehaltene Blicke, bis ihr mitgeträllertes „Uh-uh … uh-uh … uh-uh …“ verklang. Leo hatte diesen weiblichen Zweibeiner schon oft gesehen. Sie hatte noch nie etwas für den stattlichen Jäger, einen herausragenden Vertreter seiner noblen Gattung felis felis, übriggehabt. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

 

In der Hoffnung, die Maus würde sich wieder hervorwagen, blieb der Getigerte noch eine Weile auf seinem Lauerposten. Als ihm die Kälte in die Pfoten kroch, gab er schließlich auf und beschloss, in Ermangelung von Frischfleisch mit einer Schüssel Whiskas mit Lachs vorlieb zu nehmen. Er streckte sich und machte sich auf den Heimweg.

Der Pfad wand sich ein Stück durch die Wiesen am Fluss entlang, bevor er auf Höhe des Kanuclubs der Universität nach links zum St. Patrick’s College abbog. Die Flusswiesen, die von den Mauern des Colleges bis zum Cam reichten, betrachtete Leo als sein ureigenstes Revier. Eindringlinge gestattete er nicht. Ein, zwei Narben unter seinem dichten Fell und ein angebissenes Ohr zeugten von vergangenen Auseinandersetzungen mit Rivalen. Als wackerer Kämpfer, der schon einige Sommer auf dem Buckel hatte, war er stets siegreich hervorgegangen. Selbst ein junger Fuchs, der Anstalten gemacht hatte, ihm die Beutetiere streitig zu machen, hatte sich nach einer Begegnung mit ihm aus dem Staub gemacht. Es war klar: Hier durfte es nur einen geben, der auf die Pirsch ging.

Jäh unterbrach Leo seinen Trott, als er einen unverwechselbaren Geruch wahrnahm. Er verließ den gekiesten Weg und strebte zum Flussufer, das an dieser Stelle mit mannshohen Büschen bewachsen war. Etliche abgebrochene Zweige zeugten davon, dass sich hier vor kurzem jemand durchgezwängt hatte. Vorsichtig schlich er an den reglosen Körper heran, der halb im Wasser lag. Instinktiv wusste er, dass kein Leben mehr in dieser Hülle war. Das Blut, das er gewittert hatte, sickerte langsam aus dem Hinterkopf der Läuferin, rann hinab und wurde vom Fluss träge glucksend davongetragen.

In dieser Nacht war Leo in den Grantchester Meadows schlussendlich doch nicht der einzige Jäger gewesen.

 

Kapitel 1

 

„Sieh doch“, wisperte George aufgeregt und packte John am Ärmel. Der Ravenmaster erinnerte John an ein kleines Kind, das am Weihnachtsmorgen ins Wohnzimmer stürmt und entdeckt, dass Santa Claus sich in der Tat durch den Kamin gezwängt und einen Berg bunt glänzender Päckchen hinterlassen hat. Wohlgemerkt, nachdem ihm von seinen boshaften Geschwistern mit düsteren Worten prophezeit worden war, dass es dieses Jahr keinesfalls Geschenke geben würde.

„Sie tun es! Sie tun es wirklich!“ Überschwänglich reckte George beide Arme nach oben und machte Anstalten, ein traditionelles schottisches Tänzchen aufzuführen. Mit einem Grunzen ließ er gleich darauf wieder von diesem Vorhaben ab und stieß ersatzweise ein paarmal die geballte Faust in Richtung des grauen Februarhimmels.

Ein unbeteiligter Zuschauer hätte sich sicherlich gewundert, warum ein wettergegerbter Veteran der britischen Armee, der stramm auf die Sechzig zuging, derart in Euphorie verfiel – und das angesichts zweier Vögel, die Zweiglein von der Erde auflasen.

John Mackenzie, Assistent des Ravenmasters im Tower von London jedoch wusste, dass sich für George Campbell gerade ein langgehegter Traum erfüllte.

Seit über einem Vierteljahrhundert war es nicht gelungen, den Bestand der königlichen Raben durch eigene Nachzuchten zu sichern. Der Legende nach spielte das Fortbestehen der Rabenpopulation im Tower eine wichtige Rolle für die Zukunft des Landes. Seit Charles II. im 17. Jahrhundert vorhergesagt worden war, dass sein Königreich stürzen würde, sollten die Raben den Tower verlassen, hatte er der Überlieferung nach verfügt, es müssten stets mindestens sechs dieser Vögel hier leben.

In früheren Zeiten hatte man einfach wild lebende Kolkraben gefangen und hierher gebracht. Dies war zum Schutz der seltenen Vögel glücklicherweise nicht mehr gestattet. Da die Zahl der Züchter immer geringer wurde, hatte George in den letzten Jahren immer wieder darüber nachgedacht, wie er den Mitgliedern seiner gefiederten Schar eine erfolgreiche Brut im Tower ermöglichen konnte.

Die meisten Experten hatten abgewunken. Kolkraben suchen in freier Natur stets nach den abgelegensten Plätzen, um ihr Nest zu bauen. Hohe Bäume, Felsüberhänge, Strommasten – die intelligenten Vögel legen Wert auf Privatsphäre. Die Voraussetzungen dafür waren in einer der größten Touristenattraktionen des Vereinten Königreichs, wo sich Tag für Tag Tausende tummeln, nicht gerade günstig.

Das vergangene Jahr hatte ganz im Zeichen des hart erkämpften Neubaus der Rabenvoliere gestanden – ein Projekt, das den Blutdruck des Ravenmasters in schwindelerregende Höhen trieb. Insbesondere, als der Fund einiger menschlicher Knochen in der Baugrube das gesamte Vorhaben beinahe zum Scheitern brachte. An jenen Herbst dachte John mit Schaudern zurück, war er doch in vielerlei Hinsicht eine aufreibende Zeit gewesen.

Selbst die feierliche Eröffnungszeremonie des neuen Rabenhauses war von einem tragischen Verlust überschattet gewesen. Florrie, eines der älteren Tiere in Georges Obhut, war kurz zuvor von einem Fuchs erlegt worden. Diese listigen Raubtiere fanden trotz aller Gegenmaßnahmen immer wieder einen Weg in die Festung. Sie zwängten sich durch winzigste Löcher oder krochen durch die Abwasserkanäle. Florrie war zum Verhängnis geworden, dass sie sich abends gern zierte, wenn es darum ging, ins Rabenhaus zurückzukehren. Wie so oft hatte George in der Dämmerung an ihren Lieblingsverstecken nach ihr gesucht, aber er konnte nur noch ohnmächtig dabei zusehen, wie der Fuchs, den Vogel im Maul, davon trabte.

Kurze Zeit später hatten sie sich von einem weiteren Mitglied der ‚Rasselbande‘, wie George sie liebevoll nannte, verabschieden müssen.

Das ranghöchste Männchen Bran vermisste seine langjährige Partnerin Florrie so sehr, dass seine ohnehin griesgrämige Art in unverhohlene Aggression umschlug. Der kräftige Schnabel eines Kolkraben kann klaffende Wunden reißen, wie John aus eigener Erfahrung wusste. Die Narbe an seiner linken Hand war auch drei Jahre nach Brans Attacke noch gut sichtbar.

Auch wenn der Rabe seinen Pflegern gegenüber durchaus rabiat werden konnte, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte, hatte er bisher nie fremde Personen angegriffen. Im vergangenen November jedoch hatte er einem kleinen Mädchen, das eine Rolle der von Bran besonders geliebten Kartoffelchips mit Sourcream-Geschmack nicht freiwillig herausrücken wollte, um ein Haar einen Finger abgebissen. Damit kam Brans Zeit im Tower zu einem jähen Ende. Mit dem Vermerk ‚Dienste nicht länger benötigt‘ wurde er in Rente zu einem Vogelzüchter nach Sussex geschickt.

Dem Ravenmaster hatte die Dezimierung seiner Schützlinge schwer zugesetzt. Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch einen Bandscheibenvorfall zugezogen, als er gemeinsam mit John das Inventar des alten Rabenhauses in den neuen Lagerraum in der Water Lane schaffte. Vergeblich hatte John gedrängt, für den Transport der großen Kühltruhe für die Fleischvorräte ein paar Beefeater-Kollegen hinzuzuziehen.

„Du tust ja gerade so, als wäre ich ein alter Mann“, hatte George gebrummt. „Das kriegen wir beide doch allein hin, Jungchen. Also, auf drei heben wir an. Eins, zwei, drei – “ Unmittelbar danach war ein Schmerzensschrei durch das alte Rabenhaus gegellt.

Das Urteil der Ärzte war vernichtend: Operation und sechs Wochen Auszeit für den Ravenmaster. Ein schwerer Schlag, nicht nur für George.

Die Verantwortung für die sieben verbliebenen Raben lag damit allein bei John. Und auch wenn die neue Rabenvoliere ein echter Gewinn war und den Vögeln ein großzügigeres und artgerechteres neues Heim bot, stellte sie doch eine Veränderung in ihrem Lebensraum dar. Als absolute Gewohnheitstiere standen die Raben jeglichen Neuerungen argwöhnisch gegenüber und freundeten sich nur zögerlich mit der luftigen Konstruktion aus Eichenholz und feinem Maschendraht an. Auch die neuen Nachtboxen, in die die Vögel sich zum Schlafen zurückziehen konnten, wurden erst einmal misstrauisch beäugt.

John brauchte einiges an Geduld und Überredungskunst, um die Tiere an den ersten Abenden in ihre neue Behausung zu locken. Als unerwartete Hilfe stellte sich dabei sein besonderer Liebling Gworran heraus. Mit bald vier Jahren war er das jüngste Tier unter den Towerraben und hatte in der Rangfolge stets ganz unten gestanden. Doch nun, da Bran und Florrie nicht mehr da waren, hatte sich das soziale Gefüge der Gruppe geändert. Wie John bemerkte, trat Gworran mit einem Mal wesentlich kecker auf. Da ihn ein enges Vertrauensverhältnis mit John verband, folgte er ihm bereitwillig in die neue Voliere und sorgte so dafür, dass auch die anderen Vögel sich allmählich herantrauten. Nach einigen Wochen schien es so, als hätte Gworran sich als neues Leittier etabliert, was John diebische Freude bereitete.

Auch für ihn selbst hatte der Umzug in den Neubau eine Herausforderung dargestellt. So passierte es häufig, dass er irgendein Utensil im neuen Lager- und Arbeitsraum in der Water Lane vergaß und wieder zurücklaufen musste. Im alten Rabenhaus dagegen war alles unter demselben Dach gewesen. Zudem bedeuteten die vergrößerten Volieren, dass mehr sauberzumachen war.

Da die von John entwickelten Rabenführungen für Schulklassen oder Kindergeburtstage immer populärer wurden, hatte er eine Reihe von zusätzlichen Terminen zu bewältigen. Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der Tower Einheit der Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, versuchte ihr Möglichstes, um John mehr Freischichten im Wach- und Besuchsdienst zu verschaffen. Dennoch hatte er innerhalb weniger Wochen einen ansehnlichen Berg Überstunden angehäuft und bekam zunehmend das Gefühl, dass sein Leben nur noch aus Arbeiten und Schlafen bestand. Weihnachten rückte näher und er hatte bisher kein einziges Geschenk besorgen können.

An einem düsteren Dezembernachmittag war Marcia, Georges altgediente Ehefrau zu John gekommen. Sie zog die schwere Eisentür des neuen Lagerraums hinter sich zu und ließ sich auf einen Schemel fallen.

„Ich schwöre dir, John, wenn er so weitermacht, dann verpasse ich ihm noch selbst den Gnadenschuss. Oder mir“, stieß sie hervor. „Nichts kann er abwarten. Alles dauert ihm zu lang. Nun hat Chief Mullins ihm schon diesen Physiotherapeuten aus dem Army-Hospital organisiert, der zusätzlich zweimal die Woche zu uns kommt. Aber George ist … einfach unmöglich. Entweder ist er am Zetern, weil er mit den kleinen Fortschritten nicht zufrieden ist oder er versinkt komplett in Verzweiflung, weil er sich als Krüppel sieht, der allen nur zur Last fällt. Und heute hat er wieder einen besonders schlechten Tag.“ Sie seufzte schwer. „Hättest du vielleicht Zeit, nachher zum Abendessen zu kommen, John?“

John konnte ihr die Bitte nicht abschlagen, auch wenn er sich auf einen ruhigen Feierabend in seiner Wohnung und ein langes Telefonat mit Pauline gefreut hatte.

So trottete er an jenem feuchtkalten Dezemberabend müde und fröstelnd über das Tower Green zurück in seine Wohnung, um sich vor dem Abendessen bei den Campbells umzuziehen. Sehnsuchtsvoll blickte er auf seine Couch und spielte kurz mit dem Gedanken, Marcia doch noch abzusagen, gab sich dann aber einen Ruck. Schließlich hatte George ihm in der Vergangenheit oft genug den Rücken freigehalten. Und er konnte verstehen, dass seinem alten Freund die Decke auf den Kopf fiel. John konnte sich gut erinnern, wie es ihm selbst vor einigen Jahren ergangen war, als er nach einem Kreuzbandriss wochenlang zur Untätigkeit verdammt war. Für George, den zusätzlich das Gefühl des Versagens plagte, war die Situation noch wesentlich schlimmer. Auch wenn ihm von allen Seiten versichert worden war, ihn träfe keine Schuld am Ableben Florries und der notwendigen Außerdienststellung von Bran, haderte er immer noch mit sich.

Gerade, als John dabei war, sich einen Pullover überzustreifen, klingelte das Telefon. Er brummelte ein wenig vor sich hin und schlurfte in den Flur. Als er die Stimme von Dr. Mike Nichols, Vogelkundler am Naturhistorischen Museum, hörte, heiterte sich seine Miene auf.

„Howdy, John! Wie ist die Lage?“, begrüßte Mike ihn munter.

„Bescheiden“, gab John zurück, musste aber unwillkürlich grinsen, als er sich seinen amerikanischen Freund vorstellte, der seinen voluminösen Körper so gut wie immer in kurzärmelige, in der Regel mit Papageien bedruckte Hemden hüllte.

„Was hast du an?“, fragte er spontan.

„Uuh, John, du Schwerenöter. Wenn du es genau wissen willst: Sophie hat mir heute meine blauen Boxershorts mit dem Bart Simpson-Motiv rausgelegt“, flötete Mike belustigt.

John brach in Gelächter aus. „Danke für diese Enthüllung. Eigentlich wollte ich wissen, ob du auch bei den Gefriergraden draußen eins deiner Papageienhemden trägst.“

„Wo denkst du hin. Meine liebe Ehefrau hat mir etwas zur Jahreszeit Passendes besorgt. Ein Hemd mit Tukanen, die Weihnachtsmannmützen tragen. Cool, was?“

Während John noch rätselte, wo man so etwas kaufte – gab es einen Katalog ‚Herrenoberbekleidung für Ornithologen: Weihnachtsedition?‘ – fuhr Mike fort. „Apropos Weihnachten. Es könnte sein, dass ich ein verfrühtes Geschenk für euch habe. Ihr sucht doch immer noch nach neuen Mitgliedern für eure Rabenbande?“

„Ja. Du weißt, es gibt im ganzen Land so gut wie keine Nachzuchten. George überlegt jetzt, mit ausländischen Rabenforschungsinstitutionen Kontakt aufzunehmen, aber das hat bei manchen Leuten schon wieder für einen Aufschrei gesorgt. Von wegen, ein Rabe in Diensten der Königin darf doch nicht vom Kontinent oder sonst woher stammen.“

„Klar, das sind die Dumpfbacken, die immer noch den Zeiten eures großen englischen Empires hinterhertrauern“, schnaubte Mike. „Aber lassen wir das. Ich könnte euch eine potenzielle Kandidatin für eure vakante Stelle vorschlagen, noch dazu waschechte Engländerin. Ein junges Weibchen, drei Jahre, das mit einem gebrochenen Flügel in eine unserer RSPCB-Rettungsstationen in Kent kam. Der Bruch war so komplex, dass die volle Flugfähigkeit nicht mehr herzustellen ist, also kann sie nicht mehr ausgewildert werden. Ich denke, bei euch wäre die junge Dame – die Kollegen dort haben sie Victoria getauft – bestens aufgehoben. Wenn du möchtest, fahre ich in nächster Zeit mit dir runter nach Dover. George nehmen wir natürlich mit, wenn er sich dazu in der Lage fühlt.“

Und ob der Ravenmaster sich dazu in der Lage fühlte! Doc Hunter, der Arzt der Tower-Einheit, raufte sich die Haare, als George sich wenige Tage später, schwer auf zwei Krücken gestützt, aber von eisernem Willen getrieben, zu Mikes Auto schleppte.

Während der Doc Mike beschwor, „Fahren Sie, als würden Sie ein rohes Ei transportieren! Vermeiden Sie um Gottes Willen Schlaglöcher und ähnliches – “, kommandierte George mit funkelnden Augen, „Junge, drück auf die Tube. Wir haben eine wichtige Verabredung. Die holde Victoria erwartet uns!“

 

Das war nun zwei Monate her. Victoria – oder vielmehr Vicky, wie sie schnell von allen genannt wurde – hatte alle Herzen im Sturm erobert. Seit ihrem Einzug in den Tower hatte sie nicht nur Georges Lebensgeister wieder erwachen lassen. Gworran war dem Charme des vorwitzigen Rabenweibchens von der ersten Begegnung an erlegen. Wie ein Hündchen folgte er ihr überallhin. Als er ihr eine Erdnuss in der Schale zu Füßen legte – seinen absoluten Lieblingsleckerbissen – und geradezu andächtig zuschaute, wie sie sie verzehrte, stand für John fest: Das war Liebe auf den ersten Blick.

„Oh, wie romantisch“, sagte Pauline gerührt, als er ihr davon erzählte. „Ich hoffe, Vicky erhört Gworrans Werben und es gibt ein Happy End mit den beiden.“

John schmunzelte. „Ich habe schon den Eindruck, dass sie ihn auch mag. In freier Natur würden wir es besser erkennen können. Da würden die beiden jetzt zum Balzflug aufbrechen und wir könnten uns die spektakulären Flugmanöver anschauen, die Kolkraben dabei aufführen. Salto, Schraube, auf dem Rücken fliegen, sich aus großer Höhe zu Boden trudeln lassen und erst im letzten Moment die Schwingen ausbreiten …“

„Das alles tun sie?“ Pauline lachte. „Sie sind schon verrückte Kerle.“

„Das kannst du laut sagen. Ich selber habe bis jetzt nur Videos davon gesehen. Unsere kleine Truppe hier wäre zu solch akrobatischen Einlagen nicht in der Lage. Wir stutzen zwar immer weniger von den Schwungfedern, weil George die Vögel möglichst wenig beeinträchtigen will. Aber für diese Manöver bräuchten sie definitiv ihr komplettes Gefieder, sonst würden sie abstürzen. Noch vor Georges Zeit hier sind zwei Rabenmännchen tatsächlich ums Leben gekommen, als sie vom White Tower herabfliegen wollten.“

„Das ist ja tragisch! Aber wie sind sie denn überhaupt da hinaufgekommen?“

„Damals fanden hier Sanierungsmaßnahmen statt und die beiden sind über das Baugerüst bis nach oben gelangt. Georges Vorgänger als Ravenmaster hat ihm erzählt, dass sich die zwei Kamikaze-Flieger offenbar von den Zinnen gestürzt haben, um einem Weibchen zu imponieren.“

„Du liebe Güte. Wie bei ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun‘“, kommentierte Pauline trocken. „Ich dachte, nur die menschliche Spezies ist zu solchen hirnlosen Aktionen in der Lage. Raben hätte ich für klüger gehalten. Hoffentlich lässt Gworran sich nicht zu so einem gefährlichen Unsinn hinreißen.“

„Glücklicherweise haben wir momentan keine Gerüste auf dem Gelände, von denen er sich in die Tiefe stürzen könnte. Und ich glaube, dass er gar keine extremen Aktionen braucht, um Vicky zu erobern. Auch ohne die Möglichkeit für einen Balzflug kann man schon erkennen, dass sie sich wie ein Paar verhalten. Sie verbeugen sich gegenseitig voreinander oder plustern ihr Federkleid auf und reiben ihre Schnäbel aneinander.“

„Ooch, das klingt süß“, seufzte Pauline. „Wie lange hält dann so eine Rabenbeziehung normalerweise?“

„Sie sind sehr treue Partner. Meistens bleiben sie ein Leben lang zusammen und ziehen jedes Frühjahr gemeinsam eine neue Kinderschar groß. Und genau damit liebäugelt George gerade. Er will den Turteltäubchen eine Extravoliere bauen in einem abgeschiedenen Teil der Festung, damit sie da in Ruhe eine Familie gründen können. Aber dafür muss er erstmal die Genehmigung von Dr. Whyte kriegen …“

„Oje“, gluckste Pauline. „Da fällt mir schon wieder ein Film ein. ‚King Kong gegen Godzilla‘. Der Ravenmaster gegen den Chefhistoriker – Showdown der Giganten.“

John lachte auf. „Dr. Whytes Ego hat nach dem Debakel um den Knochenfund im letzten Herbst einen schweren Dämpfer einstecken müssen, aber mittlerweile trommelt er sich sozusagen wieder kräftig auf die Brust. Ich denke auch, dass er das, was er für sein Revier hält, mit Zähnen und Klauen verteidigen und um jeden Handbreit Boden kämpfen wird – vor allem, weil es gegen ein Vorhaben seines Erzfeindes George geht.“

 

In der Tat hatte der Historiker in der Folge versucht, Georges Plan mit allen Mitteln zu vereiteln. Aber nachdem der Ravenmaster klargelegt hatte, dass die neue Zusatzvoliere nur eine temporäre Behausung werden und zudem an einer Stelle platziert würde, an der keine der historischen Quellen bedeutsame Funde vermuten ließ, konnte auch Dr. Whyte seine Zustimmung nicht mehr verweigern.

Anders als beim Neubau des Rabenhauses, der unzähligerGremiensitzungen, Expertenrunden und Budgetplanungen bedurft hatte, ging diesmal alles ganz schnell. Nicht zuletzt deswegen, weil die Paarungszeit der Kolkraben vor der Tür stand. Also besorgten John und George kurzerhand im Baumarkt Holz und Maschendraht und bauten das Gehege innerhalb weniger Tage selbst.

Genauer gesagt führte John die handwerklichen Tätigkeiten aus, während der Ravenmaster sich damit zufriedengeben musste, die ganze Sache zu überwachen und allenfalls den Akkuschrauber oder ein Winkeleisen anzureichen. Mittlerweile hatten ihm die Ärzte immerhin erlaubt, einige Stunden täglich wieder seiner Arbeit nachzugehen. Dazu musste er sich jedoch strikt an einige Verhaltensregeln halten, die ihm wenig behagten.

„Kein Bücken, kein Heben, keine Drehbewegungen blablabla. Als nächstes werden sie mir noch einen Kran über dem Bett installieren, der mich heraushebt. Lauter Quacksalber“, nörgelte er, fügte sich aber zähneknirschend den Anweisungen.

Rechtzeitig Anfang Februar war die neue Anlage zu Füßen des äußeren Mauerrings fertig geworden und das hoffungsvolle junge Paar war dort einquartiert worden.

 

Und nun, eine Woche vor dem Valentinstag, während die Meteorologen des britischen Wetterdienstes erste Warnungen vor einem heranbrausenden Sturmtief namens Imogen über den Äther schickten, war der Moment gekommen: Gworran und Vicky lasen einträchtig die Zweige und Moosballen auf, die John in der Voliere platziert hatte. Danach verschwanden sie mit dem Nistmaterial in der bereitgestellten Holzkiste, in der George eine Webcam installiert hatte.

„Sie tun es!“, stieß George zum wiederholten Male aus. „Das ist der entscheidende Schritt. Jetzt ist es bald soweit!“

John blickte ihn fragend an.

George wackelte belustigt mit den Augenbrauen. „Na, die Geschichte mit den Blumen und den Bienchen muss ich dir ja wohl nicht erklären, was, Jungchen? Sobald das Nest fertig ist, wird Gworran sich daran machen, den Nachwuchs für die königliche Schar zu zeugen. Das wird ein historischer Augenblick – und das buchstäblich, weil er nur ein paar Sekunden dauern wird.“ Er keckerte. „Ich muss auf jeden Fall dabei sein und mir das ansehen. Du etwa nicht, Junge?“

John lehnte dankend ab. Auch ein königlicher Rabe hatte Anspruch auf ein Privatleben, fand er.

 

Kapitel 2

 

Zischend fuhr der spärlich besetzte Zug der Great Northern Railway drei Tage später aus King’s Cross hinaus. John erlaubte sich für ein paar Momente den Tagtraum, er wäre auf dem Weg nach York. Zu Pauline. Zu ein paar herrlichen Tagen ungetrübter Zweisamkeit. Gemeinsam kochen, lesen, einfach die Zeit in ihrer entzückenden Wohnung am Kanal verbummeln … sie würde ihm mit einem strahlenden Lächeln in ihren meergrünen Augen die Tür öffnen …

„Den Fahrschein bitte, Sir.“

Mit Bedauern verabschiedete sich John von seinem Phantasiebild und wandte sich dem Zugbegleiter zu, der ihn kritisch musterte. Nach einem Blick auf das Ticket nickte er knapp und äußerte, „Die Oberleitungsschäden durch den Sturm sind beseitigt. Wir werden Cambridge also pünktlich um 9.11 Uhr erreichen. Guten Tag, Sir.“

John zog sein altertümliches Mobiltelefon heraus. Gleich darauf hatte er Dr. Geoffrey Tomlinson am Apparat.

„Geoff, guten Morgen. So, wie es aussieht, laufen die Züge wieder planmäßig, also bin ich gegen viertel nach neun am Bahnhof.“

„Wunderbar. Mit dem Taxi brauchst du keine zehn Minuten bis zum College. Oder läufst du lieber? Ich denke, die Entfernung dürfte nicht mehr als eine Meile sein.“

„Bei dem schönen Wetter gehe ich zu Fuß. Ich habe mir die Strecke schon im Stadtplan angesehen, das müsste in zwanzig Minuten zu schaffen sein.“

„Im Stadtplan?“, entfuhr es Geoff. „Das nenne ich … old school.“

John überhörte den gutmütigen Spott und erwiderte gleichmütig, „Der lag bei Mum und Dad herum. Ich denke, David hat ihn mal mitgebracht.“

Johns Bruder lebte mit seiner Frau Annie und dem kleinen Christopher seit vielen Jahren in der Universitätsstadt. Die beiden hatten sich dort eine erfolgreiche Steuerberatungskanzlei aufgebaut. Im vergangenen Jahr hatte Christopher seine Eltern mit bemerkenswerter Beharrlichkeit so lange zermürbt, bis sie schließlich kapitulierten und seinem Wunsch nachkamen, einen Hundewelpen ins Haus zu holen. Joey Junior hatte mittlerweile die Größe eines mittleren Braunbären erreicht und für zahllose Anekdoten gesorgt.

 

Geoff versicherte John noch einmal, sein Name wäre bei der Pförtnerloge des Colleges hinterlegt und der Pförtner würde ihm den Weg zu seinem Büro weisen. Nachdem er aufgelegt hatte, lächelte er in sich hinein. Ein Stadtplan! Das war wieder echt John. Vergangene Weihnachten hatte die ganze Familie über den Vorschlag diskutiert, ihm ein Smartphone zu schenken. Maggie, Renies Mutter – und bald seine Schwiegermutter, wie Geoff wieder einmal mit einem freudigen Erschauern bewusst wurde – hatte schließlich abgewunken.

„Vergesst es, Leute. Mein Bruderherz ist nun mal – “

„Ein Dinosaurier“, war ihr Tommy, ihr außerordentlich medienaffiner Sohn, ins Wort gefallen.

„Technologisch gesehen kann man das so sagen“, räumte Maggie ein. „Selbst wenn wir ihm jetzt ein topmodernes Gerät besorgen, glaube ich, er wird es in eine Schublade legen und weiter seinen alten Knochen benutzen, mit dem er außer Telefonieren und höchstens mal eine SMS verschicken nichts machen kann.“

„Ich verstehe den Jungen zwar nicht – ich für meinen Teil finde es großartig, wenn ich meine Enkel beim Telefonieren auch sehen kann und Davids Hundevideos sind auch immer ganz köstlich anzuschauen – aber ich glaube auch, dass es hinausgeworfenes Geld wäre, wenn wir John ein neues Handy kaufen“, hatte Emmeline ihrer Tochter beigepflichtet. Und so war die Idee, Renies Onkel mit einem zeitgemäßen Kommunikationsmittel auszustatten, begraben worden.

 

Brunswick Park, Hatfield, Knebworth – hier war John schon Dutzende Male vorbeigefahren auf dem Weg nach Norden. Nach einer guten halben Stunde jedoch verließ der Zug die gewohnte Strecke und folgte den Gleisen nach Nordosten.

Zum wiederholten Male überlegte John, ob es richtig gewesen war, den Auftrag an der Universität anzunehmen. Mit der Unmenge an Überstunden, die allein im letzten Vierteljahr zusammengekommen war, hätte er sich auch zwei Wochen komplett freinehmen können.

Jetzt, da die Brutvoliere fertiggestellt war, gab es keine größeren anstehenden Projekte. Mit Hilfe seines Kollegen Michael Conners hatte er einen großen Vorrat an Trockenfutter herangeschafft, der für mindestens zwei Monate reichen würde. Auch der Fleischvorrat war dank der neuen zweiten Kühltruhe üppig bemessen. Bis auf die gröberen Reinigungsarbeiten in den Volieren, für die zur Not auch Michael einspringen konnte, war George mittlerweile wieder in der Lage, die alltägliche Rabenversorgung selbst zu übernehmen. Vom Wach- und Besucherdienst blieb der Ravenmaster vorerst noch freigestellt, so dass er sich ganz auf seine ureigenste Aufgabe konzentrieren konnte.

 

„Mackenzie, ich weiß Ihren Einsatz in diesen Monaten sehr zu schätzen. Aber sehen Sie zu, wie Sie Ihr Arbeitszeitkonto wieder ausgeglichen kriegen“, hatte Chief Mullins John Anfang des Jahres ermahnt. „Die ganze Truppe schleppt Plus-Stunden noch aus der Gebein-Krise im letzten Herbst mit, aber Sie sind jetzt der einsame Spitzenreiter. Möglichst zum Ende des ersten Quartals müssen die Überstunden abgebaut sein. Also: Sobald George den Laden wieder allein in Schwung halten kann, schnappen Sie sich am besten Ihre Holde und düsen mit ihr irgendwo hin.“

Leichter gesagt als getan, wenn die ‚Holde‘ als stellvertretende Schulleiterin arbeitete und sich frühestens in den Osterferien freimachen konnte. Während John überlegt hatte, was er mit den unverhofften Urlaubstagen anfangen sollte, war die Anfrage der Universität Cambridge gekommen. Genauer gesagt, hatte sich Geoffrey Tomlinson an John gewandt. Renies Verlobter hatte nach seiner Rückkehr aus Costa Rica ganz kurzfristig eine Stelle als Dozent und Kurator in einem brandneuen Forschungszentrum der Universität erhalten.

„Wie gewonnen, so zerronnen“ – Johns Freund Mike Nichols, der sich schon darauf gefreut hatte, dass Geoff wieder an seinen alten Arbeitsplatz im Naturhistorischen Museum zurückkam, hatte ihm mit einem weinenden und einem lachenden Auge nachgesehen. „Nun müssen wir uns doch einen neuen Lepidepterologen suchen. Aber dafür haben wir durch Geoff jetzt einen direkten Draht in eins der besten Forschungsinstitute der Welt.“ Er hatte sich erwartungsvoll die Hände gerieben. „Yeah. Connections muss man einfach haben.“

Einen ähnlichen Gedanken hatte Geoff wohl seinerseits gehabt, als im Intranet der Universität händeringend ein Psychologe gesucht wurde, der Erfahrung in Krisenintervention hatte und zudem in der Lage war, Einführungskurse für Tutoren anzubieten, die für die Betreuung der Studenten an den Colleges zuständig waren.

„Ich erlebe es selber ständig, wie unzureichend diese Leute ausgebildet sind, John“, hatte er in einer außerordentlichen langen Nachricht auf Johns Anrufbeantworter gesprochen. „Meistens sind das Leute, die eine Postdoc-Stelle haben oder ein Forschungsstipendium. Neben ihren eigenen Forschungsprojekten müssen sie meistens noch in der Lehre mitarbeiten, also Laborübungen leiten oder ähnliches. Und nebenher hat sich jeder noch um einige Studenten zu kümmern. Manche werden dabei als Supervisoren eingesetzt, das heißt, sie sind für das akademische Fortkommen ihrer Studenten zuständig. Andere bekommen Studenten zugewiesen, die sie als Tutoren unterstützen sollen. Der Tutor soll der Ansprechpartner sein, wenn es um alles andere als das Fachliche geht.“ Nach einem Schnauben fuhr er fort.

„Und glaub mir, bei einem Haufen von Kids, die gerade mal 17, 18 Jahre alt sind und das erste Mal von Zuhause weg und dann in einem hochkompetitiven Umfeld wie Cambridge bestehen sollen, ist das ein weites Feld. Da kannst du als Wissenschaftler noch so hochqualifiziert sein – für so eine Rolle hat dich keiner vorbereitet. Und das geht dann zu Lasten aller. Der Tutor fühlt sich hoffnungslos überfordert und der arme Student bekommt keine wirkliche Unterstützung. Also, bitte, John: Renie hat mir erzählt, du musst deine Urlaubstage irgendwie losbekommen. Ich weiß, du hast dir diese freien Tage sauer verdient und du könntest dich mit gutem Gewissen auf die faule Haut legen … aber, ähm … es wäre großartig, wenn du es dir überlegen könntest, hier bei uns tätig zu werden. Du kannst sicher sein, dass dir sehr viele Leute dankbar wären. Also, nun … ich würde mich wirklich über einen Rückruf von dir freuen.“

John war hin- und hergerissen gewesen. Einerseits klang die Aufgabe interessant, andererseits hatte er sich bereits ausgemalt, wie er nach York hinauffahren und die Zeit bei Pauline verbringen würde. Auch wenn sie arbeiten musste, hätten sie doch wenigstens die Abende miteinander. Pauline jedoch war von dieser Idee nicht besonders angetan gewesen.

„John, mein Schatz, du weißt ja, im Februar haben wir Projektwochen, die müssen erstmal vorbereitet werden, dann bin ich währenddessen den ganzen Tag im Einsatz und hinterher steht dann Dokumentation und Evaluation und dieser ganze Mist an. Ich weiß jetzt schon, dass da nach Feierabend nicht viel mit mir anzufangen sein wird.“

„Ich könnte aber doch abends schön für dich kochen und wir könnten auch gemeinsam frühstücken und – “

„Du hast Recht. Das klingt verlockend“, hatte sie etwas wehmütig eingestanden. „Trotzdem: Ich glaube, dass du mit deiner Zeit etwas Sinnvolleres anfangen kannst, als hier bei mir den ganzen Tag darauf zu warten, dass ich nach Hause komme. Sei ehrlich – es reizt dich doch, wieder mal etwas intensiver in deinem eigentlichen Beruf arbeiten zu können, oder nicht?“

„Hm. Schon …“, meinte er gedehnt.

„Und ich könnte mir auch vorstellen, dass du Geoff damit einen Gefallen tust. Scheinbar gefällt es ihm ja in Cambridge und wenn er sich jetzt erfolgreich als Headhunter betätigt, hat er vielleicht schon mal einen Stein im Brett für seine künftige Karriere dort.“

„So ähnlich hat Maggie es mir auch erklärt. Sie ist so glücklich über das unerwartete Comeback ihres Traumschwiegersohns, dass sie am liebsten alles täte, um ihm den Weg zu ebnen. Sie hat sogar schon David gefragt, ob er über seine Steuerkanzlei nicht vielleicht Kontakte zu irgendwelchen wichtigen Leuten in der akademischen Führungsetage dort hat.“

Pauline kicherte. „Das glaube ich. Maggie, die geborene Strippenzieherin. Aber im Ernst, ich bin der Meinung, du solltest den Auftrag annehmen. Ich freue mich wahnsinnig, wenn du in nächster Zeit für ein Wochenende herauf kommst, aber deine restlichen freien Tage kannst du von mir aus gern in Cambridge verbringen. Am ersten Tag der Osterferien werde ich ohnehin sofort in den Zug springen und zu dir fahren. Und dann haben wir zwei wunderbare Wochen zusammen.“

Auch wenn John zuerst etwas verschnupft gewesen war, war er doch zum Schluss gekommen, dass Pauline Recht hatte.

 

Wie drängend der Notstand in Cambridge war, wurde ihm klar, als der Leiter der Zentralen Beratungsstelle für psychische Gesundheit, Dr. Davies, am Ende ihres gerade einmal viertelstündigen Telefonats schlicht die Frage stellte, „Wann können Sie anfangen? Sagen Sie mir, an welchen Tagen Sie hier sein können und ich stelle sofort die Gruppen für die Einführungskurse zusammen und organisiere ein Büro für Ihre Sprechstunden.“

Etwas verspätet war John eingefallen, dass er das Einverständnis seines Kommandanten brauchte, wenn er an seinen Urlaubstagen einer anderen Beschäftigung nachgehen wollte. Glücklicherweise hatte Chief Mullins auch früher schon Johns gelegentlichen Ausflügen in sein früheres Arbeitsgebiet wohlwollend gegenübergestanden.

„So, wie ich Sie kenne, ist das ein besserer Ausgleich zu Ihrem Job hier, als wenn Sie irgendwo am Strand liegen würden, was, Mackenzie? Also von mir aus können Sie das machen. Aber eins sage ich Ihnen: Wehe, Sie lassen sich wieder in so eine Mordgeschichte hineinziehen. Dann kriegen Sie Ärger mit mir.“

John zog den Kopf ein. „Ich tue mein Bestes, damit so etwas nicht wieder vorkommt, Sir.“

„Das will ich hoffen. Und jetzt gehen Sie und stimmen sich mit Bonnie und George ab. Suchen Sie nach den Tagen, wo Sie hier am entbehrlichsten sind. Cheerio.“

Bonnie Sedgwick stellte die Dienstpläne der Yeoman Warders auf. Geübt darin, mit den Schichten der drei Dutzend Mann starken Truppe zu jonglieren, drückte sie John nach kurzer Zeit einen Zettel in die Hand.

„Voilà, wie gewünscht: Acht freie Wochentage zwischen dem 11. Februar und dem 11. März, sowie zusätzlich ein Wochenende, beginnend ab dem Ende der Frühschicht am Freitag mit Arbeitsbeginn in der Spätschicht am Montag.“

„Du bist genial, Bonnie.“

„So einen Service gibt’s natürlich nur für meinen Lieblings-Beefeater. Den, der das beste Panang-Curry überhaupt macht.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Oh, natürlich. Wir müssen unbedingt bald einmal einen Curry-Abend zusammen machen.“

„Und als Nachspeise gibt es deinen Apple Crumble.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, versicherte er ihr mit einem charmanten Lächeln.

Sie sah ihm mit einem Seufzen nach, als er ihr Büro verließ. Damals, als dieser John Mackenzie nach einem Hörsturz und von Tinnitus geplagt den Dienst in der Truppenbetreuung der Britischen Armee quittiert hatte und reichlich verunsichert, wie er in dieses neue Leben hineinpassen würde, der königlichen Wachtruppe beigetreten war, hatte Bonnie ihn ins Visier genommen. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als hätte aus der Freundschaft mehr werden können, aber dann war diese rothaarige Schottin aufgetaucht und seither hatte er für keine andere Frau mehr Augen. Was für ein Jammer.

 

 

Der Zug erreichte pünktlich nach 50 Minuten Cambridge. John ging über den Bahnhofsvorplatz und wandte sich nach links. Als er am Botanischen Garten vorbeikam, fiel ihm unversehens ein Ausflug ein, den er in grauer Vorzeit mit seiner Mutter hierher unternommen hatte.

Seit er denken konnte, war Emmeline Mackenzie eine treibende Kraft im Gartenbauverein von Kew. Während seine Geschwister sich nicht für Grünzeug begeistern konnten, hatte John seine Mutter oft begleitet, wenn sie ehrenamtlich in den Gewächshäusern der königlichen Gärten arbeitete. Diese lagen nur einen Steinwurf von seinem Elternhaus entfernt. Er mochte etwa zehn Jahre alt gewesen sein damals, als sie zusammen hierher nach Cambridge gefahren waren. Es war ein warmer Abend in den Sommerferien gewesen.

John konnte sich erinnern, dass er es herrlich aufregend gefunden hatte, in der zunehmenden Dunkelheit das tropische Gewächshaus zu erkunden. Der hiesige Chefgärtner, mit dem Emmeline rege Korrespondenz pflegte, hatte sie eingeladen, ein seltenes Schauspiel mitzuerleben: Das Aufblühen von Victoria cruziana, einer südamerikanischen Riesenseerose mit gigantischen Blättern, so groß wie der Esszimmertisch der Mackenzies. Nur an zwei Nächten im Jahr entfaltete sie ihre prächtigen Blütenkelche. Der besondere Clou war, dass sie in der ersten Nacht weiß blühte und sich innerhalb der nächsten Stunden von einer weiblichen in eine männliche Pflanze verwandelte, die am nächsten Abend ihre dann rosafarbenen Blütenblätter öffnete.

John war fasziniert gewesen von diesem wundersamen Geschöpf, das noch dazu verführerisch nach Ananas duftete. Er nahm sich auf der Stelle vor, den Botanischen Garten in nächster Zeit einmal zu besuchen und Ausschau nach den Nachfahren jener Pflanze zu halten.

Wenige Minuten später bog er in die Latham Road ein und folgte den Schildern zum Eingang des St. Patrick’s College. Bewundernd blieb er vor einem wuchtigen, mit schweren Metallbeschlägen versehenen Holztor stehen, das man bequem hoch zu Ross hätte passieren können – was zur Gründungszeit des Colleges im Mittelalter sicher an der Tagesordnung gewesen war, wenn hohe Würdenträger die Lehranstalt mit ihrer Anwesenheit beehrten.

In das überdimensionale Tor war eine Tür mit einer fein gearbeiteten, von Generationen um Generationen von Studenten abgegriffenen Klinke eingearbeitet. John konnte sich einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren, als er den Griff herabdrückte und eintrat. Er blinzelte ins Halbdunkel eines langgestreckten Torbogens, an dessen Ende eine gepflegte Rasenfläche zu erkennen war.

„Guten Tag, Sir. Was kann ich für Sie tun?“, kam eine Stimme aus einem Mauerdurchlass zu seiner Linken. Hinter einer halbhohen Brüstung saß ein älterer Herr mit dunkelgrauem Jackett und Krawatte und beäugte John interessiert.

„Guten Tag. Mein Name ist John Mackenzie – “

„Ah ja, ich weiß Bescheid. Willkommen in St. Patrick’s, Mr. Mackenzie. Wenn Sie mir einen kurzen Blick auf Ihren Ausweis gestatten möchten, kann ich Ihnen gleich den Schlüssel für Ihren Seminarraum überreichen.“ Interessiert beäugte er Johns Truppenausweis, gab ihn jedoch ohne weiteren Kommentar zurück.

„Wenn Ihr Einsatz bei uns am letzten Tag des Trimesters endet, geben Sie die Schlüssel bitte wieder hier bei mir ab. Nun brauche ich nur noch eine Unterschrift von Ihnen, hier bitte.“ Er drückte John einen Kugelschreiber in die Hand.

„Sehr gut. Hier ist eine Kopie der Empfangsbestätigung für Ihre Unterlagen und der Schlüssel. Die Raumnummer steht auf dem Anhänger. Damit hätten wir die Formalitäten erledigt.“ Er nickte zufrieden. „Dr. Tomlinson erwartet Sie. Warten Sie, ich komme hinaus und weise Ihnen den Weg.“

Der Mann stülpte sich formvollendet eine Melone auf den Kopf und trat durch eine kleine Tür aus seiner Pförtnerloge.

„Ich bin übrigens Adams, Sir. Ich habe die Ehre, diesem College seit elf Jahren als Chefpförtner zu dienen. Wenn Sie jemals etwas benötigen, was auch immer, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich oder meine Mitarbeiter.“

„Vielen Dank, Mr. Adams, das ist sehr freundlich.“

John folgte dem Pförtner hinaus in den Innenhof und blickte sich beeindruckt um. Selbst im fahlen Licht des Februarmorgens gaben die zinnenbekränzten Gebäude mit den spitzgiebeligen gotischen Fenstern ein imposantes Bild ab.

Mr. Adams lächelte stolz. „Das ist der erste von unseren drei Höfen und der repräsentativste, wenn ich das so sagen darf. Er stammt noch aus der Gründungszeit des Colleges im Jahre 1453. Genauso unsere kleine, aber architektonisch bedeutsame Collegekapelle, deren Portal Sie hier auf der linken Seite sehen. In den anderen beiden Höfen werden Sie ganz andere Baustile erkennen, stammen sie doch aus späteren Jahrhunderten. Wir haben dort Gebäudeteile aus der Tudorzeit und dem viktorianischen Zeitalter sowie einen zeitgenössischen Anbau aus den sechziger Jahren. Dort befindet sich im Übrigen Ihr Seminarraum. Ich könnte Ihnen gern eine umfassende historische und kunstgeschichtliche Einführung über unser College geben, aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich weiß, Sie haben heute bereits Ihre ersten beiden Einführungsseminare zu halten und möchten sich sicher noch vorbereiten.“ Er wies auf einen Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite der quadratischen Rasenfläche.

„Dort müssen Sie hindurch. Dann queren Sie den zweiten Hof, wo Sie einen ähnlichen Durchlass finden. Dr. Tomlinson hat sein Büro im dritten Hof, Stiege F, Zimmer 224. Oh, und noch eine Sache: Bitte treten Sie nicht auf den Rasen.“ Er fixierte John mit einem strengen Blick. „Ich wäre gezwungen, Ihnen eine Geldstrafe über 20 Pfund aufzuerlegen.“

„Gott bewahre. Ich werde keinen Fuß auf das Grün setzen.“

Mr. Adams nahm dieses Versprechen mit einem kaum merklichen Kopfnicken zur Kenntnis.

„Wissen Sie, da gab es eine Geschichte, die unter uns Collegepförtnern zur Legende geworden ist. Kennen Sie Bill Nighy?“

„Den Schauspieler? Natürlich. Der Altrocker Billy Mack in ‚Tatsächlich Liebe‘. Meine Lebensgefährtin besteht darauf, dass wir uns den Film mindestens einmal im Jahr ansehen.“

„Ist das so? Nun, auf jeden Fall hat Mr. Nighy hier in Cambridge vor fünf Jahren einen Spionagefilm gedreht. Am Jesus College wurden einige Außendrehs gemacht. In deren erstem Hof steht eine lebensgroße Pferdestatue. In einer Drehpause kam Mr. Nighy doch tatsächlich auf die Idee, mir-nichts, dir-nichts den Rasen zu überqueren und sich auf das Pferd zu schwingen. Ein absolutes Sakrileg! Einer meiner Kollegen konnte ihn glücklicherweise gerade noch stoppen.“

Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Es ist schon unbegreiflich, wozu manche Menschen sich hinreißen lassen. Also, Sir, hüten Sie sich vor Fehltritten.“ Er legte grüßend die Hand an den Rand seines Hutes und ging davon.

 

Kapitel 3

 

„John, schön, dich zu sehen“, begrüßte Geoff ihn kurz darauf freudig und nahm ihm die Jacke ab. „Setz dich, setz dich. Möchtest du erstmal eine Tasse Tee?“

Aufatmend ließ John sich auf ein Sofa mit buntem Überwurf fallen und nickte. Während Geoff den Wasserkocher einschaltete, sah er sich in dem geräumigen, halbhoch mit dunklem Holz getäfelten Raum um.

Er fühlte sich eher an ein Wohnzimmer als an ein Büro erinnert. Außer der Couch gab es noch drei Sessel, gruppiert um einen niedrigen langgezogenen Tisch. Eine Wand war mit zimmerhohen Buchregalen bedeckt. Auf dem Schreibtisch fiel ihm ein Foto von Renie auf, das in einem silbernen Rahmen steckte. Es zeigte sie mit einem breiten Lächeln an das Geländer der Westminster Bridge gelehnt, im Hintergrund war schemenhaft der Parlamentsbau zu erkennen.

„Wie ist dein erster Eindruck von unserem College?“, erkundigte sich Geoff, während er Tee in zwei Tassen goss.

„Es ist alles ein bisschen überwältigend“, gab John freimütig zu. „Nicht nur die Architektur. Allein schon der Pförtner – “

Geoff lachte auf. „Mr. Adams! Der ist schon ein Unikat. Stets untadelig höflich, aber es reicht eine hochgezogene Augenbraue von ihm und man erzittert förmlich.“

„Das kann man so sagen“, grinste John und warf ein paar Kandiszuckerbrocken in seine Tasse. „Er schien auch bestens über meine Tätigkeit hier informiert zu sein.“

„Er ist beinahe erschreckend effizient“, stimmte Geoff ihm zu. „Er weiß grundsätzlich Bescheid über alles, was bei uns vor sich geht. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir nicht nur am Eingang und an der Außenmauer Überwachungskameras, sondern in jedem einzelnen Winkel.“

Er stellte einen Teller Ingwerkekse auf den niedrigen Couchtisch. „Aber er ist auch ein sehr hilfsbereiter Mensch und er hält mit seinem Team den Laden hier tipptopp in Schuss. Deswegen bin ich auch froh, dass ich diesem Haus zugeordnet worden bin. Ich höre von Kollegen aus anderen Colleges ständig Geschichten über verstopfte Klos, unauffindbare Zimmerschlüssel, nicht funktionierende Heizungen und was weiß ich noch alles. Bei uns dagegen kann man sich darauf verlassen, dass sich sofort gekümmert wird, falls es ein Problem gibt. Natürlich im Rahmen der Möglichkeiten“, setzte er hinzu. „Große Modernisierungen hat es hier wohl seit dreißig, vierzig Jahren nicht gegeben. Wir gehören zu den eher armen Colleges, unser Vermögen liegt bei einem winzigen Bruchteil im Vergleich zum dem der wohlhabenden, wie zum Beispiel dem Trinity oder dem St. John’s College.“

„Darüber hat der Guardian erst kürzlich etwas geschrieben. Trinity besitzt wohl Werte von rund einer Milliarde Pfund, das ist unglaublich.“

Geoff nickte. „So ist es. Ich schätze, unser Master – also unser Collegeleiter – hat vielleicht fünf Prozent der Geldmittel zur Verfügung, die Trinity hat. Deswegen gibt es bei uns auch nicht Perlhuhnbrüstchen und Jahrgangsweine in der Mensa wie mancherorts in Cambridge. Verglichen mit den meisten anderen Unis im Land können wir uns natürlich trotzdem nicht beschweren.“

„Den Eindruck habe ich auch“, meinte John trocken. „Wenn man wie ich ganz profan in Birmingham studiert hat, ist das wie eine fremde Welt hier, glaub mir. Bis jetzt war meine einzige Berührung mit dem Leben an einer Eliteuni, wenn ich mir ‚Inspektor Lewis‘ im Fernsehen angeschaut habe.“

Geoff grinste. „Als ich in Oxford studiert habe, ist dort oft mit Stolz erzählt worden, dass Colin Dexter seine Stories dort angesiedelt hat, weil er da lange an der Uni gearbeitet hat und sich bestens auskannte. In Cambridge kriegt man oft mit demselben Stolz erzählt, dass Dexter hier sein Studium absolviert hat. Jeder reklamiert ihn quasi für sich. Du wirst es schnell merken, wenn du hier arbeitest: Die Rivalität zwischen den Städten ist keine Legende, sondern wirklich spürbar. Du wirst auch kaum jemanden finden, der den Namen Oxford überhaupt in den Mund nimmt. ‚Der andere Ort‘ sagt man hier dazu.“

„Das merke ich mir. Ich möchte ja nicht gleich ins Fettnäpfchen treten“, sagte John.

Geoff nahm einen Schluck Tee. „Wenn mein Vorgänger hier nicht so überstürzt seine Zelte abgebrochen hätte, hätten sie so einen wie mich wohl gar nicht eingestellt.“

„Er hat eine Professorenstelle auf dem Kontinent bekommen, nicht wahr?“

„Salamanca“, bestätigte Geoff. „Hat natürlich nicht ganz so viel Prestige wie Cambridge, aber die Uni spielt durchaus in der oberen Liga mit. Und da Jorge sowieso aus Spanien kam, war das für ihn ein naheliegender Schritt. Eigentlich wollte er hier Karriere machen, aber das zunehmende Gerede über das Referendum hat ihn beunruhigt und deshalb hat er sich woanders umgesehen.“

Geoff lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte nachdenklich in seine halbleere Tasse.

„Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass die Brexit-Spinner sich im Sommer durchsetzen werden, aber definitiv profitiere ich von den Ängsten, die sie unter etlichen Wissenschaftlern hier verbreiten. Ich verdanke ihnen die Chance, die ich jetzt bekommen habe. Traurig, aber wahr.“

„Cambridge kann sich auf jeden Fall glücklich schätzen, dich bekommen zu haben“, meinte John entschieden. „Ich verstehe ja nichts von deinem Fachgebiet, aber Mike hat mir in den letzten Monaten oft genug sein Leid geklagt, wie schwierig es für das Naturhistorische Museum ist, einen Wissenschaftler deines Kalibers als Nachfolger zu finden.“

„Danke.“ Geoff lächelte verlegen. „Ich weiß nicht, ob ich unbedingt der große Gewinn für diese Universität bin. Hier bist du ständig von brillanten Leuten umgeben. Alles absolute Größen in ihrem Fach. Da ist es nichts Besonderes, wenn du irgendein Spezialgebiet hast, mit dem du dich gut auskennst.“ Er stellte seine Tasse ab, griff nach einem Keks und fuhr fort.

„Es war einfach Glück, dass sie für das neue Attenborough-Forschungszentrum ausgerechnet einen Schmetterlingskundler suchten, der sich auch mit dem Aufbau von Sammlungen auskennt. Dafür war meine Zeit im Naturhistorischen Museum einfach Gold wert. Und der zweite Faktor war, denke ich, meine Landeskenntnis und dass ich einigermaßen Spanisch spreche. Dieses Jahr stehen noch zwei Exkursionen für die Masterstudenten nach Mittelamerika an, da bin ich mit der Leitung beauftragt worden.“

„Das ist ja großartig, Geoff.“ John wusste, dass der Regenwald das Einzige war, das der junge Biologe nach seiner traumatisch zu Ende gegangenen Zeit in San José vermisste.

„Du hast Recht. Wir werden jeweils zwei Wochen in Panama und Costa Rica unterwegs sein. Ich freue mich schon wahnsinnig darauf.“ Er lächelte glücklich. „Aber auch abgesehen von solchen Highlights ist der Job hier ein Volltreffer. Die Arbeit ist so vielseitig, dass buchstäblich jeder Tag spannend ist. Mal bin ich im Zoologischen Museum und bereite mit Kollegen alles für die Neueröffnung vor – ich muss dich unbedingt mal dorthin mitnehmen, wenn du Zeit hast. Dann bin ich in zwei interdisziplinären Biodiversitäts-Forschungsprojekten involviert. Und schließlich halte ich noch zwei Vorlesungen pro Woche und bin Supervisor für sechs Masterstudenten. Ich arbeite so viel wie nie zuvor, aber eigentlich fühlt es sich gar nicht wie Arbeit an. Natürlich braucht man für so einen Job eine Partnerin, die das mitträgt.“ Sein Blick schweifte zum Schreibtisch, wo er liebevoll auf Renies Bild verweilte.

„Das kann ich mir gut vorstellen, dass Renie dir nicht die Hölle heißmacht, wenn du mal später nach Hause kommst“, grinste John. „Wahrscheinlich kommt sie selbst noch später als du.“

Geoff lachte und wandte sich wieder John zu. „Das gibt es durchaus. Aber ich finde es toll, dass sie sich so in ihr Studium reinkniet. Sie hat sich ein echt großes Pensum auferlegt für ihr erstes Jahr. Was die an der City University von ihren Studienanfängern verlangen, ist echt knüppelhart. Ein Essay nach dem anderen, Präsentationen, Gruppenprojekte mit ganz engen Deadlines … Und daneben die Ausbildung als Parlamentsreporterin in Westminster durchzuziehen, das ist schon ein Knochenjob.“

Johns älteste Nichte hatte sich nach mehreren meist kurzlebigen Ausflügen in diverse Tätigkeitsfelder dafür entschieden, dass der Journalismus ihre berufliche Heimat werden sollte. Die ganze Familie hoffte inständig, dass Renie diesmal tatsächlich ihren Weg gefunden hatte.

„Diese Woche ist sie in Edinburgh, nicht wahr?“, fragte John.

Geoff nickte. „Seit gestern, für eine Woche. Ein Austauschprogramm mit den Berichterstattern des schottischen Regionalparlaments. Und wenn sie zurückkommt, stehen gleich eine Menge Klausuren an der Uni an.“ Er hob die Arme über den Kopf nach hinten und streckte sich. „Ja, momentan sind wir wirklich beide ganz schön eingespannt. Ich bin Maggie sehr dankbar, dass sie einen Großteil der Hochzeitsvorbereitungen übernommen hat. Das hätten wir nebenher nicht geschafft.“

„Und nachdem Maggie mindestens so gut organisiert ist wie euer Mr. Adams, klappt an eurem großen Tag sicher alles wie am Schnürchen“, stellte John fest.

„Da bin ich mir auch sicher. Es kommt allerdings schon manchmal zu Reibereien zwischen ihr und Renie, wenn die Damen sich mal nicht einig sind. Da sucht man am besten schnell das Weite, bevor man zwischen die Fronten gerät.“

Die Männer warfen sich einen verständnisinnigen Blick zu. Geoff beugte sich vertraulich nach vorne und senkte unwillkürlich die Stimme.

„Du weißt, dass ich verrückt bin nach Renie und mein Leben mit ihr verbringen will – aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich heilfroh, dass die Uni mir ein kleines Zimmer hinten im Anbau zur Verfügung stellt, wo ich übernachten kann. So ein- bis zweimal die Woche hierzubleiben, ist gar keine schlechte Sache.“

„Das glaube ich dir gern“, schmunzelte John. Er liebte seine älteste Nichte von Herzen, aber das Mädchen konnte wirklich … anstrengend sein.

„Es war auch sehr nett von unserem Master, uns die College-Kapelle für die Trauung zur Verfügung zu stellen“, sprach Geoff weiter. „Als Absolvent des Christ Church-Colleges hätte ich zwar das Recht gehabt, die phantastische Kathedrale dort zu nutzen, aber ich sehe meine akademische Heimat jetzt hier in Cambridge. Und die St. Patrick’s-Kapelle ist auch sehr hübsch. Ich könnte sie dir zeigen, wenn du möchtest.“

John sah auf die Uhr. „Mit Vergnügen, aber ich würde gern erst einmal den Raum sehen, wo ich meine Seminare halten werde. Und dann soll ich um elf Uhr zu einem kurzen Kennenlernen zu Dr. Davies kommen. Die Zentrale Beratungsstelle ist nicht weit von hier, nicht?“

„Genau. Sie liegt neben dem Institut für Neurowissenschaften, keine zehn Minuten zu Fuß. Das ist recht praktisch, denn dein Büro für die Studentensprechstunden ist dort und dein Kursraum ist hier im College. Ich könnte dir auch ein Fahrrad organisieren, wenn du möchtest, dann kämst du noch schneller hin und her.“

„Das ist eine gute Idee“, meinte John. „Wenn ich zwischendurch mal Zeit habe, würde ich auch gern auf einen Sprung bei David vorbeischauen.“

Geoff wog den Kopf. „Bis zu seiner Kanzlei in der Sidney Street ist es nicht ganz so weit, aber bis zu seiner Wohnung oben am Castle Mound wäre man zu Fuß sicher mehr als eine halbe Stunde unterwegs. Pass auf, ich besorge dir auf jeden Fall ein Leihfahrrad, die gibt’s hier wie Sand am Meer. Bis du von Dr. Davies zurück bist, habe ich bestimmt eins aufgetrieben.“ Er stand auf und griff nach einem Schlüsselbund, der auf dem Schreibtisch lag.

„Komm, wir schauen uns deinen Kursraum an und wenn uns noch Zeit bleibt, führe ich dich ein bisschen herum.“

„Ich bräuchte noch Kopien“, fiel es John ein. „Ich habe ein Skript angefertigt, das ich den Kursteilnehmern gern mitgeben möchte.“

Geoff warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Kopien. Ähm, John, wir sind im 21. Jahrhundert. Wie wär’s, wenn du den Leuten das Skript digital zur Verfügung stellst? Wir haben ein Uni-eigenes Portal, wo du das Material hochladen kannst und dort können die Teilnehmer sich die pdf-Files runterziehen. Die IT-Abteilung könnte dir sogar einen virtuellen Klassenraum einrichten, wo du den Leuten auch Chats anbieten kannst … oder auch nicht.“ Ein Blick in Johns Gesicht genügte und Geoff musste erkennen, dass seine Vorschläge nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Er seufzte. „Gut, dann machen wir uns jetzt als erstes auf die Suche nach einem Kopierer. Ich glaube, in unserer Bibliothek müsste es einen geben.“

John griff sich Jacke und Tasche und folgte Geoff zur Tür hinaus. Während Geoff absperrte, fragte John, „Wozu hast du eine Doppeltür?“

„Die hat hier jedes Büro“, erwiderte Geoff. „Wenn die äußere Tür geschlossen ist, heißt das, dass der Betreffende entweder nicht zuhause ist oder nicht gestört werden möchte. Damit erübrigt sich jedes Klopfen.“ Er ging voraus, den kurzen Flur entlang und dann die knarzende Treppe hinab.

„In diesem Haus sind die Bachelorstudenten im dritten Jahr und ein paar Masterstudenten untergebracht“, erklärte er und öffnete die Tür in den von roten Backsteingebäuden umgebenen Hof.

„Ah, sieh mal, da kannst du gleich den ersten Mitarbeiter des Sozialen Dienstes kennenlernen“, sagte er gleich darauf. John sah sich verdutzt um. Der Hof war menschenleer. Da entdeckte er mitten in der Rasenfläche eine wohlbeleibte getigerte Katze, die sphinxähnlich auf dem Grün ruhte.

„Leo!“, rief Geoff halblaut und ging in die Knie. „Komm her, Dicker.“

Das Tier erhob sich und kam gemessenen Schritts zu ihnen herüber. Als John ihm die Hand hinstreckte, schnupperte er und rieb dann seinen Kopf an den Fingern. John kraulte ihn im Nacken, was dem Kater zu gefallen schien. Mit halbgeschlossenen Augen blieb er sitzen und ließ ein kräftiges Schnurren ertönen.

„Die Zunge hängt ihm heraus“, bemerkte John erstaunt. Etwas Derartiges hatte er bei den Familienkatzen King Olaf und King Edward noch nie beobachtet.

„Er ist vor langer Zeit mal überfahren worden“, erklärte Geoff. „Seitdem fehlen ihm vorn ein paar Zähne und dann rutscht die Zunge manchmal ein Stückchen heraus. Aber trotz seines Handicaps ist er ein flinker Jäger. Ich sehe ihn öfters eine Maus oder auch mal einen Vogel herumtragen. Einmal kam er sogar mit einem Goldfisch an, der ihm zu beiden Seiten aus dem Maul hing. Den hatte er wahrscheinlich aus dem Teich im Collegegarten.“

„Und er darf hier einfach so herumstrolchen?“, fragte John.

„Er gehört unserem Master und seiner Frau, deswegen genießt er hier alle Freiheiten und darf – abgesehen von seinem Herrchen – als Einziger sogar auf dem heiligen Rasen herumspazieren. Dem guten Mr. Adams ist das ein ziemlicher Dorn im Auge, aber abgesehen von dem alten Griesgram ist Leo allgemein sehr beliebt. Ich glaube, er ist für die Studenten ein besserer Trostspender als sämtliche Tutoren.“

„Und das noch dazu ehrenamtlich“, bemerkte John und strich dem Tier sanft über das weiche Fell unter dem Kinn.

„Naja, man könnte sagen, er kriegt seinen Lohn in Naturalien ausbezahlt. Viele stecken ihm Leckereien zu, wie man an seiner Wampe sieht.“

Der Kater quittierte diese Majestätsbeleidigung mit einem durchdringenden Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen, erhob sich und zog sich wieder auf seinen Beobachtungsposten im Gras zurück.

Johns Knie knackten vernehmlich, als er aufstand.

„Wir müssen hier entlang.“ Geoff deutete nach links. „Der Zugang zur Bibliothek ist im ersten Hof. Glücklicherweise sind im St. Patrick’s die Wege alle recht kurz. Wir sind ein ziemlich kleines College mit insgesamt nur 180 Bachelor- und 60 Masterstudenten, schwerpunktmäßig aus den Naturwissenschaften. Unser Master verfolgt einen progressiven Ansatz, was ich sehr gut finde. Wenn jährlich der Anteil an Schülern veröffentlicht wird, der es von einer staatlichen Schule aufs College geschafft hat, liegen wir immer weit vorne.“

Sie durchquerten den zweiten Hof, wo zum Teil noch dunkles Fachwerk an den hell gekalkten Gebäuden erhalten war.

„Renie hält mir trotzdem immer Vorträge darüber, wie versnobt und elitär Cambridge ist“, grinste Geoff. „Sie hat für eine parlamentarische Anfrage kürzlich die aktuellen Zahlen recherchiert und wäre fast ausgeflippt. ‚Westminster, Eton und St. Paul’s – die kriegen selbst den degeneriertesten Sprössling in eine Elite-Uni rein, während das superschlaue und motivierte Kind einer alleinerziehenden hartarbeitenden Mutter aus Hackney nicht den Hauch einer Chance hat‘ und so weiter.“

John musste lachen. Geoff hatte Renies Ton sehr treffend nachgeahmt. „Ganz von der Hand zu weisen ist das Argument aber nicht“, gab er trotzdem zu bedenken.

„Klar gibt es noch viel Luft nach oben“, stimmte Geoff ihm zu. „Als ich damals in Oxford angenommen wurde, war ich erst der zweite überhaupt von meiner Schule in Clapham. Das war ein Riesending. Und natürlich gehörte damals auch eine große Portion Glück dazu.“

Er öffnete eine Tür und sie gingen über eine knarzende Holztreppe nach oben.

„Der Doktorand, mit dem ich das Auswahlgespräch im Christ Church College hatte, schrieb gerade an einer Dissertation über den Braunfleckigen Perlmuttfalter“, erzählte Geoff weiter. „Wir hatten sofort einen Draht zueinander, als ich ihm erzählte, wie ich in den Sommerferien im Garten meiner Großeltern ein Monitoring-Projekt am Silberfleck-Perlmuttfalter durchgeführt hatte. Und dass ich überhaupt eingeladen wurde, hatte ich meiner Tante zu verdanken. Sie war Englischlehrerin und hat mir geholfen, mein Bewerbungsschreiben aufzusetzen – okay, hier ist unsere Bibliothek.“

Sie standen vor einer Glastür, die flankiert wurde von zwei Reihen von Schließfächern mit ein paar einfachen Holzbänken davor. Geoff zeigte grinsend auf die Schränke und meinte, „Die dienen hauptsächlich der Aufbewahrung von essenziellen Lernbegleitern wie Energydrinks und Schokoriegeln. Drinnen im Lesesaal ist alles, was flüssig oder krümelig ist, bei Todesstrafe verboten. Da ist unsere Chefbibliothekarin Ms. Mead ungefähr so streng wie der gute Mr. Adams mit seinem Rasen.“ Er legte den Finger an die Lippen und wisperte, „Und jetzt Silentium.“

Der zweigeschossige Saal mit seiner umlaufenden Galerie gefiel John auf Anhieb. Die Hälfte der vielen kleinen Tische war mit Studenten besetzt, die die Köpfe in dicke Wälzer steckten oder über Aufzeichnungen brüteten. Geoff zupfte ihn am Ärmel und wies die Treppe hinauf. Auch im Obergeschoss waren etliche Studierplätze eingerichtet, alle mit Tischlampen und Steckdosen ausgestattet.

Sie gingen an einigen Glastüren mit der Aufschrift ‚Gruppen-Studierzimmer‘ vorbei, durch die man große Tische erkennen konnte, umgeben von gepolsterten Stühlen. Schließlich erreichten sie den Kopierraum, der verwaist dalag. Geoff nahm den Stapel Papier entgegen, den John aus seiner Tasche nahm.

„Du liebe Zeit, wie viele Seiten sind das?“, meinte er stirnrunzelnd.

„22“, erwiderte John.

„Und das brauchen wir jetzt – wie oft?“

„Es sind drei Kurse à zwölf Personen.“

„Das sind ja fast 800 Kopien! John, du bist einfach …“ Geoff fuhr sich über die Stirn. „Okay. Ich hätte eine Bitte: Falls du später nochmal Material austeilen willst, dann schick mir bitte die Dokumente vorab per E-Mail, dann drucke ich sie in meinem Büro aus. Jetzt müssen wir erstmal sehen, wie das Ding hier überhaupt funktioniert.“

Nachdem er das Display studiert hatte, murmelte er, „Hm. Ich brauche die Nummer einer Kostenstelle, über die das abgerechnet werden soll. Zumindest, wenn wir nicht pro Blatt zehn Pennies einwerfen wollen.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Pfeif drauf, ich lasse das jetzt über meine eigene Kostenstelle laufen, sonst wird das heute nichts mehr.“

John wartete etwas betreten, bis Geoff den Kopierer nach einigen Fehlversuchen soweit hatte, dass er sortierte Papierpäckchen ausspuckte. Nachdem ein Papierstau beseitigt war, lief es kurzzeitig wie am Schnürchen. Dann jedoch vermeldete das Gerät „Kein Papier“. Auch der altersschwache Rollschrank an der Wand enthielt keinen Nachschub.

Geoff sah, dass sich der Uhrzeiger bedrohlich Richtung elf Uhr schob und fasste eine Entscheidung.

„Pass auf. Ich kümmere mich um das hier und du gehst schon mal los. Dann hast du noch Zeit, schnell einen Blick in deinen Kursraum zu werfen, bevor du deinen Termin bei Dr. Davies hast. Wenn du zurück bist, kommst du in meinem Büro vorbei und ich halte deine Sachen für dich bereit. Falls vor dem ersten Seminar noch Zeit bleibt, können wir einen Happen essen gehen.“

John nickte dankbar und ließ sich den Weg zum Seminarraum erklären.

„Das ist ganz einfach. Du gehst zurück in den zweiten Hof, nimmst dort den dritten Aufgang links, durchquerst das Gebäude, gehst hinten wieder hinaus und dann bist du schon bei unserem Anbau. Er hat zwei Eingänge. Du nimmst am besten den rechten. Der Raum ist im Erdgeschoss, am Ende des Gangs gleich neben den Toiletten auf der rechten Seite.“

Als John im zweiten Hof stand, musste er feststellen, dass er den Großteil von Geoffs Instruktionen vergessen hatte. Musste er nun rechts oder links? Eine Beschilderung Richtung Anbau war nicht zu sehen. Rings um den Hof waren die Treppenhäuser A bis L gekennzeichnet.

Während er ratlos um sich blickte, kam ein Mann aus dem Durchgang zum dritten Hof geeilt. Er trug eine Schiebermütze, dazu eine grüne Hose mit Kniepolsterung und eine Jacke mit einer Vielzahl von Taschen. In den Händen hatte er eine durchsichtige Plastiktüte und eine kleine Schaufel. Als er John erblickte, hielt er inne.

„Guten Tag! Kann man Ihnen helfen?“

„Das wäre sehr freundlich.“ John trat zu dem Weißhaarigen und stellte sich kurz vor. „Ich suche meinen Seminarraum im Anbau. Aber nun bin ich mir nicht mehr sicher, durch welches Treppenhaus ich muss – “

„Ich bringe Sie hin. Nur einen kleinen Moment bitte, ich muss schnell Leos Haufen beseitigen.“ Der Mann, offensichtlich einer der Gärtner, ging über den Rasen und las die Hinterlassenschaft des Katers auf. Die Tüte fröhlich schwingend, kam er zu John zurück und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Das muss immer flugs erledigt werden. Sonst wird Mr. Adams etwas ungehalten. Wenn er sieht, wie Leo sein Geschäft auf dem Rasen verrichtet, steigt sein Blutdruck. Und das wollen wir keinesfalls.“ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Bitte hier entlang.“ Er wies zum Treppenhaus C.

John blickte sich unwillkürlich einmal um. Hatte Mr. Adams seine Augen überall? Voll Mitgefühl für den freundlichen Gärtner, der von dem Chefpförtner offensichtlich in Gutsherrenmanier herumkommandiert wurde, meinte er, „Ich möchte Sie nicht von der Arbeit abhalten. Wenn Sie mir den Weg einfach nochmal erklären, finde ich bestimmt selbst hin.“

„Nein, nein, das ist kein Problem. Ich war nur gerade dabei, im Collegegarten klar Schiff zu machen. Imogen hat ganz hübsch gewütet bei uns.“

John nickte. Auf der Zugfahrt hatte er immer wieder umgestürzte Bäume gesehen. Er war heilfroh, dass die neue selbstgezimmerte Voliere dem Sturm standgehalten hatte. Es war ein Glück, dass George ein geschütztes Plätzchen im Windschatten der Festungsmauer ausgesucht hatte.

„Da haben Sie sicher viel zu tun mit den Aufräumarbeiten“, meinte er. „Also bitte bemühen Sie sich nicht um meinetwillen. Ich möchte nicht, dass Sie Ärger bekommen – “

„Sie müssen sich wirklich keine Sorgen um mich machen, junger Mann.“ Plötzlich schlug Johns Begleiter sich an die Stirn. „Oh – ich hätte mich vielleicht vorstellen sollen. Gestatten: Professor Mayhew. Ich bin der Master von St. Patrick’s.“

 

Kapitel 4

 

Heilige Sch…. . Während John vor Peinlichkeit im Boden versinken wollte, lachte der Professor vergnügt.

„Sie haben mich wohl für den Gärtner gehalten, was?“

John schluckte. „Ähm, ja. Sie müssen verzeihen – “

„Papperlapapp. Erstens sind Sie nicht der erste, dem das passiert und zweitens ist der Beruf des Gärtners mindestens so ehrbar wie der eines Professors. Und soll ich Ihnen etwas sagen?“ Er blieb stehen und John tat es ihm gleich.

„Ich habe nach der Schule tatsächlich eine Ausbildung zum Gärtner gemacht, weil ich es satt hatte, den ganzen Tag in einem muffigen Raum zu sitzen und mir Wissen ins Hirn zu stopfen, das ich völlig irrelevant fand. Damals dachte ich, der letzte Schultag wäre der beste Tag meines Lebens.“ Des Professors Augen funkelten.

„Ich habe den Beruf geliebt, aber dann wollte ich doch noch mehr lernen über die Natur. Ich habe einen richtigen Wissensdurst entwickelt. Und so bin ich schließlich Botaniker geworden. Wenn es die Zeit erlaubt, mache ich mir immer noch gern selber die Finger schmutzig und wühle in der Erde herum. Oder entsorge, was unser Kater so hinterlässt.“ Er lachte. „Wissen Sie, ich bin hier der Einzige, der die offizielle Erlaubnis hat, auf dem heiligen Rasen herum zu trampeln. Daher bleibt mir in der Regel die Entsorgungsthematik überlassen.“

Er setzte sich wieder in Bewegung. „Und Sie sind also der Psychologe, der unseren Tutoren weiterhelfen soll. Es freut mich sehr, dass wir endlich jemanden für die Aufgabe gefunden haben. So, sehen Sie, jetzt sind wir gleich da.“

Professor Mayhew ließ es sich nicht nehmen, John bis in den Seminarraum zu geleiten.

„Schauen Sie, hier ist die Fernbedienung für unseren Beamer. Warten Sie, ich prüfe schnell, ob die Batterie auch funktioniert – “

„Ich brauche gar keine technische Ausstattung“, bremste John den Master. „Dr. Tomlinson kopiert freundlicherweise gerade das Skript, das die Teilnehmer bekommen. Ansonsten möchte ich meine Inhalte lieber im Gespräch transportieren als mit einer Präsentation.“

„Ah, Sie sind wohl noch ganz alte Schule?“ Ein träumerischer Ausdruck trat auf Mayhews Gesicht. „Können Sie sich erinnern? Ganz früher gab es sogar noch Matrizenabzüge. Die rochen immer so himmlisch nach Spiritus. Das waren noch Zeiten.“

John nickte mit einem Lächeln, schielte aber auf die Uhr. Wenn er sich nicht beeilte, kam er zu spät zu seinem Gespräch bei Dr. Davies.

„Ähm, Sir, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hilfe. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Ich werde in der Zentralen Beratungsstelle erwartet, deswegen muss ich nun leider gehen.“

„Aber natürlich, natürlich. Es war schön, mit Ihnen zu schwatzen. Richten Sie Dr. Tomlinson aus, er soll Sie einmal mit zum Abendessen in unseren Speiseraum bringen. Meine Frau möchte Sie bestimmt auch kennenlernen.“

„Oh, herzlichen Dank“, erwiderte John überrascht. „Ich komme sehr gern.“

Es dauerte noch einige Minuten, bis er sich von dem redseligen Professor loseisen konnte. So kam er trotz der kühlen Luft einigermaßen erhitzt am Gebäude der Zentralen Beratungsstelle für psychische Gesundheit an, da er den Weg im flotten Trab zurückgelegt hatte.

Fünf nach elf. Er lief die Treppe in den ersten Stock hinauf, bis er an einer Tür mit der Aufschrift ‚Vorzimmer Dr. Gerald Davies: Millicent Truwater‘ eintraf. Die Tür stand offen. Eine mütterlich wirkende Frau blickte auf, als sie sein Schnaufen wahrnahm.

„Kommen Sie doch herein. Sie sind bestimmt Mr. Mackenzie, nicht wahr?“

„Ja. Es tut mir leid, dass ich zu spät bin – “

„Gar kein Problem. Dr. Davies ist sowieso noch in einer Beratung. Das Gespräch hätte schon vor einer halben Stunde zu Ende sein sollen, aber Sie kennen das ja. Manchmal braucht man einfach mehr Zeit.“

John nickte und entspannte sich ein wenig.

„Wir könnten die Zeit nutzen, um die Formalitäten durchzugehen. Haben Sie den unterschriebenen Arbeitsvertrag dabei? Und Ihre Qualifikationsnachweise? Ich weiß, dass Sie sie elektronisch geschickt haben, aber wir sind gehalten, die Originale zumindest in Augenschein zu nehmen. Sie glauben gar nicht, was heute alles gefälscht wird.“

John zog seine Dokumentenmappe aus der Tasche und reichte ihr die Papiere.

„Besten Dank. Haben Sie vielleicht noch Fragen zum Vertrag? Nein? In Ordnung. Dann nehme ich ein Exemplar an mich und die Zweitschrift bleibt bei Ihnen.“ Sie überflog die Unterlagen und reichte John gerade alles zurück, als die Tür ins Nebenzimmer aufging. Ein zierliches Mädchen mit langen, etwas zerzausten dunkelblonden Haaren kam heraus.

„Danke, Dr. Davies“, sagte sie, nach hinten zu einem molligen Dunkelhaarigen mit Vollbart gewandt. „Sie geben mir Bescheid, sobald Sie etwas gehört haben, ja? Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das noch aushalte – “

„Ich habe es Ihnen versprochen, Sarah, und ich kümmere mich darum. Sie hören bald von mir“, versicherte er ihr und blickte ihr noch einen Moment nach, bis sie zur Tür hinaus war. Dann schnaufte er tief durch.

„Millie, bitte erinnere mich daran, dass ich nachher Roger Darnsley anrufe. Wir müssen versuchen, einen Zimmertausch zu arrangieren, bevor Sarah noch komplett durchdreht.“

Er streckte John die Hand entgegen. „Sie müssen Mr. Mackenzie sein. Großartig, dass Sie da sind. Kommen Sie rein. Millie, bringst du uns bitte Tee? Und ein paar Sandwiches dazu. Ich sehe es schon kommen, dass ich es heute mal wieder nicht in die Kantine schaffe.“

Er schloss die Tür hinter ihnen und deutete auf ein etwas durchgesessenes Sofa. „Nehmen Sie doch Platz.“ Nachdem er einige zusammengeheftete Papiere vom Schreibtisch geholt hatte, ließ er sich in einem Sessel nieder, der im rechten Winkel zur Couch stand.

„Wissen Sie was? Mit Kollegen bin ich eigentlich grundsätzlich per Du. Ich hoffe, das ist okay? Ich bin Gerry.“

John lächelte. „Sehr gern.“

„Also, John. Ich freue mich wirklich, dass du uns zumindest für ein paar Wochen unter die Arme greifst. Falls ich das Budget fürs nächste Trimester bekomme und es für beide Seiten passt, würde ich dich natürlich gern auch für eine längere Zeit verpflichten – “ Er ließ den Satz in der Luft hängen und blickte John hoffnungsvoll an.

Der schüttelte bedauernd den Kopf. „Das würde mein Dienstplan nicht erlauben. Momentan haben wir eine besondere Situation, weil ich eine solche Menge an Überstunden angehäuft habe, dass ich quasi gezwungen war, sie schnellstmöglich abzubauen. Aber in der Regel bin ich mit meinem Job gut ausgelastet.“

Gerry Davies blätterte in dem Papierstapel.

„Ja, ich habe gelesen, dass du bei den königlichen Yeoman Warders bist. Und vorher warst du bei der Army. Ein ungewöhnlicher Lebenslauf für einen Psychologen.“

„Das stimmt wohl. Einer meiner Professoren in Birmingham hatte Kontakte zur Akademie in Sandhurst und hat über Jahre hinweg immer wieder Forschungsprojekte für die Army gemacht. Ich war zusammen mit ein paar anderen Studenten in eine Studie zur Posttraumatischen Belastungsstörung nach Kampfeinsätzen involviert und war beeindruckt von der Arbeit, die die Truppenbetreuung leistet. Als ich nach meinem Abschluss gefragt wurde, ob ich dort arbeiten möchte, habe ich ja gesagt.“

Es klopfte und Millie brachte ein voll beladenes Tablett mit Tee und dick belegten Sandwiches herein. Die Männer aßen einträchtig und unterhielten sich über Johns Leben bei der Armee.

„Nach zwanzig Jahren merkte ich, dass der Job mir zu sehr an die Substanz ging“, schloss John. „Ich habe diese Arbeit mit ganzem Herzen gemacht, aber irgendwann war die Kraft nicht mehr da.“

Gerry nickte. „Das kann ich gut nachvollziehen. Du warst ständig mit Extremsituationen konfrontiert. Und mit Menschen, die Dinge erlebt haben, die sich der Normalbürger gar nicht vorstellen kann.“

Er schob seinen leer gegessenen Teller von sich und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

„Im Vergleich dazu könnte man meinen, dass unsere Klientel hier höchstens unter Luxusproblemen leiden kann. Lauter hochintelligente junge Leute, ein großer Teil davon aus gutsituierten Elternhäusern, die es an eine der besten Unis der Welt geschafft haben und in ihrer Freizeit ein Angebot nutzen können, von dem Studenten sonst nicht mal träumen können: Polo, Segeln, Fechten, Tontaubenschießen … dazwischen mal schnell einen Vortrag vom Dalai Lama hören oder von Bill Clinton. Klingt für Otto Normalverbraucher nach einem Traumleben, oder nicht? Aber wie du schnell merken wirst, sobald du die ersten Studenten in der Sprechstunde sitzen hast, haben wir hier einen gar nicht so kleinen Anteil an jungen Menschen, die unter einem gewaltigen Leidensdruck stehen. Und dieser Anteil steigt von Jahr zu Jahr. Wir werden geradezu überrannt, so dass die Wartezeiten für die Hilfesuchenden immens angestiegen sind. Uns fehlen einfach die Leute.“

John nickte. „Das kenne ich. Ich arbeite seit Längerem ehrenamtlich im Nachbarschaftszentrum in Shoreditch. Wie oft habe ich schon händeringend nach längerfristigen Therapieplätzen für Klienten gesucht – aber gerade für den Bereich der psychischen Gesundheit gesteht die Regierung dem NHS viel zu wenig Geld zu, also sind die wenigen Fachleute ständig weit im Voraus ausgebucht. Ein furchtbarer Zustand.“

„Genau. Du sprichst mir aus der Seele, John. Aber so ist die Politik in unserem Land nun mal. Wir, die wir an der Front sitzen, müssen versuchen, das Beste daraus zu machen. Lass mich dir zeigen, was wir hier vor Ort hauptsächlich sehen.“

Er stand auf und holte eine Graphik vom Schreibtisch.

„Also, wie du siehst, hatten wir im letzten akademischen Jahr an die 1500 Ratsuchende, die sich an uns gewandt haben. Die beiden Spitzenreiter an Störungsbildern sind dieselben wie in der Allgemeinbevölkerung, Angst- und Panikstörungen sowie Depressionen.“ Er deutete auf eine grüne und eine gelbe Säule, die alle anderen überragten.

„Nur knapp dahinter liegt aber ein Bereich, der nicht nur studentenspezifisch, sondern ich würde sogar sagen Oxbridge-spezifisch ist: Nämlich die ganze akademische Problematik. Klar liegt die oft genug im einzelnen Studierenden begründet – Stichwort Schieberitis. Aber es gibt hier auch eine systemimmanente Belastung. Keine andere Uni außer uns und dem anderen Ort hat diese verflucht kurzen Trimesterzeiten. Keine Ahnung, wer sich das mal ausgedacht hat, dass man an den Spitzenunis des Landes den Studenten sämtliches Wissen innerhalb von dreimal acht Wochen im Jahr ins Hirn reinpressen muss statt der überall üblichen zehn oder elf Wochen pro Trimester. Der ‚Woche-5-Blues‘ ist bei uns ein feststehender Ausdruck. Sobald die Hälfte des Trimesters rum ist, wird den Leuten oft schlagartig bewusst, dass ihnen die Zeit davonläuft und sie kriegen mal kleinere, mal größere Verzweiflungsattacken. Das wirst du live sehen, nachdem wir ja heute gerade am Anfang der fünften Woche stehen.“

John, der die Graphik studierte, sah auf. „Ah, ja. Dr. Tomlinson hat mir schon erklärt, dass die akademische Woche hier donnerstags startet.“

„Auch so ein Kuriosum“, bestätigte sein Gegenüber. „Der Effekt ist, dass das Wochenende als solches meist wegfällt. Gerade Supervisionen sind häufig samstags angesetzt.“

„Es gibt also keine echte Verschnaufpause, und das in einem Umfeld, wo einem beständig Höchstleistungen abverlangt werden“, schloss John und rührte nachdenklich in seinem Tee. „Kein Wunder, wenn nicht alle diesem Druck standhalten können.“

„Du sagst es. Was von jedem Einzelnen erwartet wird, ist gigantisch. Das ist einfach das Selbstverständnis dieser Uni: Hallo – wir sind Cambridge. Mit uns können sich höchstens noch ein paar Ivy League-Unis aus den Staaten messen – und vielleicht noch dieser andere Ort – aber ansonsten reicht uns keiner das Wasser. Die Botschaft, die an die Studenten geht, ist: Wer es hierher an diesen heiligen Hort der Gelehrsamkeit geschafft hat, wer das Privileg hat, hier vom Quell des Wissens trinken zu dürfen, soll sich gefälligst mehr als glücklich schätzen. Die Realität schaut für viele jedoch vollkommen anders aus.“

 

Schon wieder reichlich erhitzt traf John gerade mal zehn Minuten vor dem Beginn seines Seminars wieder bei Geoff ein.

„Da bist du ja endlich!“, begrüßte ihn dieser und drückte ihm einen dicken Papierstapel in die Hand. „Du warst ja ewig weg.“

John nickte schnaufend. „Gerry – also Dr. Davies – und ich haben uns verratscht. Ich freue mich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er ist kompetent und mit Herzblut dabei, das gefällt mir. Und jetzt muss ich mich schleunigst auf die Socken machen.“

„Komm nachher nochmal vorbei, dann zeige ich dir dein Fahrrad“, rief Geoff ihm nach und schloss kopfschüttelnd die Tür. Zeitmanagement war wirklich nicht Johns Stärke.

 

John musste sich bemühen, sein Erstaunen zu verbergen, als er den Blick über das Dutzend Gesichter schweifen ließ, die ihm mehr oder weniger erwartungsvoll entgegenblickten. War es möglich, dass dieses überaus jugendlich wirkende Dutzend samt und sonders schon einen Doktortitel in der Tasche hatte? Unversehens wallte eine Woge der Nervosität in ihm hoch. Was hatte er dieser akademischen Elitetruppe zu bieten? Würden diese Leute ihn überhaupt ernst nehmen? Mit seinem kopierten Skript, dessen Höhepunkt an graphischer Gestaltung der Fettdruck der Kapitelüberschriften war?

Er atmete tief aus und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.

„Herzlich willkommen zum Tutoren-Seminar. Bevor wir beginnen, möchte ich mich gern vorstellen. Mein Name ist John Mackenzie, nennen Sie mich gerne John. Ich bin von Beruf Psychologe, auch wenn ich nach zwanzig Jahren eine ganz andere Tätigkeit aufgenommen habe und jetzt als Yeoman Warder im Tower von London arbeite – “

„Ach, jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne“, platzte eine junge Frau heraus, die in der ersten Reihe saß. „Erst dachte ich, Sie erinnern mich an den Typen im Rentierpulli aus ‚Bridget Jones‘. Aber das war es nicht. Ich habe Sie letztes Jahr im Fernsehen gesehen, in den Nachrichten. Damals, als die Knochen im Tower gefunden worden sind und alle dachten, das wären die von den verschwundenen Prinzen.“ Ein Raunen ging durch die Reihen.

Argh. Ausgerechnet dieser sagenhaft peinliche Auftritt, den geschätzt 40 Millionen Briten verfolgt hatten und der wiederum John seither in unzähligen Frotzeleien verfolgte.

Sein Cousin Simon, diese Kanaille, hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, an Weihnachten Salz in die Wunde zu streuen. Nicht nur, dass er ihm einen USB-Speicherstick mit dem Emblem von Scotland Yard überreicht hatte, auf dem der Mitschnitt der fatalen Nachrichtensendung verewigt war, nein, er hatte ihm auch noch ein gerahmtes Foto zukommen lassen, auf dem ein Standbild aus der TV-Aufzeichnung zu sehen war. Exakt jener Moment, in dem der Superintendent den Arm um seine Schultern gelegt hatte und sein feingeschnittenes Antlitz in geübter Manier der Kamera präsentierte, während John dreinsah wie ein ausgestopfter Frosch.

 

John bemühte sich nach Kräften, seine Gesichtszüge angesichts der schmachvollen Erinnerung nicht entgleisen zu lassen. Dann jedoch kam ihm eine Idee und er nickte der jungen Frau mit einem Lächeln zu.

„Oh ja. Sicher nicht einer meiner besten Momente. Aber vielleicht eine ganz gute Parallele zu der Situation, die der Grund dafür ist, warum wir hier beisammensitzen. Als mir die Reporterin der BBC ihr Mikrofon ins Gesicht hielt, war ich völlig überfordert. Es war für mich das erste Mal, dass ich vor einer Fernsehkamera stand – und dann gleich für die Abendnachrichten! Keiner hatte mich auf so einen Moment vorbereitet. Ich fühlte mich wie ins eiskalte Wasser geworfen, das können Sie mir glauben.“ Er hielt kurz inne und spann den Bogen dann zurück zur Gruppe.

„So ähnlich geht es vielen aus Ihren Reihen, ist mir gesagt worden. Natürlich gibt es keinen Zweifel daran, dass Sie alle akademisch im höchsten Maß qualifiziert sind – aber die Rolle eines Tutors verlangt Fähigkeiten von Ihnen, die jenseits Ihres fachspezifischen Wissens liegen.“

Allseitiges Nicken.

„Wir haben insgesamt zwölf Stunden für diesen Kurs. Ich möchte Ihnen keine Vorträge halten, sondern erst einmal einen Einblick gewinnen, welche Erfahrungen Sie bisher als Tutoren gesammelt haben, welche Fragen Sie haben und wo Sie für sich noch Herausforderungen oder Verbesserungsbedarf sehen. Zusammen mit Ihnen möchte ich dann Lösungen erarbeiten. Ich werde Ihnen auch einen Einblick in verschiedene Störungsbilder geben, damit Sie zumindest eine erste Einordnung für sich treffen können, wenn Ihnen bei einem Ihrer Studenten Symptome auffallen.“

Er deutete auf den Papierstapel neben sich. „Dafür habe ich Ihnen – ganz altmodisch, ich weiß – ein Skript gemacht, das ich Ihnen gleich mal ausgebe.“

John registrierte erleichtert, dass seine Herangehensweise Anklang zu finden schien. Sein Puls normalisierte sich wieder.

In der kurzen Vorstellungsrunde bekam John nicht nur einen ersten Einblick in die enorme Vielfalt des akademischen Lebens in Cambridge – so umfasste diese erste Seminargruppe unter anderem eine Antarktisforscherin, einen Nanotechnologen, eine Astrophysikerin, eine Soziologin und eine Expertin für englische Renaissanceliteratur – sondern er erfuhr auch, dass die Einarbeitung der Tutoren in der Tat sehr kärglich war.

„Es gab im Herbst genau einen halben Tag, an dem jeder an drei Workshops teilnehmen musste“, berichtete Janet, die zierliche Antarktisforscherin. „Hauptsächlich bekamen wir eine Liste mit Telefonnummern in die Hand gedrückt, die wir den Studenten bei Bedarf geben können. Dazu wurde noch erklärt, welche Formulare wir ausfüllen müssen, wenn jemand einen Antrag auf Intermission stellt. Und es wurde uns gesagt, dass wir keinesfalls ein sexuelles Verhältnis mit einem der zu Betreuenden eingehen sollen. Das war’s.“

„Intermission?“ John blickte sie fragend an.

„Wenn ein Student sich aus welchen Gründen auch immer aktuell nicht in der Lage fühlt, das Studium weiterzuführen, aber man stark davon ausgehen kann, dass in einem Jahr eine gute Chance besteht, es wieder weiterzuführen, kann er einen Antrag auf Unterbrechung stellen“, erklärte sie. „Und so ein Antrag muss unter anderem vom jeweiligen Tutor befürwortet werden, sonst hat der Student keine Chance, dass die Unileitung ihm die Intermission gestattet.“

John nickte nachdenklich. „Damit liegt eine Menge Verantwortung bei Ihnen.“

„Exakt“, brummte ein offenbar indischstämmiger Mann namens Sanjeev. „Und dafür sind wir absolut unzureichend qualifiziert. Ich sehe mich jedenfalls eher in der Lage, einem Roboter die Entschärfung verschiedener Bombentypen beizubringen, als eine Prognose zu treffen, wie ein Mensch sich innerhalb eines Jahres entwickeln wird.“

„Die Supervisoren machen es sich auch oft unverschämt leicht. Da performt ein Student suboptimal und es macht sich die Angst breit, dass sein Abschlusszeugnis kein Ruhmesblatt für das College wird und schon schicken sie ihn zu uns und sagen: ‚Mach irgendwas, damit der wieder rund läuft‘, meldete sich der Nanotechnologe Scott zu Wort.

„Genau. Typischer Fall: Student kriegt sein Essay, seine Hausarbeit, sein Projekt oder was auch immer er für die Woche aufhatte, zum dritten Mal nicht rechtzeitig auf die Reihe und zack – schreibt der Supervisor ‚Prokrastination‘ auf seinen Zettel und meldet ihn bei mir an“, fiel die Renaissanceliteraturexpertin ein.

„Ah. Prokrastination. Der Klassiker schlechthin und nicht umsonst ‚Studentensyndrom‘ genannt.“ John griff nach einem Textmarker und schrieb das Wort in die Mitte eines Flipchartblattes.

„Was denken Sie: Was kann hinter der Prokrastination stecken, also wenn jemand seine Aufgaben wieder und wieder vor sich herschiebt, nichts zu Ende bringt und vor dem irgendwann schier unüberwindlich liegenden Berg verzweifelt?“

„Das ist doch ganz einfach“, äußerte der Pharmazeut in der letzten Reihe abfällig. „Die Kids kriegen’s nicht gebacken, weil die Jugend von heute einfach kein Sitzfleisch mehr hat. Keiner kann sich mehr auf die wirklich wichtigen Dinge fokussieren, ständig haben sie irgendwelche Flausen im Kopf. Die einen wollen auf Teufel komm raus ein Cambridge Blue werden und verschleudern ihre Zeit auf dem Rugbyfeld oder im Ruderboot. Die nächsten wollen Internetstars werden und sind Tag und Nacht damit beschäftigt, sich selber in Szene zu setzen. Und am schlimmsten finde ich die, die nur dafür leben, sich in immer neue Exzesse zu stürzen – “

„Naja, einige von denen haben’s weit gebracht“, unterbrach die Soziologin. „Ich sage nur ‚Pig-Gate‘“

Gelächter ertönte.

Im vergangenen Herbst hatte die Regenbogenpresse mit großem Vergnügen über die fragwürdigen Initiationsrituale eines Oxforder Studentenclubs berichtet, an denen außer dem Premierminister auch ein – glücklicherweise totes – Schwein beteiligt gewesen sein sollte.

„Es wundert einen nicht, dass sie an dem anderen Ort keine besseren Ideen haben, wo sie ihre besten Stücke – die ganz offensichtlich nicht ihre Köpfe sind – reinstecken können“, höhnte Phil, der Pharmazeut und sorgte damit für noch mehr Belustigung.

John schrieb ‚Priorität anderer Interessen‘ an die Flipchart und fragte, „Was gibt es noch für Erfahrungen, womit das Aufschieben zu tun haben kann?“

„Perfektionismus“, ließ die Soziologin sich vernehmen. „Der spielt bei sehr vielen Studenten hier eine große Rolle. Die haben so hohe Ansprüche an sich, dass sie sich selber lähmen und aus Angst, etwas falsch zu machen, lieber überhaupt nichts machen.“

John nickte und schrieb das Wort auf. „Da haben Sie sicher Recht, Lindsey. Gut. Was könnten noch Hintergründe für das Schieben sein?“

„Depressionen“, schlug die Antarktisforscherin vor. „Ich hatte zwar noch keinen depressiven Studenten, aber da kann man sich doch zu gar nichts mehr aufraffen, oder?“

„Wie man eine Depression erkennen kann, damit werden wir uns später ausführlich beschäftigen. Aber Sie liegen schon richtig. Ein Teil der Patienten kommt morgens nicht einmal mehr aus dem Bett, weil alles zu viel ist“, bestätigte John.

„Allgemein mangelnde Struktur“, kam es von Janet. „Wenn ich mir die Anmeldebögen anschaue, dann geben immer mehr Leute bei der Frage nach Vordiagnosen an, dass sie unter einer Aufmerksamkeitsstörung leiden. An der Schule haben sie das meistens noch einigermaßen kompensieren können, weil sie von den Eltern und Lehrern und Nachhilfelehrern und weiß der Geier wem in der Spur gehalten worden sind. Aber sobald sie hier auf sich gestellt sind, bricht das Chaos aus.“

John stimmte ihr zu und notierte ‚ADHS‘.

„Also seid mir nicht böse, aber das sind doch bloß Ausreden“, tönte Phil wieder aus der letzten Reihe. „Wer sowas hat, braucht sich doch bloß behandeln lassen. Depressionen, ADHS … für alles gibt es hochwirksame Medikamente. Nichts für ungut, John, es gibt bestimmt Fälle, wo auch ein Psychologe seine Daseinsberechtigung hat, aber im Endeffekt können wir durch die chemische Beeinflussung des Gehirnstoffwechsels doch viel mehr bewirken – “

„Bei allem Respekt, Herr Pharmazeut – aber das ist doch schlicht und einfach falsch“, brach es aus der Soziologin heraus. Binnen kürzester Zeit entspann sich zu Johns Freude eine rege Gruppendiskussion und er war vollauf damit beschäftigt, zu moderieren, wichtige Stichpunkte zu notieren und zwischendurch einige Fakten und Anregungen einzustreuen. Keiner sah auf die Uhr. Erst, als eine junge Frau den Kopf zur Tür hereinsteckte und sich erkundigte, wann denn der zweite Einführungskurs beginnen würde, schreckte John auf. Sie hatten bereits um zehn Minuten überzogen.

„Ich danke Ihnen für Ihre engagierte Mitarbeit, aber an dieser Stelle müssen wir einen Punkt machen. Ich freue mich, Sie am Montag wieder zu sehen.“ Damit sandte John seine erste Gruppe etwas überstürzt ihrer Wege, schnaufte einmal tief durch und bat den nächsten Kurs herein.

 

Auch wenn das zweite Dutzend junger Akademiker sich als weniger lebhaft erwies als Johns Premierentruppe, entwickelte sich doch auch hier schnell ein intensives Gespräch. John hatte seine helle Freude an dem aufrichtigen Interesse seiner Seminarteilnehmer. Geradezu beflügelt kehrte er nach dem – vergleichsweise pünktlichen – Ende der Sitzung in Geoffs Büro zurück.

„Ah, John. Wie ist es gelaufen?“ Geoff blickte suchend auf seinem Schreibtisch umher, griff dann nach einem kleinen Schlüssel und stand auf.

„Ausgezeichnet. Es war sehr anregend, wirklich.“

„Das freut mich.“ Geoff lächelte erleichtert. „Ich hatte schon Gewissensbisse, weil ich dich bekniet habe, deine freien Tage für diesen Job zu opfern. Noch dazu mit dem mageren Honorar, das die Uni zahlt. Damit kann man ja kaum jemand Qualifizierten hinter dem Ofen hervorlocken – “

John klopfte ihm auf die Schulter. „Keine Sorge, Geoff. Ich freue mich, meinen Horizont erweitern zu können. Und Mum hat neuerdings einen Heidenspaß daran, mich ihren Kumpaninnen als ‚Gast-Dozent‘ an der Uni Cambridge zu verkaufen.“

Geoff lachte. „Dann sind ja alle zufrieden. Ich hätte dir gern noch eine Stärkung angeboten, aber ich habe in zehn Minuten eine Supervision. Dein Rad möchte ich dir aber noch zeigen.“

Als sie die Treppe hinuntergingen, kam ihnen ein junger Mann mit strubbeligem Haarschopf entgegen, der den Blick zu Boden gesenkt hielt.

„Hallo, Sam. Ich bin gleich wieder da, geh ruhig schon rauf“, grüßte Geoff ihn im Vorübergehen und erntete ein gemurmeltes „Okay“.

„Einer von meinen Masterstudenten“, erklärte er John und öffnete die Tür in den Innenhof. „Eine wandelnde Enzyklopädie für unsere einheimischen Nachtfalter, sage ich dir.“ Er senkte die Stimme. „Aber sozial ungefähr so kompetent, wie ich in seinem Alter war. Also quasi gar nicht. Vielleicht schicke ich ihn dir mal in eine deiner Sprechstunden.“

John winkte dem Chefpförtner zu, der in seiner Loge gerade telefonierte und ihm gravitätisch zunickte. Draußen vorm Eingang strebte Geoff zu einem der Fahrradständer und deutete auf ein leuchtend oranges Rad mit der Aufschrift ‚City Cycle‘.

„Das ist es. Es ist vorhin von der Verleihstation angeliefert worden. Hier ist der Schlüssel für das Schloss. Schauen wir mal, ob der Sattel für deine Größe halbwegs richtig eingestellt ist.“

John beäugte das Vehikel etwas zögerlich. „Ich bin seit Ewigkeiten auf keinem Fahrrad gesessen“, gestand er.

„Ach was, das verlernt man nicht. Mach mal eine kleine Proberunde“, ermunterte Geoff ihn.

John deponierte seine Tasche im Fahrradkorb und schwang sich auf das Rad.

„Der Sattel passt, glaube ich.“ Er trat in die Pedale, musste aber gleich darauf scharf abbremsen, als eine Studentin mit Karacho aus der Gegenrichtung angebraust kam, in einer Hand einen braunen Umschlag.

„Sorry! Aber meine Deadline läuft in fünf Minuten ab!“, rief sie, sprang vom Rad und verschwand durch die Eingangstür.

„Ich glaube, mit der Bremse stimmt etwas nicht“, stellte John fest. Er stieg ab, schob das Rad zu Geoff und deutete auf ein loses Kabel.

„Oje, das ist die Vorderbremse.“ Geoff raufte sich die Haare. „So ein Mist.“ Er sah auf die Uhr. „Es tut mir echt leid, John. Ich kann den Verleiher anrufen, dass er ein neues Rad liefert, bis du am Montag wieder da bist, sonst kann ich jetzt momentan nichts machen.“

„Ist es denn weit zu der Verleihstation?“, fragte John. „Ich könnte gleich hingehen und es reparieren lassen. Das wäre doch am einfachsten. Dann nehme ich eben den nächsten Zug, das ist kein Problem.“

„Tatsächlich? Hm, wenn du hinten am Cam entlang gehst, wärst du in einer Viertelstunde dort“, meinte Geoff. Nachdem er John die Adresse auf dem Stadtplan gezeigt hatte, verabschiedete er sich unter erneuten Entschuldigungen und eilte zurück ins College.

John schob das Rad auf einen kleinen Kiesweg, der an der Außenseite der Collegemauern entlangführte. Bald darauf lag eine leicht abfallende Wiese vor ihm. Er blieb stehen und genoss den Ausblick, der sich ihm bot. Ein ganzes Stück weiter unten schlängelte sich das Flüsschen entlang, mancherorts von kleinen Baumgruppen gesäumt, die im schwachen Licht der Nachmittagssonne lange Schatten warfen. Jenseits des Cam erstreckten sich ebenfalls weite grüne Flächen, hinter denen ein Rugbyfeld und ein, zwei weitere Sportstadien lagen.

John konnte sich erinnern, dass er mit der ganzen Familie vor langer Zeit einmal im Frühjahr einen kleinen Wanderausflug entlang des Weges dort unten gemacht hatte, der zum Weiler Grantchester führte. Er konnte immer noch die fantastischen Scones schmecken, die sie dort unter einem Meer von Apfelblüten gegessen hatten. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Wie lange war das her? Dreißig, fünfunddreißig Jahre? Er hing einigen sentimentalen Gedanken nach, während er den Weg hinab schlenderte. Knirschende Schritte erklangen hinter ihm, zugleich eine helle Stimme. John schob das Rad ein wenig zur Seite, damit die junge Frau, die sich näherte, vorbeikonnte. Sie schenkte ihm keine Beachtung.

„Oh, ich bin so aufgeregt“, sprach sie und wedelte mit einer Hand theatralisch vor ihrem Gesicht herum, als würde sie sich Luft zufächeln. Mit der anderen Hand balancierte sie geschickt ein Handy auf einem ausziehbaren Stöckchen vor sich her.

„Stellt euch vor, meine Lieben, ich habe heute eine Einladung bekommen. Zu einem richtig krassen Event. Exklusiver als die Gartenparty bei der Queen, das könnt ihr mir glauben. Das wird das Highlight ever.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüsterton und John spitzte unwillkürlich die Ohren, während er hinter ihr herging und sorgsam darauf achtete, dass er im Kamerabild nicht zu sehen war.

„Ich muss erst sehen, wieviel ich euch von meinen Erlebnissen dort verraten darf – das ist eigentlich alles top secret – aber es lohnt sich auf jeden Fall, wenn ihr euch meinen Videoblog nächste Woche wieder reinzieht. Soviel für heute, ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Supervisorin in Newnham. Wir sehen uns – bis dann, Küsschen, Küsschen von Ashley. Und vergesst nicht, wie immer: Daumen hoch, wenn euch das Video gefallen hat.“ Sie tippte auf das Display, das schwarz wurde, und packte ihr Handy weg.

„Spitzen-Cliffhanger, Ashley“, beglückwünschte sie sich selbstzufrieden. „Wenn mein nächster Blog nicht mindestens 50.000 Klicks kriegt, dann weiß ich auch nicht.“ Sie warf ihr dunkles Haar nach hinten und beschleunigte ihren Schritt. Was sie nicht ahnte, war, dass es keinen neuen Videoblog mehr geben würde.

 

Kapitel 5

 

Zwei Tage darauf, am Samstag, beeilte sich John auf dem Rückweg zu seiner Wohnung ganz besonders. Voller Ungeduld hatte er die letzten Touristen des Tages zum Ausgang geleitet und nun konnte er es kaum erwarten, die letzten Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen, sich umzukleiden und den Computer hochzufahren. Auch wenn Pauline zweihundert Meilen entfernt war, konnten sie den Valentinstag auf diese Weise wenigstens gemeinsam verbringen. Da sie für den Sommer einen Urlaub in der Provence planten, hatte Pauline sich ein französisches Menü gewünscht, das beide kochen würden: Salade Niçoise, Schmorhuhn Provençal und Mousse au Chocolat.

Da der Großteil der Arbeit bereits getan war, blieb John nur noch, den Schmortopf zum Aufwärmen auf den Herd zu stellen und letzte Hand an den Salat zu legen. In der Küche duftete es verführerisch, als er sich an den Tisch setzte und das Videotelefonprogramm aufrief. Er war gespannt darauf zu hören, was Pauline zu dem Armband sagen würde, das er ihr geschickt hatte. Sie hatte es in der Auslage eines kleinen Antiquitätengeschäfts bewundert, als sie zuletzt durch den Markt in Notting Hill gebummelt waren. John hatte es hinterher heimlich erstanden und liebevoll verpackt vor ein paar Tagen in die Post gegeben.

Frohgemut tippte er auf Paulines Namen in seiner kurzen Kontaktliste, nur um gleich darauf die Meldung zu erhalten, ‚Pauline ist nicht online‘. Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte ihm, dass es genau halb sechs war. Er stand auf, rührte unnötigerweise im Kochtopf herum, öffnete den Kühlschrank, warf einen Blick auf die Mousse au Chocolat und setzte sich wieder. Er platzierte die rote Kerze auf dem Tisch, die er eigens für ein romantisches Ambiente aufgestellt hatte, ein wenig anders. Dann entfaltete er seine Serviette und nahm sich ein Stück Baguette aus dem bereitstehenden Brotkorb. 17.35 Uhr. John startete einen erneuten Versuch des Verbindungsaufbaus, aber egal, wie finster er den Laptop anstarrte, der Bildschirm zeigte halsstarrig dieselbe Meldung an. ‚Pauline ist nicht online‘.

Auf Johns Stirn erschien eine Sorgenfalte. Er hatte noch nie erlebt, dass Pauline zu einer Verabredung – selbst zu einer virtuellen – zu spät erschienen war. Anders als er selbst war sie ein Ausbund an Pünktlichkeit. Er stand auf und ging in den Flur. Gerade, als er nach seinem Telefon gegriffen hatte, klingelte es an der Haustür. John grunzte unwillig und öffnete. Vor ihm stand sein Kollege Michael Conners.

„N’Abend, John“, meinte er grinsend. „Eigentlich wollte ich dich ja fragen, ob du nachher mit Pete, Charlie und mir in unseren Club kommst – “

John machte schon Anstalten, dankend abzulehnen, als Michael weitersprach.

„Aber wer würde schon bei derart attraktivem Damenbesuch den Abend mit drei alten Haudegen verbringen wollen.“ Er zwinkerte John zu und trat zur Seite.

John traute seinen Augen nicht, als er die zierliche Gestalt erblickte, die sich hinter Michaels breitem Rücken verborgen hatte.

„Bonsoir, Monsieur“, hauchte sie.

 

 

„Jawoll! England ist stolz auf dich, du Teufelskerl!“, tönte es John entgegen, als er im Morgengrauen des Sonntags gefolgt von Pauline durch den Mauerdurchlass am Festungswall trat.

„Das nenne ich Manneskraft!“, erklang die Stimme des Ravenmasters erneut.

Pauline kicherte und wisperte John ins Ohr, „Ganz meine Meinung, aber ich frage mich – woher weiß George darüber Bescheid?“

John spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Gleich darauf wurde offenbar, an wen Georges Jubelrufe adressiert waren. Gworran paradierte hinter dem feinmaschigen Draht der Brutvoliere auf und ab, mit gewölbtem Hals und sichtlich selbstzufrieden. Seine Gefährtin Vicky war damit beschäftigt, ihr Gefieder zu säubern, behielt ihren Galan dabei aber stets im Auge.

„Ich bringe dir gleich eine schöne Erdnuss. Die Stärkung hast du dir verdient. Und du kriegst natürlich auch eine, Vicky“, versprach George den Raben soeben. Als er sich umwandte, erblickte er John und Pauline. Erfreut breitete er die Arme aus.

„Pauline! Ich wusste gar nicht, dass du da bist.“ Er umarmte sie. „Und du kommst gerade zur rechten Zeit.“

Mit großer Geste deutete er auf die beiden glänzend schwarzen Vögel. „Soeben ist der erste Nachwuchs unserer königlichen Raben seit über einem Vierteljahrhundert sozusagen in Produktion gegangen.“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

„Oh, das ist ja spannend“, erwiderte Pauline und ging näher an die Voliere heran. Augenblicklich plusterte Gworran sich auf, hüpfte auf sie zu und stieß ein lautes, schnarrendes Krächzen aus. Unsicher trat sie einen Schritt zurück.

„Das ist normal, dass er in dieser Zeit auf Abwehr geht“, erklärte George. „Mach dir nichts draus. Selbst mich hat er schon angeflogen, als ich zum Saubermachen in die Voliere hinein bin. Die zwei Turteltäubchen wollen in der Familiengründungszeit unter sich sein.“

Pauline nickte und fragte, „Wann werden die Kleinen zur Welt kommen?“

„So in ungefähr zwei Tagen rechne ich mit dem ersten Ei. Danach folgt normalerweise rund alle 24 Stunden ein weiteres. Wenn alles gut läuft, bekommen wir ein Gelege von vier bis sieben Eiern. Bis die Babys dann schlüpfen, dauert es ziemlich genau drei Wochen.“

„Wo ist eigentlich das Nest?“ Pauline blickte suchend in der geräumigen Voliere herum.

John deutete auf die Holzbox, die auf halber Höhe installiert war. „Von mir selbst gezimmert“, meinte er stolz.

„Sieht richtig professionell aus“, lobte sie.

John lächelte geschmeichelt. „So hatte es doch etwas Gutes, dass Mum uns immer genötigt hat, für den jährlichen Flohmarkt des Gartenbauvereins Vogelhäuser zu bauen. Ich habe die Holzarbeiten gemacht, Maggie hat die Häuschen bemalt, und David – “

„War mit Sicherheit für den Verkauf zuständig“, lachte Pauline.

John nickte grinsend. „Einen Hammer hättest du ihm nicht in die Hand geben dürfen, aber Geld war immer schon sein Metier.“

Pauline versuchte in das halbrunde Einflugloch zu lugen. „Man kann gar nichts erkennen.“

Triumphierend zog George sein Smartphone aus der Tasche. „Tommy hat eine Webcam für uns in der Box installiert. Die Live-Bilder kann ich mir jederzeit anschauen. So kriege ich es hoffentlich mit, wenn unsere Sprösslinge das Licht der Welt erblicken. John dagegen, der alte Technikverweigerer mit seinem Steinzeithandy – nichts für ungut, Junge – wird auf die Live-Aufnahmen unserer ersten gemeinsamen Küken verzichten müssen.“

„Ja, ja, schon gut, George“, brummte John. „Also, wenn du hier alles im Griff hast, gehen Pauline und ich jetzt die andere Voliere ausmisten.“

„Du willst diese zarte Blume meiner schottischen Heimat die Drecksarbeit machen lassen?“ George richtete sich empört auf. „Das kommt ja gar nicht in die Tüte. Nein, nein. Pauline leistet mir hier Gesellschaft und wir tratschen gemütlich. Du kannst einstweilen die Voliere reinigen.“

Das gefiel John gar nicht. Pauline würde mit dem Zug um 11.37 Uhr wieder zurück nach York fahren und er gedachte, sie in dieser knappen Zeit nicht von seiner Seite zu lassen. Sein Besucherdienst würde heute um elf Uhr beginnen und wenn sie die Reinigungsarbeiten möglichst schnell erledigen würden, hatten sie noch Zeit für sich, bis Pauline zur U-Bahn aufbrechen musste. Wenn George sie jetzt mit Beschlag belegte, würde sie sich ganz gewiss für längere Zeit nicht mehr loseisen können.

Während er noch überlegte, wie er seinen Protest formulieren sollte, stellte Pauline sich auf die Zehenspitzen und wisperte George etwas ins Ohr. Er lauschte, dann zwinkerte er ihr zu und verkündete, „Ich schaffe das mit den Volieren heute auch mal allein. Verzieht euch, Kinder. Ab mit euch.“

Pauline drückte dem Ravenmaster einen Kuss auf die Wange, ergriff Johns Hand und zog ihn ohne weitere Umstände zurück durch die Maueröffnung.

„Danke, George! Du hast was gut bei mir“, rief John noch über die Schulter zurück, dann eilten die beiden wie ein frischverliebtes Teenagerpaar Richtung Wohnung.

„Wie du das mit George gedeichselt hast … du kannst ganz schön durchtrieben sein“, meinte John mit einem Funkeln in den Augen und zog seinen Hausschlüssel heraus.

„Ja, nicht wahr?“, schnurrte sie und wartete ungeduldig, bis er aufgeschlossen hatte. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, schälte sie sich schon aus ihrer Jacke und legte ihre Arme um seinen Hals.

„Was fangen wir nun mit dem angebrochenen Morgen an?“, wisperte sie. Bevor John eine Idee vorbringen konnte, klingelte sein Festnetztelefon. Gequält schloss er die Augen.

„Nein. Ich gehe nicht hin“, grollte er. Pauline schien ganz seiner Meinung zu sein. Sie zog ihn durch den kleinen Flur, fort von dem lästigen Schrillen. Aber als sie das Wohnzimmer passierten, hielt sie auf einmal inne.

„Es ist noch nicht mal halb sieben. Wenn jemand um die Zeit anruft, könnte es etwas Dringendes sein – “ Das Telefon verstummte. John schnaufte erleichtert auf.

„Carpe diem! Bevor uns wieder jemand stört …“, raunte Pauline. Der Blick aus ihren meergrünen Augen hätte ein Stück erstarrte Schlacke wieder in glühende Lava verwandeln können.

John wurde es heiß unter seinem Kragen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch seine dicke Jacke anhatte. Hastig entledigte er sich ihrer und streifte in derselben Bewegung die Schuhe ab, die unbeachtet auf dem Teppich liegen blieben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752131628
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Videoblogger Universität London College Familie Cambridge Raben Beefeater Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer cosy mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln. Seit 2010 schreibt sie gemütliche Häkelkrimis - oder wie so mancher Leser bemerkt hat, humorige Familiengeschichten, in denen jeweils auch ein Mord untersucht wird....
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Titel: Tod auf dem Campus