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Tageswandler 1: Mira

von Al Rey (Autor:in)
267 Seiten
Reihe: Tageswandler, Band 1

Zusammenfassung

Mira reist nach Norwegen. Der Notar ihrer verstorbenen Eltern hat sie eingeladen, um ihr ein Erbstück zu überreichen. Dadurch wird sich an ihrem Leben jedoch nichts ändern. Sie ist eine totale Einzelgängerin und das aus gutem Grund. Menschen, die sie mag, verunglücken, als würde ein Fluch an ihr haften. Kurz nach dem Termin mit dem Notar muss Mira erkennen, dass eben dieser Fluch Vampire magisch anzieht. Anzheru verschleppt sie und es sieht nicht aus, als wollte er sie je wieder gehen lassen... bereits erschienen: Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi, Band 6 Igor und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 7 Yero

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tageswandler 1

~Mira~

Von Al Rey


Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland. Tageswandler 1 – Mira ist ihr Debüt und entstand als Geburtstagsgeschenk.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

al-rey@gmx.de


Widmung

Für Isabelle

und Nathalie

Prolog

Norwegen. Ausgerechnet ein Land, in dem es bekanntermaßen sehr kühl und manche Tage im Jahr vollkommen finster war. Mira wäre viel lieber nach Süden in ein warmes Land geflogen. Missmutig sah sie aus dem kleinen Flugzeugfenster hinab auf die weite Ostsee. Bald kam die skandinavische Küste in Sicht. Nicht eine Wolke stand am Himmel und daher war der Blick frei auf die berühmten Fjorde. Schier endlos erstreckten sich die zerklüfteten Felsklippen am Horizont und genauso der dunkle Wald, der nur hin und wieder von kleinen Städten unterbrochen wurde. Der atemberaubende Anblick lenkte Mira wenigstens eine Weile von dem ab, was ihr bevorstand. Sie besaß keine Familie mehr. Ihre Eltern waren gestorben, als sie gerade zwei Jahre alt gewesen war. Sie war adoptiert worden, doch vor eineinhalb Jahren war sie ausgezogen und gab sich seitdem keine große Mühe, den Kontakt zu ihren Adoptiveltern aufrecht zu erhalten. Nun hatte sich nach all den Jahren ein Notar namens Gunwald Larsson aus Oslo gemeldet, der eine Hinterlassenschaft ihrer leiblichen Eltern besaß. Seine Einladung hatte Mira mitten in den Semesterferien erreicht. Sie hatte lange gezögert, da sie nichts mit ihren Eltern verband. Nicht eine Erinnerung war ihr geblieben. Dennoch hatte Mira sich entschieden, der Einladung zu folgen. Während der langen Reise von Brüssel nach Oslo waren ihre Gelenke ganz steif geworden. Sie war auffallend groß für ein Mädchen, ganze 1,82 Meter. Ihre Beine hatten kaum Platz zwischen den Flugzeugsitzen gehabt. Unbeholfen stakste Mira die schmale Treppe hinab, froh darüber, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nachdem sie ihre blaue Reisetasche im Terminal wieder gefunden hatte, machte sie sich auf den Weg zum Hotel. Das Treffen mit dem Notar sollte erst am folgenden Tag stattfinden. Zum Glück, denn es dämmerte bereits und im Dunkeln fand Mira sich nicht einmal in ihrer Heimatstadt gut zurecht. Im Hotelzimmer angekommen stellte sie positiv überrascht fest, dass es sogar einen Fernseher darin gab. In ihrem eigenen, winzigen Appartement zu Hause in Brüssel besaß Mira keinen. Obwohl sie kein Wort Norwegisch verstand, ließ sie das Gerät den ganzen Abend eingeschaltet. Den Bildern nach handelte es sich um einen Soap-Marathon. Leider gelang es Mira nicht, sich wirklich abzulenken. Ihr war unwohl bei dem Gedanken, etwas von ihren leiblichen Eltern zu lesen oder in der Hand zu halten. Niemals zuvor hatte sie einen Hinweis auf sie erhalten. Einige Monate nach ihrem Tod hatte die Familie Blanchard sie bei sich aufgenommen. Allerdings währte das Familienglück nur kurz. Nach kaum einem Jahr erkrankte ihr Adoptivbruder, der kleine Julien, an Leukämie. Auch Miras Spielkameraden passierten über die Jahre hinweg immer wieder Unfälle, manche wurden sogar krank. Irgendwann hatte Mira begonnen, diese Schicksale mit ihrer Gegenwart in Verbindung zu bringen. Sie schien das Unheil magisch anzuziehen. Natürlich sprach diesen Gedanken niemand aus, aber die Blicke ihrer Adoptivmutter Ester waren immer argwöhnischer geworden. Zunehmend hatte sie Mira spüren lassen, dass sie sich in ihrer Nähe nicht mehr wohl fühlte. Als sie vor etwa vier Jahren einmal gezwungenermaßen zusammen einkaufen gegangen waren, waren sie auf offener Straße von einer Gruppe Männer angegriffen worden. Aufgrund ihrer Verletzungen hatten sie sogar ins Krankenhaus gemusst. Nachdem sie beide nach Hause zurückgekehrt waren, hatte Ester freiwillig kein Wort mehr mit Mira gesprochen. Sie hatte stets ihr die Schuld an dem Überfall gegeben. Die Männer waren nie gefasst worden. Über die Jahre hatte Mira daher ihre Überlebensstrategie perfektioniert. Oder besser gesagt die Überlebensstrategie für die anderen. Je mehr sie sich abschottete, desto weniger Unfälle passierten um sie herum. Nur ein einziges Mädchen an der Uni redete mehr als jeder andere mit ihr. Ihr Name war Jacky und sie schrieben von Zeit zu Zeit gemeinsam an ihren Hausarbeiten. Da Mira sich permanent weigerte, mit ihr auszugehen, kamen sie sich nicht näher und dafür war Jacky bisher nichts passiert. Die Einsamkeit war ein akzeptabler Preis dafür. Durch eine Hinterlassenschaft ihrer Eltern würde sich daran garantiert nichts ändern. Vielleicht war sie der Einladung des Notars nur aus Pflichtgefühl gefolgt, sie wusste es selbst nicht so genau.

Schlafen konnte Mira kaum. Die Nacht verging schleppend. Schon kurz vor Sonnenaufgang begab sie sich unter die Dusche. Das warme Wasser betäubte ihre Bedenken, doch die angenehme Trance verging schnell wieder. Der Termin war auf 11:30 Uhr angesetzt, folglich hatte Mira reichlich Zeit zu frühstücken und die kürzeste Verbindung mit der Straßenbahn zu ihrem Zielort herauszusuchen. Das Büro des Notars lag in einem der teuren Außenbezirke von Oslo. Den Menschen, die Mira auf dem Weg von der U-Bahn zur Adresse des Notars begegneten, war schon an der Kleidung ihr Vermögen anzusehen. Sie fühlte sich völlig fehl am Platz in ihren zerrissenen Jeans und der abgetragenen Lederjacke. Ein kühler Wind kam auf. Mira verschränkte die Arme vor der Brust, um sich warm zu halten. Sie war wirklich froh darüber, dass sie bereits morgen wieder nach Belgien fliegen würde. Dort herrschten spätsommerliche 23 Grad Celsius, bei denen man keine Jacke tragen musste. Mira fragte sich ernsthaft, ob die Temperaturen in Norwegen jemals über 14 Grad stiegen. Vor dem Haus des Notars zögerte sie erneut eine ganze Weile. Gunwald Larsson nahm ihr letztendlich die Entscheidung ab, ob sie klingeln wollte, und kam ihr munter aus seiner Tür entgegen. Er war ein rundlicher Mann um die sechzig.

„Mira Blanchard?“, fragte er freundlich. Auf Englisch wäre Mira mit Sicherheit auch zu Recht gekommen, aber zu ihrem Glück sprach Larsson fließend Französisch. Er hieß sie etwas umständlich willkommen und bat sie, ihm durch sein Haus ins Büro zu folgen. Die geschmackvoll eingerichteten Zimmer zeugten ebenfalls davon, dass man als Notar in Norwegen reichlich Geld verdiente. Mira hatte das Gefühl, in seinem Besuchersessel zu versinken.

„Ihre Eltern haben vor über zwanzig Jahren einmal hier gewohnt. Wenn ich mich damals nicht völlig getäuscht habe, war Ihre Mutter schwanger, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.“ Sein warmherziges Lächeln war gut gemeint, doch Mira war nicht in der Stimmung, sich auf seine Erinnerungen an ihre Eltern einzulassen. Larsson verstand ihre abwehrende Miene und öffnete den Safe in der hölzern vertäfelten Wand hinter seinem Schreibtisch. Er nahm ein kleines Kästchen heraus, das er vor Mira auf den Tisch stellte.

„Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Es war nicht leicht, Sie zu finden, Mira.“

„Vielen Dank.“ Sie versuchte, ihm ein aufrichtiges Lächeln zu schenken und verabschiedete sich bald darauf. Zügig verließ sie den Stadtbezirk, das Kästchen befand sich unangetastet in ihrer Tasche. Sie hatte es nicht über sich gebracht, es in Larssons Gegenwart zu öffnen. Während der Fahrt begann es zu regnen. Mira zog die Kapuze ihres Shirts unter der Jacke hervor und setzte sie auf. Das schwarze lange Haar passte kaum darunter. Zu beiden Seiten ihres Gesichts quoll es unter dem hellen Stoff hervor. Kurz bevor sie ausstieg, fiel ihr ein Mann auf, der ebenfalls eine Kapuze trug. Aus dem Schatten, den sie warf, schien er Mira unablässig anzustarren. Zum Glück stieg er nicht hinter ihr aus. Sie kehrte auf direktem Weg zum Hotel zurück. Angespannt stellte sie die Tasche ab und zog die Jacke aus. Ganz langsam holte Mira das Aluminiumkästchen aus ihrer Umhängetasche und setzte sich auf die Bettkante. Sie hielt den Atem an, als sie versuchte, den etwas verrosteten Schnappverschluss zu öffnen. Es klickte. Mira atmete tief durch und öffnete die Schatulle. Darin lag sage und schreibe ein Stein. Ungläubig nahm Mira den schwarzen, kühlen Stein heraus und drehte ihn in der Hand. Auf der Unterseite befand sich eine Gravur in einer sehr altmodischen, geschwungenen Schrift.

»Ich schwöre

Ich werde einen Weg finden«

Mit einem Schnauben steckte Mira den Stein in ihre Hosentasche und warf das unansehnliche Kästchen in den Mülleimer ihres Hotelzimmers. Sie rieb sich die Stirn. Dafür war sie nach Norwegen gekommen. Einen Stein! Sie ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen, in der Hoffnung die Wut bändigen zu können. Sie hatte nicht viel erwartet, aber wenigstens irgendeinen Bezug. Doch keinen Stein und eine sinnlose Inschrift… Einen Weg wohin denn bloß? Und wer?

Der Regen peitschte mittlerweile regelrecht gegen das hohe Fenster. Mira war vor Erschöpfung eingenickt und hatte den gesamten Nachmittag verschlafen. Jetzt beschloss sie, noch irgendetwas aus diesem Abend zu machen und begab sich in die Hotelbar. Eigentlich trank sie nicht gerne Alkohol, aber ein Glas Wein konnte auf diese ernüchternde… Was war es eigentlich? Eine Erkenntnis? Was auch immer, es würde nicht schaden. Der Barkeeper erwies sich als jung, hübsch und der englischen Sprache mächtig. Gedankenverloren sah Mira ihm eine Weile bei der Arbeit zu, bis er ihren Blick erwiderte. Er schien nicht abgeneigt zu sein, obwohl Miras Erscheinungsbild um einiges von dem der norwegischen Frauen abwich. Kohlrabenschwarze Haare waren hier offenbar eine Seltenheit. Aus trainierter Höflichkeit lächelte sie den hochgewachsenen blonden Mann an und suchte sich dann doch lieber einen Platz am Fenster, zu weit weg von ihm, um ein Gespräch anzufangen. Der letzte Junge, den sie gemocht hatte, war vier Tage nach ihrem ersten Treffen vor ein Auto gelaufen.

„Na, hat dich der Kellner gelangweilt?“

Mira warf einen Blick in die Fensterscheibe links von ihr, in der sie auch die Spiegelung des Mannes am Nebentisch sehen konnte. Seine Augen schienen beinahe schwarz zu sein, was Mira ein ungutes Gefühl gab. Wortlos trank sie einen großen Schluck von ihrem Rotwein.

„Muss ich das als »Ja« auffassen?“ Er schien sich köstlich zu amüsieren. Vor ihm auf dem Tisch stand eine unberührte Schale mit Erdnüssen. Er bleckte merklich die Zähne. Mira lief ein kalter Schauer über den Rücken. Warum konnte das ständige Unheil, das sie umgab, nicht solche Menschen fernhalten? Zügig trank sie ihr Glas leer und flüchtete aus der Bar, ohne ein Wort zu dem aufdringlichen Kerl am Nebentisch gesagt zu haben. Statt auf den Aufzug zu warten, nahm sie lieber die Treppe. Auf dem Korridor angelangt zerrte sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer aus der Hosentasche. Mira würde sofort packen und nur noch darauf warten, dass sie zum Flughafen fahren konnte.

„Warum so abweisend?“

Mit einem entsetzten Keuchen fuhr sie herum. Der unheimliche Mann aus der Bar stand hinter ihr im Flur. Wie zur Hölle hatte er es geschafft, sie so schnell und lautlos zu finden? Mira wich mit dem Schlüssel in der Hand ein paar Schritte zurück.

„Verschwinden Sie! Sofort!“, presste sie hervor.

„Nicht doch. Als ob ich dir widerstehen könnte.“ Mit einem breiten Grinsen kam er immer näher. Das aschblonde Haar fiel ihm in die Stirn. Seine tiefschwarzen Augen schienen Mira regelrecht zu durchbohren. Plötzlich stand er direkt vor ihr und drängte sie rückwärts gegen ihre Zimmertür. Die eine Hand presste er auf ihren Mund. Mit der anderen nahm er ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Mira wehrte sich mit aller Kraft, doch er stieß sie erbarmungslos durch den Raum. Sie landete unsanft bäuchlings auf dem Bett. Als sie sich aufrappelte, war die Tür bereits wieder von innen verschlossen, aber dafür das Fenster geöffnet worden. Eisige Luft zog herein. Der aschblonde Mann warf sich auf sie und drückte sie zurück aufs Bett. Mira schluchzte ängstlich auf. Er war so unfassbar schnell. Und kalt.

„Ganz ruhig meine Große“, flüsterte er ihr ins Ohr. Drei weitere blasse Gestalten kamen durchs Fenster herein. Dabei waren sie im dritten Stock! Mira zappelte hilflos in seinen Armen und begann vor Verzweiflung zu weinen. Bevor sie auch nur einmal um Hilfe hatte schreien können, hatten sie sie auf den Rücken gedreht und alle ihre Gliedmaßen überstreckt auf dem Bett fixiert. Sie zogen so sehr an ihren Armen, dass es fürchterlich in den Gelenken stach. Durch den Tränenfilm in ihren Augen konnte Mira gerade noch erkennen, dass einer von ihnen der Mann im Kapuzenpulli war, der sie in der U-Bahn angestarrt hatte. Eine Hand hielt ihr den Mund zu. Andere betasteten ihre Oberschenkel. Als sich eine unter ihr Shirt und eisig kalt über ihren Bauch schob, brachte Mira trotz allem einen erstickten, verzweifelten Laut heraus.

„Du hast nicht zu viel versprochen, James. Sie ist wirklich umwerfend.“

Hohles Glucksen war die Antwort. Einer von ihnen öffnete ihren Gürtel. Plötzlich hielten sie inne. Mira blinzelte angestrengt. Noch ein schwarz gekleideter Mann war lautlos durchs Fenster hereingekommen. Das wurde ja immer besser.

„Seid ihr völlig verrückt geworden?“ Die Frage war offenbar an Miras Angreifer gerichtet. Einer erhob sich, Mira spürte zwei Hände weniger, die sie bedrängten.

„Wen haben wir denn da? Anzheru, das Oberhaupt des Nördlichen Clans, persönlich. Welche Ehre.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Mira konnte im Augenwinkel sehen, dass er sich schwungvoll vor dem Neuankömmling verneigte.

„Lasst sofort von ihr ab! Ihr seid mitten unter Menschen. Und das ist nicht euer Jagdgebiet.“

Trotz seines gebieterischen Tonfalls ließen die übrigen Mira nicht los. Ihr Wortführer schnaubte verächtlich. „Als ob du sie nicht selbst zehn Meilen gegen den Wind gerochen hättest! Wir waren eben schneller als unsere hochgeschätzten Nachbarn.“

Die drei Männer über Mira lachten leise.

„Willst du auch etwas abhaben, obwohl es ebenfalls nicht dein Jagdgebiet ist, Anzheru?“

Das Lachen wurde etwas lauter. Auf einen Wink ihres Wortführers ritzte einer ihrer drei Peiniger Miras Wange an. Gerade so tief, dass es ein wenig blutete. Es musste eine ziemlich kleine Klinge gewesen sein. Mira hatte sie gar nicht gesehen. Augenblicklich veränderte sich die Stimmung im Raum. Die Männer packten noch fester zu, wenn das überhaupt möglich gewesen war. Die drei Paar Augen über ihr hatten normale, dunkle Farben gehabt, jetzt nahmen sie ein seltsames Blau an. Stechendes, eisiges Blau. Das war gar nicht möglich! Sicher spielten Miras Sinne ihr vor lauter Panik nur einen Streich.

„Nein“, lautete die Antwort.

„Dann verschwinde, Anzheru! Mach dir keine Sorgen, wir legen sie hinterher in die Badewanne. Es wird aussehen als…“

„Nein, ihr befindet euch auf fremdem Territorium!“ Anzherus Stimme war ganz ruhig geworden. Der Raum wurde plötzlich von einem tiefen, unmenschlichen Grollen erfüllt. Mira spürte, dass der Druck auf ihren Beinen nachließ. Nur noch einer der Männer hielt sie gepackt und presste ihr die Hand auf den Mund. Er zog sie grob auf die Füße und hielt sie zwischen sich und die anderen Wahnsinnigen wie einen Schutzschild. Sie schlichen langsam auf Anzheru zu, der mit dem Rücken zum Fenster stand. Der Angriff lief so schnell ab, dass Mira mit den Augen kaum folgen konnte. Nur das ohrenbetäubende Krachen hörte sie. Als die Männer wieder innehielten, blutete einer heftig im Gesicht, einer hielt sich den merkwürdig verdrehten Arm und der dritte hielt sich vorn über gebeugt den Brustkorb. Anzheru selbst hatte nur ein paar Kratzer an den Armen. Das Fenster war gesplittert und das Fußende des Hotelbetts zertrümmert. Die Männer gaben ein aggressives Knurren von sich, doch sie wichen zurück.

„Dem nächsten, der es wagt, trenne ich einen Arm ab.“

Niemand schien an Anzherus Worten zu zweifeln. Widerwillig wurde Mira frei gegeben und sie verschwanden einer nach dem anderen mit hasserfüllten Blicken durch das Fenster. Nur Anzheru blieb zurück. Miras Knie gaben nach all der Anspannung nach. Völlig kraftlos sank sie zu Boden und blieb zwischen dem kleinen Nachtschränkchen und der angelehnten Badezimmertür sitzen. Anzheru kam näher. Auch seine Augen waren eisblau, sein Blick schien jedoch weniger stechend. Sein rotbraunes Haar war zu einem strengen Zopf zurückgebunden und bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seiner hellen Haut. Er war groß, schlank, nicht zu muskulös –jedes andere Mädchen hätte ihn mit Sicherheit für sehr attraktiv gehalten. Was man von dem fürchterlichen James und seinen Kumpanen nicht behaupten konnte.

„Hast du Knochenbrüche?“ Ausdruckslos sah er auf Mira hinab. Vorsichtig bewegte sie die Finger, dann die Füße und streckte einmal die Beine.

„Ich glaube nicht.“ Mira musste husten. Sie hatte kaum atmen können, solange einer der Männer ihr den Mund zugehalten hatte. Ihre Kehle brannte, als hätte sie versucht, Feuer zu schlucken. Anzheru ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sein ebenmäßiges Gesicht aus der Nähe betrachten konnte. Er atmete konzentriert durch die Nase. Kurz wandte er den Blick ab, dann hob er die Hand, um Miras verletzte Wange zu berühren. Nur einen Zentimeter entfernt hielt er inne, da sie ihn ängstlich anstarrte.

„Wer bist du?“

Anzheru antwortete nicht, sondern strich mit den Fingerspitzen über die kleine Wunde. Es kribbelte auf der Haut und seine Finger waren eisig kalt. Mira hatte das Bedürfnis, sich an der Wange zu kratzen. Aber da war keine Wunde mehr! Was sie als nächstes sah, steigerte ihre Angst und ihr Entsetzen ins Unermessliche. Anzheru leckte sich ihr Blut von den Fingern. Sie war davon ausgegangen, dass James und die anderen sie vergewaltigt, misshandelt und wohl auch getötet hätten. Aber was war das? Mira öffnete den Mund, um zu schreien, doch sie brachte nur einen unbestimmten Laut heraus. Um seine sonst so reglosen Mundwinkel zuckte ein wissendes Lächeln, aber dann begann Anzheru zu husten, als hätte er sich die Zunge verbrannt. Trotz aller Panik kam Mira nicht um ein ironisches Glucksen herum. Blut schmeckte nun einmal ekelhaft. Als Anzheru ihr wieder den Blick zuwandte, lag ernsthaftes Interesse darin. Das verhieß absolut nichts Gutes. Ruckartig stand der blasse Mann auf und griff sich Miras Sachen und ihre Umhängetasche. Er stopfte alles achtlos zurück in ihre blaue Reisetasche. „Ist das alles?“

Mira nickte stumm und kämpfte sich mühsam auf die Füße. „Was soll das?“ Sie musste sich mit beiden Händen an der Wand abstützen, so wenig gehorchten ihr ihre Beine.

„Du kannst nicht hier bleiben, sie werden zurückkommen. Also werde ich dich mitnehmen“

„Ich fliege morgen nach Hause!“ Trotz der geradezu greifbaren Gefahr empfand Mira plötzlich Wut. Bei den anderen vieren war wenigstens abzusehen gewesen, was sie vorhatten.

„Sicher nicht.“ Sein absolut ruhiger Tonfall verschlimmerte das Ganze noch.

„Komm.“ Er streckte ihr allen Ernstes eine feingliedrige, weiße Hand entgegen.

„Den Teufel werde ich tun!“, knurrte Mira. Anzheru seufzte verärgert, dann stand er plötzlich wieder direkt vor ihr und legte ihr einen Finger an die Lippen. Einen Augenblick lauschte er aufmerksam. „Wir müssen uns beeilen.“

Mira schlug mit beiden Händen gegen seine Brust, in der Hoffnung er würde wenigstens einen Schritt zurück machen. Sie war so sehr daran gewöhnt, andere auf Abstand zu halten, dass auch körperliche Nähe unangenehm war. Sie hätte genauso gut die Wand schlagen können. Anzheru schien es überhaupt nicht gespürt zu haben. Er packte ihr linkes Handgelenk und zog sie einfach mit sich in Richtung Fenster. Mira sträubte sich, doch es war hoffnungslos. „Nein! Lass mich los!“

„Sei jetzt still“, erwiderte er ungerührt. Sein ruhiger Tonfall war zum aus der Haut fahren. Mit der freien Hand hatte er sich die Reisetasche geschnappt, den rechten Arm schlang er um Miras Hüfte.

„Doch nicht aus dem…“ Bevor sie den Satz zu Ende kreischen konnte, verlor Mira den Boden unter den Füßen.

„Fenster“, murmelte Anzheru und zog sie einfach weiter. Er hatte den Sprung aus dem dritten Stock so weich abgefedert, dass Mira nichts davon gespürt hatte. Als ob das alles normal wäre, zerrte er sie weiter über die Straße auf ein schwarzes Auto zu. Der kalte Regen durchnässte sie sofort.

„HILFE!“

Irgendjemand auf der Straße musste Mira doch hören. Anzheru drehte sie gewaltsam zu sich und starrte ihr in die Augen. Mira blieb die Luft weg. Nach und nach schwand ihre Wahrnehmung. Es schien nichts mehr auf der Welt zu geben, außer diesen eisigen, durchdringenden Augen. Dann wurde langsam alles schwarz.


Gewahrsam

Es war dunkel. Dunkel und kalt. Mira konnte sich auf dem harten Boden kaum rühren. Ihre Gliedmaßen waren bleiern schwer und irgendetwas schien auf ihren Brustkorb zu drücken, obwohl sie auf der Seite lag. Langsam setzte sie sich auf. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Nur langsam kehrten die Erinnerungen an James, seine fürchterlichen Kumpane und schließlich Anzheru zurück, der sie aus ihrem Hotelzimmer entführt hatte. Wie hatten sie bloß den Sprung aus dem dritten Stock überlebt? Niemand konnte mit einem zusätzlichen Gewicht von fast sechsundsiebzig Kilo so tief fallen und unbeschadet aufkommen. Geschweige denn auch noch weitergehen, als wäre nichts gewesen. Das ging alles nicht mit rechten Dingen zu. Mira studierte seit drei Semestern Literaturwissenschaften, nicht Medizin, aber das war einfach nicht möglich. Dieser rothaarige Kerl mit den durchdringenden, eisblauen Augen hatte sich ihr Blut von den Fingern geleckt… Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Mira straffte die Schultern. In ein paar Schritten Entfernung öffnete sich eine Tür. Das hereinfallende Neonlicht war so grell, dass Mira nur den Umriss der Gestalt sehen konnte, die lautlos auf sie zukam. Derjenige packte sie am Arm und zog sie auf die Füße. Mira musste sich noch einige Sekunden die Hand vor Augen halten, bis sie klar sehen konnte. Bis dahin hatte Anzheru sie bereits am Arm eine kleine Treppe hinunter gezerrt. Jetzt befanden sie sich auf einem Flur, der zum Glück nicht von Neonröhren sondern von kleinen, runden Schirmlampen erhellt wurde. Die wenigen Türen waren geschlossen. Anzheru öffnete die letzte auf dem Flur und entließ Mira endlich aus seinem eisernen Griff in ein hell gefliestes Badezimmer. Sie rieb sich den Oberarm. Die Hände dieses Mannes waren so fürchterlich kalt, dass es auf der Haut schmerzte. Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass ihr Entführer vor der Tür stand, aber immerhin musste sie nicht darum betteln, ins Bad zu dürfen. Im Moment zumindest. Nachdem sie sich erleichtert hatte, blieb Mira am Waschbecken stehen und betrachtete sich im Spiegel. Wie nicht anders zu erwarten war, sah sie furchtbar aus. Als sie die Ärmel ihres Shirts hochschob, fielen ihr einige dunkelblaue Flecken auf. James und die anderen hatten ihr nur durch Druck Hämatome zugefügt. Ihre Beine würden wohl kaum besser aussehen. Plötzlich wurde die Tür von außen aufgerissen.

„Wie lange brauchst du denn noch?“ Anzheru schaute sie ungeduldig an. Verunsichert schob Mira ihre Ärmel wieder herunter.

„Das verheilt doch von allein, oder?“ Er wies auf ihre Arme.

„Ja.“ Mira biss sich angespannt auf die Unterlippe. Das wusste er nicht? Mit ein paar langen Schritten durchquerte Anzheru den Raum und öffnete einen kleinen, weißen Schrank neben dem Waschbecken. Er reichte ihr ein Handtuch und ein Stück Seife heraus.

„Wasch dich. Du stinkst nach Angst. Und nach ihnen.“

Es war klar, dass er James und die anderen meinte. Waren sie nicht seines gleichen? Zumindest kannten sie sich mit Namen. Mira drückte das weiche Handtuch an sich. Es war ein recht erbärmlicher Schutzschild angesichts eines Mannes, der sie mühelos mit einem Arm tragen konnte. Sie hatte ihn gefragt, wer er war. Eine andere Frage war wohl passender. „Was bist du?“

Das recht große Menschen-Mädchen stand mit hochgezogenen Schultern und unsicherer Miene vor ihm. Trotz allem schien sie nicht so viel Angst wie andere Menschen vor ihm zu haben. Dass jemand wütend wurde und mit beiden Fäusten gegen seine Brust schlug, statt sich wimmernd seinem Schicksal zu ergeben, hatte Anzheru lange nicht erlebt. Er hob mit den Fingerspitzen ihr Kinn an, damit sie den Hals strecken musste. Er konnte das Blut spüren, das verheißungsvoll in ihren Adern pulsierte. Zornig schlug sie gegen seine Hand. Das sollte wohl ein erneuter Versuch sein, ihn loszuwerden. Allerdings hatte sie dem darauffolgenden schmerzerfüllten Laut nach zu urteilen nur sich selbst wehgetan. Anzheru ließ von ihr ab. Der Geruch von James und seiner Gruppe, der immer noch an ihr haftete, war ekelhaft.

„Du wirst sehen. Gib mir deine Sachen.“ Er hatte vor, sie zu verbrennen. Das Mädchen starrte entgeistert zurück.

„Was ist?“

„Ich werde mich garantiert nicht vor dir ausziehen!“, presste sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Anzheru erinnerte sich dunkel daran, dass eines seiner Clan-Mitglieder davon erzählt hatte, wie empfindlich Menschen-Frauen in dieser Hinsicht waren. Er hätte ihr das Shirt und die ohnehin schon rissige Jeans mühelos abnehmen können, aber er wollte dieses Mädchen nicht unnötig gegen sich aufbringen. Es war einfacher, wenn sie sich freiwillig fügte, und das würde er sicher nicht erreichen, indem er ihr bei der ersten Gelegenheit seinen Willen aufzwang.

„Rühr dich nicht von der Stelle“, sagte er ruhig. Sie schnappte nur hörbar nach Luft. Anzheru verließ das Bad und begab sich nach unten ins Kaminzimmer, wo er den Inhalt der Reisetasche auf einem großen Tisch ausgebreitet hatte. Ein kleines Notebook, ein Handy, ein Portemonnaie, einmal Wechselkleidung und Flüssigshampoo, das furchtbar süßlich roch. Mehr hatte das Mädchen nicht bei sich gehabt. Das Shampoo hatte Anzheru umgehend entsorgt, da es ihm lieber war, ihren eigenen Geruch wahrzunehmen statt einen künstlichen. Mit der Kleidung über dem Arm ging er wieder nach oben. Anzheru gab sich Mühe, das Mädchen nicht zu erschrecken, als er das Bad wieder betrat. Sie stand immer noch vor dem Spiegel und krallte die Finger in das beige Handtuch. Ihr misstrauischer Blick verriet auch ihren Zorn. Wortlos schnappte sie ihm ihre Sachen aus der Hand und wartete darauf, dass er den Raum verließ.

„Wie lautet dein Name?“

Sie antwortete nicht. Langsam begann ihre Sturheit ihn wirklich zu ärgern. Anzheru schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts gegen das Waschbecken. An ihren Augen konnte er ablesen, dass es schmerzte, aber er hatte keinen Knochen brechen hören.

„Wie heißt du, Mädchen?“, wiederholte er drohend.

„Mira.“ Ihre Stimme bebte.

„Schön, Mira. Lass mich eins klarstellen. Du gehörst jetzt mir. Und das bedeutet, du gehorchst.“

Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Offenbar verschlug es ihr die Sprache.

„Und jetzt dusch dich ab.“

Er ließ sie einfach stehen. Mira zitterte heftig. Wie kam er auf die Idee, sie besitzen zu können wie eine… Sklavin. Es fiel ihr schwer, über dieses Wort nachzudenken. Auch die warme Dusche half kein bisschen, die erhoffte kurze Trance blieb aus. Ihre Wange schmerzte immer noch. In diesem Augenblick wünschte Mira sich so sehr, die Einladung des Notars ignoriert zu haben. Sie könnte jetzt in ihrem winzigen Appartement im warmen Brüssel sitzen und sich in eins ihrer geliebten Bücher vergraben, aber nein. Sie war in einem fremden Land unmenschlichen Wesen in die Fänge geraten und ein anderes hatte sie gerettet, um sie zu verschleppen und in seinem Haus gefangen zu halten. Dieses Mal hatte das Unheil sie selbst getroffen, das sie schon so lange verfolgte. Und das alles nur wegen eines lächerlichen Steins! Am liebsten hätte Mira ihn aus dem geschlossenen Fenster geschleudert, statt ihn in die Tasche ihrer frischen Hose zu stecken, als sie sich anzog. Allerdings wollte sie lieber nicht wissen, was Anzheru tat, wenn sie sein Haus demolierte. Hastig zog sie sich das Shirt über den Kopf. Nicht dass ihr Entführer wieder ins Bad kam, bevor sie angezogen war. Dieses Mal rührte sich allerdings nichts. Unsicher drückte Mira die Klinke herunter und öffnete die Tür. Anzheru lehnte rechts neben ihr mit verschränkten Armen an der Wand. Sein Blick war nachdenklich auf den Boden geheftet. Als Mira einen Schritt über die Türschwelle machte, sah er sie wieder mit diesem unergründlichen Interesse an. Er sog konzentriert die Luft ein.

„Besser.“

Das war alles. Anzheru bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie befanden sich offenbar in der ersten Etage einer Villa. Der Raum, in dem Mira aufgewacht war, musste der Dachboden sein. Er öffnete eine der Türen auf dem Flur und ließ ihr den Vortritt. Es war ein kleines Schlafzimmer mit einem Bett, einem schmalen, dunklen Kleiderschrank und einer kleinen Kommode. Sämtliche Möbel waren alt, aber geschmackvoll.

„Sei brav, dann darfst du hier schlafen und ich sperre dich nicht wieder auf den Dachboden“, sagte Anzheru gewohnt gefühllos. Mira wandte sich zu ihm um. Er bleckte einem Raubtier gleich die Zähne. Von diesem Augenblick an nahm sie einfach hin, dass er ein Vampir war, auch wenn es dem gesunden Menschenverstand widersprach.

„Was heißt brav?“, fragte Mira mit bebender Stimme. Erst danach fiel ihr auf, dass sie die Antwort lieber gar nicht kennen wollte.

„In erster Linie Gehorsam. Wenn ich etwas sage, gehorchst du aufs Wort.“ Er kam näher. „Des Weiteren haust mein Clan auf diesem Gelände. Wenn du ihnen begegnest, wirst du schweigen und in meiner unmittelbaren Nähe bleiben. Ich werde dich nur dieses eine Mal warnen. Zwing mich nicht dazu, dich vor anderen Vampiren zu disziplinieren.“

Vor körperlicher Gewalt würde er nicht zurückschrecken, das hatte er bereits bewiesen. Mira zuckte heftig zusammen, als er die Hand hob. Anstatt sie ein zweites Mal zu schlagen, zog Anzheru jedoch nur ihren Scheitel nach. Es war schon fast abstoßend zärtlich. Mira wollte davon laufen, so weit weg wie nur möglich.

„Du bist groß, das gefällt mir.“ Er überragte sie nur um wenige Zentimeter. Sie erschauderte, als er sie im Genick packte. Anzheru zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Wieder konnte Mira sich nicht rühren.

„Nimm es mir nicht übel, ich muss etwas überprüfen.“ Er legte die andere Hand geradezu sanft in ihren Rücken und senkte die Lippen auf ihren Nacken. Seine messerscharfen Zähne konnte sie zum Glück nicht sehen, als er zubiss. Die Lähmung verursachte auch so genug Panik. Mira konnte keinen Laut von sich geben, als er zu trinken begann. Es war nicht so schmerzhaft wie befürchtet, aber es fühlte sich widerlich an, wenn er schluckte. Der Vampir trank weniger, als sie erwartet hatte. Nach nur vier Schlucken hörte er auf und leckte über die Wunde. Außerdem entließ Anzheru sie endlich aus seinem geistigen Griff. Mira tastete kurz nach ihrem Hals und fand keine Verletzung. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal Narben davon tragen, wenn er sie immer direkt heilte. Ihr gesamter Körper fühlte sich plötzlich seltsam taub an. Wie viel Blut brauchte ein Vampir eigentlich? Und wie oft?

„Du musst dich auf meinen Rhythmus einstellen, also nachts wach sein und tagsüber schlafen. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Solange wirst du noch wach bleiben.“ Seine Stimme holte Mira aus ihren ausschweifenden Gedanken zurück.

„Ich bin überhaupt nicht müde“, erwiderte sie wie in Trance. „Auch gut.“ Anzheru zuckte mit den Schultern. Er legte eine Hand auf seinen Brustkorb und verzog das Gesicht. War ihm ihr Blut nicht bekommen? Ein schwacher Trost. Als er endlich gegangen war, zog Mira geistesabwesend den schwarzen Stein aus ihrer Hosentaschen und verstaute ihn in der Kommode. Er war wohl kaum von Nutzen. Sie legte sich zitternd ins Bett, konnte jedoch kaum die Augen schließen. Würde sein Biss genügen, damit sie sich jetzt in ein Monster verwandelte? Oder konnte dieser Vampir sich wirklich, solange er wollte, von ihr ernähren und sie würde ein Mensch bleiben?

Gegen Mittag war Mira doch vor Erschöpfung eingenickt. Anzheru weckte sie am frühen Abend, die Dämmerung war noch nicht vollständig vorüber. Sie rieb sich die brennenden Augen, während sie sich aufsetzte. Ganz so lichtempfindlich wie manche Filme es vermuten ließen, waren Vampire wohl doch nicht.

„Du schläfst nicht lange, oder?“, fragte Mira vorsichtig.

„Ich schlafe nie. Ich lebe bereits lange genug, um das nicht mehr zu müssen.“

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu, aber den ignorierte er. Der Vampir führte sie von dem kleinen Gästezimmer ins Erdgeschoss in einen gemütlich anmutenden Wohnraum mit offenem Kamin. Die Möblierung seiner Villa schien durchweg sehr spärlich zu sein. Mira hatte nur kurze Blicke in ein paar der anderen Zimmer erhaschen können, da Anzheru es wahnsinnig eilig hatte. Merkwürdig eigentlich, er hatte doch alle Zeit der Welt. Das prasselnde Feuer im Kamin war das erste im Haus, das Mira ein wenig aufmunterte. Davor lag ein dunkles Fell, das groß genug war, um von einem Bären zu stammen. Es gab sogar samtene, dunkelrote Polstermöbel und einen Fernseher, der irgendwie zu modern wirkte. Und endlich war es einmal warm. Mira hätte sich hier wohlfühlen können, wäre da nicht ein Vampir gewesen, der sich am anderen Ende des Raumes über ihre ausgebreiteten Sachen auf einem Esstisch beugte. Zu Miras Entsetzen öffnete er gerade ein reich verziertes Kästchen, in dem ein gebogenes Messer lag. Ausdruckslos wandte er sich mit der Klinge in der Hand zu ihr um. „Zieh dein Shirt aus. Am besten legst du dich auf den Bauch.“

Das glaubte er doch nicht wirklich? Mira sprintete in Richtung Tür, Anzheru bekam sie jedoch meilenweit vor der Schwelle mit seiner freien Hand zu fassen. Er schleifte sie am Gürtel zurück zum Kamin.

Das Mädchen kreischte wie am Spieß, dabei wusste sie gar nicht, was auf sie zukam. Anzheru zog ihr die Füße weg, sodass sie bäuchlings auf dem Bärenfell landete. Mira blieb die Luft weg, dennoch kroch sie ein paar Zentimeter vorwärts. Ein wenig entnervt kniete Anzheru sich auf sie. Sein Gewicht genügte endlich, um das Mädchen auf dem Boden zu fixieren. Er legte das Zeremonienmesser seiner Familie auf die steinerne Kante des Kamins, sodass die Klinge durch die Flammen gereinigt wurde. Danach machte er sich daran, das dünne Shirt Miras Rücken hinaufzuschieben.

„Nein!“, keuchte sie und versuchte schon wieder, nach ihm zu schlagen. Obwohl er unsterblich war, konnte Anzheru durchaus Schmerz empfinden. Aber Mira war beim besten Willen nicht dazu in der Lage, ihm ernsthaft weh zu tun. Es fühlte sich eher so an, als würde ein Kätzchen nach ihm schlagen, das seine Krallen noch nicht richtig benutzen konnte.

„Streck die Arme vor, sonst zerreiße ich es. Und du bekommst nichts von mir!“, drohte er ungeduldig. Das Fell erstickte ihre widerwilligen Laute nur zum Teil, doch Mira gehorchte. Anzheru legte ihr Shirt bei Seite, strich sorgfältig ihr Haar aus ihrem Nacken und nahm dann das Zeremonienmesser zur Hand. Er konnte fühlen, wie schnell das Herz des Mädchens raste. Ihre Lungen mussten schmerzen, so hastig und unregelmäßig wie sie atmete. Hatte sie nur Angst oder schämte sie sich etwa schon, nur weil sie im BH vor ihm auf dem Boden lag?

„Du musst still halten. Ich werde dir das Siegel meiner Familie geben. In meiner Welt ist dies leider unumgänglich für dich.“ Um sicher zu gehen, presste Anzheru die linke Hand in ihr Genick. Als er den ersten Schnitt unterhalb ihres Nackens setzte, schrie Mira schmerzerfüllt auf. Das Siegel würde nur den Durchmesser von drei seiner Fingerkuppen haben, aber für das Mädchen schien jeder einzelne Millimeter, den er durch ihre Haut schnitt, die Hölle zu sein.

Mira krallte die Finger so fest in das dunkle Fell, dass ihre Knöchel weiß hervor traten. Was wollte er ihr denn noch alles antun? Machte es ihm Spaß, sie zu quälen? Sie atmete erleichtert auf, als er ihr Genick losließ. Endlich war Anzheru fertig mit seinem verdammten Siegel.

„Ich werde nur die Blutung stoppen, damit eine deutliche Narbe entsteht. Mit diesem Siegel gehen wir einen Bund ein“, erklärte er ungerührt. „Es bedeutet, du gehörst allein mir. Kein anderer Vampir darf dich anrühren, geschweige denn dein Blut nehmen. Im Gegenzug werde ich dich beschützen.“ Sanft strich er über die frische Wunde. Mira spürte, dass ihr Blut versiegte. Doch Anzheru dachte offenbar nicht daran, endlich von ihr herunter zu gehen. Die kühlen Finger zogen ihre Wirbelsäule nach. Etwa beim neunten Wirbel hielt er inne. „Dieser hier ist ein wenig schief im Vergleich zu den anderen. Er war einmal verletzt, nicht wahr?“

Mira befreite ihr Gesicht aus dem Fell. „Ja.“

„Schränkt es dich in irgendeiner Form ein?“

„Nein“, würgte sie hervor.

„Wie ist das passiert?“, fragte Anzheru seelenruhig weiter.

„Es… war ein Unfall.“ Mira suchte fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung. Es ging den Vampir nichts an, dass sie nach einem Einkauf auf der Straße schwer verletzt worden war. Die Erinnerung an Esters Vorwürfe war schon schlimm genug. Sie spürte, dass Anzheru das Gewicht nach vorn verlagerte. „Versuch erst gar nicht, mich anzulügen. Dein Herzschlag verrät dich.“

Was er sonst mit ihr anstellen würde, wollte sie sich gar nicht vorstellen. Mira wand sich widerwillig am Boden, woraufhin Anzheru die Knie fester gegen ihren Rumpf drückte. Seine Körpertemperatur kam ihr gar nicht mehr so niedrig vor wie am vergangenen Morgen. Sank ihre Eigene etwa schon, weil er von ihr getrunken hatte? Langsam schien Anzheru die Geduld zu verlieren. Er lehnte sich so weit vor, dass sie seinen Atem im Nacken spüren konnte. „Ich höre. Oder ist etwa schon eine erste Lektion in Gehorsam fällig?“

Mira schluckte schwer gegen den Kloß in ihrem Hals an. Niemandem hatte sie jemals von dieser Sache erzählt. So kurz gefasst wie möglich berichtete sie von der Straßenbande, die der Polizei sogar schon bekannt dafür gewesen war, ihre Opfer mit Brecheisen anzugreifen.

„Hast du es gesehen? Das Brecheisen meine ich.“

„Nein, es ging alles viel zu schnell. Warum ist das denn wichtig?“ Mira drückte ihr Gesicht in das Fell unter ihr. Anzheru erhob sich plötzlich. Sofort schnappte sie sich, so schnell sie konnte, ihr Shirt und zog es wieder an.

„Schon gut. Vergiss die Frage.“ Anzheru wischte das Messer in einem Tuch ab und ging hinüber zum Tisch, während Mira sich auf die Füße kämpfte.

Er verstaute das Zeremonienmesser in seinem Kästchen. Als Anzheru sich wieder umwandte, starrte das Mädchen ihn wütend an. Offenbar reagierten auch Menschen ziemlich gereizt darauf, wenn man ihnen Schmerzen zufügte. Selbst wenn es einen guten Grund dafür gab. Nebenbei musterte er sie von oben bis unten. „Ich werde bald verreisen. Bis dahin sollten wir uns noch um deine Garderobe kümmern. Wenn ich Besuch habe, kann ich dich wohl kaum so präsentieren.“

„Präsentieren?“ Sie gab sich absolut keine Mühe, ihren Zorn zu verbergen. „Wem?“

„Ein anderes Clan-Oberhaupt wird mich nächsten Monat besuchen. Wir haben etwas… Diplomatisches zu besprechen und nebenbei wird er neugierig sein.“

Auf einen fragenden Blick schob Anzheru die Hände in die Taschen seiner Hose. „Ich bin nicht gerade bekannt dafür, mir Sterbliche nach Hause zu holen. Es wird sich herumsprechen und er wird wissen wollen, was mich in deinem Fall umgestimmt hat. Abgesehen davon, dass dein Blut besser riecht als das der meisten Menschen, bist du schön. Das macht die Sache leicht.“ Das war längst nicht die ganze Wahrheit, aber es musste genügen. Mira errötete ein klein wenig. Und offenbar nicht nur vor Zorn. „Und dieses Siegel verhindert, dass er mich massakriert?“

Er nickte. „Es gibt ein paar Gesetze, an die wir uns alle halten müssen.“

Anzheru verzog das Gesicht. „Das explizite Gesetz, dass man die Menschen eines anderen Vampirs nicht anrühren darf, stammt aus einer wesentlich unzivilisierteren Zeit. Ich halte das für selbstverständlich.“

„Die Ansicht, dass man Menschen besitzen kann wie einen Sack Getreide, ist wohl auch schon ziemlich alt!“ Mira verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. Er zuckte mit den Schultern. „Das ändert sich unter uns Vampiren nie. Du wirst einsehen, dass es seine Vorteile hat, nur einem von uns zu gehören. Ansonsten ergeben sich nämlich Situationen wie neulich in deinem Hotelzimmer.“

„Und wann darf ich nach Hause?“ Mira war bewusst, wie überflüssig diese Frage war. Anzheru reagierte wider Erwarten jedoch nicht ungeduldig.

„Da bist du jetzt“, sagte er in einem erstaunlich sanften Tonfall. „Und du kannst mir glauben, dass du wesentlich mehr wert bist als ein Sack Getreide. Du…“

Ein elektronisches Pling unterbrach ihn. Anzheru klappte einen angeschalteten Laptop auf dem Tisch auf, der zum Glück sein eigener war. Miras Notebook lag mit ihren übrigen Sachen daneben. Nach einem kurzen Augenblick wandte er sich ihr wieder zu. „Ich habe einen Freund gebeten herzukommen. Er braucht noch bis morgen Abend.“

Anzheru bedeutete Mira wieder, ihm zu folgen. In seiner Villa gab es tatsächlich eine Küche, wofür auch immer er eine brauchte. Massive Holzschränke und eine offene Feuerstelle in der Mitte des Raumes bildeten einen harten Kontrast zu einem leise surrenden Kühlschrank und einer Mikrowelle.

„Du musst essen. Sieh dich um.“ Der Vampir lehnte sich in den Türrahmen. Mira schaute skeptisch in die Schränke hinein. Anzheru besaß außer einem schier unerschöpflichen Teevorrat immerhin eine Packung Salz, etwas Reis und einiges an Trockenfleisch. Es schmeckte fürchterlich, aber es half gegen ihren knurrenden Magen. Nachdem sie unter Anzherus Aufsicht etwas von dem gegarten Fleisch herunter gewürgt hatte, das seinem Namen alle Ehre machte, verschwand Mira kurz nach oben ins Bad. Sie musste ihr Shirt nicht ausziehen. Es genügte, den Kragen nach hinten zu schieben, damit sie das Siegel im Spiegel sehen konnte. Blutrot schimmerte ein abstraktes Auge in ihrer Haut. Über der linken Seite fand sich eine Art Flamme. Obwohl sie schon oft in sehr alten Büchern geblättert hatte, kannte Mira dieses Symbol nicht. Was auch immer es darstellen sollte, ihr wurde einen Augenblick schlecht. Dieses Zeichen bedeutete, dass sie nun Anzheru gehörte. Wie ein Stück Vieh, dem man ein Brandzeichen verpasst hatte. Auch wenn es sie angeblich vor anderen Vampiren schützte, weinte Mira ein paar stumme Tränen. Hoffentlich konnte er sie nicht hören. Erst als Anzheru nach ihr rief, verließ sie das Bad und ging langsam wieder nach unten. Seine Stimme schien aus dem Raum gegenüber dem Kaminzimmer zu kommen. Hastig trocknete Mira ihre Wangen mit ihren Ärmeln und öffnete die Tür, die einen Spalt breit offen stand. Dieser Raum war tatsächlich eine Bibliothek! Sie empfand ein wenig Trost, als sie die zahlreichen Lederbände und auch modernere Bücher erblickte. Die Bibliothek ihrer Uni war ihr absoluter Lieblingsort. Endlich gab es irgendetwas Vertrautes in diesem Haus. Anzheru stand vor einem der Regale und suchte etwas. Er wandte sich kurz zu ihr um, als Mira den Raum betrat. „Wir werden den Tag nutzen müssen, um dir genug zum Anziehen zu besorgen. Bis dahin findest du mich hier.“

Das Mädchen schien ihm gar nicht zuzuhören. Sie ging an den Bücherregalen entlang und berührte ein paar der eingestaubten Bände geradezu ehrfürchtig.

„Interessierst du dich etwa für alte Bücher?“ Es war nicht das, was Anzheru von modernen, sterblichen Frauen gehört hatte. Mira warf ihm einen glückseligen Blick zu. „Ja. Ich liebe Bücher. Egal wie alt sie sind.“

Es war das erste Mal, dass sie ihn weder zornig noch ängstlich ansah. Anzheru schöpfte ein wenig Hoffnung, dass sie ihn noch nicht endgültig abgrundtief hasste. Behutsam folgte er ihr in einigem Abstand, bis Mira vor dem Regal stehenblieb, in dem er einige aramäische und lateinische Schriften aufbewahrte.

„Wow. Wie alt sind die hier?“

„Älter als ich.“

Mira gluckste. Ihr Sarkasmus störte, aber an dieses Geräusch hingegen könnte Anzheru sich gewöhnen.

„Wie alt bist du denn?“, fragte sie erstaunlich unbefangen.

„Ich dachte immer, darüber sprechen Menschen nicht gern“, antwortete er ausweichend. Mira zuckte die Achseln und schlug einen phönizischen Geschichtsband aus dem nächsten Regal auf. „Ich bin zweiundzwanzig, falls du das wissen möchtest.“

Im Vergleich zu seinem Alter war das tatsächlich wenig, aber es deckte sich mit dem, was Anzheru bei ihrer ersten Begegnung geschätzt hatte.

„Ich wünschte, ich könnte das lesen“, sagte sie gedankenverloren.

„Da drüben stehen ein paar englische Bücher“, merkte er an.

„Französisch?“ Ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll auf.

„Ja, dort hinten.“ Er wies an die Wand gegenüber der Tür. „Ist das deine Muttersprache?“

Mira nickte und schwebte in die Richtung, in die er sie gewiesen hatte. Sie suchte sich etwas heraus und hockte sich direkt auf den Boden vor dem deckenhohen Regal, statt sich an den großen Lesetisch zu setzen. Im Stillen war Anzheru froh, dass Mira sich selbstständig beschäftigen konnte. Vermutlich lenkte es sie von ihrem Schmerz und ihrer Wut ab. Vorerst zumindest. Er selbst widmete sich wieder einem der Bände von Gregor Senorus, dem Vampir, der vor vielen Jahrhunderten die Blutarten der Menschen beschrieben hatte. Das, was die Sterblichen mittlerweile unter Blutgruppen verstanden, war nur ein Teil davon. Nach ein paar Stunden hörte er ein dumpfes Geräusch. Mira war das Buch aus den Händen geglitten und ihr Kopf war nach links gegen das Regal gesunken. Ihr ruhiger und gleichmäßiger Atem bestätigte Anzheru, dass sie schlief.

Subordination

Mira erwachte bei Tageslicht. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Offenbar lag sie auf der Rückbank eines fahrenden Autos. Anzheru saß am Steuer, sein Profil war auch von schräg hinten nicht zu verkennen. Leichter Nieselregen sammelte sich auf den Scheiben. Mira sah dahinter nur dichten Wald, der hin und wieder durch kleine Lichtungen unterbrochen war.

„Wo fahren wir hin?“, fragte sie gerade heraus.

„Nach Oslo. Dort finden wir sicher Kleidung für dich.“

„Und das Tageslicht?“

„Das macht nichts. Es soll den ganzen Tag regnen.“

Mira hatte irrwitzigerweise einen Augenblick gehofft, dass die Sonne diesen besitzergreifenden Vampir pulverisieren würde. Aber dieses Risiko würde er wohl kaum eingehen, um T-Shirts für sie einzukaufen. So viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Wo sollte sie bloß anfangen? Mira beschloss, lieber nicht mit der aller wichtigsten anzufangen. Sie wollte behutsam testen, wie viel Anzheru freiwillig preisgab.

„Holen Vampire sich öfter Menschen als… Vorrätige Nahrungsquelle nach Hause?“

Anzheru antwortete erst nach einem kurzen Zögern. „Manche von uns tun das oft, ja. Vampire meines Clans manchmal auch. Es kann durchaus passieren, dass du auf unserem Gelände auch Menschen antriffst.“

Mira erschauderte. Offenbar bemerkte er das.

„Keine Sorge, du musst dir nicht mit ansehen, was mit ihnen geschieht.“

„Wie gütig.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Werden sie auch zu Vampiren, wenn ihr sie aussaugt?“

„Nein.“ Anzheru schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Eine Verwandlung ist wesentlich aufwendiger. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viele wir sonst schon wären.“

Das beruhigte Mira tatsächlich ein wenig. Von den paar Schlucken, die er getrunken hatte, würde sie wenigsten nicht zum Monster werden.

„Und… Wie lange…“ Sie musste schwer gegen den Kloß in ihrem Hals ankämpfen. „Willst du mich behalten, bis du…“ -mich tötest- brachte sie nicht heraus. Anzheru schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten, Mira. Sei jetzt still.“

Sie parkten in einem der Parkhäuser mitten in der City. Anzheru holte eine kleine Dose aus dem Handschuhfach. Darin lagen dunkle Kontaktlinsen. Mira sah ihn verwundert an, während er sie einsetzte.

„Mir ist durchaus bewusst, welche Wirkung meine Augen auf Sterbliche haben. Wir achten darauf, nicht zu sehr aufzufallen.“

Damit meinte Anzheru wohl alle Vampire. Außerdem gab er sich sichtlich Mühe, sich so langsam wie ein Mensch zu bewegen. Mira wurde schwindlig bei dem Gedanken, mit ihm bummeln zu gehen. Es war so grotesk normal. Benommen ging sie hinter dem Vampir her.

„Möchtest du zuerst etwas essen?“, fragte er. Mira nickte stumm. Sie verließen gerade das Parkhaus.

„Dann hör erst einmal auf, die Fäuste zu ballen. Du wirkst ziemlich verkrampft.“

Das würde sich so schnell nicht ändern. Missmutig verschränkte Mira stattdessen die Arme vor der Brust. Anzheru atmete hörbar aus, als er stehen blieb. Offenbar strapazierte sie bereits jetzt seine Geduld. Sanft aber bestimmt zog der Vampir ihre Arme auseinander. „Solange wir hier in der Stadt sind, wirst du dich vollkommen normal verhalten und mich weder wütend noch abweisend ansehen. Hast du das verstanden?“

„Soll ich etwa so tun, als wärst du mein Freund?“, erwiderte Mira sarkastisch.

„Das ist ein akzeptabler Vorschlag. Ein Paar beim Einkauf ist eine gute Tarnung.“ Der leicht gereizte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Anzheru legte den linken Arm um ihre Taille und lehnte sich so weit vor, dass er ihr direkt ins Ohr flüstern konnte. „Du wirst nicht einmal daran denken, wegzulaufen. Schließlich willst du doch nicht, dass ich ein Blutbad unter den Menschen anrichte, die dann sehen, wie ich dich wieder einfange.“

Da hatte er allerdings Recht. Mira atmete durch, um sich zu beruhigen. Neben seiner Drohung machte ihr auch seine körperliche Nähe zu schaffen.

„Was sonst?“, wisperte sie, um noch nicht klein bei zu geben. Anzheru überlegte kurz. „Die Strafe, die ein Vampir für Ungehorsam erhält, würdest du nicht überleben. Also werde ich mir stattdessen irgendeine Demütigung ausdenken, die dich zur Vernunft bringt.“ Er umfasste ihre Hand wie eine Eisenfessel. „Und gib dir ein bisschen Mühe beim Schauspielern. Soweit ich es beurteilen kann, gehen menschliche Frauen gerne einkaufen.“

„Ich nicht.“

Der Vampir ignorierte ihren Einwand, was wohl zur Gewohnheit wurde. In einem Café bekam Mira ein sehr reichhaltiges Frühstück, während er eine Tasse Kaffee verkommen ließ. Dann ging es weiter in die Einkaufsmeile von Oslo. Dafür dass Anzheru selbst keine menschlichen Bedürfnisse hatte, dachte er wirklich an alles, sogar Socken. Eine gewisse Fürsorglichkeit konnte Mira ihm daher leider nicht absprechen. In der Abteilung für Unterwäsche versuchte sie verzweifelt, Anzheru wegzuschicken. „Ich komme schon allein zurecht. Oder sind hier etwa irgendwo Vampire, die mich angreifen könnten?“

„Nein, das nicht“, gab er ungerührt zurück. „Aber wenn ich mit aussuche, kommen wir schneller voran.“

Dass Mira am liebsten im Erdboden versunken wäre, während er ihr einen Bügel nach dem anderen reichte, interessierte ihn nicht. In dieser Angelegenheit war der Vampir völlig schmerzfrei. Wenigstens bestand Anzheru nicht auch noch darauf, dass sie ihm die Dessous an sich zeigte. Dieses kleine bisschen Distanz ließ er ihr, ohne dass sie darum betteln musste. Nachdem sie die Unterwäscheabteilung hinter sich gelassen hatten, entspannte Mira sich wieder ein wenig. Hier unter all den Menschen tat Anzheru nichts Schlimmeres, als sie an der Hand weiter zu ziehen. Nebenbei schien Geld für ihn keine Rolle zu spielen. Mira befürchtete, dass sie an diesem einen Tag mehr einkaufen würden, als sie selbst überhaupt besaß. Wobei das auch nicht schwierig war, ihre eigene Garderobe in Brüssel füllte kaum zwei Waschmaschinen. Er reichte ihr gerade einen Pullover in die Umkleidekabine, der die Dicke eines Schaffells hatte. „Mir fehlt das Empfinden dafür, wann die Kälte in meinem Haus für dich unangenehm wird. Brauchst du so etwas?“

Mira nickte eifrig. Seit zwei Nächten fror sie jämmerlich in den Räumen der Villa, sie hatte jedoch nicht ein Wort darüber verloren, um ein kleines bisschen Stolz zu wahren. Sie streifte den Wollpullover über und zupfte ihn zurecht. Anzheru musterte sie zufrieden.

„Gut, damit wirst du wohl eine Weile hinkommen. Wir bringen das jetzt zum Auto.“ Er wies nachlässig auf die Einkaufstüten. „Es fehlen nur noch ein paar Kleider.“

Mira schluckte. „Wozu das denn?“

„Glaubst du ernsthaft, du darfst in Jeans und Pullover herumlaufen, wenn ich hohen Besuch erwarte?“, fragte er, als ob die Antwort ganz offensichtlich auf der Hand läge. Kühle Finger schlossen sich um Miras Hand. Wie immer wenn sie von Geschäft zu Geschäft gegangen waren. Während sie zum Parkhaus zurückgingen, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihn davon abbringen konnte. Es gab nichts, worin Mira sich so unwohl fühlte wie in Kleidern. Sein schwarzes Auto kam viel zu schnell näher. Zufällig fiel ihr Blick auf das Emblem der Automarke, als sie vor dem Kofferraum standen. Vier Ringe griffen auf gerader Linie ineinander.

„Das ist ein Audi, oder?“, fragte sie gedankenverloren.

„Richtig.“ Anzheru verstaute die Taschen, als wäre es das Normalste der Welt, dass ein Vampir eine Sterbliche einkleidete.

„Sind Autos auch unter Vampiren Statussymbole?“ Es war ein plumper Versuch, Zeit zu schinden, aber Anzheru ging auf die Frage ein.

„Nein, ich habe diesen Wagen, weil er sich gut fährt, nicht weil deutsche Autos weltweit beliebt sind.“

„Ihre Autos, ja“, sagte Mira trocken. Anzheru schloss den Kofferraum ab und wollte sich offensichtlich wieder auf den Weg machen. Sie blieb jedoch stehen und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden.

„Feindseligkeiten unter Nationalitäten spielen unter uns ebenfalls keine große Rolle. Ab seiner Verwandlung zählt für einen Vampir nur noch, welchem Clan er angehört. Selbst wenn es sich um Franzosen und Deutsche oder Nord- und Südkoreaner handelt. Komm jetzt.“

„Schmeckt Blut immer gleich? Egal woher ein Mensch kommt?“ Sie senkte die Stimme ein wenig, da sich ihnen zwei plaudernde Frauen mit ihren Taschen näherten.

„Nein, es hängt ein wenig von der Ernährung ab.“ Anzherus Augen wurden schmaler.

„Was darf ich denn nicht essen, damit du mein Blut nicht eklig findest?“

Der Vampir verzog keine Miene. „Versuch nicht, mich mit so einem Unsinn zu überlisten.“

Mira zuckte mit den Schultern. Einen Versuch war es ihr wert gewesen, auch wenn er sie sofort durchschaut hatte. In der Gewalt eines Vampirs griff man eben nach jedem Strohhalm. Mit einem entnervten Schnauben wollte Anzheru wieder ihre Hand nehmen, doch sie entfernte sich schnell genug aus seiner Reichweite und verschränkte die Finger hinter dem Rücken. Das war unklug gewesen, denn er legte beide Arme um sie und zog ihre Finger wieder auseinander. „Du schaffst das sowieso nicht. Mach dir keine Hoffnungen, dass irgendein Vampir dir widerstehen könnte, wenn du nur zur freien Verfügung stehen würdest.“

Etwas Ähnliches hatte der Vampir vor ihrer Hotelzimmertür auch gesagt. Mira fragte, woran das lag.

„Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Wir müssen jetzt weiter, ich will heute Abend zurück sein.“

„Ich hasse Kleider.“ Etwas Besseres war ihr nicht eingefallen.

„Das kümmert mich nicht.“ Mit diesen Worten zerrte er sie aus dem Parkhaus hinaus.

Das Geschäft, das er ausgesucht hatte, führte alles von Trachten bis hin zu modernen Abendkleidern in jeder erdenklichen Länge und Farbe. Anzheru bat eine der Verkäuferinnen, eine Vorauswahl zu treffen. Mira streifte auch selbst ein wenig durch die unzähligen Gänge voller Designerroben. Das Geschäft war gut besucht. Eine ganze Gruppe bildhübscher Norwegerinnen schien auf der Suche nach Brautjungfernkleidern zu sein. Andere schleiften ihre gestresst wirkenden Männer über die Etagen des Hauses. Mira musste schmunzeln, als sie einen Mann entdeckte, der neben einer der zahlreichen Umkleidekabinen eingenickt war. Sie betrat einen Gang, in dem auch Kleider in ihrem Lieblingsblauton hingen. Als sie mit Bedauern feststellte, dass diese zu kurz waren, lief ihr plötzlich ein eiskalter Schauer über den Rücken. Mira wandte den Blick nach links. Ein Mann stand am Ende des Ganges und starrte sie durchdringend an. Er war klein und hager, aber mit Sicherheit wahnsinnig stark. Mit Entsetzen sah Mira, dass sich seine Augen blau färbten. Und sie konnte sich nicht rühren. An diesem Vampir war etwas zutiefst Beängstigendes. Er würde sie angreifen, egal wie viele Menschen sie umgaben. Ganz langsam bewegte er sich auf sie zu. Endlich legte sich ein vertrauter Arm von hinten um ihre Taille. Mira konnte Anzherus Gesicht nicht sehen, doch die Drohung darin war spürbar. Er schob die Schulter wie einen Schild vor sie. Der hagere Vampir, dessen Adern unter seiner Haut durchschimmerten, machte sichtlich erbost ein paar Schritte rückwärts und wandte sich ab. Anzheru verharrte noch in dieser Haltung, bis der fremde Vampir aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Mira atmete tief durch, als sein Arm sich nicht mehr ganz so fest um ihre Taille schlang. Er schien seinen Teil des Bundes, den er ihr aufgezwungen hatte, sehr ernst zu nehmen. Zitternd wandte Mira sich um und klammerte sich in seine Jacke.

„Keine Sorge, er hat das Gebäude verlassen“, sagte Anzheru ruhig.

„Ich ziehe deines Gleichen wirklich an wie das Licht die Motten. Sechs Vampire in drei Tagen sind mir definitiv zu viele. Oder war das wieder einer aus dem Hotel?“

„Nein, James und die anderen haben Oslo verlassen.“

Mira legte den Kopf ein wenig zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Warum bist du dir da so sicher?“

„Ich habe meine Augen und Ohren überall.“ Er hielt sie noch immer im Arm. Dieses Mal wehrte sie sich nicht dagegen. So groß die Angst auch war, dass er sie wieder beißen würde oder was auch immer Anzheru von ihr wollte, im Augenblick beschützte er sie. Vielleicht war Mira nicht an den allerschlimmsten Vampir geraten. Kleider anzuprobieren war nach diesem Erlebnis gar nicht mehr so schlimm. Sie spielte brav mit, obwohl einige der Kleider viel zu kurz für ihren Geschmack waren. Manche der Frauen, die vorbei gingen, musterten Anzheru und dann Mira mit unverhohlenem Neid. Sie schienen überzeugt, dass der gutaussehende, rothaarige Mann tatsächlich ihr Freund oder sogar noch mehr war. Es machte die Situation nur grotesker. Anzheru selbst schien sich seiner Anziehungskraft nicht bewusst zu sein. Zumindest schenkte er den interessierten Blicken keine Beachtung. Er suchte vier Kleider aus, darunter ein Blaues -in Miras Lieblingsblau- und sie machten sich endlich auf den Rückweg, jedoch nicht ohne noch einige Lebensmittel für die folgenden Tage mitzunehmen. Mira war ziemlich erschöpft, doch an Schlaf war noch nicht zu denken.

„Also warum finden mich die Vampire plötzlich alle so anziehend? Zu Hause in Brüssel ist mir das nie passiert.“ Und bestimmt gab es Vampire in Belgien. Anzheru antwortete eine ganze Weile nicht.

„Es gibt Menschen, die eine besondere… Gabe besitzen. Wie sie zu Stande kommt, wissen wir nicht genau, aber in dir ist sie jetzt erwacht. Genauer gesagt an dem Nachmittag bevor ich dich gefunden habe.“ Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Es scheint zufällig zu sein, in welchem Alter die Gabe erwacht. Der Jüngste, von dem ich weiß, war gerade einmal sieben.“

Mira erschauderte bei der Vorstellung, dass eine Horde hungriger Vampire über einen kleinen Jungen herfiel. „Und worin besteht diese Gabe?“

„Zu wärmen.“

Ihr verständnisloser Blick brachte Anzheru zum Schmunzeln. „Normalerweise kühlt Menschenblut im Körper eines Vampirs sehr schnell ab.“

„Aber meins nicht?“

„Genau. Um ehrlich zu sein, war ich sehr überrascht, wie anders sich das anfühlt. Es ist das erste Mal, dass ich von einem solchen Menschen getrunken habe.“

Er hatte gehustet und sich den Brustkorb gehalten. Ein seltsamer Satz schwirrte Mira durch den Kopf. „Das meintest du mit Ich muss etwas überprüfen?“

Anzheru nickte. Auch wenn es im ersten Moment wohl unangenehm gewesen war, musste die Wärme den Vampir faszinieren. Das verrieten sein Tonfall und seine Mimik. Also hatte Mira sich doch nicht eingebildet, dass er sich weniger kalt angefühlt hatte, als er am Vorabend auf ihrem Rücken gesessen hatte. Sie senkte den Blick auf das Armaturenbrett. „Wenn mein Blut für dich so großartig ist, wie kommt es dann, dass du dich beherrschen kannst?“

„Ich sagte doch, ich habe nicht die Absicht, dich zu töten“, erwiderte er abweisend. Mira schwieg eine Weile. Diese Antwort gab keinen Aufschluss über Anzherus Motive, aber offenbar wollte er das nicht erklären. Es gab noch etwas anderes, das sie brennend interessierte. „Wieso kann ich mich nicht bewegen, wenn ein Vampir mich anstarrt?“

„Du musst ihm schon in die Augen sehen, sonst funktioniert es nicht. Wir sind in der Lage, einen Menschen zu lähmen oder sogar ganz außer Gefecht zu setzen, wie du weißt. Ein etwas überflüssiger Vorteil bei der Jagd, aber recht nützlich, wenn man störrische Mädchen zum Schutz in Gewahrsam nimmt.“

Mira verzog das Gesicht. „Und das können alle?“

„Ja, weibliche Vampire sind darin sogar noch wesentlich talentierter. Sie bekommen von Menschen so ziemlich alles, was sie wollen.“ Diese Bemerkung klang ein wenig nach Bedauern.

„Nur von Menschen?“, bohrte Mira nach. Anzheru warf ihr einen warnenden Blick zu. „Vielleicht gibt es ein paar Vampirinnen, die mächtig genug sind, um ihres Gleichen zu beeinflussen.“

„Dich auch?“ Aus allem, was sie bisher gesehen hatte, schloss Mira, dass Anzheru ein sehr mächtiger Vampir war. Die Vorstellung, dass ihn ein zartes, elfenhaftes Mädchen mit eisblauen Augen nach Lust und Laune um den Finger wickeln konnte, war recht amüsant.

„Ich hatte vor, dir zu erlauben, dich frei im Haus zu bewegen, solange ich verreist bin. Möchtest du lieber auf den Dachboden gesperrt werden?“

„Also ja.“ Mira unterdrückte ein Lachen. Eine winzige Schwäche gefunden zu haben, war ihr seinen Zorn wert.

„Überspann den Bogen nicht“, warnte Anzheru sie mit einem sachten Kopfschütteln.

„Woher soll ich wissen, wo die Grenzen deiner Geduld sind, wenn ich sie nicht ausreize?“, gab sie ironisch zurück. Der Vampir schwieg daraufhin. Als Mira langsam die Augen zufielen, machte sie sich allerdings keine großen Sorgen, auf dem finsteren Dachboden aufzuwachen.

Später wachte Mira davon auf, dass der Wagen hielt. Sie standen vor einem schmiedeeisernen Tor. Anzheru stieg aus und unterhielt sich leise mit zwei Frauen, die offenbar Wache standen. Er nickte, dann kehrte er zum Wagen zurück. Im Vorbeifahren bemerkte Mira, dass die beiden Wachen sie teils neugierig teils argwöhnisch auf dem Beifahrersitz musterten. Anzheru hatte wohl nicht gelogen, als er gesagt hatte, er habe zuvor nie Menschen-Mädchen hergebracht. Mira hatte nun zum ersten Mal die Gelegenheit, sich auf dem Gelände des Clans umzusehen. Im Zentrum lag ein großes Gebäude. Es hatte keine Burgzinnen oder ähnliches und trotzdem mutete es wie eine Festung an. Zu beiden Seiten schlossen sich wesentlich kleinere Häuser an. Einige Autos waren davor geparkt. Anzheru stellte den Audi neben einem der riesigen Jeeps ab.

„Du wartest“, sagte er knapp, bevor er wieder ausstieg. Mira hatte zwar noch keine Anstalten gemacht, sich abzuschnallen, aber damit stand es fest. Seinem Clan wollte er sie nicht präsentieren. Während Anzheru im Hauptquartier seines Clans beschäftigt war, hatte Mira Zeit nachzudenken. Was konnte dieser Vampir noch von ihr wollen außer ihrem Blut? Irgendeinen Grund musste es geben, sonst wäre sie längst nicht mehr am Leben. Mira fröstelte. Wenn er ihr nicht mehr verriet, vielleicht gab es Hinweise in seinen Büchern? Wonach musste sie suchen? Anzheru kam zurück. Der Weg zu seiner Villa war weiter als erwartet. Warum er wohl die Nähe seiner Vampire mied? Er half Mira, die Einkaufstüten nach oben ins Gästezimmer zu bringen.

„Dusch dich ab und zieh dich um, mein alter Freund wird bald eintreffen“, sagte Anzheru im mittlerweile gewohnten Befehlston.

„Und was soll ich anziehen, my Lord?“, fragte Mira ironisch.

„In diesem Fall was du willst.“ Er packte ihr Kinn. „Keine bissigen Scherze in seiner Gegenwart, verstanden? Noch ein einziger Fehltritt und ich zeige dir die Grenzen meiner Geduld.“

Das war deutlich. Mira ließ sich dieses Mal trotzdem Zeit beim Duschen. Sollte er doch kommen und sie nackt nach unten schleifen.

Derweil öffnete Anzheru die Haustür. Konstantin stand wie erwartet bereits davor und schaute ihn erwartungsvoll an. „Da bin ich aber mal gespannt, warum du mich aus Spanien herrufst.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Konstantin. Komm doch herein.“

Er entschuldigte sich mit einem schiefen Lächeln und trat ein. Im Kaminzimmer setzten sie sich auf die dunkelroten Sessel.

„Deine Leute am Tor haben allen Ernstes erzählt, dass du dir ein Mädchen gefangen und hergebracht hast. Was ist passiert? Du verabscheust diese Angewohnheit der Alten.“ Konstantin stützte die Ellbogen auf die Knie und musterte ihn etwas ungläubig.

Anzheru nickte langsam. „Es gibt einen guten Grund dafür. Habe ich dein Vertrauen?“

„Uneingeschränkt.“

„Deine Geduld muss ich leider auch beanspruchen. Ich werde nach Aberdeen fliegen und die Bibliothek durchsuchen. In meinen Büchern finde ich nicht genug über die Begabten.“ Anzheru presste kurz die Lippen zusammen. „Ich habe nur ein bisschen von ihr getrunken. Es weitet sich noch nicht bis in die Extremitäten aus, aber ich habe das Gefühl, ich könnte mühelos einen Eisblock in meiner Brust schmelzen.“

Konstantin erwiderte nichts. Er drückte gespannt die Fingerkuppen seiner Hände aneinander.

„Ich schätze, ich werde drei Nächte fort sein. Passt du solange für mich auf sie auf? Sie ist ein bisschen… schwierig“, fuhr Anzheru fort.

„Ja, natürlich.“

Damit war das wichtigste geklärt. Anzheru beschloss, das Kaminfeuer zu entzünden. Konstantin streckte die Beine aus. „Wie steht es mit unseren Nachbarn? Hattet ihr viel Ärger in letzter Zeit?“

„Allerdings. James, Hikaru, Erik und sein merkwürdiger Bruder haben das Mädchen vor mir entdeckt.“

„Hast du sie getötet?“, fragte Konstantin gespannt.

„Nein, sie haben sich zurückgezogen. Dafür ist Kyrill in Oslo aufgetaucht. Das macht mir am meisten Sorgen.“ Anzheru setzte sich, während die ersten kleinen Flammen ein leises Knacken im Kamin verursachten. Sein alter Freund zog die Brauen hoch. „Der Abtrünnige?“

„Eben jener.“ Er nickte bedächtig. Hin und wieder gab es Einzelgänger unter den Vampiren, daran war noch nichts Verwerfliches. Über Kyrill wusste Anzheru allerdings, dass er berüchtigt dafür war, Menschen wahllos abzuschlachten. Angeblich war er wahnsinnig und daher extrem gefährlich. Niemand hielt sich freiwillig in Kyrills Nähe auf. Irgendwann hatte sich der Begriff des Abtrünnigen zu seinem Eigennamen entwickelt.

„Sie muss sehr reizvoll sein, wenn Kyrill es wagt, sich dir zu zeigen“, merkte Konstantin an.

„Ja.“ Anzheru wies zur Tür. Mira war endlich nach unten gekommen und lugte zurückhaltend um den Türrahmen.

„Komm her. Stell dich Konstantin vor“, forderte er sie auf. Das Mädchen kam langsam auf sie zu und beäugte den ihr fremden Vampir argwöhnisch.

„Jetzt verstehe ich.“ Sein alter Freund warf ihr einen schon fast sehnsüchtigen Blick zu. „Kein Wunder.“

Mira blieb unvermittelt stehen. Offenbar war sie kurz davor, die Flucht zu ergreifen.

„Keine Angst, er ist der Letzte, der die Regeln verletzt. Jetzt komm her, Mira.“ Anzheru streckte ihr eine Hand entgegen.

Nur widerwillig folgte Mira seiner Aufforderung. Konstantin wirkte etwas mitgenommen. Seine Kleidung war abgetragen und seine kurzen, blonden Haare standen in alle Richtungen ab. Seine Augen waren grün, offenbar würde er im Moment nicht auf sie losgehen. Sein Gesicht wirkte weicher als das von Anzheru. Er musste noch sehr jung gewesen sein, als er verwandelt worden war. Jünger als Mira jetzt mit ihren zweiundzwanzig Jahren.

„Ich reise noch diese Nacht ab. Solange ich weg bin, bist du ihm untergeordnet. Das bedeutet, du gehorchst ihm.“ Anzheru sah sie durchdringend an. „Und wenn er Fragen stellt, antwortest du selbstverständlich ehrlich. Hast du das verstanden?“

Mira verzog das Gesicht. Wie vielen Männern musste sie sich denn noch unterordnen? Bevor sie etwas Zorniges sagen konnte, hob Anzheru die Hand. „Denk darüber nach, was du jetzt sagst.“

Er stand auf und begann, sie zu umrunden. Mira hielt instinktiv still. Sie würde sich nie daran gewöhnen, dass seine Schritte absolut lautlos waren. Anzheru blieb genau zwischen ihr und Konstantin stehen.

„Hast du das verstanden?“, wiederholte er leise drohend. Der Vampir biss unvermittelt zu und schloss die Wunde sofort wieder. Der plötzliche, stechende Schmerz an ihrem Hals ließ Mira unwillkürlich aufstöhnen.

„Ja“, presste sie widerwillig hervor.

„Gut, jetzt darfst du gehen“, sagte Anzheru kühl. Mira verließ hastig das Kaminzimmer und verschwand in die Bibliothek. Der Blutverlust war nicht der Rede wert, ihre Ohnmacht gegenüber diesem Vampir war umso schlimmer zu ertragen. Am liebsten hätte sie ihm für diesen Biss den Kiefer gebrochen. Aber für den bloßen Versuch hätte Anzheru sie wahrscheinlich vor Konstantins Augen verprügelt. Warum war er im einen Moment der vertrauenerweckende Beschützer und im nächsten wieder ein blutgieriges Monster?

„Sie ist widerspenstig, oder?“

„Du hast keine Ahnung. Wenn andere längst um Gnade flehen würden, wird sie erst wütend.“ Anzheru rieb sich die Stirn.

„Lass dir Zeit in Schottland. Ich bin gespannt.“ Konstantins Interesse war geweckt, so viel stand fest.

„Lass sie nicht einmal bis zur Mauer kommen, falls sie wegläuft“, ordnete Anzheru ein wenig müde an.

„Soll ich sie gegebenenfalls bestrafen?“

„Nein. Das mache ich selbst.“

Konstantin nickte.

„Und kein Wort über die Begabten oder ihr Potenzial.“


Clan

Die erste Nacht über gelang es Mira weitgehend, Konstantin aus dem Weg zu gehen. Er ließ sie in Frieden lesen. Sie hatte sogar ihre Habseligkeiten zurückerhalten, außer Laptop und Handy natürlich. Nicht dass sie auf die Idee kam, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Gegen drei Uhr morgens legte sie den schweren Lederband über altgriechische Mythen beiseite und ging kurz nach oben ins Bad. Was sich hinter den übrigen Türen im Obergeschoss verbarg, hatte Anzheru ihr noch nicht gezeigt. Da ihr Bewacher scheinbar reglos unten im Kaminzimmer saß, beschloss Mira, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Direkt neben ihrem Gästezimmer befand sich eine ziemlich große Abstellkammer. Neben ein paar alten Truhen lagerten hier auch größere Gegenstände, die mit weißen Laken abgedeckt waren. Unter dem ersten befand sich ein altertümlicher Sessel, der wenig interessant erschien. Der nächste Gegenstand hatte in etwa die Form einer kopflosen Büste. War es vielleicht eine verschollene Statue? Als Mira vorsichtig das Laken anhob, rutschte es sofort von den Schultern der Büste und fiel zu Boden. Darunter befand sich keine Marmorfigur, sondern ein Kettenhemd auf einer stabilen Halterung. Es musste sehr alt sein, es rostete. Vom zugehörigen Waffenrock war nicht viel mehr als ein paar Fetzen übrig. Auf der Brust prangte ein seltsames Siegel, von dem ein Stück fehlte. In seinem Zentrum lag offenbar ein ähnliches Auge, wie Anzheru Mira in den Nacken eingeritzt hatte. Es gingen mehrere Zacken davon aus, an deren Spitzen sich Buchstaben befanden. Ein C und ein A waren erkennbar, der Rest war herausgerissen worden. Vorsichtig zog Mira den zerfetzten Rand des Stoffes mit den Fingerspitzen nach. Dieses Kettenhemd gehörte mit Sicherheit Anzheru. In wessen Heer er wohl einmal gedient hatte?

„Was tust du da?“

Konstantins Stimme riss Mira aus ihren Gedanken. Er war lautlos im Türrahmen erschienen und musterte sie mit strengem Blick.

„Nichts, ich war nur neugierig“, sagte sie ausweichend. Der blonde Vampir durchquerte den Raum und deckte das Kettenhemd wieder sorgfältig mit dem weißen Laken ab. „Anzheru redet nicht über seine Vergangenheit, was einem Verbot gleichkommt, darin herumzustochern. Ist das klar?“

Mira nickte verunsichert.

„Da du nichts davon wusstest, werde ich darüber hinweg sehen. Geh jetzt wieder nach unten und betritt diesen Raum nie wieder allein.“

„Ja.“

Im Stillen war Mira darüber erstaunt, wie folgsam Konstantin die Geheimnisse seines Clan-Oberhaupts respektierte, ohne selbst neugierig zu werden. Wie hoch mochten Anzherus Strafen für Neugier sein? Oder wurde er tatsächlich so hoch geachtet, dass er nur etwas zu sagen brauchte und wirklich alle hielten sich bedingungslos daran?

Als Mira am zweiten Abend aufstand, hörte sie leise Stimmen im Erdgeschoss der Villa. Konstantin hatte den Fernseher eingeschaltet. Sie ging wieder in die Bibliothek und suchte etwas lustlos nach einem interessanten Buch. Wie es aussah, würde sie noch eine ganze Weile Zeit haben, alles in englischer und französischer Sprache zu lesen, was Anzheru besaß. Vielleicht würde er ihr ja sogar irgendwann eine dieser altertümlichen Sprachen beibringen, wenn sie nur brav genug war. Wobei… Das Fenster der Bibliothek war nicht vergittert und sie befanden sich im Erdgeschoss. Wenn Konstantin nur lange genug abgelenkt war… Mira stand so leise wie möglich auf. Noch so eine Gelegenheit würde sie sicher nicht bekommen. Hastig öffnete sie das Fenster und schlüpfte nach draußen. Es war finster und bitter kalt. So schnell sie konnte, lief Mira am Gebäude vorbei und auf den Wald zu. Nach wenigen Sekunden erreichte sie die dichtstehenden Baumstämme. Tiefhängende Zweige und Sträucher rissen an ihren Kleidern. Plötzlich hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Das Unterholz wurde immer dichter. Es war so finster, dass sie die Wurzeln der Bäume nicht sehen konnte. Mira geriet ins Straucheln, ihr linker Fuß verfing sich in einer knorrigen Eichenwurzel und sie stürzte.

„Nicht dass du eine Chance gehabt hättest.“ Konstantin stand plötzlich über ihr und grinste selbstgefällig. Er packte ihren Oberarm, um sie auf die Füße zu ziehen. „Wir können dich riechen. Und davon abgesehen hat Anzheru dein Blut in sich, er würde dich sogar noch in fünfzig Kilometern Entfernung aufspüren.“

Mira fluchte im Stillen. Ihre Situation war noch aussichtsloser, als sie gedacht hatte. Es war sinnlos, sich gegen Konstantins eisernen Griff zu wehren, aber sie versuchte es trotzdem. Er schien ihr allerdings nicht ernsthaft böse zu sein. Er zerrte sie zurück in die Villa und setzte sie im Bad ab, um sich den Dreck aus dem Gesicht zu waschen. Danach musste Mira mit ins Kaminzimmer und sich neben ihn auf das Sofa setzen. Der Fernseher lief noch. Sie schaute ihn eine Weile von der Seite an. Konstantin rührte sich nicht.

„Das war alles?“, fragte Mira ungläubig.

„Ja.“ Der Vampir grinste. „Natürlich werde ich es Anzheru berichten. Es ist seine Sache, ob er dich bestraft.“

Sie seufzte verärgert. Ob ihr Bewacher eine Ahnung hatte, wie fürchterlich es war, einem so viel stärkeren Wesen ausgeliefert zu sein? Konstantin wechselte den Sender. Es lief tatsächlich ein Film über Vampire. Mira folgte dem Gemetzel nur mit mäßigem Interesse.

„Ist das euer Bild von uns?“ Er wirkte plötzlich ernsthaft interessiert. Mira warf ihm einen unsicheren Blick zu. Wollte er die Wahrheit hören?

„Naja… Es gibt einen ganzen Haufen Romane und Filme über Vampire. Es ist so ziemlich alles von blutrünstigen Monstern bis hin zu ritterlichen, wunderschönen Liebhabern dabei, die auch ja nicht töten.“

Konstantin gluckste. „Liebhaber?“

„Ja, es gab da mal so eine Buch- und Filmreihe, in der sich ein Mädchen unsterblich in einen Vampir namens Edward verliebt, obwohl sie weiß, was er ist. Dummerweise mag sie auch einen Werwolf und es gibt eine Menge Ärger, aber am Ende ist wirklich alles wieder in Butter.“

Der Vampir lachte laut auf. Es war das angenehmste Geräusch, das Mira seit Tagen gehört hatte.

„Ich erinnere mich, das war in der Menschenwelt so lange allgegenwärtig, dass selbst wir es mitbekommen haben.“ Er lachte wieder. „Wir haben einen Edward im Clan. Erwähne das bloß nie in seiner Gegenwart. Er ist immer noch sauer, weil wir ihn damit aufgezogen haben, dass er in der Sonne glitzern könnte.“

Mira musste ebenfalls grinsen. Hatten Vampire etwa doch Humor? Nur aus Spaß fragte sie, was tatsächlich passierte, wenn sie in die Sonne traten.

„Wir zerfallen nicht sofort zu Staub, aber es ist nicht gerade angenehm. Irgendwann verbrennen wir langsam. Es kommt darauf an, wie alt und wie stark man ist. Gibt es noch mehr lustige Mythen?“

Mira zuckte die Achseln. Es erschien lächerlich nach Knoblauch zu fragen. „Wie reagiert ihr auf Silber?“

„Gar nicht“, brummte Konstantin belustigt. „Ein Kreuz wird dir auch nicht helfen.“

„Zu dumm, ich hatte schon angefangen, eins zu schnitzen“, erwiderte Mira trocken. Darauf wäre sie gar nicht gekommen, wenn er es nicht angesprochen hätte.

„Da unser Ursprung menschlich war, scheiden religiöse Symbole als Waffen aus.“ Ihr Bewacher gab ihr einen Klaps auf die Schulter. Mira wurde hellhörig. „Menschlicher Ursprung?“

Konstantin schüttelte den Kopf. „Mehr weiß ich auch nicht. Hast du Familie?“

„Nein. Zumindest keine Blutsverwandten.“

Tatsächlich schaute er sie etwas mitleidig an. Mira tat es mit einem Achselzucken ab. „Ich dachte, Vampire atmen nicht.“

„Wir müssen es nicht, aber es ist physikalisch unmöglich zu riechen und zu sprechen, wenn man die Luft in den Atemwegen nicht bewegt.“

Das war einleuchtend. „Und wie könnt ihr sonst noch sterben?“

„Köpfen hat noch keiner überlebt“, sagte er trocken.

Mira schluckte. „Was hat es mit…“

„Jetzt darf ich mal wieder etwas fragen, Liebes.“ Konstantin stützte den Kopf auf. „Sucht bald jemand nach dir?“

Mira biss die Zähne zusammen. Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Wenn der Universität auffiel, dass sie ihren Semesterbeitrag nicht gezahlt hatte, würde sie automatisch exmatrikuliert werden. Und Ester merkte vielleicht irgendwann, dass Mira sich überhaupt nicht mehr meldete. Aber… Vermissen würde sie wohl einzig und allein Jacky, ihre Partnerin für Hausarbeiten über Shakespeare und Sartre.

„Ehrliche Antwort“, erinnerte er sie. Besonders geduldig war Konstantin jedenfalls auch nicht.

„Es gibt da eine Bekannte an der Uni…“, begann Mira zögerlich.

„Eine? Das ist aber wenig. Ich dachte immer, Menschen wären geselliger.“

„Ja, die meisten. Ich…“

„Ja?“, bohrte er nach.

„In meiner Nähe ist den Leuten ständig etwas passiert. Wenn ich mich fernhalte und keine Freundschaften eingehe, passiert weniger bis nichts.“ Warum sie ausgerechnet mit diesem Vampir darüber redete, verstand Mira selbst nicht. Aber irgendwie tat es gut, diesen Gedanken zum ersten Mal in ihrem Leben laut auszusprechen.

„Ich verstehe…“, sagte Konstantin schlicht. „Du hast dich also abgeschottet?“

Mira nickte. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Anzheru sich das Genick bricht und du vor ein Auto läufst.“

Der Vampir lachte, dann schenkte er ihr ein freundliches, aufmunterndes Lächeln. „Glaub mir, du bist nicht der einzige Mensch, der Unglück zu bringen scheint. Und wir sind dagegen immun. Keine Chance, uns loszuwerden.“

„Wenn du das sagst.“ Mira fühlte sich zunehmend wohler mit ihrem Bewacher. Konstantin wirkte lässig und auf seine Art sogar ungefährlich.

„Jetzt bin ich wieder dran.“ Sie straffte ihre Rückenmuskulatur etwas. „Was hat es eigentlich mit euren Augen auf sich? Jetzt sind deine ja normal, aber wenn…“ Sie zögerte.

„Du hast bei James und den anderen gesehen, dass sie sich verwandeln“, stellte er fest. „Es war ihre Reaktion auf den Geruch von frischem Blut. Wenn man den Durst nicht unter Kontrolle hat, verwandelt man sich sofort.“

„Dann tut ihr das also alle, bevor ihr… trinkt?“

„Ja und wenn wir kämpfen.“ In einer geschmeidigen Bewegung legte Konstantin sich auf den Rücken, sodass sein Kopf neben Miras Schoß lag. Seine schönen, grünen Augen nahmen das stechende, angsteinflößende Blau an, das Mira nur zu gut kannte. Sie zog die Knie an und legte das Kinn darauf ab. „Warum sind Anzherus Augen immer eisblau?“

„Daran erkennt man die Geborenen“, lautete die Antwort. Ein paar Atemzüge lang schwiegen sie beide. Mira standen die Nackenhaare zu Berge. „Vampire können geboren werden?“

„Ja, es ist aber eine große Seltenheit.“ Er setzte sich wieder auf. „Ich kann verstehen, dass Anzheru für dich sogar noch unheimlicher ist als andere Vampire. Seine Augen warnen dich nicht vor seinem Durst.“

Er tätschelte tröstend ihre Schulter. „Das hat mir auch Angst gemacht, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Ich wusste nicht, ob er mich im nächsten Moment angreift oder nicht. Und er ist definitiv stärker als ich.“

Mira erwiderte nichts. Sie musste akzeptieren, dass der Vampir, der sie zu seiner Sklavin gemacht hatte, selbst nie ein Mensch gewesen war. Vermutlich waren Vampirkinder schon so stark wie zehn Männer. Anzheru konnte wohl kaum wissen, wie es sich anfühlte, zerbrechlich zu sein.

„Es ist ziemlich langweilig hier im Haus, oder?“, nahm Konstantin das Gespräch wieder auf.

„Für mich nicht. Anzheru besitzt ein paar sehr interessante Bücher“, erwiderte Mira tonlos. Konstantin schnaubte trotzig. „Lass uns hinüber zum Hauptquartier gehen. Die anderen interessiert bestimmt, wer du bist.“

„Anzheru wollte mich ihnen nicht vorstellen.“

„Er hat es mir nicht verboten.“ Der Vampir zwinkerte ihr zu. Mira war nicht wohl bei der Sache, aber ihr Bewacher ließ sich nicht beirren. Sie gingen zu Fuß. Mira hatte sich einen der dicken Pullover übergezogen. Allerdings betonte auch dieser ihre Figur sehr vorteilhaft. Etwas anderes hatte Anzheru überhaupt nicht ausgesucht.

„Du solltest da noch etwas wissen.“ Konstantins Stimme holte Mira aus der Erinnerung an den grotesken Einkaufsbummel in die Gegenwart zurück.

„Anzheru ist schon eine ganze Weile unser Clan-Oberhaupt, aber er hat sich immer noch keine Gefährtin genommen. Es gibt zwei Vampirinnen, die sich ernste Hoffnungen machen. Sie werden über deine Anwesenheit nicht besonders… erfreut sein.“

Mira hob skeptisch die Augenbrauen. „Anzheru hält mich gefangen und wenn er gerade mal Durst hat, muss ich herhalten. Darauf kann man nicht wirklich eifersüchtig sein, oder sind Vampirinnen alle Masochistinnen?“

„Nein, das sicher nicht.“ Konstantin warf ihr einen sehr merkwürdigen Blick zu. Eine Mischung aus Überraschung und Belustigung lag darin. Mira ahnte, dass mehr dahinter steckte.

Das Hauptquartier des Nördlichen Clans schien von nahem genauso unveränderlich wie seine Bewohner. Das Gebäude musste mehrere Jahrhunderte alt sein, vielleicht das Herrenhaus einer sehr reichen norwegischen Familie, die längst ausgestorben war. Ähnlich wie in Anzherus Küche waren in der Eingangshalle Kombinationen aus alt und neu entstanden, bei denen jeder Innenarchitekt die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen hätte. Neonröhren erhellten statt der leeren Kerzenhalter den Raum. Verrostete Schwerter zierten die linke Wand der Eingangshalle, daneben waren Scharfschützengewehre abgestellt worden. An der gegenüberliegenden Wand standen eine riesige Couch und einige Sessel von viktorianischem Stil bis hin zu Designerstücken, die man in aktuellen Hochglanzkatalogen finden konnte. Die wenigen Personen, die darauf saßen, beäugten Konstantin und Mira argwöhnisch. Er zupfte sie am Ärmel, als sie unwillkürlich langsamer ging.

„Ich grüße euch! Ich nehme an, die meisten sind hinten?“, fragte er fröhlich. Einer der Männer nickte und schloss sich ihnen an. Auch eine der Frauen folgte ihnen auf dem Fuß.

„Das ist also Anzherus neues Haustier?“

Mira glaubte, ihren verächtlichen, eisigen Atem im Nacken spüren zu können, während sie an den Treppen vorbei gingen, die nach oben führten. Es kostete einiges an Kraft, sich nicht umzudrehen und die Vampirin anzufahren, wie sie es verdient hätte.

„Ich stelle sie gleich für alle vor, in Ordnung?“ Konstantin gab sich unbeeindruckt. Gegen abwertende Ausdrücke nahm er Mira leider nicht in Schutz. Er öffnete ein schweres Holztor, das in einen Saal führte. Dieser hatte früher wohl einmal als Empfangshalle für hohe Gäste gedient. Nun hockte dort ein ganzer Clan Vampire auf ähnlichen Möbelstücken wie in der Eingangshalle. Oder auf dem Schoß eines anderen Vampirs. Sie hatten die Stühle so gerückt, dass in der Mitte des Raumes eine recht große freie Fläche entstanden war. Im Hintergrund lief klassischen Musik. Das strahlend blonde Mädchen, das dazu tanzte, war atemberaubend. Sie war nicht nur wunderschön, sie schwebte elfengleich durch den Raum. Mira konnte sich nichts Vollkommeneres vorstellen als dieses Vampirmädchen, das Ballett tanzte. Als sie die Neuankömmlinge entdeckte, kam sie auf sie zugeflogen. Ohne zu zögern, gab sie Konstantin eine kräftige Ohrfeige. Die Vampire lachten schadenfroh, aber Miras Bewacher nahm es ohne jede Gegenwehr hin.

„Kostja! Was fällt dir ein, mich warten zu lassen!“

„Ich bin auf Anzherus persönliche Anweisung hier. Ich habe mir eine Nacht Zeit gelassen, um sie zu beobachten.“ Er wies mit dem Kopf zu Mira hinüber. Dann schob er sie behutsam weiter nach vorn. „Diese Sterbliche hier ist Mira. Wem sie gehört, wisst ihr ja schon. Anzheru hat ihr sogar sein Siegel gegeben, kommt also nicht auf dumme Gedanken.“

„Zu schade, dabei ist sie doch so ein Schätzchen.“

Beim Klang dieser männlichen Stimme wurde Mira erst bewusst, dass sie von wirklich allen gierig angestarrt wurde. Unwillkürlich schlang sie die Arme um den Oberkörper. Als ob sie das schützen könnte… Etwa fünfundzwanzig bis dreißig durstige Vampire hockten um sie herum. Zu welchem Zweck hatte Konstantin sie bloß her geschleift? Gerade tippte er mit Nachdruck auf die Stelle in ihrem Nacken, an der Anzheru sie markiert hatte. Ein Raunen ging durch die Reihen der Vampire. Die Frau, die ihnen aus der Eingangshalle gefolgt war, schnalzte missbilligend mit der Zunge, dann setzte sie sich zu einer anderen Vampirin auf einen samtenen Zweisitzer. Vor allem im Zusammenspiel waren sie unwiderstehlich schön. Die eine war groß und rothaarig, die andere brünett und etwas kleiner. Feine Züge, weich fallendes Haar und perfekt geformte Körper. Wahrscheinlich würden einige Menschen ihnen jeden Wunsch erfüllen, selbst wenn sie ihren hypnotischen Blick nicht benutzten. Mira war schleierhaft, warum Anzheru keine Gefährtin hatte, wenn er ständig von solchen Frauen umgeben war. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten leise miteinander. Worum es ging, wollte Mira jedoch lieber nicht wissen. Neben ihnen wirkten die anderen Vampire ein kleines bisschen unscheinbar, wenige sahen sogar recht normal aus. Abgesehen von ihrer fahlen, weißen Haut. Konstantin führte Mira weiter zu einer der Sitzgruppen, in denen noch reichlich Platz war. Die Tänzerin folgte ihnen in weichen, geschmeidigen Bewegungen. Etwas verkrampft setzte Mira sich neben ihren Bewacher. Das Mädchen nahm auf ihrer anderen Seite Platz.

„Mein Name ist übrigens Violetta.“ Sie durchbohrte Konstantin, der sich abgewandt hatte, mit ihrem Blick. „Er hat wirklich keine Manieren.“

Er unterbrach sein Gespräch mit einem Mann, dem selbst im Sitzen anzusehen war, dass er ein wahrer Hüne sein musste. Konstantin warf Violetta ein entschuldigendes Lächeln zu. Offensichtlich waren die beiden schon länger ein Paar. Ihr Bewacher griff um Mira herum, um Violettas Gesicht zu streicheln, aber sie wich gerade weit genug zurück, damit er nicht an sie herankam.

„Nun erzähl Edward schon, was der Südliche Clan treibt, wenn du es nicht lassen kannst.“ Violettas Ton verriet, dass sie ihm bald verzeihen würde. Konstantin wandte sich glückselig wieder dem Hünen zu. Dieser Mann war also Edward. Ein über zwei Meter großer Vampir mit kurz geschorenen, dunklen Haaren und der Ausstrahlung eines Gladiators. Mira versuchte vergeblich, sich ein Grinsen zu verkneifen.

„Was ist so lustig, Blutsklavin?“, fragte er mürrisch.

„Nichts.“ Sie wandte schnell den Blick ab. Anzheru hatte dieses Wort nie benutzt, aber es war bezeichnend für ihre Situation wie kein anderes. Violetta musterte sie von der anderen Seite. Auch einige andere Vampire warfen ihr immer wieder Blicke zu. Am meisten beunruhigten sie die beiden Grazien, die etwa fünfzehn Meter entfernt saßen. Sie waren ihr feindlich gesinnt, so viel stand fest.

„Ich besorge uns etwas zu trinken.“ Violetta erhob sich und ging hinüber zu einer breiten Theke. Sie war Mira dank der Balletttänzerin und den vielen auf sie gerichteten Augen gar nicht aufgefallen. Nach wenigen Augenblicken kehrte Violetta mit zwei bauchigen Gläsern zurück, in denen eine dunkelrote Flüssigkeit bei jedem ihrer eleganten Schritte hin und her schwappte. Mira drehte sich der Magen um.

„Das ist Wein“, spottete Violetta bei Miras angewiderter Miene.

„Ihr trinkt Alkohol?“ Verwundert nahm sie ihr eines der Gläser ab und probierte einen Schluck.

„Hin und wieder. Es verdünnt Blut. So zehren wir etwas länger von unserer Beute. Es wirkt natürlich besser, wenn der Mensch, von dem ich trinken will, vorher Alkohol trinkt.“

Das war einleuchtend. Mira trank ihr Glas bewusst schneller aus, als gut für ihren Kopf war. Violetta hatte sichtlich ihren Spaß daran. Ob es etwas nützen würde, Anzheru im volltrunkenen Zustand zu halten? Irgendetwas sagte Mira, dass er ihr diesen Gefallen nicht tun würde.

„Du bist keine Norwegerin, oder?“, fragte die Tänzerin.

„Nein, Belgierin. Eigentlich wohne ich in Brüssel.“

„Sag mal, Mira…“ Violetta klang nachdenklich. „Hat Anzheru dir die Regeln erklärt?“

„Vio!“ Konstantin warf ihr plötzlich einen erstaunlich drängenden Blick zu. Die Tänzerin erwiderte ihn ungerührt. „Denkst du nicht, es ist besser, ein bisschen Theater zu spielen, wenn Tristan herkommt?“

Mira sah verständnislos von einem zum anderen. Edward nahm nicht an der stummen Diskussion teil, worum auch immer es gehen mochte. Er schaute Mira aus seinen dunklen Augen an wie ein Raubtier auf der Lauer. Seine prankenartigen Hände lagen ruhig auf seinem Schoß, wahrscheinlich könnte er mit nur einer davon Miras Hals umfassen.

„Oder Asheroth?“, fuhr Violetta unbeirrt fort. Dieser Name ließ die Vampire in Hörweite aufhorchen. Mira hatte noch nie von ihm gehört, aber es musste jemand Wichtiges sein.

„Na gut. Du hast Recht“, gab Konstantin letztendlich nach. Violetta lächelte triumphierend. Mira spürte zarte kühle Finger, die ihre Hand ergriffen. Die Führung des Mädchens war so viel behutsamer als Anzherus Gezerre, sie dachte nicht einmal daran, sich zu widersetzen. Konstantin schüttelte den Kopf, aber Violetta blieb beharrlich. „Ich möchte ungestört sein.“

Kaum merklich wies sie mit dem Kopf in Richtung der beiden Schönheiten. Konstantin verdrehte die Augen, aber er ließ sie ziehen. Sein Vertrauen in die kleine Tänzerin musste demnach grenzenlos sein.

Die beiden Mädchen gingen die Treppe in der Eingangshalle hinauf. Bei einem kurzen Blick zurück bemerkte Mira erneut die Scharfschützengewehre. Aus Neugier fragte sie, wofür sie gebraucht wurden.

„Die Leibwache hat sie einmal ausprobiert, aber die Zielfernrohre lohnen sich bei unseren scharfen Sinnen nicht. Lass die Finger davon“, warnte Violetta sie gut gelaunt. Sie erreichten die erste Etage. Die Anzahl der Türen allein in diesem Stockwerk ließ Mira vermuten, dass jeder Vampir seine eigenen Räume besaß.

„Wer sind Tristan und Ash…“ Mira bekam den befremdlichen Namen nicht mehr zusammen.

„Asheroth.“ Violetta ging weiter zielstrebig über die langen Korridore des Herrenhauses. „Tristan ist das Oberhaupt des Westlichen Clans, das nächsten Monat zu Besuch herkommt. Also in nicht einmal zwei Wochen. Und Asheroth…“ Ihr schien nicht wohl dabei zu sein, diesen Namen auszusprechen. „…ist ein Mann, dem du lieber gar nicht erst begegnest, aber man kann ja nie wissen.“

Sie blieben stehen und Violetta öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Es war wesentlich hübscher eingerichtet als die Eingangshalle. Den größten Teil des Raumes nahm ein dunkel bezogenes Himmelbett ein. Außerdem besaß Violetta einen Kleiderschrank und einen Schminktisch mit einem riesigen Spiegel. Zwischen Schrank und Tisch befand sich noch eine Tür.

„Hast du etwa dein eigenes Bad?“, fragte Mira überrascht.

„Ja.“ Violetta strahlte. „Ich teile es mit Tamara, aber das ist gut auszuhalten.“ Sie ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. „Tamara ist übrigens die brünette Schönheit, die dich die ganze Zeit so argwöhnisch anstarrt und wenig schmeichelhafte Worte für dich erfindet. Die Rothaarige trägt den Namen Helena.“

„Großartig, wenn der Antagonist einen Namen hat“, brummte Mira. Violetta verzog das Gesicht. „Der was?“

„Entschuldige, vergiss es. Ich verstehe einfach nicht, warum die beiden so eifersüchtig sind.“

„Na weil Anzheru, seit er dich hat, nur Zeit mir dir verbringt“, erklärte die Vampirin, als ob das selbstverständlich auf der Hand läge. „Du hast keine Vorstellung, was die beiden darum geben würden, einmal das Bett mit ihm zu teilen. Nicht, um zu schlafen, versteht sich.“

Darum ging es also. Mira schnaubte verächtlich. „Ich bin ihm vollkommen ausgeliefert, aber damit lässt er mich zum Glück in Ruhe. Das kannst du den beiden gerne ausrichten.“

Violetta warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Er zwingt dich nicht? Du kannst mir glauben, dass du wirklich noch großes Glück mit ihm als Herrn hast.“

Mira tastete stumm nach dem Siegel in ihrem Nacken, das mittlerweile sauber vernarbt war. Dieser grässliche Bund bezog sich auf ihr Blut, nicht auf den Rest ihres Körpers. Die Vampirin setzte sich auf, ihre Miene wurde ernster. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Meine letzten Wochen als Mensch war ich ebenfalls die Blutsklavin eines Vampirs.“

Mira setzte sich gespannt zu ihr auf den Rand des riesigen Himmelbetts. Nun war ihr Interesse geweckt. „Was ist passiert?“

„Ich war siebzehn, als ich zum ersten Mal im Moskauer Staatsballett auftreten durfte. Es war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Großartigste, was einem Mädchen wie mir überhaupt passieren konnte. Nun, eines Abends nach der Vorstellung sprach mich ein Mann an. Ohne zu wissen, was er war, nahm ich seine Einladung an. Er wurde aufdringlich, aber ich wies ihn ab. Am nächsten Morgen bin ich in seinem Quartier beim Nördlichen Clan aufgewacht. Ich möchte dir die Details ersparen, aber er nahm sich alles mit Gewalt, was er von mir wollte.“

Mira krallte die Finger fester um ihre Knie.

„Sein Name war Henry. Er war grauenhaft, aber niemand hielt ihn auf, weil er die rechte Hand von Stepan war, unserem alten Clan-Oberhaupt.“

„Und Anzheru?“

„Er war zu diesem Zeitpunkt im Ausland. Er verstand sich überhaupt nicht mit Stepan. Und noch weit weniger mit Henry. Obwohl ich sein Siegel trug, wagte ein anderer Vampir namens Simar nach kaum zwei Wochen, mich zu verwandeln. Er sagte mir, ich solle mich wehren. Er hat gehofft, ich würde ihn aus Dankbarkeit lieben“, fuhr Violetta fort.

„Wie hat Henry reagiert?“

„Er war völlig außer sich vor Wut. Er hat Simar in Stücke gerissen. Mich wollte er im nächsten Sonnenaufgang verbrennen. Ein paar Clan-Mitglieder waren dagegen, aber Stepan ließ ihn gewähren.“

Mira biss die Zähne zusammen. Von den Gesetzen der Vampire wusste sie nur wenig, aber das alles klang so ungerecht. Wie konnte jemand einem so zauberhaften Mädchen etwas antun? Und zudem war Violetta doch nicht selbst an ihrem Schicksal schuld gewesen.

„Allerdings kehrte Anzheru vor jenem Sonnenaufgang überraschend zurück. Er verhinderte meine Hinrichtung und bat Tamara, mich unter ihre Fittiche zu nehmen. Sehr zum Ärger von Stepan. Es war schon öfter vorgekommen, dass Anzheru ihm widersprach und den Clan auf seiner Seite hatte.“ Sie machte eine kleine Pause, um ihre letzten Worte wirken zu lassen.

„Und dann?“, fragte Mira gespannt.

„Henry griff mich bei der ersten Gelegenheit an. Er hatte nicht geahnt, dass Tamara mich verteidigen würde. Wir köpften ihn, eine andere Wahl hatten wir nicht. Du kannst dir vorstellen, dass es nicht mehr lange gedauert hat, bis Anzheru sich zwischen uns und Stepan stellen musste. Über seine Asche wurde er unser neues Clan-Oberhaupt.“

Mira lief ein kalter Schauer über den Rücken. Da Anzheru als Vampir geboren worden war, hatte sie angenommen, er hätte den Clan einfach geerbt. Eine solche Regelung gab es offenbar nicht. Wenn es nötig war, war Anzheru also sehr wohl bereit dazu zu töten. Ein weiteres Mal tastete Mira nach seinem Siegel in ihrem Nacken.

„Hast du es noch? Das Siegel?“, fragte sie tonlos. Violetta schüttelte den Kopf. „Henry ritzte es mir hier ein.“

Zu Miras Entsetzen zeigte die kleine Tänzerin auf ihre makellose rechte Wange.

„Es hat ziemlich hässlich ausgesehen, also haben wir es entfernt. Tamara musste einiges an Haut mit dem Messer abschaben, aber ich habe nicht die geringste Narbe zurückbehalten.“

Während Violetta völlig ruhig davon erzählte, wurde Mira übel. Entschuldigend tätschelte die Vampirin ihr Knie. „Keine Angst. Ich sehe keinen Grund dafür, dass du das über dich ergehen lassen musst.“

„Hat es irgendeine Bedeutung, wohin ein Vampir sein Siegel ritzt?“, fragte Mira unwirsch. Die Vampire hatten mit einem erstaunten Raunen reagiert, als Konstantin auf ihren Nacken getippt hatte.

„Nun…“ Sie zögerte kurz. „Normalerweise gibt es da keine offizielle Regel, Blutsklavin ist Blutsklavin. Henry hatte offensichtlich vor, mich nur so lange zu behalten, wie er seinen Spaß hatte. Sonst hätte er wohl kaum mein Gesicht entstellt.“

„Aber?“, hakte Mira ungeduldig nach.

„Aber der Nacken ist die einzige Stelle, die noch für ein klein wenig Achtung steht. Das passt auch am ehesten zu Anzheru. Er quält Menschen nicht aus Vergnügen. Er nimmt dich ja noch nicht mal mit ins Bett, also heißt es: Dein Blut gegen seinen Schutz, solange du dich an die Regeln eures Bundes hältst.“

Mira erschauderte „Und wie lange soll das so weitergehen?“

Violetta hob hilflos die Arme. „Das liegt in seinem Ermessen. Anzheru wird sich schon Gedanken um dich machen. Er ist sehr verantwortungsbewusst und wirklich ein guter Anführer. Er besitzt Eigenschaften, die kein anderes Oberhaupt je vertreten würde. Wenn es zum Kampf kommt, steht er an vorderster Linie. Wenn einer von uns einen Fehler macht, hat Anzheru Nachsicht.“

„Aber nur euch gegenüber.“ Mira erinnerte sich gut an die Konsequenzen, wenn Anzheru ihr Verhalten missbilligte.

„Ich weiß…“ Violetta schienen langsam die Argumente auszugehen. Aber was wollte sie eigentlich? Sie hatten sich nun ausführlich über ihre Vergangenheit und die Siegel unterhalten. Und immer wieder stellte Violetta heraus, dass Anzheru sich korrekt verhalten hatte. Das konnte nicht alles sein.

„Warum wolltest du mit mir alleine sein?“, fragte Mira gerade heraus. „Von Anzheru schwärmen, darfst du doch sicher, wenn alle zuhören.“

„Richtig.“ Sie legte sich wieder hin, dieses Mal allerdings auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

Mira hob skeptisch die Augenbrauen. Die kleine Vampirin hatte plötzlich etwas Verschwörerisches an sich.

„Befehlen kann ich dir nicht. Anzheru hat dich mir nicht untergeordnet. Also muss ich bitten“, fuhr Violetta unbeirrt fort.

„Worum?“

Sie atmete tief ein. „Es gibt ein paar recht… unangenehme Verhaltensregeln für Blutsklaven. In unserem Clan sind wir schon lange nicht mehr so erpicht darauf, aber andere Vampire schon. Tristan vom Westlichen Clan zum Beispiel. Ich möchte, dass du diese Regeln erlernst und bei dem Treffen streng befolgst, um Anzheru nicht in eine prekäre Situation zu bringen.“ Violetta fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar.

„Prekär?“

„Wenn du dich unangemessen verhältst, muss er dich bestrafen und ich kann mir nicht vorstellen, dass Anzheru das möchte.“

Daran hegte Mira Zweifel. Bisher hatte er nicht gezögert, sie zu schlagen oder zu beißen. Sie wurde langsam misstrauisch. „Wenn Anzheru das für nötig hält, wird er es mir wohl noch befehlen. Warum ist dir das wichtig?“

„Er wird positiv überrascht sein, wenn du dich nicht sträubst und freiwillig richtig hinkniest. Für dich bedeutet das schlicht weniger Ärger mit ihm, also weniger Schläge.“ Violetta lächelte gewinnend. „Und ich habe seine Dankbarkeit. Das ist recht nützlich, wenn ich um seine Erlaubnis bitte, Kostja endlich zu meinem Gefährten zu machen.“ Ihr Lächeln wurde nun wirklich verschwörerisch. „Was hat Anzheru dir über dein Blut verraten?“

Mira erschien diese Frage völlig zusammenhangslos. „Er sagt, es kühlt nicht so schnell ab. Er nennt es die Gabe zu wärmen.“

„Das ist nur die halbe Wahrheit.“ Sie zwinkerte. „Spiel brav mit und im Gegenzug verrate ich dir, was er dir vorenthält.“

Mira bekam erneut ein flaues Gefühl in der Magengegend. Trotzdem nickte sie langsam.

„Gut knie dich auf den Boden. Wir fangen sofort an.“

Das war allerdings unangenehm. Vor allem sich auf den Knien fortzubewegen, ohne die Hände zu benutzen, war auf die Dauer schmerzhaft, da es in Violettas Zimmer keinen Teppich, sondern Parkettboden gab. Die kleine Vampirin erwies sich als geduldig aber auch unnachgiebig. Das Hinknien an sich war für sie wohl eine Kunstform. Nach weit mehr als einer Stunde setzte Mira sich einfach normal hin und rieb sich die schmerzenden Glieder.

„Nur fünf Minuten. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“ Violetta machte mit Leichtigkeit ein paar Schritte auf den Zehenspitzen, während sie das sagte.

„Solange ich das da nicht auch lernen muss“, erwiderte Mira trocken und wies auf die überstreckten Gelenke der Vampirin. Sie trug dunkle Spitzenschuhe, in denen ihre Füße zart und fragil wirkten.

„Nein, keine Angst.“ Violetta grinste. „Um Spitze perfekt zu beherrschen, musste ich Jahre lang üben. Dafür haben wir leider keine Zeit und außerdem bist du sowieso schon ziemlich groß. Wenn du auch noch auf den Zehenspitzen stehst, überragst du Anzheru und das darfst du nicht.“

„Ach was?“

Violetta nickte. „Andererseits bricht bald der Tag an. Kostja wird dich bestimmt gleich abholen. Für heute bist du entlassen.“

Mira atmete erleichtert auf. Als sie etwas ungelenk aufstand, öffnete sich die Tür zum Badezimmer von innen.

„Vio, hast du meine…“ Tamara brach mitten in ihrer Frage ab, als sie Mira erblickte. Ihre kühlen Augen wanderten zu der kleinen Tänzerin hinüber. „Sie ist noch da?“

„Wir haben uns ein wenig unterhalten“, gab Vio zur Antwort. Die blendend schöne Vampirin schüttelte missbilligend den Kopf. Sie schien Mira wirklich für ihre bloße Anwesenheit zu hassen.

„Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis Anzheru dir aus Versehen ein paar Knochen bricht“, sagte Tamara mit einem gehässigen Grinsen. „Dein Blut mag köstlich sein, aber seinen übrigen Wünschen bist du im Leben nicht gewachsen.“

„Du musst es ja wissen“, knurrte Mira ohne darüber nachzudenken. Eigentlich gab es keinen triftigen Grund für Tamaras Eifersucht, aber ihr herablassender Tonfall und ihre geringschätzige Miene trieben Mira langsam zur Weißglut. Vio starrte sie entsetzt an. Sie hätte wohl besser nichts erwidert. Tamara bleckte die Zähne. „Oh, da hält sich jemand für besonders mutig. Wie schön. Dann muss ich ja nicht einmal lange darauf warten, dass wir dich schreien hören, wenn er dir mit der Peitsche das Fleisch von den Knochen trennt.“

Diese Vampirin schien sich ihrer Sache verdammt sicher zu sein. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder in ihr Zimmer. Violetta zog es vor, über diesen Vorfall zu schweigen, und brachte Mira nach unten in die Eingangshalle des Hauptquartiers, in der Konstantin sie bereits erwartete.


Suche

Anzheru hatte Aberdeen planmäßig erreicht. Die Festung des Ältestenrats der Vampire lag einige Kilometer außerhalb der schottischen Hafenstadt. Menschen kamen normalerweise nicht her, da die Festung offiziell unter Denkmalschutz stand und das Betreten verboten war. Niemand sollte ahnen, wer sich hinter diesen mächtigen Mauern verbarg. Anzheru näherte sich dem Haupttor, wobei er trotz des andauernden Nieselregens seine Kapuze abstreifte. Von außen waren die Vampire, die das Tor bewachten, nur schwer zu erkennen. Aber er wusste, dass sie da waren und jeden seiner Schritte genau beobachteten. Das Tor wurde geöffnet, als er noch etwa zwanzig Schritte entfernt war. Ein relativ zierlicher Mann stand bereit, um ihn in Empfang zu nehmen. Es gab wohl keinen anderen Vampir unter den Leibwächtern der Ältesten, dessen Statur und Aussehen so sehr über seine wahren Fähigkeiten hinwegtäuschten. Kein Mensch würde ihm je misstrauen. Sein Name war Charles, Anzheru kannte ihn schon beinahe sein ganzes Leben lang.

„Willkommen, Anzheru. Was verschafft uns die Ehre?“, fragte Charles mit einem strahlenden Lächeln. Anzheru erwiderte seine herzliche Begrüßung. „Es freut mich, dich zu sehen. Ich muss in die Bibliothek.“

Der Leibwächter begleitete ihn bis zum Hauptgebäude. „Wie lange wirst du bleiben?“

„Höchstens drei Nächte.“

Charles nickte fröhlich. „Ich bin ab jetzt für die Westmauer eingeteilt. Wir sehen uns dann.“

Anzheru schaute ihm kurz nach, dann begab er sich über die schwach erleuchteten Korridore in die Bibliothek der Festung. Im Stillen überlegte er, ob er Charles überhaupt ins Vertrauen ziehen wollte. Tiefe Freundschaft verband sie, doch Rechenschaft und Loyalität schuldete der Leibwächter den Ältesten. Diese fünf Vampire existierten bereits über zweieinhalb Jahrtausende und es barg immer ein gewisses Risiko, ihnen gegenüber Preis zu geben, dass man sich im Besitz von Begabten befand. Zum Glück war derzeit keiner von ihnen persönlich anwesend, sodass Anzheru fürs erste ungestört war. Die Bibliothek selbst wurde nicht von den rund fünfundzwanzig Leibwächtern der Ältesten bewacht.

Es dauerte etwa achtundvierzig Stunden, bis Charles sich zu ihm an den großen Lesetisch gesellte. Da er sich noch mit einem Handtuch die Haare abtrocknete, hatte es wohl mindestens die letzten Stunden seiner Schicht über geregnet. Mittlerweile türmten sich ganze Stapel von Büchern vor Anzheru. Seine Suche war bis jetzt einfach nur frustrierend gewesen. Es gab ein paar wenige Aufzeichnungen über Begabte, doch jede Quelle behauptete etwas anderes bezüglich ihrer Fähigkeiten und der Entwicklung ihrer Stärke, vom Ursprung der Gabe ganz zu schweigen.

„Wonach suchst du?“, fragte Charles neugierig, als er sich auf einen der alten hölzernen Stühle setzte. Anzheru stützte missmutig das Kinn auf. Wenn er nicht völlig ergebnislos abreisen wollte, musste er seinen alten Freund wohl doch informieren.

„Irgendetwas ist anders an dir“, stellte der Leibwächter unvermittelt fest. Ohne zu zögern, streckte er die Hand nach Anzheru aus und drückte sie kurz gegen seinen Brustkorb. Miras Blutwärme hatte sich weitgehend aufgezehrt, doch einen kleinen Temperaturunterschied gab es noch zwischen ihnen. Charles musterte ihn eindringlich. „Dir ist jemand Besonderes begegnet?“

Anzheru nickte langsam.

„Und du lässt denjenigen einfach bei deinem Clan zurück?“ Der Leibwächter hob skeptisch die Brauen.

„Sie trägt mein Siegel. Außerdem habe ich sie unter die Aufsicht eines Freundes gestellt, der mein volles Vertrauen hat“, entgegnete Anzheru. „Ihr wird nichts geschehen.“

„Ach, es ist eine Frau?“ Nun lehnte sich Charles gespannt nach vorn. Anzheru zuckte mit den Schultern. „Was spielt das schon für eine Rolle? Weißt du, was hiervon stimmt und was nicht?“ Er wies auf die vielen Bücher.

„Nicht vieles. Begabte entwickeln sich nun einmal sehr unterschiedlich. Manche auch gar nicht.“ Charles schüttelte bedauernd den Kopf. „Die Entstehungsgeschichten sind ebenfalls an den Haaren herbei gezogen. Es ist schlicht und ergreifend erblich.“

„Weißt du Näheres darüber?“, fragte Anzheru interessiert. Das Wissen des Leibwächters war in dieser Sache wesentlich glaubhafter als die altertümlichen Aufzeichnungen. Charles zuckte mit den Schultern. „Mehr als zehn oder elf Familien behält der Rat, glaube ich, nicht im Auge. Du weißt, was das bedeutet.“

Der Geborene nickte bedächtig.

„Das einzig klare sind wieder einmal unsere Gesetze. Niemand darf einem anderen Vampir seine Begabten stehlen und es ist verboten, ihr Blut gewaltsam stärker zu machen.“

„Ein paar dieser Aufzeichnungen lesen sich trotzdem wie Folterberichte.“ Anzheru verzog angewidert das Gesicht. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, Mira immer wieder kopfüber aufzuhängen oder ihr stellenweise die Haut abzuziehen, damit sich ihr Blut zur Wehr setzte. Er bezweifelte, dass diese Methoden überhaupt dazu führten, dass ihr Blut stärker wurde. Es war einfach passiert, als sie in Oslo Kleider für sie eingekauft hatten und hatte somit Kyrill in ihre unmittelbare Nähe gelockt. Darüber brauchte er mit Charles überhaupt nicht zu sprechen.

„Magst du sie mir beschreiben?“, fragte der Leibwächter wieder mit einem neugierigen Lächeln.

„Ehm, nun…“ Anzheru zögerte.

„Ja?“

„Sie ist fast so groß wie ich. Schwarzes Haar, dunkle Augen… und ziemlich schlank.“

Charles schmunzelte. „Mehr nicht? Hat sie einen Namen?“

„Mira. Und sie ist alles andere als anschmiegsam“, brummte Anzheru. Darüber hatte er eigentlich nicht sprechen wollen.

„Ist sie freiwillig mit dir gegangen?“

„Nein.“ Welcher Mensch würde das je tun, wenn er in die Augen eines geborenen Vampirs sah?

„Dann darfst du dich nicht darüber wundern, dass sie Widerstand leistet.“ Charles stützte den Ellbogen auf.

„Es wundert mich nicht, aber es stört.“ Anzheru räumte die Bücher zusammen, wobei der Leibwächter leise schnaubte. Offenbar versuchte er, sich das Lachen zu verkneifen. „Wenn ich mich recht erinnere, sind zu fügsame Frauen doch sowieso nicht dein Fall.“

„Darum geht es nicht“, knurrte Anzheru. Sein alter Freund hatte zwar Recht, aber das wollte er nicht zugeben.

„Nein? Du hast Mira einzig und allein wegen ihrer Gabe in dein Haus geschleift? Nicht weil sie dir gefällt?“

In dieser Frage war Anzheru sich nicht mehr ganz sicher, seit sich das Mädchen ängstlich in seine Jacke geklammert hatte. Ein wenig Vertrauen schien sie ihm doch entgegenzubringen. Miras herrlicher Geruch und vor allem die Wärme ihres Blutes fehlten ihm zunehmend.


Vermutung

Konstantin war mehr als erstaunt. Er hatte erwartet, dass Mira sich weigern würde je wieder ins Hauptquartier zu gehen, nachdem sie Bekanntschaft mit Tamara gemacht hatte. Er hatte sie nicht nur aus Langeweile den anderen Vampiren vorgestellt, sondern um Mira zu zeigen, wie sich der Clan in ihrer Gegenwart verhielt. Außerdem hatte er darauf gehofft, dass ihn seine geliebte Vio in der Villa besuchen würde, um ein paar schöne Stunden mit ihm zu verbringen, solange die Vampire bei Tageslicht ruhten. Weder das eine noch das andere trat ein. Mira drängte am nächsten Abend geradezu darauf, ins Herrenhaus zurückzukehren und Vio hatte ihm kein bisschen Aufmerksamkeit geschenkt. Die beiden Mädchen verschwanden im Herrenhaus wieder nach oben und in Vios Zimmer. Etwas enttäuscht setzte Konstantin sich zu Edward, Helena und Viktor, die Karten spielten.

„Na, hast du Sehnsucht nach deiner kleinen Fee?“ Helena besaß ein großartiges Talent dafür, zielsicher in Wunden zu bohren. Konstantin zuckte die Achseln. Ihm war nicht danach, sich auf ihren Spott einzulassen.

„Konstantin hat schlechte Laune. Das hat Seltenheitswert.“ Edward klopfte ihm auf die Schulter. „Keine Sorge. In ein paar Stunden hast du die Kleine wieder ganz für dich. Anzheru hat mich angerufen. Ich werde gegen Mitternacht zum Flughafen fahren, um ihn abzuholen. Nach drei Nächten wird er sein Mädchen wohl für sich allein haben wollen.“

„Ich will mir das nicht vorstellen müssen!“, fauchte Helena ihn ungeduldig von der Seite an.

„Meine Güte… Falls du je von ihm ablassen kannst, weißt du, wo du mich findest.“ Edward ließ eine ihrer roten Haarsträhnen durch die Finger gleiten, doch sie zog ruckartig den Kopf weg. Viktor verdrehte entnervt die Augen. Konstantin stellte schmunzelnd fest, dass es nach seiner langfristigen Spionage in Spanien schön war, wieder zu Hause zu sein.

Ein Stockwerk darüber übte Mira erneut, den Kopf im richtigen Winkel zu halten, wenn sie kniete. Angeblich musste es unterwürfig und hübsch zugleich aussehen, aber Violetta hatte gut reden. Sie kostete es keinerlei Mühe, hinreißend zu sein.

„Was musst du beachten, wenn du neben Anzheru stehst?“

Das hatte Mira sich merken können. „Mein Kopf darf nicht höher sein als seiner.“ Das würde bei dem geringen Größenunterschied zwischen ihnen allerdings schwierig werden.

„Und was tust du, wenn er dich berührt?“, fragte die Vampirin weiter.

„Ich darf nicht zurückweichen.“

„Wann darfst du sprechen?“

Dieser Punkt ärgerte Mira am meisten. „Wenn er mich dazu auffordert“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

„Und das explizit. Sehr gut. Wenn wir weiter so gut vorankommen, meisterst du das Treffen mit Tristan mit links.“ Violetta schenkte ihr ein wunderschönes, zuversichtliches Lächeln und drückte ihren Kopf noch etwas mehr nach unten. „Du musst dir nur noch abgewöhnen, andere Vampire so direkt anzusehen, wie du gestern Edward gemustert hast. Das empfinden die meisten als anmaßend.“

Mira wurde langsam ungeduldig. Sie erhob sich wieder und rieb sich den schmerzenden Nacken. „Was hast du mit halber Wahrheit gemeint?“

Violetta ließ sich auf dem Hocker vor ihrem Schminktisch nieder. „Nun… Es ist wohl eher eine Vermutung.“

Mira fluchte innerlich. „Was?“

„Menschen mit der Gabe zu wärmen gibt es immer mal wieder. Natürlich sind sie selten, aber wenn Anzheru nicht eine Vermutung hätte, würde er nicht so einen Aufwand betreiben, um dich zu schützen.“

Dieses Mädchen machte einen wahnsinnig. Lässig schlug Violetta die Beine übereinander. „Es heißt, wenn ein Mensch mit dieser Gabe sehr stark ist, kann er als einer von uns immer noch warm sein, das heißt, für immer warm bleiben.“

Mira wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie brauchte eine Weile, um über die Worte der Vampirin nachzudenken.

„So jemanden nennt man Tageswandler. Ihm macht die Sonne nichts aus. Nicht einmal beim Sonnenaufgang, der für jüngere Vampire den sofortigen Tod bedeutet“, erklärte Vio seelenruhig.

„Ein Vampir mit warmem Blut?“ Es klang unglaublich.

„Ja. Du kannst nicht wissen, was das für uns bedeutet. Wärme zu spüren ist laut den Erzählungen derjenigen, die dieses Glück einmal hatten, unermesslich schön. Es gibt da sogar eine kleine Geschichte von einem Liebespaar. Ein Vampir namens Achilleas fand genauso eine Sterbliche. Er hielt sie lange versteckt, deshalb kennen wir ihren Namen nicht. Er verwandelte sie. Andere Vampire wollten sie auch, aber nur, weil ihr warmes Blut ihnen sehr viel Kraft verschaffte. Obwohl Achilleas sehr mächtig war, konnte er sie nicht beschützen. Sie wurde getötet.“

Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend meldete sich heftiger denn je zurück. Mira musste sich setzen. „Ich wäre bestimmt kein Tageswandler.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Vio klang überrascht.

„Ich bin nicht stark.“ Sie zog die Knie an. Das durfte nicht sein. Um keinen Preis der Welt wollte sie eine Vampirin werden, die von allen anderen gejagt wurde, weil sie sich von ihrem Blut Macht versprachen. Hoffentlich hatte Anzheru nicht die Absicht, es darauf ankommen zu lassen. Lieber würde Mira sofort sterben.

„Vielleicht weißt du es nur noch nicht.“ Das sollte wohl ein Aufmunterungsversuch von Violetta sein. Mira seufzte.

„Verzeih, ich wollte dir keine Angst machen“, entschuldigte sich die kleine Vampirin. Mira wollte nichts dazu sagen. Stattdessen fragte sie, was aus Achilleas geworden war. Vio senkte den Kopf ein kleines bisschen. „Ohne sie ergab seine Existenz wohl keinen Sinn mehr, er wollte sterben. Die Sonne konnte ihm jedoch nichts mehr anhaben, weil ihre Nähe ihn sehr stark gemacht hatte. Er musste einen anderen Weg finden zu sterben, um wieder bei ihr zu sein. Angeblich hinterließ Achilleas in einem der Steine, die er benutzt hatte, um ihren Körper zu bedecken die Inschrift: Ich schwöre Ich werde einen Weg finden. Aber das klingt meiner Meinung nach ein wenig zu kitschig für einen männlichen Vampir. Das wurde bestimmt nur von einer sehr einsamen Vampirin dazu erfunden.“

Mira hatte das Gefühl, unter ihr würde der Boden aufbrechen und sie verschlingen. Violetta wusste nicht, dass jener Stein wirklich existierte, geschweige denn dass er versteckt in ihrer Kommode in Anzherus Villa lag.

„Da niemand Achilleas je wieder gesehen hat, hat er wohl Wort gehalten.“ Die Vampirin warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Wir wissen, dass es Tageswandler gegeben hat. Man kann sich bei keinem Begabten sicher sein, aber die Versuchung ist eben groß, wenn man erst einmal einen gefunden hat. Vor allem wenn derjenige dermaßen verführerisch riecht wie du.“

Mira begann, heftig zu zittern. „Wie viele Menschen wurden denn verwandelt und haben diese… Erwartung dann doch enttäuscht?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739360652
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Licht Gestaltwandler Begabte Vampire Wärme Fantasy düster dark

Autor

  • Al Rey (Autor:in)

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen und lebt derzeit im schönen Rheinland. Tageswandler 1 - Mira ist ihr Debüt und entstand als Geburtstagsgeschenk.
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Titel: Tageswandler 1: Mira