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Aequipondium: In der magischen Mitte

von Ima Ahorn (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Aequipondium, Band 3

Zusammenfassung

Sprechende Hühner und ein gestohlenes Dorfheiligtum – ein Fall für Entdecker Siegbald Sockenloch

Eigentlich wollte der Entdecker nur mit Hexe Theolinde und einigen Freunden das Zentrum des Gegengewicht-Kontinents kennenlernen. Doch dort trifft er nicht nur auf einen Stamm sprechender Hühner und die Familien seiner tierischen Freunde, sondern auch auf ein großes Geheimnis. Als erstes verschwindet ein Dorfheiligtum, dann heißt es, seltsame Kreaturen wurden gesehen. Sogar noch seltsamere Kreaturen als gewöhnlich – was auf dem Gegengewicht-Kontinent schon einiges heißen will. Aber am schlimmsten ist, dass die Familie der Dächsin Augusta ein seltsames Übel befallen hat. Bald gibt keinen Zweifel mehr: Die Magie des Kontinents gerät aus dem Gleichgewicht. Es muss etwas geschehen!

Wird es Siegbald und seinen Freunden gelingen, eine große magische Katastrophe zu verhindern?

Spannende und humorvolle Fantasy für alle, die phantasievolle Tiere, skurrile Charaktere und Magie lieben.

Dies ist Siegbalds drittes Abenteuer, aber alle Bücher der Serie können auch einzeln gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Gegengewicht-Kontinent

Aequipondium, der Gegengewicht-Kontinent, befindet sich weit ab der üblichen Schifffahrtsrouten, tief im Süden des Pazifischen Ozeans. Stürme, hohe Klippen und Seeungeheuer verbergen ihn vor neugierigen Augen und schlauen Händlern.

Während heute, im aufgeklärten 18. Jahrhundert, im Rest der Welt die Magie immer mehr auf dem Rückzug ist, hat sie sich hier erhalten, ja geradezu angesammelt. Viele seltsame und merkwürdige Kreaturen leben in Aequipondium. Seit Jahrhunderten schon ziehen sich magische Wesen, legendäre Helden, Druiden und Hexen hierher zurück, um ungestört ihren Ruhestand zu genießen. Und mit ihnen kamen auch andere Menschen aus allen Teilen der Welt, manchmal aus Überzeugung, manchmal, wie Strandgut, als Schiffbrüchige oder Deserteure, als Missionare oder Entdecker.

Auch mutige Forscher und Abenteurer verirrten sich mit der Zeit immer wieder hier her. Doch so stolz sie auf ihre Entdeckung sein mögen: für schnellen Ruhm taugt sie nicht, denn die Magiebegabten und Ausgestoßenen wollen ihren Zufluchtsort vor der Welt geheim halten und gestatten es niemandem, Aequipondium wieder zu verlassen. Sind die unzugängliche Küste und Stürme nicht genug, jeden fluchtwilligen Seefahrer abzuschrecken, so werden wohl die Seemonster, die die Gewässer rund um den Kontinent bewohnen, den Rest besorgen, so lautet ihre Drohung. Und bisher scheint sie gewirkt zu haben: noch ist kein Entdecker in seine Heimat zurückgekehrt.

Die Gelehrten in Europa wissen indes nichts von alledem. Sie sehen nur einen großen weißen Fleck auf der Weltkarte. Oh, sie ahnen, dass dort etwas ist, etwas sein muss. Südkontinent, das „Große Südland“ oder auch „Terra Australis incognita“ nennen die Gelehrten einen Kontinent, den sie tief im unbekannten Süden des Pazifischen Ozeans vermuten und von dem sie annehmen, dass er als Gegengewicht zu den Landmassen der Nordhalbkugel existieren muss. Ohne Wissen und allein nach ästhetischen Gesichtspunkten zeichnen die Kartographen ihn als „Magallanica“ in die leeren und unerforschten Weiten des Pazifiks ein. Und ohne jeglichen Beweis nimmt der Kontinent in ihren Darstellungen immer fantastischere Ausmaße an und immer seltsamere Kreaturen besiedelten ihre Karten. Doch keiner von ihnen ahnt auch nur einen Bruchteil dessen, was sich wirklich hinter der abweisenden Küste des fernen Kontinents verbirgt.

Die nachfolgende Geschichte basiert auf den Erlebnissen des preußischen Entdeckers Siegbald Odin Sockenloch, der im Jahre 1769 an der Küste des Gegengewicht-Kontinents landete, mit dem Ziel, durch diese Entdeckung in Europa reich und berühmt zu werden.

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Beim Hühnervolk

Es regnete wieder. Nach den Wochen der Trockenheit war es seltsam für Siegbald, dass es, seit er im Gebirge war, dauernd zu regnen schien. Theolindes guter Stimmung tat das keinen Abbruch. Sie war in ihrem Element. Ein neues Dorf mit neuen Freunden lag vor ihnen. Für Theolinde gab es offenbar in jedem Dorf Freunde. Es stimmte sogar. Die Frauen des Dorfes nahmen sie immer freundlich und respektvoll in ihrer Mitte auf. Selbst mit der jeweiligen Dorfhexe oder Schamanin schwatzte sie bis tief in die Nacht. Sie redeten über die Ernte, Kindererziehung und Männer. Zum Abschluss gab Theolinde ihnen meist ein paar Tipps. Es ging hierbei um Hygiene oder darum, wie die Männer des Dorfes das Leben ihrer Frauen erleichtern konnten. Die Frauen des Dorfes nickten eifrig oder höflich, je nachdem, während die Männer es gelassen nahmen. Kaum zogen die Fremden weiter, war ohnehin wieder alles beim Alten.

Siegbald nahm Theolinde ihre Begeisterung nicht übel. Er war ein Entdecker, der aus dem fernen Europa auf den Gegengewicht-Kontinent gekommen war, um, nun, um ihn zu entdecken. Friedrich der Große hatte ihn zum „Sonderbotschafter Preußens auf dem antipodischen Kontinente“ ernannt und finanzierte seine Entdeckungsreise. Siegbald hatte natürlich nicht geahnt, dass der ferne Kontinent bereits von zivilisiertem Volk bewohnt war, dass er ein Exil war für magische Kreaturen und seltsame Gestalten, die es für eine gute Idee hielten, unentdeckt zu bleiben.

Theolinde hingegen war eine Hexe, aufgewachsen und erzogen in Aequipondium. Nicht, dass der Entdecker je gesehen hatte, wie sie zauberte. Genaugenommen hatte Siegbald keine Ahnung, ob die Hexen Aequipondiums überhaupt zaubern konnten. Aber sie kannten sich mit Haushaltsführung und Weißwäsche aus. Bis auf Theolinde, die auf diesem Gebiet einfach keinerlei Talent hatte. Aber Theolinde konnte wirksame Salben und Kräutertees machen, wie das Haarwuchsmittel, das sie ihm für seine schwindende blonde Lockenpracht verabreicht hatte, und Theolinde hatte ein großes Herz. All ihren Mitkreaturen wollte sie helfen, mit Ratschlägen, mit ihrer erstaunlichen Energie und der eindrucksvollen Körperkraft. Und jetzt war sie das erste Mal in ihrem Leben auf Reisen. Wer wäre da nicht begeistert?

Es war jetzt etwas mehr als eine Woche her, dass Siegbald sich vom Comte de La Pérouse verabschiedet hatte und mit Theolinde und ihren Freunden in die Wildnis gezogen war. Der Comte war inzwischen sicher längst im Schloss in Oberzahnstein angekommen. Wahrscheinlich schlenderte er gerade mit Amelia, der Tochter des Königs, durch den Garten und freute sich bereits auf ein kultiviertes Abendessen. Siegbald hingegen würde vermutlich einen Getreidebrei bekommen. Wenn er Glück hatte, gab es auch Erbsensuppe oder Wurzeln. Aber er hatte sich ja selbst dafür entschieden.

Noch vor einigen Monaten hätte Siegbald alles dafür gegeben, von Aequipondium weg und wieder nach Hause, nach Europa, zu kommen. Genaugenommen hatte er tatsächlich fast alles gegeben. Ohne ein Wort des Abschieds oder Dankes war er an Bord eines kleinen, selbstgebauten Schiffes gegangen, um mit dem Comte de La Pérouse, einem anderen gestrandeten Entdecker, und dessen Mannschaft nach Europa zu fahren. Allein hätte Siegbald das nie gewagt. Doch der Preis für eine Überfahrt auf dem Schiff der Franzosen war hoch: Nicht nur seine Chance, als gefeierter Entdecker heimzukommen, hatte er dafür aufgeben müssen, sondern er hatte auch seine Freundin Theolinde vor den Kopf gestoßen, obwohl er ihr so viel verdankte. Ohne Abschied hatten die Europäer sich davongemacht, um das Geheimnis ihrer gemeinsamen Flucht zu wahren. Doch wie sich später herausstellte, befand sich ihr Schiff gar nicht im Südpazifik. Die Bucht, aus der sie lossegelten, stellte sich als Teil des Aequipondischen Binnenmeeres heraus und dann erlitten sie auch noch Schiffbruch. Mehrere Monate hatten sie gebraucht, um wieder zurück in den zivilisierten Norden des Kontinents zu kommen. Dann, als sie es fast geschafft hatten, trafen sie auf Theolinde, die einen Hilferuf von Siegbald erhalten hatte und nun mit ein paar Freunden eine Rettungsmission nach Süden anführte. Auf Drängen von Lars, dem Auswanderlemming mit dem sich der Entdecker auf seiner Reise angefreundet hatte, hatte Siegbald Theolinde endlich seine Liebe gestanden. Und Theolinde, erleichtert und glücklich, hatte sich gewünscht, mit ihm Aequipondium zu bereisen.

Hier war er nun, mitten in den Bergen, in einem weiteren gottverlassenen Weiler, um mit seiner Freundin Theolinde und ein paar ihrer einheimischen Freunde durch Aequipondium zu reisen und Neues zu entdecken. Ein Lächeln breitete sich in Siegbalds regenfeuchtem Gesicht aus, als er sah, wie Theolinde den Häuptling begrüßte, der zum Dorfrand gekommen war, um die Fremden in Augenschein zu nehmen. Die Begeisterung, mit der sie jeden neuen Ort betrat, jede neue Aussicht genoss und jedes, noch so exotische Gericht kostete, war ansteckend. Ein bisschen zumindest.

Der Häuptling des Dorfes, das sie heute erreicht hatten, trug einen eindrucksvollen Federschmuck. Ureinwohner, vermutete Siegbald aufgrund der geringen Körpergröße, keines der aus Europa eingewanderten magischen Völker. Von seinem entfernten Platz aus konnte er ihn nicht genau sehen. Doch um keinen zu beunruhigen hielt er sich noch einige Dutzend Schritt von den Dorfbewohnern entfernt. Sicher ergab sich später eine Gelegenheit, den Häuptling kennenzulernen.

Vorläufig stand nur Augusta vorn neben Theolinde. Augusta Zwiebel war eine Dächsin. Sie konnte sprechen und arbeitete oft in Theolindes Garten. Wie Siegbald erst kürzlich herausgefunden hatte, stammte sie aus einem Ort, der nicht weit von hier lag. Das war sicher auch der Grund, warum sie die Dialekte der Ureinwohner dieser Gegend kannte und übersetzen konnte.

Jetzt führte sie mit dem Häuptling ein angeregtes Gespräch, voller Quietsch- und Pfeiflaute. Schließlich deutete der Häuptling mit dem Flügel über die primitiven Hütten des Dorfes. Siegbald kniff die Augen zusammen. Es war tatsächlich ein Flügel, kein federverzierter Umhang, wie er bisher angenommen hatte. Dann war der Federschmuck vermutlich auch kein Hut, sondern das Gefieder des Häuptlings. Siegbald hatte längst aufgehört, sich über derlei Dinge zu wundern. Vögel sind auch Leute, hätte Zwiebel vermutlich gesagt. In Aequipondium gab es jede Menge Leute: Hexen, Druiden, Wikinger, Otter, Lemminge, Dachse, Drachen. Selbst im Königsschloss arbeiteten Hühner in der Küche.

Wortlos folgten Siegbald und die anderen kurz darauf der Frau des Häuptlings, die dieser nun herbeigerufen hatte. Sie war eine rundliche rotbraun gefiederte Henne, die vor ihnen her zu einem großen Geflecht aus Ästen und Blättern trippelte. Ob man sie wohl als Haupthenne bezeichnete oder war sie die Oberglucke? Siegbald nahm sich vor, Theolinde zu fragen. Es wurde Zeit, dass er ein paar neue Einträge in seinem Reisetagebuch vornahm. Viel mehr war von seinem Dasein als Entdecker nicht geblieben. Doch zumindest das Tagebuch wollte er eines Tages unbeschadet zurück zum preußischen König bringen. Auch wenn es hier bereits seit Generationen Dörfer und „Leute“ gab, Siegbald würde trotzdem als ihr Entdecker gelten, wenn er sie als erster offiziell dokumentierte.

„Hier bitte gut schlafen“, verkündete die Henne, als sich Siegbald mit einiger Mühe ins Innere des Geflechts gezwängt hatte, das sich in der Mitte des Dorfes erhob.

Siegbald starrte das Huhn an. Hatte es gerade verständlich gesprochen?

Sein neugieriger Blick schien die Henne nervös zu machen, denn sie wandte die Augen ab und machte ein paar rasche Schritte, um sich hinter der Dächsin Augusta Zwiebel zu verbergen.

„Gut schlafen?“ fragte die Henne unsicher und deutete an, den Kopf unter einen Flügel zu stecken.

„Ähm, danke“, sagte Siegbald und zwinkerte verwirrt.

„Sie im Schloss Menschensprache gelernt“, murmelte Augusta ihm zu.

„Oh.“

Aus einem frühen Missverständnis heraus, war Siegbalds Ruf im königlichen Schloss in Oberzahnstein nicht besonders gut. Zumindest nicht bei den dortigen Hühnern. Nun, vielleicht könnte er die Stimmung zumindest ein wenig verbessern.

„Verzeih, aber darf ich vielleicht deinen Namen erfahren?“ wandte er sich lächelnd an die dicke Henne.

Sicher fühlte sie sich besser, wenn Siegbald ihren Namen kannte. Niemand aß ein Huhn mit einem Namen.

Einen Moment lang sah ihn die Henne unsicher an. Dann begann sie tief Luft zu holen. Siegbald sah aus den Augenwinkeln, wie Augusta die Pfoten auf ihre wuscheligen kleinen Dachsohren drückte. Fast gleichzeitig stieß die Henne ein ohrenbetäubendes Geschrei aus, das nur im weitesten Sinne als Krähen bezeichnet werden konnte. Als sie geendet hatte, hallte eine seltsame Stille im Nest nach.

„Ihr Name ist ‚Die-den-Fuchs-vertreibt‘.“

Theolindes Stimme klang seltsam dumpf in Siegbalds immer noch klingelnden Ohren. Neugierig legte Die-den-Fuchs-vertreibt den Kopf schief. Ihre roten Kehllappen schaukelten hin und her, während sie auf Siegbalds Reaktion wartete.

„Mach es dir was aus, wenn ich dich Frau Kikeriki nenne?“ fragte er, als die Ohrenschmerzen etwas nachgelassen hatten.

Testweise bohrte er mit dem Finger im rechten Ohr, weshalb er die Antwort der Henne nicht hörte.

„Entschuldigung?“

„Isabella. Der Name hat mir immer gefallen“, gurrte die Henne schüchtern.

„Natürlich. Ich danke dir für die Unterkunft, Frau Isabella.“ Wieder zeigte Siegbald sein bestes Diplomatenlächeln.

Unsicher blickte Die-den-Fuchs-vertreibt zu ihm auf. Dann tippte Zwiebel sie an und murmelte irgendetwas, das Siegbald nicht verstand. Die Oberhenne nickte erleichtert und floh nach draußen.

Gemessen an der Größe der Dorfbewohner war das Innere des Nests riesig. Für Theolinde und ihre Freunde würde es schon irgendwie ausreichen. Zwar bot der Boden aus gestampfter Erde reichlich Platz, um sich niederzulegen, doch die Decke war gerade hoch genug, um sich im Sitzen nicht den Kopf zu stoßen. Stehen konnte der fast zwei Meter große Siegbald hier nicht. Theolinde, die ihn noch um einen halben Kopf überragte, hatte sich auf ihre Fersen gehockt, um mit Zwiebel zu reden. Zumindest hielt das Blätterdach den Großteil des Regens ab und die Hütte – das Nest, verbesserte Siegbald sich – war sauber. In Summe war es hier nicht schlechter, als er in den Wochen zuvor geschlafen hatte. Und nach den Regeln der Gastfreundschaft würden sie sogar etwas zu essen bekommen.

Ihre Gruppe bestand aus fünf Personen, sechs, wenn man Lars, den Auswanderlemming mitzählte. Während Siegbald, Wolfgang und Otter es sich bequem machten, folgten Theolinde und Augusta der Oberglucke zum Frauenhaus oder Kükennest oder was auch immer es war, wo sich die Hennen des Dorfes trafen. Erfahrungsgemäß würden sie die beiden erst zum Essen wiedersehen. Siegbald verspürte jedenfalls keine große Lust, durch das regennasse Dorf zu wandern.

Wolfgang, der dunkelhaarige, bärtige Werwolf, hatte sich schon auf seiner Decke zusammengerollt. Wie ein Hund hatte er das Talent, jede freie Minute zum Schlafen nutzen zu können. Es war bald Vollmond. Dann würde er den angesparten Schlaf durch zusätzliche Wachzeiten kompensieren. Doch selbst wenn er wach war, gab der Werwolf als Gesprächspartner nicht viel her. In seiner praktischen, manchmal etwas phlegmatischen Art fand er sich mit der Welt ab, wie sie eben war. Für ihn gab es keinen Grund, ständig über das Für und Wider verschiedener Lebensweisen oder Ansichten zu diskutieren. Die Welt war so, wie sie eben war.

Auch Maximilian Otter hatte sich eingerollt. Aber im Gegensatz zum Werwolf schlief er nicht, sondern starrte ins Leere, die Nase auf den langen Otterschwanz gelegt.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Siegbald.

Der Otter fuhr hoch. Er starrte den Menschen an, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er nicht allein war. Dann zwinkerte er zweimal.

„Selbstverständlich, Herr Sockenloch.“

Auch Monate nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst des Königs hatte sich Maximilian Otter die gewählte Aussprache erhalten, die er sich als Leibdiener angewöhnt hatte. Er trug zwar inzwischen weder Fliege noch Weste, doch Siegbald fühlte sich in seiner Gegenwart immer schmutzig und unkultiviert. Vermutlich lag es an dem schönen glänzenden Fell, das viel gepflegter wirkte, als Siegbalds abgetragener Rock. Noch vor einem Jahr hätte sich der Entdecker ein Leben ohne persönlichen Leibdiener und mehrfach täglichen Wechsel der Garderobe nicht vorstellen können. Jetzt war er schmutziger als ein Tier.

Heute jedoch wirkte der Otter abwesend und, wenn Siegbald das Zucken seiner Schnurrhaare richtig deutete, besorgt.

„Gefällt dir das Dorf nicht? Sind wir in Gefahr?“

Zwiebel hatte Siegbald erzählt, dass auch die Familie des Otters nur ein oder zwei Tagesreisen entfernt lebte. Es war gut möglich, dass Maximilian etwas über diese Gegend wusste. Vielleicht gab es hier angriffslustige Trolle oder diese Hühnervögel waren in Wirklichkeit aggressive Fleischfresser.

„Es ist nichts.“

Der Otter ließ sich wieder zu Boden sinken. Er war ungewöhnlich wortkarg. Dabei hätte Siegbald gern jemand zum Reden gehabt. Doch wenn er nicht wollte, würde Siegbald ihn in Ruhe lassen.

Stattdessen setzte er sich zum Eingang und starrte hinaus in den Regen.

Korukoru. Das war der Name des Vogelvolkes, soweit Siegbald es verstanden hatte. Ein ungewöhnlich beleibter Dorfbewohner watschelte zwischen den Nestern hindurch und verschwand hinter einer Wegbiegung.

In Gedanken reiste Siegbald zurück in seine Vergangenheit: Er war als Forschungsreisender in die Südsee gekommen. Und auf dem Weg zu seinem Ziel, dem bisher unentdeckten Südkontinent, waren er und seine Begleiter an einer ganzen Reihe kleiner Inseln vorbeigekommen. Und auf einer davon hatte Siegbald Korukoru gegessen. So zumindest hatten die dortigen Eingeborenen den Braten genannt, mit dem sie die Schiffsmannschaft der Annette bewirtet hatten. Der Geograph Hundeshagen, ebenfalls ein Mitglied der preußischen Südseeexpedition, und Siegbald hatten die kleine Insel als Teil der Gleditschen-Gruppe auf ihren Karten vermerkt. Doch das alles war bereits viele Monate her, vor seiner Ankunft in Aequipondium. Nun aber war Siegbald hier gestrandet und Hundeshagen vermutlich längst auf dem Rückweg nach Europa. Ob es sich bei den Korukoru hier um dieselbe Art handelte, wie auf der Insel damals, wusste Siegbald nicht. Aber es war wohl besser, wenn er sich keine weiteren Gedanken über die kulinarischen Qualitäten seiner Gastgeber machte.

Ein Kitzeln riss Siegbald aus seinen melancholischen Gedanken, als Lars, der Auswanderlemming, auf seine Schulter kletterte. Der Entdecker hatte den kleinen Kerl tief im Süden des Kontinents aufgegabelt, wo sich der intelligente Nager eines Tages kurzerhand in Siegbalds Rocktasche einquartiert hatte. Seitdem hatten sie gemeinsam verschiedene Abenteuer bestanden.

Schon vor einigen Wochen hatte Siegbald begonnen, gemeinsam mit Lars ein System zu entwickeln, wie sie sich verständigen konnten. Anfangs hatte sein Vokabular nur aus einfachen Dingen, wie „Ja“, „Nein“, „Links“ und „Rechts“ bestanden. Doch in der letzten Zeit war es beträchtlich angewachsen. Der Lemming hingegen hatte von Anfang an keine Probleme gehabt, Siegbalds Worte zu verstehen.

Lars gab ein kurzes Pfeifen von sich. Dann hangelte er sich über Siegbalds Ärmel und ließ sich auf den Boden fallen. Schnuppernd erkundete er das Nest, während er ein paar zwitschernde Pfeiftöne ausstieß. Siegbald beobachtete den kleinen Kerl, der geschäftig zwischen dem Gepäck hin und her lief. Schließlich seufzte er.

„Nein, Lars, ich weiß auch nicht, ob es bald etwas zu essen gibt. Aber wenn du willst, können wir Theolinde suchen.“

Lars gab einen zustimmenden Pfiff von sich und kletterte rasch zurück in Siegbalds Rocktasche, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, wenn sie auf Reisen waren. Siegbald schlug gegen den Regen seinen Kragen hoch und krabbelte aus dem Nest.

Niedrige Büsche und etwa hüfthohe, halbkugelförmige Neststrukturen umgaben ihn. Dazwischen schien nass und schlammig der rostrote tropische Boden durch. So muss sich ein Käfer fühlen, der auf einem Fliegenpilz sitzt, dachte Siegbald. Er versuchte zu entscheiden, in welche Richtung Theolinde und Augusta wohl verschwunden sein mochten. Doch von hier aus waren sie weder zu sehen noch zu hören. Etwa zwanzig Meter entfernt erhob sich ein etwas größerer Buckel. Das musste das Nest von Häuptling und Oberglucke sein. Erfahrungsgemäß befand sich das Frauenhaus oder in diesem Fall wohl der Hühnerstall jenseits davon und am hinteren Ende des Dorfes, unscheinbar und außer Sicht der höheren Autorität außerdem weit weg von neugierigen Besuchern.

Siegbald umrundete das Häuptlingsnest und hielt auf den Dorfrand zu. Ein schwarz-weiß-geschecktes Huhn erschien zwischen den Nestern, wohl auf dem Weg zum Dorfhäuptling. Gerade als Siegbald es nach dem Weg fragen wollte, gab sein leerer Magen ein vernehmliches Grummeln von sich. Das Huhn warf ihm einen panikerfüllten Blick zu und verschwand im nächsten Nest. Siegbald seufzte. Bis zum Abend würden sicher neue Horrorgeschichten über Siegbald, den Hühnerfresser, kursieren. Dabei hatte Siegbald seit er in Aequipondium war kein Huhn mehr angerührt. Nur einmal, ganz zu Anfang, hatte er den Fehler gemacht, sich zum Frühstück ein Omelett zu wünschen.

Am Dorfrand fand Siegbald eine Art Heiligtum. Es musste ein Heiligtum oder zumindest ein heiliger Platz sein, denn es standen Schalen mit Opfergaben aus Körnern und bunten Steinen herum. Das Heiligtum selbst erschien Siegbald irgendwie unspektakulär. Es war nicht mehr als ein schlammiges Loch im nassen Boden. Ob die Hühner hier an trockenen Tagen rituelle Sandbäder abhielten?

Während Siegbald noch über die seltsame Religion des Hühnervolkes nachdachte, hörte er Theolindes Stimme. Sie musste aus einem Nest in der Nähe kommen. Direkt hinter ihm befand sich ein windschiefes Gebilde aus alten Ästen und einigen frischeren Zweigen. Nasse, struppige Federn, Muscheln und Schneckenhäuser lagen links und rechts neben dem Eingang. Der Eingang selbst war von einer Art Vorhang verdeckt. Beim näheren Hinsehen stellte Siegbald fest, dass es sich um Steine handelte. Kleine Lochsteine, die auf Bindfäden aufgefädelt waren und so einen klappernden Vorhang ergaben.

Siegbald grinste. Also hatten die Hühner doch eine Vorliebe für Lochsteine. Hühnergötter nannte man die in seiner Heimat, auch wenn er nicht wusste, woher diese Bezeichnung stammte.

Siegbald bückte sich und steckte den Kopf durch den Vorhang. Theolinde saß im Schneidersitz auf der linken Seite, während es sich rechts mehrere Hühner bequem gemacht hatten. Doch noch ehe Siegbald sich umschauen oder etwas sagen konnte, hörte er ein erschrecktes Gackern und wildes Flügelschlagen verdeckte sein Blickfeld.

„Siegbald!“ Theolindes Stimme klang vorwurfsvoll, dabei war er bereits dabei, seinen Kopf durch den Vorhang zurückzuziehen. Die Flügel der Hühner trafen ihn mehrmals schmerzhaft im Gesicht, ehe er sich mit einem Ruck aus dem Hühnergott-Vorhang befreit hatte, der sich in seinen Haaren verhakt hatte.

Er war noch dabei, eine abgerissene Steinkette aus seinen Haaren zu lösen, als Theolinde aus dem Nest gekrochen kam. Mit zornigem Gesicht und in die Hüften gestützten Händen baute sie sich vor ihm auf.

„Wie kannst du so einfach in das Nest der Schamanin eindringen? Kennst du denn gar keinen Respekt?“

„Ich habe nach dir gesucht“, verteidigte sich Siegbald. „Außerdem hätten die Hennen mir mit ihren Flügeln fast ein Auge ausgepikst.“

Der belämmerte Blick mit dem der inzwischen tropfnasse Siegbald zu ihr aufsah, ließ ihren Zorn verrauchen.

„Du hättest reinrufen können“, sagte sie.

Er ließ den Kopf hängen.

„Was wolltest du denn?“ fragte Theolinde schließlich.

„Ich, wir, … Lars hatte Hunger.“ Selbst ihm erschien dieser Grund ein wenig dürftig, um eine vermutlich altersschwache Schamanin zu erschrecken. „Und du hast mir gefehlt“, setzte er etwas leiser hinzu.

Bei diesem Bekenntnis musste Theolinde lächeln. „Du fehlst mir auch, aber das hier ist wichtig.“ Ihr sehnsüchtiger Blick zurück zum Schamanennest sagte deutlich, was ihr im Moment mehr bedeutete. „Hier. Das sollte vorläufig für Lars reichen. Ich versuche, mich zu beeilen und nachher essen wir zusammen was Gutes.“

Theolinde drückte ihm ein Säckchen Körner in die Hand und schob ihn auf den Weg zurück zu ihrer Unterkunft. Als Siegbald begann, ein paar zögerliche Schritte zu gehen, drehte sie sich um und verschwand wieder im Schamanennest. Siegbald sah ihr nach und seufzte.

Es sollte noch Stunden dauern, bis Theolinde sich wieder zu ihm gesellte. Das gute Essen erwies sich als das, was Siegbald befürchtet hatte: Hühnerfutter. Es gab Körner, diverse Würmer und grünen Salat. Zumindest letzterer erwies sich als recht schmackhaft und würzig, bis unter den Salatblättern in Siegbalds Schüssel eine riesige Schnecke ihre Fühler hob. Angewidert stellte Siegbald die Schüssel auf den Boden. Der Häuptling des Hühnervolks, ein ziemlich alter Hahn, hatte ihn dabei beobachtet. Er deutete auf die Schnecke und gab ein paar glucksende Laute von sich. Augusta hob den Kopf aus ihrer Schüssel und schaute zu Siegbald. Ihre Antwort auf die Äußerung des Hahns schien dem Alten nicht zu gefallen, denn er wackelte unzufrieden mit dem Kopf.

„Häuptling will wissen, warum du saftige Schnecke nicht isst“, übersetzte Zwiebel. „Ich gesagt, du schlank und fit sein willst, für Fräulein Theolinde.“

Siegbald nickte dankbar.

„Hahn sagt, Mensch-Hahn muss essen Proteine. Kräftiger Hahn kriegt viele Hennen.“

Siegbald hatte den Eindruck, dass die Dächsin versuchte, bei dieser Aussage nicht zu kichern. Er blickte zu Theolinde, die jedoch gerade in ein Gespräch mit Isabella, der Oberglucke, vertieft war.

„Sag ihm, ich bin mit meiner Henne, ich meine mit Theolinde sehr glücklich.“

Der Hahn lauschte der Übersetzung, dann schüttelte er sich. Aus einer nahem Schüssel nahm er sich selbst eine Schnecke, die sich daraufhin sofort in ihr Häuschen zurückzog. Doch er hielt das Haus mit der Kralle fest und pickte in die Öffnung, bis er die Schnecke erwischt hatte. Dann zog er den schleimigen Schneckenkörper heraus und verspeiste ihn geräuschvoll. Als er fertig war, deutete er auf Siegbald und auf die Schnecke in Siegbalds Schüssel, die sich inzwischen über seine Salatblätter hermachte. Die Aufforderung, es ihm gleichzutun, war unmissverständlich.

„Ähm, sag ihm, die Schnecke ist sicher sehr lecker, aber ich esse mein Protein lieber gekocht.“

Zwiebel übersetzte und nahm sich dann selbst ein paar dicke bleiche Käferlarven aus einem anderen Gefäß.

Endlich schien sich der Häuptling zufrieden zu geben. Er nickte und machte dann einige glucksende Bemerkungen zu einer Henne, die hinter ihm stand. Siegbald atmete auf, als das Huhn ihm die Schüssel mit der Schnecke abnahm und ihm stattdessen einen Brei aus Körnern servierte, den er gierig verschlang.

„Schmeckt‘s dir?“ fragte Theolinde lächelnd. Von dem Gespräch mit dem Häuptling hatte sie offenbar nichts mitbekommen.

Wenige Minuten später war die Henne mit seiner Schnecke zurück. Nur befand sich diesmal nicht nur eine Schnecke in seiner Schüssel, sondern fünf, jede mindestens so groß, wie eine Weinbergschnecke. Dampf stieg aus der Schüssel auf, als die Henne sie vor Siegbald abgestellt hatte. Der alte Hahn blickte ihn erwartungsvoll an.

Siegbald schluckte.

„Was ist los?“ fragte Theolinde und blickte zwischen Siegbald und dem Häuptling hin und her.

„Er gesagt, er seine Schnecken lieber gekocht isst“, murmelte Zwiebel.

„Stimmt das? – Also dann musst du sie jetzt essen, sonst ist er beleidigt“, befand Theolinde.

Siegbald lächelte angestrengt. „Ich mag aber keine Schnecken“, murmelte er aus dem Mundwinkel. „Schon gar nicht, wenn es keine Knoblauchbutter dazu gibt.“

„Mach dich nicht lächerlich. Schau, ich nehme auch eine. Aber den Rest musst du selber essen.“

Ohne zu zögern nahm Theolinde eine der Schnecken und führte sie zum Mund. Mit einem Holzstäbchen zog sie den gegarten Schneckenkörper aus den Häuschen in ihren Mund und schluckte.

„Sehr schmackhaft“, sagte sie laut und lächelte dem alten Hahn zu.

Siegbald starrte immer noch in die Schüssel. Eine der Schnecken hatte sich zum Zeitpunkt ihres Todes wohl außerhalb des Häuschens befunden. An ihrem steifgekochten Schneckenkörper waren die Fühler klar zu erkennen und sie schienen ihn anzustarren.

„Jetzt mach schon. Augen zu und durch“, drängte Theolinde und gab ihm einen schmerzhaften Pieks in die Seite. Dann drückte sie ihm das Holzstäbchen in die Hand.

Siegbald griff eine Schnecke, führte sie zum Mund und mit angehaltenem Atem zog er den Schneckenkörper in seinen Mund. Unfähig noch lange darauf herum zu kauen, schluckte er. Beinahe wäre ihm die fette Schnecke im Hals stecken geblieben. Er nahm einen raschen Schluck Wasser, um sie hinunterzuspülen, dann war es geschafft. Mühsam lächelte er dem alten Hahn zu und nickte.

„Jetzt die anderen“, verlangte Theolinde.

Siegbalds Lächeln verwandelte sich in ein angestrengtes Zähnefletschen, als er murmelte: „Muss ich?“

Doch Theolinde kannte keine Gnade. „Ja. Immerhin bist du der Hahn, ähm, Mann in unserer Gruppe. Und die Tradition verlangt es.“

Siegbald seufzte innerlich und fragte sich, warum nicht Wolfgang der Hahn in ihrer Gruppe sein konnte. Vermutlich könnte er es sogar. Aber der Gedanke, dem phlegmatischen Wolfgang die Führung und auch die Liebe von Theolinde zu überlassen, war ihm sogar noch unangenehmer, als der Gedanke an die Schnecken. Entschlossen nahm er sich noch eine Schnecke. Luftanhalten und durch. Nächste Schnecke. Der alte Häuptling ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen. Als er endlich alle vier Schnecken geschluckt hatte, schob Siegbald rasch ein paar Löffel Getreidebrei nach, um den Geschmack zu vertreiben.

„Danke. Das war sehr gut. Jetzt bin ich aber wirklich satt“, log er.

Der Hahn nickte zufrieden.

Später, als sie sich auf dem harten Boden des Gästenests zum Schlafen niedergelegt hatten, begann Siegbald über sein Leben nachzudenken. Theolinde hatte sich in seinen Armen eingekuschelt und schlief bereits. Er war glücklich, daran konnte es keinen Zweifel geben. Immerhin hatte er Theolinde. Er genoss die warme Weichheit ihres Körpers und den Geruch ihrer roten Haare, die immer ein wenig nach Kräutern dufteten. Gleichzeitig wünschte er sich, er wäre mit ihr in ihrem Haus am Rande des Dolchwalds oder noch besser, zu Hause in Europa. Er würde ein kleines Haus mieten, mit nicht mehr als vielleicht einem Dutzend Zimmern. Nachts würden Theolinde und er in einem weichen Bett schlafen und tagsüber könnte er Theolinde die Gegend zeigen. Sie würden ihn, den Sonderbotschafter Preußens auf dem Antipodischen Kontinente, in den Salon der Schwester des Königs einladen und vielleicht würde er ab und zu einen Vortrag halten, über Aequipondium, dessen Bewohner und die exotische Tierwelt. Die Drachen, Gnome und Wichtel würde er selbstverständlich nicht erwähnen, er wollte ja nicht für verrückt gehalten werden. Zu gern würde er auch von seinem Kampf mit dem Eisdrachen und seinen anderen Heldentaten berichten, aber das würde ihm daheim ohnehin keiner glauben. Er könnte jedoch sein kariertes Chameleopardenfell und seine anderen Kuriositäten herzeigen und vielleicht ein paar Riesengemüsesamen für den Botanischen Garten spenden. Er fragte sich, was die europäischen Naturphilosophen wohl von dem abgenutzten Drachenzahn halten würden und ob es jemanden gab, der wusste, wozu wohl der druidische Äquinoxolid diente, den ihm der Direktor der Druidenakademie gegeben hatte. Den Ring mit dem leuchtenden Stein, den Magieaufspürer, brauchte er vermutlich nicht hervorzuholen. Denn wenn es stimmte, was Direktor Neidhart darüber gesagt hatte, würde der Stein in Europa einfach schwarz sein, denn es hieß, im industriellen Europa gäbe es längst keinerlei Magie mehr.

Wolfgang fing an zu schnarchen und Siegbalds Traum von einem glücklichen Leben in Preußen zerplatzte. Es war stockfinster im Nest, nur der Magieaufspürer an Siegbalds Finger gab ein schwaches blaugrünes Leuchten von sich. Auf einmal war er nur noch ein ziemlich hungriger Reisender in einem verschlissenen flaschengrünen Rock, der kaum mehr besaß als ein altes Wikingerschwert, ein Jagdgewehr mit so wenig Munition, dass es kaum lohnte, und ein paar wertlose aequipondische Kuriositäten. Wie sein Freund Horst Wilhelm von Knobelsdorff lachen würde, wenn er ihn so sehen könnte.

Als Siegbald am nächsten Morgen erwachte, hatte Theolinde das Nest schon verlassen.

 

 

Der Lochstein

Beinahe lautlos schlich der Schattenelefant durch den Urwald. Wie alle Schattenelefanten war er sehr scheu und würde sofort zu absoluter Bewegungslosigkeit erstarren, wenn sich jemand näherte. Die Lautlosigkeit seiner Fortbewegung bezog sich allerdings nur auf den Elefanten selbst, das heißt, er schnaufte fast gar nicht, obwohl es ziemlich anstrengend war, seinen tonnenschweren Körper durch das Dickicht zu schieben. Ein Lauscher hätte den Elefanten jedenfalls nicht atmen gehört. Das war auch kaum möglich, da das leise Schnaufen des Tiers bei jedem seiner Schritte vom Krachen der brechenden Vegetation übertönt wurde.

Zum Glück für ihn waren die beiden Gestalten, die sich aus der anderen Richtung näherten, mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Die kleinere von beiden, vielleicht ein kleiner Mensch oder ein recht großer Zwerg, trug einen Umhang und hatte die Kapuze gegen den kalten Nieselregen weit über den Kopf gezogen. Die andere Gestalt hatte keine Kopfbedeckung, was daran liegen mochte, dass sie keinen Kopf zu haben schien. Stattdessen bildeten die muskulösen Schultern den höchsten Punkt des Körpers. Auf den breiten Schultern der Gestalt war ein Gegenstand befestigt, der unter dem Tuch, das ihn bedeckte, aber nicht genau zu erkennen war. Der Gegenstand war beinahe rund und hatte einen Durchmesser von vielleicht einem Meter. Zudem war er etwas mehr als zwei Handbreit hoch. Er musste schwer sein, denn obwohl die Gestalt, die ihn trug, groß und muskulös war, stöhnte sie unter dem Gewicht.

Sobald der der Schattenelefant die beiden Fremden bemerkte, erstarrte er. Bis zu dem Weg, dem die beiden folgten, waren es vielleicht noch zehn Meter. Doch die Vegetation war dicht und der Elefant war ein Meister der Tarnung. Nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte bemerkt, dass der Wald auf einmal vier zusätzliche graue Baumstämme enthielt und sich zwischen den Blättern ein dicker Elefantenbauch verbarg.

„Schneller“, drängte der Kapuzenträger.

Doch sein Begleiter stöhnte nur. „Er ist zu schwer. Ich brauche Hilfe oder zumindest ein besseres Traggestell“, murmelte er undeutlich. Es war nicht zu erkennen, wo genau die Stimme herkam.

„Dann bringen wir ihn erstmal an einen sicheren Ort und holen ihn später“, entschied der Kapuzenträger. „Nur noch ein paar Minuten.“

Mit einem Ächzen verlagerte der Kopflose das Gewicht auf seinem Rücken.

„Still, da kommt jemand.“

Tatsächlich waren Stimmen zu hören, die dem gleichen Pfad zu folgen schienen, auf dem auch der Kapuzenträger und sein Begleiter unterwegs waren.

„Los, beeil dich. Ehe uns jemand sieht.“

Doch der Kopflose brummte nur. „Nicht mit dem Ding“, murmelte er. Seine Stimme klang, als hätte er ein Taschentuch im Mund.

Die kleinere Gestalt machte eine ungeduldige Handbewegung. „Dann lass es eben hier.“ Es war eindeutig, dass der Kleine damit im Grunde nicht einverstanden war.

Mit einiger Mühe ließ der Kopflose seine Last neben dem Pfad zu Boden plumpsen. Dann eilten die beiden den Pfad entlang. Kurz darauf verschwanden sie zwischen den Bäumen.

Die Stimmen waren inzwischen näher gekommen.

„Ist es weit?“ fragte eine Männerstimme.

„Nicht weit. Morgen wir da sind.“ Die Antwort kam von einer kleinen Gestalt, kleiner noch, als der kleinere der beiden Fremden vorhin.

Inzwischen hatte die Gruppe jene Stelle des Weges erreicht, die dem Schattenelefanten am nächsten war, sodass er die einzelnen Personen recht gut erkennen konnte. Zwei, nein drei Menschen schienen dazu zu gehören, auch wenn einer der Menschen ziemlich stark behaart war und die Frau auch eine kleine Riesin sein könnte. Außerdem war da noch einer vom Otter-Volk und eine Dächsin.

„Dort liegt etwas.“

Die Menschenfrau deutete auf das Paket, das der Kopflose zuvor abgeworfen hatte. Sie bückte sich und begann das Tuch zu lösen.

„Ein Lochstein“, stellte sie überrascht fest.

Der Mann, der sich in der Farbe des Urwalds gekleidet hatte, trat neben sie.

„Schau mal Zwiebel, ein riesiger Hühnergott“, sagte er und grinste. „Der hätte unseren Gastgebern von letzter Nacht sicher gefallen.“

„Ein Hühnergott?“ fragte die Frau.

Der Grüngewandete zuckte die Schultern. „Ein Lochstein eben. In meiner Heimat nennen wir sie Hühnergott. Die Kinder sammeln sie am Strand. Einer wie der hat mich vor Gallo Divino, dem Riesenhahn auf der Isla del Ogro, gerettet. Ein kleinerer natürlich, den ich als Andenken mitgenommen hatte.“

Auch die anderen standen jetzt rings um den Lochstein.

„Schade, dass deine Hühnerschamanin von gestern ihn nicht sehen kann. Sie wäre sicher begeistert“, sagte der Mann.

Die Frau legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken. „Ich glaube, sie hat den Lochstein sogar erwähnt. Sie erzählte, man habe erst kürzlich ihren Hühnergott gestohlen. Ihr Dorfheiligtum. Mir war nur nicht klar, dass sie einen Lochstein meinte. Ich frage mich, wie er hierhergekommen ist.“

„Wie haben die Hühner ihn je aufstellen können?“ fragte der Mann neugierig „Der Stein muss ja mindestens hundert Kilo wiegen.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat es recht lange gedauert.“ Einen Moment lang betrachtete sie den Lochstein nachdenklich. „Los, wir bringen ihn zurück.“

Sie schaute die beiden Männer auffordernd an und bückte sich, um den Stein aufzuheben.

„Aber der ist doch viel zu schwer“, meinte der Grüngewandete.

„Zu dritt schaffen wir das schon“, behauptete die Frau und schob die Männer an ihre Plätze.

Einige Minuten später schien es, als sollte der Grüngewandete recht behalten. Die drei Menschen schnauften vor Anstrengung, hatten den Stein aber nur wenige Meter bewegt.

„So wird das nichts.“ Erschöpft ließen sich die Menschen auf dem Stein nieder.

„Vielleicht sagen wir ihnen einfach nur, wo sich der Stein befindet. Immerhin haben die Hühner ihn ja schon einmal in ihr Dorf geschafft.“

Der Mann hatte inzwischen seinen grünen Rock abgelegt und ein schmutziges weißes Hemd war darunter zum Vorschein gekommen. Die Frau nickte, doch diese Lösung machte sie offensichtlich nicht glücklich.

„Vielleicht man Stein kann rollen?“ fragte die Dächsin.

Das Gesicht der Frau erhellte sich. Der Blick, den der Mann auf die Dächsin richtete, schien hingegen eher von Mordlust zu sprechen. Schließlich schloss er kurz die Augen und seufzte schicksalsergeben. „Versuchen wir’s.“

Wie sich zeigte, war das Aufrichten des Steines nun die schwierigste Aufgabe. Kaum stand er auf der Seite, reichte die Kraft der beiden Männer, um ihn den unebenen Pfad entlangzurollen.

„Welch eine gute Idee, Augusta“, lobte die Frau. „Die Korukoru werden uns so dankbar sein.“

Sie nahm den flaschengrünen Rock und das andere Bündel ihres Begleiters und schritt dem rollenden Lochstein vorweg. Die beiden schwitzenden Männer folgten ihr mit dem Hühnergott. Den Abschluss der Gruppe bildeten der Dachs und der Otter. Nach ein paar Minuten waren sie schon nicht mehr zu hören.

Endlich konnte auch der Schattenelefant aufatmen. Die Magie Aequipondiums hatte bewirkt, dass seine perfekte Tarnung ein weiteres Mal funktioniert hatte. Schade, dass die allgegenwärtige Hintergrundmagie in diesem Teil der Welt abzunehmen begann. Der Schattenelefant hatte sich in den Wäldern der Mitte immer sehr wohl gefühlt. Aber in den letzten Monaten waren immer mehr seltsame Kreaturen aufgetaucht in seinem Revier aufgetaucht, Kreaturen, vor denen sich der Elefant fürchtete. Gleichzeitig gab es Gerüchte von schrecklichen magischen Katastrophen, die ganze Landstriche völlig ohne Magie zurückließen. Besser, er suchte jetzt eine neue Heimat für sich und seine Familie.

Unter dem Krachen brechender Äste schlich der Schattenelefant weiter. Als er sicher war, dass keiner mehr in der Nähe war, gab er ein leises Trompeten von sich. Zwei weitere Schattenelefanten lösten sich aus dem Urwald hinter ihm und folgten der Schneise, die der erste Elefant durch den Wald gebrochen hatte. Einer der beiden war ein erwachsener Elefant, der zweite ein Junges, das kaum mehr als ein Jahr alt sein konnte. Als das Junge seinen Vater erreichte, erstarrte es wieder in der Schutzhaltung der Schattenelefanten.

„Wir gehen in die Stadt. Da reicht es nicht, einfach nur stillzustehen“, rügte sein Vater ihn in der lautlosen Schattenelefantensprache.

Gehorsam änderte das Junge seine Haltung. Nun stand es auf den Hinterbeinen, den kleinen Rüssel hoch in die Luft erhoben. Kurz wackelte er, dann hatte er das Gleichgewicht gefunden und erstarrte.

„So sieht eine Elefantenstatue aus! Gut gemacht, mein Junge“, lobte der Schattenelefant.

Dann drehte er sich um, um das nächste Wegstück zu erkunden.

 

 

Axel

Es dauerte fast den gesamten Tag, den schweren Lochstein zurück zum Dorf der Korukoru zu bringen. Gegen Mittag hörte es auf zu regnen, aber der Pfad war inzwischen so schlammig und glitschig, dass Siegbald und Wolfgang kaum noch Halt fanden. Außerdem ging es die meiste Zeit bergauf. Gestern hatte Siegbald noch gelacht, und den Ausblick über das Dorf mit einem Fliegenpilz verglichen. Heute wünschte er sich, es würde in einer Senke liegen, sodass sie den Lochstein einfach hineinrollen lassen könnten.

Als sie endlich das Dorf erreichten, war die Aufregung groß. Siegbald hatte damit gerechnet, dass die Hühner ihnen dankbar wären. Stattdessen musste Theolinde mit Augustas Hilfe eine längere Diskussion führen, weil sie ihm, Siegbald, erlaubt hatte, den heiligen Hühnergott zu berühren. Aber als es darum ging, das schwere Ding quer durch das Dorf zu seinem alten Platz zu bringen, hatte auf einmal keiner mehr Einwände.

Es folgte eine lange Weihungszeremonie und ein Fest, zu dem Siegbald und Wolfgang nicht eingeladen waren. Es sei nicht angemessen, hatte Augusta die Krächzlaute der Hühnerschamanin übersetzt. Siegbald sah in seinem mit rotem Schlamm verschmierten Hemd aus, als käme er aus dem Schlachthaus. Auch Wolfgang wirkte nicht viel vertrauenerweckender. Während die anderen sich zum Fest trafen, gingen die Männer zum Bach, um sich zu waschen. Wieder im Gästenest angekommen, hängte Siegbald sein feuchtes Hemd zum Trocknen auf und streckte sich auf dem harten Boden aus. Zumindest musste er heute keine Schnecken essen, auch wenn er über die mangelnde Dankbarkeit der Hühner empört war.

Am nächsten Tag verließen sie endgültig das Revier des Hühnervolkes.

 

Seit sie in diesem Teil Aequipondiums unterwegs waren, hatte Augusta davon gesprochen, dass sie ihre Familie besuchen wollte. Soweit Siegbald verstanden hatte, wohnten inzwischen nur noch ihre Mutter Schalotte und ihre Großmutter in dem alten Haus, in dem die Dächsin aufgewachsen war. Ihr Vater war seit langem verschwunden und ihre Geschwister hatten sich, wie sie, weit weg von zu Haus eine Anstellung gesucht.

So kam es, dass Augusta die Gruppe anführte, als mit einem Fauchen eine graugrüne Gestalt aus den Büschen brach und sich ohne Vorwarnung auf sie stürzte. Die Dächsin griff sofort nach ihrem Dolch, doch der Angreifer war bereits über ihr und drückte sie mit seinen Vorderpranken zu Boden, ehe sie eine Chance hatte, sich zu wehren. Lange Reißzähne versuchten ihre Kehle zu packen, erwischten jedoch nur den Stoff ihres Umhangs.

Die kurze Irritation des Raubtiers reichte, damit Maximilian heraneilen konnte. Mit aller Kraft hieb der Otter das Bündel mit seinen Habseligkeiten auf den Schädel des Raubtiers. Es schepperte und ein Jaulen erklang. Der Angreifer schüttelte den Kopf. Er versuchte, den Blick seiner gelben Augen auf den Otter zu richten, doch schien ihn der unerwartete Schlag halb betäubt zu haben, denn sein Blick war seltsam unfokussiert. Noch ehe er sich wieder fangen konnte, war auch Theolinde heran. Entschlossen griff sie der Raubkatze in das dicke Nackenfell und hob und zog sie von Augusta herunter. Erst in ein paar Schritt Entfernung ließ sie das Monster los und warf ihm einen so strengen Blick zu, dass es sich eingeschüchtert auf den Boden kauerte.

Bis Siegbald, der mit Wolfgang den Schluss der Gruppe bildete, überhaupt mitbekommen hatte, dass sie angegriffen wurden, war der Kampf längst vorüber. Augusta rappelte sich bereits wieder auf.

„Dass du dich nicht schämst, einfach auf harmlose Reisende loszugehen“, schalt Theolinde ihren Angreifer und starrte drohend auf ihn herab.

Die Raubkatze, ein Chameleopard, wie Siegbald erkannte, duckte sich noch tiefer. Verständlich, denn Theolindes Tonfall ließ selbst Siegbald schuldbewusst zusammenfahren, dabei war er fast sicher, nichts angestellt zu haben. Große runde Katzenaugen richteten sich auf die Hexe. Die Ohren und die Schnurrhaare waren vor Furcht angelegt und ein leises Wimmern entwich dem offenen Maul. So blickte er angstvoll zu Theolinde auf. Fast könnte man Mitleid haben.

„Hrmfmf“, machte der Chameleopard.

„Wie war das?“

„Tut mir leid?“ murmelte die Raubkatze kleinlaut.

Siegbald betrachtete ihren Angreifer, während die Hexe ihm eine Standpauke hielt. Chameleoparden waren im allgemeinen sehr reinliche Tiere. Ihre Fellpflege war ihnen wichtig, denn ein schönes Fell verhieß perfekte Tarnung. Der Pelz des Chameleoparden konnte seine Farbe so an die Umgebung anpassen, dass sein Besitzer fast unsichtbar wurde. Selbst schwierige Formen, wie das schwarz-weiße Schachbrettmuster der Eingangshalle im Königsschlosses konnte ein Chameleopardenfell nachbilden, wie Siegbald, der ein altes Fell mit diesem Muster besaß, wusste. Der Leopard vor ihm war jedoch schmutzig, abgemagert und wirkte überhaupt heruntergekommen. Sein Fell hatte sich dem Waldboden angepasst, auf dem er lag, doch durch den Schmutz wirkte der Chameleopard bestenfalls halbdurchsichtig, wie ein struppiges Gespenst. Caesar, der Chameleopard, der derzeit gemeinsam mit dem Wikinger Gunnar auf Theolindes großes Haus am Dolchwald achtete, hätte bei diesem Anblick abfällig die Nase gerümpft.

Theolinde starrte den Kater immer noch drohend an, bis dieser schließlich den Blick abwandte und ein klägliches Miauen von sich gab. Dann endlich entspannte sie sich. Auch ihre Gefährten atmeten auf.

Siegbald hatte erwartet, dass der fremde Chameleopard nun so schnell wie möglich das Weite suchen würde. Doch stattdessen richtete der seinen Blick auf Augusta. Er zwinkerte überrascht und wollte schon auf sie zugehen, doch eine kurze Bewegung von Theolinde ließ ihn innehalten.

Statt weiterzugehen setzte er sich, ließ die Dächsin jedoch nicht aus den Augen.

„Fräulein Zwiebel, bist du das?“ fragte er.

Seine Stimme war tief und angenehm wie ein Schnurren, hätte nicht ein leichtes Krächzen in der Kehle den Eindruck zerstört.

Augusta hört auf, sich den Schmutz vom Umhang zu klopfen und sah zu ihm auf.

„Axel?“ fragte sie, nachdem sie ihn eine Weile betrachtet hatte, und legte fragend den Kopf schief.

Sofort sanken Kopf, Ohren und Schnurrhaare des Chameleoparden in einer Geste des Bedauerns nach unten. „Das tut mir so leid. Ich wusste ja nicht, dass du es bist. Ich wollte dich auch nicht wirklich fressen.“

Augusta blickte ihn an. „Andere schon?“

Axel wandte den Blick ab und murmelte etwas Unverständliches.

„Ich wusste gar nicht, dass du unter die Räuber gegangen bist, Axel“, meldete sich jetzt Maximilian.

Erschreckt richteten sich die Augen des Chameleoparden auf den Otter. Siegbald hatte den Eindruck, wenn man die Gesichtsfarbe des Katers hätte sehen können, wäre dieser nun rot geworden. Dann senkte er den Blick.

„Nein, Herr Otter, natürlich nicht“, murmelte er kleinlaut.

„Axel lebt schon lange in dieser Gegend“, erklärte Maximilian, der den Chameleoparden offenbar ebenfalls kannte. „Er hilft hier und dort in den Dörfern, lässt aber auch mal den ein oder anderen Fisch mitgehen. Er ist ein Faulpelz und ein Dieb.“

„Axel nicht böse“, stellte Zwiebel fest und sah Theolinde bittend an.

Auch der Chameleopard sah bettelnd zu der hochgewachsenen und im Moment durchaus angsteinflößenden Hexe auf.

„Warum hast du dich denn dann Augusta angegriffen?“ verlangte Theolinde zu wissen. „Für mich sah das nicht nach einer freundlichen Begrüßung aus.“

Axel wandte den Blick ab. Einen Moment schien er mit sich zu ringen, dann murmelte er etwas, von dem Siegbald nur das Wort „Hunger“ verstehen konnte.

„Sag das nochmal“, forderte die Hexe den Kater auf.

„Ich hatte doch so einen Hunger“, jammerte Axel.

Theolinde verschränkte die Arme und sah vorwurfsvoll auf den Kater herab. „Und da fällt dir nichts Besseres ein, als harmlose Reisende zu überfallen?“

Axel wand sich unter ihrem Blick, antwortete jedoch nicht.

„Was isst du denn sonst? Es ist ja offenbar nicht deine Gewohnheit, Leute zu fressen.“

Wieder murmelte der Kater in sich hinein, bis ihn ein strenger Blick der Hexe zum Reden brachte.

„Nein, ich hab bestimmt noch nie einem Jemand was zuleide getan. Ganz sicher nicht. Und ich stehle auch nur dann, wenn es gar nicht anders geht. Egal was die Leute sagen.“ Er warf einen Seitenblick auf den Otter. „Meistens, da geben mir die Leute aus den Dörfern einfach ein bisschen was. Die Korukoru zum Beispiel. Aber bei denen gibt’s oft nur ein paar widerliche Schnecken. Immerhin besser als gar nichts. Aber die Fischer am See, die hatten immer leckere Fischköpfe für mich. Und wenn die Zeiten ganz hart waren, hab ich ein bisschen was von dem gefuttert, was sie bei den Opfersteinen gelassen haben.“

„Du hast die Opfergaben aufgegessen?“ fragte Siegbald ungläubig.

Sofort verteidigte sich Axel. „Naja, ist doch besser, als wenn sie einfach verderben, oder nicht? Hast du je gesehen, dass die Geister kamen und sie selbst abgeholt haben?“

Theolinde hob die Hand, um die Diskussion zu unterbrechen. „Und warum bist du dann nicht einfach zu den Fischern gegangen oder hast Opfersteine geplündert? Warum kommst du hierher und versuchst Reisende zu überfallen?“

Axel blickte verständnislos zu ihr auf. „Na, weil die doch alle weg sind.“

Theolinde runzelte die Stirn. „Wer ist weg? Die Fischer?“

„Genau. Und die Opfersteine auch.“

„Was sind das überhaupt für Opfersteine?“ wollte Siegbald wissen, dessen Forschergeist erwacht war. „Gibt es hier irgendwelche Götter? Oder sind die sowas wie die Steinkreise von den Druiden?“

Axel richtete den Blick auf Siegbald und legte den Kopf schief. „Götter? Keine Ahnung. Ich mein diese großen Steine. Die wo mit dem Loch drin.“

„Und die sind verschwunden?“

„Hab ich das nicht eben schon erzählt?“ Unsicher blickte Axel von einem zum anderen.

„Wohin sind sie denn?“

„Woher soll ich das wissen? Weg eben.“

Theolinde hob beruhigend die Hände. „Also die Steine sind weg und die Fischer auch. Erzähl weiter.“

„Wo war ich denn? Achja. Und weil die nämlich weg sind, deshalb hab ich schon ganz lange nichts zu futtern mehr gefunden. Und jetzt dachte ich, ich schnapp mir wenigstens ein paar Wanderer. Die wird schon keiner vermissen. Und da kommt ihr daher. Und jetzt hab ich immer noch nichts gegessen. Dabei hab ich doch so einen Huuunger.“

Siegbald gewann den Eindruck, dass sich Axel am liebsten bettelnd in Theolindes Hosenbeine gekrallt hätte. Doch ein wenig Stolz musste ihm geblieben sein, denn stattdessen begann er plötzlich mit den Eckzähnen den Dreck aus seinen Vorderpfoten zu nagen.

Sinnierend blickte Theolinde auf ihn herab. „Und was ist mit den Fischern passiert? Wo sind die hin?“

„Weiß ich auch nicht. Und ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. – Ich will doch nur was zu essen“, murmelte Axel undeutlich. Er versuchte, seine schmutzige Zunge zu säubern, indem er damit über sein mindestens ebenso schmutziges Rückenfell leckte.

„Kannst du dir nicht selbst ein paar Fische fangen? Oder du könntest es mit Wurzeln und Pilzen probieren“, schlug Theolinde vor.

Axel hörte auf, sich zu putzen und glotzte sie verständnislos an.

Augusta schüttelte nur den Kopf. „Axel nicht gut jagt“, stellte sie fest. „Auch nicht gut allein ist.“

Dann trat sie auf den Chameleoparden zu und sah ihm in die Augen.

„Ich mit Mama rede. Wir finden neues Essen für dich, bis Fischer wieder da sind.“

„Wirklich?“

„Komm zu Dachsbau in zwei oder drei Tagen, ja?“

„Und dann hast du viel Essen für mich und ich muss keinen Hunger mehr haben?“

Bei dieser Vorstellung schloss er die Augen und schnurrte vor Vorfreude. Augusta nickte und klopfte dem Chameleoparden aufmunternd auf Rücken.

„Wir finden Essen für dich“, wiederholte sie.

„Aber ich hab jetzt Hunger“, jammerte der.

„Ja, gut.“

Augusta kramte kurz in ihrer Tasche und förderte ein paar Maden zu Tage, die Siegbald noch vom Abendessen bei den Korukoru kannte. Es war wohl ein Zeichen für seinen Hunger, dass Axel die angebotenen Insekten gierig verschlang. Auch Theolinde und Otter förderten jetzt einige Brocken ihrer Reisevorräte zutage, die ebenso rasch wieder im Schlund des Chameleoparden verschwanden.

„Du auch zu Korukoru gehen kannst. Aber keine Leute mehr überfallen, ja?“

„Keine Überfälle mehr“, versprach Axel eifrig.

Augusta lächelte. Der nun nicht mehr ganz so hungrige Axel warf einen letzten Blick auf Augusta und ihre Freunde, dann verschwand er ohne ein weiteres Wort im Wald.

Seufzend blickte die Dächsin ihm nach.

„Du lässt ihn einfach so gehen? Und das nachdem er dich fast getötet hätte?“ fragte Siegbald ungläubig.

Augusta zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Er niemand wehtun wollte.“

Siegbald schüttelte den Kopf.

„Axel ist nicht wie Caesar“, erklärte nun auch Otter. „Er war immer schon ein wenig seltsam. Manche sagen, er hat im Wald zu viele Pilze gefressen. Andere behaupten, er sei bei den Feen aufgewachsen. Aber sicher ist, er würde nie jemandem absichtlich wehtun.“

Augusta nickte zustimmend.

„Außerdem er vielleicht Caesars Cousin. Können nicht einfach verhungern lassen“, stellte sie fest.

Siegbald war noch bei dem, was der Otter gesagt hatte.

„Feen? Es gibt wirklich Feen in Aequipondium?“ fragte er aufgeregt.

Doch der Otter hob nur die Pfoten und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Es ist nur Geschwätz.“

Auch Theolinde schien sich nicht sicher zu sein. Schließlich gab Siegbald auf. Es gab so viel Seltsames auf dem Gegengewicht-Kontinent, dass die Existenz oder Nicht-Existenz von Feen letztlich auch keinen großen Unterschied mehr machte.

 

 

Am Dachsbau

Es war wohl schon länger her, dass Augusta ihre Mutter besucht hatte, denn es war ihr anzusehen, wie sie sich über die Rückkehr in ihre alte Heimat freute. Der dichte Wald schien voller Kindheitserinnerungen zu stecken. Hier ein alter Baum, unter dessen Wurzeln sie einst mit ihren Brüdern Verstecken gespielt hatte, dort der Bach, an dessen tiefster Stelle sie Schwimmen lernte.

Schließlich blieb die Dächsin stehen.

„Dort zu Hause“, sagte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Sie deutete auf einen schmalen, etwas zugewachsenen Pfad, der den Hang hinaufführte. Dann nahm sie ihre Kapuze ab und strich sich das Gesichtshaar glatt. Kurz verharrten ihre Pfoten an den puscheligen Ohren, so als überlege sie, ihre Ohrringe abzunehmen. Doch dann entschied sie wohl, dass die kleinen goldenen Ringe dezent genug waren, um keinen Anstoß zu erregen. Sie ließ die Pfoten sinken und atmete tief durch. Nach einem aufmunternden Blick von Theolinde führte die Dächsin die Gruppe den Hügel hinauf.

Siegbald wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber das hübsche Holzhäuschen, das nun zwischen den Bäumen auftauchte, passte perfekt zu seiner kleinen Freundin Augusta. Lediglich etwas heruntergekommen wirkte es, als sie näher kamen. Als sie schließlich davor standen, wirkte das Häuschen auf einmal nicht mehr idyllisch, sondern alt und unbewohnt. Die Tür stand halb offen und ein paar Blätter waren hineingeweht. Der Garten, sicher einst ein Aushängeschild für den Pflanzensinn der Dachse, war durchwühlt und unkrautüberwuchert.

„Schalotte, Silberzwiebel!“ rief Augusta und verschwand im Inneren der Hütte. Die anderen blieben etwas unsicher in Hof stehen. Einen Augenblick später war sie wieder da. Panik stand in ihrem Blick, während sie zur Rückseite des Hauses hastete.

„Was ist denn los? Wo ist deine Familie?“ rief Siegbald ihr hinterher. Doch Zwiebel gab keine Antwort.

Während Theolinde der Dächsin hinter die Hütte folgte, öffnete Siegbald die Tür um sich im Inneren ein wenig umzusehen.

Die niedrige Tür des Dachshauses war nicht hoch genug für den großgewachsenen Siegbald, sodass er sich schließlich damit begnügte, nur den Kopf durch die Tür zu stecken. Die Stube, die er sah, schien als Küche und Wohnzimmer zugleich gedient zu haben. Es gab eine kleine Kochstelle, ein paar Truhen, die wohl auch zum Sitzen dienten und einen großen Tisch. Noch vor ein paar Monaten mochte es hier drin sauber und gemütlich gewesen sein, doch jetzt lagen Holzteller, Kräuterbündel und Küchengeschirr auf dem Boden, ein Stuhl lag umgekippt und mit einem abgebrochenen Bein unter dem massiven Holztisch. Blätter und Schmutz waren durch die offene Tür hineingeweht und ein paar rotkarierte Stofffetzen zeigten, wo sich Mäuse an der Tischwäsche bedient hatten. Der ganze Raum sah aus, als wäre seit vielen Wochen niemand mehr hier gewesen.

Verwundert zog Siegbald den Kopf aus der Tür und blickte sich im Hof um. Doch auch hier gab es keine Anzeichen der Bewohner. Nur Wolfgang und Otter standen noch abwartend herum. Ersterer mit einem wie so oft etwas abwesenden Blick, letzterer mit einem Ausdruck höflicher Zurückhaltung.

Siegbald fand Augusta und Theolinde schließlich am Waldrand hinter der Hütte. Eine Holzbank stand unter einem riesigen alten Baum. Hier saß die Dächsin und schluchzte, während Theolinde versuchte, sie zu trösten.

„Was Schreckliches passiert und ich nicht da. Und jetzt vielleicht alle tot“, schluchzte Augusta.

„Das weißt du nicht. Sie könnten auch einfach weggegangen sein. Vielleicht sind sie bei deinem Bruder.“

Die Dächsin schüttelte energisch den Kopf. „Oma Silberzwiebel nie wäre weggegangen.“

„Komm, schauen wir uns ein bisschen um. Vielleicht finden wir raus, was passiert ist“, schlug Siegbald schließlich vor.

Die Gruppe verteilte sich. Während Maximilian Otter sich noch einmal im Inneren des Häuschens umsah, streiften die Menschen und der Werwolf durch den Garten und den angrenzenden Wald. Je genauer sie schauten, umso deutlicher wurde, dass sich schon seit mindestens zwei Monaten keiner mehr um den Garten gekümmert hatte.

Beim Herumwühlen im Gartenhäuschen rutschte Siegbald sein Ring vom Finger. Als er den Magieaufspürer wieder aufhob, stellte er fest, dass er vollkommen schwarz war. Etwas enttäuscht betrachtete er den Stein, der, seit ihm Direktor Neidhart den Ring gegeben hatte, immer blau oder grün geleuchtet hatte. Laut Neidhart wurde der Stein des Rings schwarz, wenn es in der Umgebung keinerlei Magie gab. Ein Zustand, der laut dem Druiden auf Aequipondium jedoch nicht vorkam. Wahrscheinlich war der Stein beim Herunterfallen beschädigt worden. Schade, denn das sanfte Leuchten des Steins hatte Siegbald gut gefallen. Trotzdem steckte er sich den Ring wieder an den Finger.

„Ich glaub, hier sind Dachsspuren“, sagte Wolfgang kurz darauf in seiner gewohnt phlegmatischen Art.

Rasch riefen sie Augusta herbei und folgten den Spuren in den Wald. Nicht weit und die einzelnen Spuren verdichteten sich zu einer Art Pfad. Der Pfad endete an einem sandigen Hügel, in den mehrere tiefe Löcher gegraben waren. Dort hinein verschwanden die Spuren.

„Frau Schalotte, Frau Silberzwiebel, seid ihr hier?“ rief Theolinde. Doch es gab keine Antwort.

„Ich hineinschau“, entschied Augusta schließlich. Sie legte ihren Umhang und ihr übriges Gepäck ab und kroch in den Höhleneingang.

Eine Zeitlang war nichts zu hören. Dann erklangen nacheinander Augustas Stimme, ein lautes Fauchen und Grunzen und Schmerzensschreie. Besorgt blickten Augustas Freunde sich an. Otter war der Einzige der Zurückgebliebenen, der klein genug war, um in die enge Höhle zu passen. Er schickte sich schon an nachzuschauen, da hörten sie ein heftiges Scharren und Augusta kam eilig aus der Höhle gekrabbelt. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet, ihr Pelz war voller Erde und hatte einen blutigen Kratzer auf der Nase.

„Zurück, zurück“, rief die Dächsin als sie aus dem Höhleneingang schoss.

Sofort machten die anderen ein paar Schritte rückwärts, jedoch ohne die Höhle aus den Augen zu lassen. Kurz hinter Augusta erschien jetzt ein anderer, offenbar wilder Dachs. Sein Fell war gesträubt und die Augen schienen vor Angriffslust zu glühen. Im Höhleneingang blieb der Dachs stehen und fauchte die Fremden, die vor seinem Bau standen, drohend an.

Augusta hatte sich zu Theolinde geflüchtet. Bei Auftauchen ihres wütenden Verfolgers legte die Hexe tröstend einen Arm um ihre kleine Freundin. Tränen stiegen der kleinen Dächsin in die Augen, als sie die fauchende Furie am Höhleneingang bei Tageslicht sah.

„Mama?“ fragte sie leise.

Sie machte sich ganz klein und versuchte, sich dem anderen Dachs in einer Geste der Unterwürfigkeit zu nähern. Doch sofort richtete der sich drohend auf und fauchte aggressiv. Siegbald sah, dass die Zeichnung des fremden Dachses der von Augusta ähnlich sah. Doch ob das ein Verwandtschaftsverhältnis zeigte oder ob einfach alle Dachse so aussahen, konnte er nicht beurteilen.

„Du nicht deine Augusta kennst?“ fragte Augusta.

Doch sie bekam keine andere Antwort, als ein energisches Grunzen.

Eine Weile betrachtete sie den Dachs, der sie immer noch vor dem Höhleneingang saß traurig. Doch da es keinerlei Anzeichen gab, dass ihre Mutter sie erkannte, drehte sich Zwiebel schließlich um und führte die anderen zurück zum Haus. Erst als die Gruppe fast außer Sicht war, gab der aggressive Dachs ein letztes Grunzen von sich und verschwand wieder in seinem Bau.

„Das war deine Mutter?“ fragte Siegbald, als sich Augusta mit hängendem Kopf auf die Bank am Waldrand gesetzt hatte.

Augusta nickte traurig.

„Was mit ihr passiert?“ fragte sie leise.

Sie schaute Theolinde an, als wüsste die Hexe die Antwort auf ihre Frage. Auch Siegbald blickte zu Theolinde. Doch die rothaarige Hexe schüttelte nur den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Aber sie sich aufführt wie ein – Tier.“ Zwiebel spuckte dieses letzte Wort aus, als wäre es eine Beleidigung und vermutlich war es auch so.

„Was ist mit deiner Großmutter?“ fragte Siegbald. „Ist die auch da drin?“

Zwiebel zuckte mit den Schultern. „Ich nicht gesehen. Aber denke schon. Mama ganz sicher nicht alleine war.“

Nachdenklich ließ sich Siegbald auf den Hacken nieder. Dabei fiel sein Blick auf seinen Magieaufspürer, der inzwischen wieder schwach dunkelblau glühte. Also war er wohl doch nicht gänzlich kaputt. Ob es einen Zusammenhang gab, zwischen dem Ring und dem Verhalten der Dachse?

„Bitte versteh mich nicht falsch, aber brauchen Tiere – Entschuldigung – brauchst du Magie, damit du intelligent bist und sprechen kannst?“

Augusta blickte ihn verständnislos an.

Siegbald räusperte sich verlegen. „Naja, weil sich deine Mutter verhalten hat wie ein Dachs. Wie ein richtiger Dachs, meine ich. Wie die Dachse in meiner Heimat, sollte ich vielleicht sagen. Die können nämlich nicht sprechen. Und bei uns gibt es, soweit ich weiß, keine Magie. Was, wenn es auch hier keine Magie mehr gäbe?“ Er lächelte entschuldigend.

„Weiß nicht.“ Augusta schüttelte ratlos den Kopf und blickte zu Theolinde.

„Wie kommst du auf so etwas und wo soll die Magie denn hin sein?“ fragte die Hexe.

Theolinde hatte recht. Wie sollte es auch möglich sein, dass ein Platz seine Magie verlor, wenn es überall auf Aequipondium reichlich davon gab? Sicher war es nur ein Zufall, dass der Stein schwarz geworden war, ein Fehler des Magieaufspürers. Siegbald zuckte mit den Schultern und steckte die Hand mit dem Ring in die Tasche.

„War nur so ein Gedanke.“

„Ich habe von so etwas jedenfalls noch nie gehört. Und müsste es sich dann nicht auch auf Augusta auswirken?“ Die Hexe schüttelte ratlos den Kopf. „Aber wie können wir wirklich herausfinden, was hier passiert ist?“

Diesmal war es Maximilian, der sich räusperte.

„Möglicherweise sollten wir meinen Vater um Hilfe bitten“, sagte er. Aber er sah bei diesem Gedanken nicht sonderlich glücklich aus.

„Deinen Vater? Ich wusste gar nicht, dass deine Familie auch hier lebt.“ Theolinde schaute den Otter überrascht an.

„Das liegt wohl daran, dass ich nie darüber gesprochen habe“, sagte Maximilian etwas steif.

„Und du glaubst, dein Vater kann uns helfen?“

Augusta nickte enthusiastisch. „Ganz sicher. Otters hier in der Gegend sehr respektiert sind.“

„Wir sollten es zumindest versuchen, Fräulein Theolinde.“

Siegbald musterte den Otter überrascht. So förmlich hatte er Maximilian nicht mehr erlebt, seit der seine Anstellung als Leibdiener des Königs verloren hatte. Er fragte sich, ob das mit seiner Familie zusammenhängen mochte. Nun, vielleicht würde er es bald erfahren.

Sie überlegten noch eine Weile, ob und wie sie den Dachsen helfen konnten. Aber solange sie nicht wussten, was ihnen geschehen war, war es auch schwer, ihnen Hilfe zu leisten. Es war Augusta, die schließlich feststellte, dass ihre Familie nicht in unmittelbarer Gefahr war. Ihre Mutter mochte verwahrlost und ärmlich aussehen, doch sie wirkte nicht so, als würde sie unter Hunger oder körperlichen Krankheiten leiden.

Das Beste was sie tun konnten, war der Ursache ihres Unglücks auf den Grund zu gehen.

 

 

 

Affenbande

Augusta wollte nicht in der Nähe ihres verwahrlosten Zuhauses bleiben. Zu viele schöne Erinnerungen hingen an diesem Haus. Außerdem wussten sie nicht, ob das, was den Dachsen passiert war, auch ihnen widerfahren konnte, wenn sie für längere Zeit in der Gegend blieben. Nur eine kleine Schnitzerei steckte Augusta sich in die Tasche. Sie hatte sie in der Hütte unweit des Fensters gefunden und wollte sie als Erinnerung mitnehmen. Sie zeigte einen Schattenelefanten in der typischen Tarnhaltung, auf den Hinterbeinen stehend und den Rüssel in Luft erhoben. Ihr Großvater hatte sie einst für die kleine Augusta geschnitzt und ihre Großmutter hatte sie angemalt. Sorgfältig in ein Tuch gewickelt, ließ die Dächsin das kleine Andenken in ihrer Tasche verschwinden.

Es waren noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang, als sich die Freunde wieder auf den Weg machten. Genug Zeit, um noch ein gutes Stück des Weges zur Otterresidenz zu schaffen. Eine kleine Waldlichtung, die offenbar regelmäßig von Reisenden zu diesem Zweck genutzt wurde, würde ihr Nachtlager sein.

Seit sie die Entscheidung getroffen hatten, Otters Familie zu besuchen, wirkte Maximilian irgendwie abwesend und angespannt. Dabei hatte er es doch selbst vorgeschlagen. Ständig strich er sich über das Fell oder zupfte an seinen Schnurrhaaren. Kaum war das Lager aufgebaut, entschuldigte sich der Otter. Er müsse waschen, erklärte er und trug das kleine Bündel mit seinen Habseligkeiten zum nahen Bach.

Ihr heutiges Abendessen wurde von seltsam klatschenden Trommelgeräuschen begleitet, die Mal näher, mal weiter weg aus den Baumwipfeln schallten.

„Was ist das?“ fragte Siegbald, als das Trommeln auf einmal fast über ihren Köpfen erscholl.

„Ist Affenvolk. Sie immer Quatsch machen. Einfach nicht hinhören“, antwortete Augusta und fuhr fort an dem alten Brotkanten zu knabbern, der ihr Abendessen war.

Siegbald verrenkte den Hals, konnte aber im dunklen Blätterdach nichts erkennen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und krümelte stattdessen etwas Brot für Lars, den Lemming, auf den Boden.

„Dieses Affenvolk, leben die auch hier in der Gegend?“ Theolinde wirkte nachdenklich, als sie diese Frage stellte.

„Hier und dort. Sind viel unterwegs. Überall dorthin, wo finden Essen oder Spaß.“

Wieder folgte eine Pause des Nachdenkens.

„Glaubst du, die Affen könnten gesehen haben, was mit deiner Familie geschehen ist?“ fragte Theolinde schließlich.

Augusta hörte auf zu kauen und blickte nachdenklich nach oben. „Kann sein. Aber Affen komisches Volk. Nicht viel mit Bodenbewohnern reden.“

„Wir sollten sie trotzdem fragen“, fand die Hexe. „Kannst du ihre Sprache? Könntest du einen von ihnen herunterrufen?“

Augusta nickte.

Als sie ihr Abendessen heruntergeschluckt hatte, holte sie tief Luft und gab ein Kreischen von sich, bei dem Siegbald vor Schreck sein Brot in den Dreck fiel. Lemming Lars schnappte sich einen Brotkrümel und versteckte sich in Siegbalds Rocktasche.

Das Trommeln in den Bäumen verstummte, sobald Augustas Schrei verklungen war. Siegbald glaubte schon, dass sie die Affen vertrieben hatte. Doch kurz darauf ließen sich eins, zwei, nein - fünf Affen aus den Baumwipfeln auf die Lichtung fallen.

Drei der Affen schienen Männchen zu sein, wie an ihren nackten, leuchtend roten Hinterteilen gut zu erkennen war. Die beiden anderen mussten folglich ihre Weibchen sein.

„Die da ist Chef“, sagte Augusta leise und deutete auf das größere der beiden Weibchen, eine Affendame mit graubraunem Gesicht, langem, platinblonden Fell und beeindruckenden Eckzähnen.

Die Affen waren deutlich größer als die Dächsin, aber an die Größe der Menschen reichten sie nicht heran. Die Affenmatriarchin schien inzwischen Theolinde als die Anführerin der Gruppe identifiziert zu haben. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und baute sich zähnefletschend vor Theolinde auf, die wie alle anderen aufgestanden war, als die Affen landeten.

„Setzen. Ist nicht höflich, auf Affenvolk herabzusehen“, erklärte Augusta halblaut.

Sofort ließen sich die Menschen auf den Boden plumpsen. Siegbald fühlte sich in dieser Position ziemlich unwohl, denn sie brachte sein Gesicht in gefährliche Nähe zu den Zähnen der Männchen, die sich wohl instinktiv zu ihm und Wolfgang hingezogen fühlten.

Während Theolinde und die Affenmatriarchin ein von Augusta übersetztes Gespräch begannen, wurde Siegbald von den Aktivitäten der Männchen vollständig in Anspruch genommen. Eines der Männchen begab sich zu Wolfgang, während die anderen beiden Siegbald ihre Aufmerksamkeit widmeten. Sie schnupperte an seinen Händen, seinen Achselhöhlen und beugten sich zu seinem Hintern herunter. Dann betasteten sie seine blond gelockten Haare und seinen grünen Rock. Als eines der beiden Tiere versuchsweise seinen großen Zeh anknabbern wollte (Siegbald hatte am Abend seine Stiefel ausgezogen), gab der Mensch einen entrüsteten Protestlaut von sich, der die Aufmerksamkeit aller auf ihn lenkte und seinen Peiniger ein paar Schritte zurückweichen ließ.

„Kannst du denen bitte sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen?“ wandte sich Siegbald an Augusta.

Die Dächsin übersetzte und die Affenmatriarchin warf ihm einen neugierigen Blick zu.

„Bangdong und Dingbang nur neugierig. Wollen Freunde sein“, übersetzte die Dächsin.

Tatsächlich hatte das andere Affenmännchen inzwischen begonnen, sanft aber gründlich Siegbalds blonden Schopf auf Ungeziefer zu untersuchen. Siegbald biss die Zähne zusammen und versuchte, diesen Freundschaftsdienst gelassen über sich ergehen zu lassen. Auch der stark behaarte Wolfgang wurde von seinem Affenmann gelaust, nahm diese Prozedur aber ohne erkennbare Gefühlsregung hin.

Während die Affendamen, Theolinde und Augusta ihr Gespräch fortsetzten, bemerkte Siegbald immer wieder, wie die Affenmatriarchin ihn neugierig beobachtete. Plötzlich drehten sich alle vier Frauen zu ihm um.

„Was ist los?“ fragte Siegbald nervös.

„Tiombe bittet darum, dass du aufstehst und dich umdrehst“, sagte Theolinde.

Etwas verwundert erhob sich Siegbald und drehte sich zum Wald.

Die Affenmatriarchin sagte etwas in ihrer seltsamen Sprache und diesmal war es eindeutig: Augusta Zwiebel kicherte.

„Was hat sie gesagt?“ fragte er und drehte sich wieder zu ihnen.

Theolinde war rot geworden und versuchte angestrengt, nicht zu offensichtlich zu grinsen, während Augusta immer noch kicherte.

„Macht ihr euch über mich lustig?“ Langsam wurde Siegbald ungehalten.

Zwiebel schüttelte den Kopf und versuchte ernst zu werden.

„Tiombe gratuliert Theolinde zu Männchen mit prächtigem Instrument“, erklärte sie.

„Welches Instrument?“ fragte Siegbald stirnrunzelnd. „Wovon, zum Teufel, redet ihr?“

Theolinde wurde noch röter und hielt sich die Hand vor den Mund. Trotzdem sah Siegbald, wie ihre Schultern bebten. Die Hexe lachte über ihn.

Währenddessen erklärte Augusta ungerührt: „Dein Hinterteil. Affen nutzen Hinterteil für Trommelnachrichten. Und Matriarchin trommelt auf Hinterteil ihrer Männchen.“

Die Matriarchin sagte noch irgendwas und Augusta nickte.

„Tiombe bittet, du Hose runterlassen für besseren Blick auf Instrument“, übersetzte sie und Theolinde prustete los.

Fassungslos blickte Siegbald von der lachenden Theolinde zu Augusta und den Affen.

„Auf keinen Fall“, sagte er entschieden und ließ sich rasch wieder auf seinem „Instrument“ nieder. „Und was hat das alles überhaupt mit den Vorfällen bei deiner Familie zu tun?“

Diese letzte Bemerkung wischte das Grinsen so gründlich aus den Gesichtern seiner Freunde, dass es ihm fast leidtat.

„Nichts“, murmelte Zwiebel leise und wandte sich wieder den Affen zu.

Offenbar hatte die Dächsin den Affen erklärt, dass es unter Menschen nicht üblich sei, sein bloßes Hinterteil zu präsentieren. Die Affenmatriarchin warf ihm noch einen kurzen bedauernden Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Gespräch mit Theolinde. Es wurde gedeutet und genickt. Bald darauf gab Tiombe einen kurzen Schrei von sich und die Affen verschwanden wieder in den Bäumen.

„Tiombe und die anderen gehören zum Stamm der Patu Takere“, erklärte Theolinde, als die Affen verschwunden waren. „Das bedeutet Popo-Klopfer.“

Siegbald verzog das Gesicht. Er hatte die auffälligen roten Hinterteile der Affenmänner gesehen und wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Tiombe darauf eine Nachricht trommelte.

„Leider waren sie nicht in der Nähe, als … was auch immer es war, was mit Augustas Familie passiert ist. Doch auch ihr Schamane sagt, dass das Dachshaus jetzt ein böser Ort und Tabu sei. Tiombe hat versprochen, uns zu helfen, auch wenn sich die Patu Takere normalerweise nicht in die Angelegenheiten der Bodenbewohner mischen. Sie und ihre Familie wollen sich dem bösen Ort nicht nähern, aber wenn sie im Wald etwas Ungewöhnliches bemerken, werden sie es wissen lassen. Die Matriarchin wird auch die anderen Mitglieder ihres Stammes bitten, die Augen und Ohren für uns offen zu halten.“

Siegbald nickte. Mehr konnten sie wirklich nicht erwarten.

 

 

Bei Otters

Es war seltsam, Maximilian Otter in der Kleidung zu sehen, die er früher als Leibdiener des Aequipondischen Königs getragen hatte. In der weißen Seidenweste und mit der Fliege um den Hals sah er professionell aus, auch wenn diese Kleidung hier im Dschungel etwas ungeeignet erschien. Um den gepflegten Eindruck noch zu verstärken, hatte er heute Morgen wohl eine halbe Stunde daran gearbeitet, sein dunkles Fell einzuölen und sich die Schnurrhaare zu bürsten. Trotzdem zupfte er nun, da sie sich der Otterresidenz näherten, immer wieder nervös an seinen Barthaaren.

„Glaubst du nicht, dass sich deine Familie einfach freut, dich zu sehen?“ fragte Siegbald, dem das ganze Gezupfe langsam ziemlich auf die Nerven ging. Das lag sicher auch daran, dass er sich selbst so schmutzig und abgerissen fühlte. Früher wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, unangekündigt und ohne ein frisches Halstuch und einen sauberen Rock bei fremden Leuten aufzutauchen. Doch seine Reise hatte vieles verändert.

Maximilian warf einen kurzen Blick auf Siegbald, antwortete aber nicht.

Es war Augusta, die mit leiser Stimme erklärte: „Alter Herr Otter sehr streng ist. Alle Leute ihn fürchten. Aber er wegen Weisheit und Großzügigkeit sehr geachtet.“

Auch Augusta strich nun rasch ihr Gesichtsfell und ihren Umhang glatt. Sie hatte ihren abgetragenen Umhang bereits am Morgen ausgeklopft, so gut es eben ging. Kurz darauf erreichten sie die Otterresidenz.

Siegbald hatte erwartet, dass Familie Otter an einem See oder Bach lebte. Mehr Gedanken hatte er sich dazu nicht gemacht. Die daheim an den Ufern der Oder lebenden Fischotter hatten vermutlich unterirdische Baue. Vielleicht bauten sie auch Burgen, ähnlich wie Biber. So genau wusste Siegbald das nicht. Doch Maximilian hatte irgendwann erzählt, er stamme aus einer Familie königlicher Leibdiener und für diese kam ein Leben in einem schmutzigen Erdloch natürlich nicht in Betracht. Trotzdem hätte sich Siegbald nie das Anwesen vorstellen können, dem sie sich nun näherten.

Das Haus war ein großes, recht modernes Herrenhaus. So zumindest wirkte es auf den ersten Blick. Es war von einem parkähnlichen Garten umgeben, hatte eine großzügige Eingangstür und viele Fenster. Erst beim Näherkommen bemerkte Siegbald, dass das Haus viel zu klein für einen Menschen war. Zwar wirkten die Türen und Fenster für die Größe eines Otters äußerst großzügig. Siegbald und die anderen Menschen mussten jedoch den Kopf einziehen, als ihnen ein halbwüchsiger Otter die Tür öffnete und sie hereinbat.

Ohne nach ihren Namen oder ihrem Anliegen zu fragen, führte der junge Otter sie in einen Raum, der offenbar häufiger für den Empfang von Gästen genutzt wurde. Er war voll hoher Bücherregale und bot einen herrlichen Ausblick auf den hinter dem Haus liegenden See.

Während Siegbald und Theolinde sich neugierig umschauten, war Maximilian auf dem Teppich vor dem offenen Kamin stehengeblieben. Immer noch zupfte er an seiner Weste herum, bis sich schließlich die gegenüberliegende Tür öffnete und ein grauhaariger alter Otter mit steifer Grazie den Raum betrat. Ohne Maximilian zu beachten, begrüßte er die Menschen und bat sie, sich niederzusetzen. Er selbst ließ sich auf einem Sessel direkt neben einem eindrucksvollen Schreibtisch nieder.

Siegbald betrachtete die herumstehenden Sessel und Sofas skeptisch, ehe er sich vorsichtig auf eines setzte, das ein wenig stabiler schien, als der Rest. Das Möbelstück ächzte unter seinem Gewicht, aber es hielt. Siegbald beschloss, sich unter keinen Umständen zu bewegen, damit es nicht doch noch zusammenbrach.

Theolinde, die selbst in diesem hohen Raum den Kopf einziehen musste, ließ sich auf dem Boden nieder und Wolfgang tat es ihr gleich.

Erst jetzt betrachtete Vater Otter auch die Dächsin Augusta mit einem nachdenklichen Blick.

„Du bist eine von den Zwiebel-Dachsen, nicht wahr?“ Es war keine Frage.

„Augusta Zwiebel, Herr Sebastian. Die Tochter von Friederike Schalotte.“ Die Dächsin wirkte ungewöhnlich schüchtern.

Der alte Otter hingegen nickte nur. „Grüß deine Großmutter von mir“, sagte er.

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich wieder seinen menschlichen Gästen zu. Augusta, die ihm diesen Mangel an Höflichkeit offenbar nicht übelnahm, trat leise in eine Ecke des Raumes und schien mit der Wand verschmelzen zu wollen.

„Was kann ein alter Otter für die Tochter der großen Hexe Amalberga und ihre Freunde tun?“ fragte er, wie um zu zeigen, dass er bereits genau wusste, wen er vor sich hatte.

Siegbald war fassungslos. Dass Vater Otter seinen eigenen Sohn derart ignorierte, schien ihm unverständlich. Dabei hätte sich sein eigener Vater vermutlich nicht so viel anders verhalten. Zumindest, wenn Siegbald mit Freunden zu Hause erschienen wäre, die sein Vater nicht sofort aus dem Haus geworfen hätte.

Noch ehe Theolinde antworten konnte, öffnete sich die Tür und eine Prozession aus drei Fischottern betrat leise den Raum.

Vornweg ging eine Otterdame in einer blau geblümten Schürze, die eine bauchige Teekanne trug. Ihr folgten zwei jüngere Otter, die ein Tablett voller Tassen und einen Teller mit Keksen trugen.

„Halt dich grade, Nikolaus“, bellte der Alte.

Der hinterste Otter zuckte zusammen, bemühte sich dann aber artig um eine aufrechtere Haltung und legte den Rest seines Weges zurück, als hätte er einen Stock verschluckt. Der Keksteller in seinen Pfoten zitterte leicht, wie Siegbald bemerkte. Bei Vater Otter angekommen, wartete die Otterdame, bis die beiden anderen ihre jeweilige Last auf dem Tisch abgestellt hatten. Dann schenkte sie für jeden Gast eine Teetasse voll.

„Danke, meine Liebe“, sagte der Alte und die Otterdame nickte stumm.

Erst, als sie dem alten Otter bereits den Rücken zugekehrt hatte, zeigte sich ein kleines, zurückhaltendes Lächeln in ihrem Gesicht. Doch weder Maximilian, dem das Lächeln galt, noch sein Vater bemerkten etwas davon.

Mit einer Geste lud der Otter seine Gäste ein, sich zu bedienen. Siegbald, der schon seit langem keinen richtigen Tee mehr getrunken hatte, nahm sich dankbar eine Tasse. Doch als er einen Schluck nehmen wollte, stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase, der gar nicht an Tee erinnerte.

„Was ist das?“ fragte er irritiert.

Nun bemerkte er auch, dass sein Tee nicht nur blass, sondern geradezu farblos war. Außerdem schienen einige Fettaugen darauf zu schwimmen.

„Fischsuppe“, verkündete der Alte knapp. „Kann Tee nicht ausstehen. Außerdem ist Fisch viel gesünder als diese elende Kräuterplörre.“

Er griff selbst nach einer Tasse und leerte sie in einem Zug.

Siegbald schnupperte noch einmal an seinem Getränk. Dann nahm er einen winzigen Schluck und stellte die Tasse vorsichtig zurück.

„Hervorragend“, behauptete er. „Nur trinke ich meine Fischsuppe lieber zum Frühstück.“

Die grauen Schnurrhaare von Vater Otter zuckten bei dieser dreisten Lüge, aber dann ignorierte er Siegbald einfach und wandte sich wieder der Hexe zu.

„Wir sind gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten, Herr Otter.“ Theolinde versuchte gar nicht erst, lange um den heißen Brei herumzureden. „Wir wissen, Ihr seid weise und eine große Autorität in dieser Gegend, daher hoffen wir, Ihr könnt uns helfen.“

Der Otter verzog bei dieser Schmeichelei keine Miene. Vermutlich, weil er sich selbst so sah, dachte Siegbald.

Theolinde beschrieb, was sie bei der Hütte der Dachse vorgefunden hatten, während sich der alte Otter nachdenklich über die Schnurrhaare strich.

„Schlimm. Das ist wirklich schlimm und es tut mir sehr leid für die kleine Augusta“, sagte er, als Theolinde geendet hatte. „Aber ich habe keine Ahnung, was solch ein unzivilisiertes Verhalten verursacht haben könnte.“

Die „kleine Augusta“ war sicher fast genauso groß wie Sebastian Otter, fand Siegbald. Es überraschte ihn selbst, dass ihn die herablassende Art des Otters störte. Aber da sie dessen Hilfe benötigten, schwieg er.

„Gab es denn noch nie einen ähnlichen Fall?“ wollte Theolinde wissen.

Der Otter dachte nach. „Nein. Keinen von dem ich gehört hätte. Allerdings scheint mir, es gab in der letzten Zeit so einige seltsame Vorkommnisse in dieser Gegend. Ob es da einen Zusammenhang gibt, kann ich allerdings nicht sagen. Aber es scheint, als ob es fast keine Schattenelefanten mehr gibt und das Wetter verhält sich äußerst ungewöhnlich.“

„Inwiefern?“

„Es regnet viel häufiger, als man es zu dieser Jahreszeit erwarten sollte.“

Theolinde und die anderen drehten sich zu den Fenstern. Tatsächlich hatte es schon wieder angefangen zu regnen.

„Und niemand weiß, wie es dazu kommt?“ fragte die Hexe.

Der Alte hob entschuldigend die Hände. „Ich würde einen Fehler im magischen Feld vermuten. Aber andererseits bin ich nur ein einfacher alter Otter. Was verstehe ich schon von Magie.“

Theolinde überlegte. „Gibt es eine Hexe in dieser Gegend?“

Der Otter neigte den Kopf. „Thaumaturga Käsewetter hat ihre Hütte auf der anderen Seite des Sees. Aber seid vorsichtig. Sie ist eine Traditionalistin.“

Siegbald horchte auf. „Eine Traditionalistin? Heißt das, sie hat noch so ein richtiges Pfefferkuchenhaus?“ Er hatte sich schon seit langem ein echtes Pfefferkuchenhaus aus der Nähe ansehen wollen.

Herr Otter warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, dann wandte er sich wieder an Theolinde.

„Vielleicht hilft es, wenn Ihr erwähnt, dass ich Euch geschickt habe.“

Theolinde bedankte sich und erhob sich.

„Viel Glück“, wünschte der Alte ihnen noch. „Hoffentlich findet Ihr eine Möglichkeit, der Familie von Fräulein Zwiebel zu helfen.“ Dann wandte er sich einem Buch zu, dass neben ihm auf einem der Tische lag.

Theolinde und Augusta waren bereits an der Tür, während Siegbald seinen Blick zwischen Maximilian, der immer noch mit hängendem Kopf vor dem Kamin stand und dem Alten hin und her wandern ließ. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Zu oft hatte er sich in seinem Elternhaus ähnlich ignoriert gefühlt.

„Wollt Ihr nicht endlich auch Euren Sohn begrüßen?“ fragte er den Otter.

Der Alte hob den Kopf und musterte Siegbald kalt. „Und Ihr seid …?“

Siegbald richtete sich auf, sodass sein Kopf die Zimmerdecke streifte. „Siegbald Odin Sockenloch, Sonderbotschafter Preußens auf dem antipodischen Kontinente“, sagte er würdevoll.

„Ah. Der Hühnermörder.“ Der Otter nickte, als hätte er sich schon so etwas gedacht.

Siegbald wurde rot. „Das ist gelogen. Almas Tod war nicht meine Schuld und das wurde auch hinreichend bewiesen.“

Maximilian war zusammengezuckt, als Siegbald den Namen des verstorbenen Küchenhuhns nannte. Doch war der so aufgebracht, dass er von der Reaktion des Otters nichts bemerkte.

Der Alte hob die Brauen bei Siegbalds Ausbruch, zeigte sich aber ansonsten völlig unbeeindruckt. „Wie dem auch sei. Mein Verhalten meinem missratenen Sohn gegenüber geht Euch wohl kaum etwas an.“ Damit wandte er sich wieder seinem Buch zu.

Siegbald wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, doch Maximilian schüttelte nur traurig den Kopf und schlich zur Tür hinaus. Also presste Siegbald nur den Mund zu und verließ mit einem missbilligenden Kopfschütteln das Zimmer.

 

Auf dem Weg zum Haus der Hexe Käsewetter nieselte es fast ununterbrochen. Siegbald hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass sein wollener Rock oft feucht und klamm war. Trotzdem wünschte er sich das schöne Wetter seiner Anfangszeit in Aequipondium zurück, und selbst die trockene Kälte des tiefen Südens war angenehmer gewesen, als sein ständig nasser und schwerer Rock.

„Was meinte der alte Otter damit, dass es zu viel regnet?“ fragte er Theolinde. „Ist es nicht normal, dass es im tropischen Dschungel täglich schüttet?“

Theolinde schüttelte den Kopf und deutete auf den übervollen See und die großen Pfützen, die ihren Pfad fast unpassierbar machen. „Bei uns im Norden regnet es normalerweise nur, wenn es für die Felder erforderlich ist. Darum kümmern sich die Druiden, indem sie mit ihren Steinkreisen die Magie entsprechend kanalisieren. So ist es ihnen möglich, Wolken entstehen zu lassen oder aufzulösen. Ich weiß nicht, ob das hier in der Gegend auch so ist, aber ich könnte es mir gut vorstellen. Maximilian sollte es wissen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752128659
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
kuriose Geschichten Fantasyabenteuer Tierfantasy Hexen Märchen für Erwachsene Abenteuerromane Wundervölker Schamanen Ballonfahrt Zauberer Historisch Fantasy Abenteuer Reise

Autor

  • Ima Ahorn (Autor:in)

Ima Ahorn verschlang schon als Kind Abenteuerromane, Märchen und Geschichten über Entdecker. Sie bedauerte, dass die Zeit der großen Entdeckungen vorüber ist. Als sie erwachsen wurde, folgten bei ihr Abitur, Studium und ein Job in der IT ganz traditionell aufeinander. Für Entdeckungen und Abenteuer blieben da nur historische Romane, Fantasy und Urlaubsreisen. ...bis sie den großen Schritt wagte: Sie hat gekündigt, um Europa zu bereisen und um Schriftstellerin zu werden.
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Titel: Aequipondium: In der magischen Mitte