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Tageswandler 2: Anzheru

von Al Rey (Autor:in)
285 Seiten
Reihe: Tageswandler, Band 2

Zusammenfassung

Mira wurde verschleppt und gerät durch einen zwielichtigen Handel zwischen Gestaltwandlern und Vampiren in die Fänge von Horatio, dem ältesten aller Vampire. Anzheru ahnt nichts davon. Die Leibwachen bringen ihm nur den leblosen Körper seines Vaters, keine Spur seiner Gefährtin. Commodus lässt ihn jedoch nicht gehen, um nach ihr zu suchen. Tove lernt derweil Gestaltwandler kennen, die sich von den Clans gelöst haben. Einer von ihnen ist wie sie ein Halbblut und dazu eine Raubkatze... bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun, Band 5 Gigi und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tageswandler 2

~Anzheru~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

al-rey@gmx.de


Widmung

Für meine Mutter

Prolog

Riesige, messerscharfe Krallen bohrten sich in ihre Schultern. Mira schrie auf, doch sie befand sich schon einige Meter über dem Boden. Im dichten Schneetreiben verlor sie die Ruine schnell aus den Augen. Nur schemenhaft nahm sie die hastigen Bewegungen wahr, die sich weit unter ihr abspielten. Vielleicht war es Anzheru, der etwas Unverständliches brüllte. Ein kleiner Gegenstand kam auf sie zugeflogen, den Mira gerade noch mit den Fingerspitzen zu fassen bekam. Hoffentlich hatte der riesige Greifvogel es nicht bemerkt. Sie hatte sich nicht vorstellen können, wie groß die Vögel unter den Gestaltwandlern wurden. Die beiden Adler, die Tove und sie davontrugen, besaßen mit Sicherheit eine Spannweite von mehr als vier Metern. Der Gegenstand in ihrer Hand war kühl und kantig. Mira brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass es nur ein Stein war. Es durfte doch nicht wahr sein, dass ihr Schicksal schon wieder etwas mit einem unnützen Stein zu tun hatte! Sie fluchte laut, was den Adler, der sie gepackt hielt, allerdings nicht interessierte. Tove hing ebenfalls völlig hilflos in den Klauen des anderen Greifvogels. Von Zeit zu Zeit zappelte sie etwas mit den Pfoten. Mira fragte sich, was passieren würde, wenn sie sich jetzt zurück in einen Menschen verwandelte. Würde Tove dem Adler einfach durch die Klauen gleiten und fallen? Doch weder ein erneuter Hautkontakt mit Asheroth noch der jetzige Stress bewirkten, dass sie ihre erste Gestalt wieder annahm. Wie auch immer, sie mussten irgendetwas unternehmen. Obwohl Mira die Schultern nicht richtig bewegen konnte, begann sie, mit dem Stein auf die Beine des Adlers einzuschlagen. Die Krallen bohrten sich tiefer in ihr Fleisch, doch aufgeben kam nicht in Frage. Mit der freien Hand riss sie dem Gestaltwandler die Federn an seinen Beinen aus und schlug ihrerseits die Fingernägel in die bloße Haut ihres Gegners. Offenbar zeigte es Wirkung. Der große Vogel stieß einen spitzen Schrei aus und ließ sie fallen. Miras vampirische Instinkte sagten ihr, wie weit es noch bis zum Boden war. Sie brauchte sich kaum zu drehen, um mit den Füßen voran zu fallen. Vielleicht konnte sie den Sturz wenigstens etwas abfedern, ohne sich sämtliche Gliedmaßen zu zertrümmern. Heilen würden sie zwar, aber Schmerzen konnte jeder Vampir empfinden, selbst die Ältesten. Zumindest hatte Anzheru das einmal behauptet. Die Wipfel der Bäume waren erreicht. Mira prallte gegen einige starke Äste, die ihren Fall abbremsten. Trotzdem schlug sie hart auf dem Boden auf, ihr Oberschenkel brach an zwei Stellen. Sie blieb schwer atmend liegen. Für ein triumphales, irrwitziges Kichern reichte es dennoch. Nach einer Weile beruhigte sich Miras Atem. Ihr linker Oberschenkel schmerzte immer noch höllisch, aber die Frakturen heilten, die tiefen Abdrücke der Adlerkrallen in ihren Schultern ebenfalls. Sie erhob sich mühsam. Es mussten einige Kilometer sein, die sie unfreiwillig im Flug zurückgelegt hatte. Mira lehnte sich gegen einen Baum und suchte irgendeinen Orientierungspunkt. Außer großen Kiefern und unermesslich viel Schnee war nichts zu sehen. Nur ein Geräusch näherte sich ihr. Hitziger Atem. Und es mussten einige Geschöpfe sein. Mira humpelte auf ein dichtes Gebüsch zu. Riechen konnten die Geschöpfe sie mit Sicherheit, aber es verschaffte ihr ein paar Sekunden, wenn sie sie nicht auch noch sofort sahen. Sie kamen schnell näher. Der Geruch von Hunden und Erde lag in der Luft. Ein lautes Knurren ertönte. Es war wohl der Befehl auszuschwärmen. Die Wächter teilten sich auf und durchkämmten den Wald. Mira hörte auf zu atmen, um kein unnötiges Geräusch mehr zu verursachen. Zwei große schwarze Hunde streiften an ihrem Gebüsch vorbei, wobei sie tiefe Spuren durch den Schnee zogen. Sie beschnupperten den Baum, an den sie sich gelehnt hatte. Trotz der Dunkelheit würden sie bestimmt ihre Fußabdrücke im Schnee finden. Miras Herzschlag erhöhte sich leicht. Kampflos würde sie sich nicht ergeben. Das Knacken von Zweigen in einiger Entfernung lenkte die Wächterhunde ab. Mit einem lauten Kläffen liefen sie davon. Mira lehnte sich etwas nach vorn. Ihr Oberschenkel hatte sich vollständig von den Brüchen erholt. Wenn sie nur schnell genug war, konnte sie vielleicht aus dem Wald entkommen. Als sie nur wenige, leise Schritte aus dem Gebüsch heraus gemacht hatte, spürte sie ein Augenpaar im Rücken, das sie zu erdolchen drohte. Mira fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um den Hund auf sich zu springen zu sehen. Er war nicht so groß wie die beiden, die sie zuvor gesehen hatte. Sein Fell war hellbraun, daher war er in der Dunkelheit etwas besser zu sehen. Mira wich seinen Zähnen aus und schlug ihm in die Seite. Der Wächter jaulte auf, setzte aber dennoch sofort zum nächsten Angriff an. Mira gab sich ganz ihren Kampfinstinkten hin. Leandros hatte ihr einbläuen wollen, stets mit Bedacht zu kämpfen. Allerdings war dieser Hund bei weitem nicht so stark wie Asheroths Leibwächter. Sie hörte seine Rippen brechen, als sie ihn das nächste Mal abwehrte. Dann bekam Mira ihn zu fassen. Sie presste seinen Brustkorb an sich und schlug die Zähne in seinen Hals, ungeachtet des stinkenden Fells. Ihr Blutdurst überwog den Ekel bei weitem, da die Regeneration nach dem Sturz einige Energie gekostet hatte. Mira hatte noch nie von anderen Geschöpfen als von großen Tieren getrunken. Es war köstlich, geradezu berauschend. Sie spürte, dass nach einer Weile die Anspannung in den Muskeln des Wächters nachließ, doch sie hörte nicht auf. Erst als er vollkommen blutleer war, legte sie den Körper zurück in den Schnee. Wundersamerweise verwandelte er sich noch zurück in einen Menschen, bevor er endgültig tot war. Es war der Junge, der bei der Verhandlung zwischen Asheroth und Friedrich Eisengrunth ihretwegen nervös auf der Stelle getreten war. Mira wischte sich über den Mund. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde sie aus einem Tagtraum erwachen. Als hätte nicht sie, sondern jemand anderes den Jungen getötet, der wahrscheinlich jünger gewesen war als sie selbst. Plötzlich traf sie ein heftiger Schlag im Rücken und schleuderte sie gegen den nächsten Baum, der mit einem ohrenbetäubenden Ächzen zerbarst. Als Mira sich wieder aufgerappelt hatte, umringten sie neun riesige Hunde. Deshalb hatte Leandros sie von ihren Instinkten abbringen wollen. Sie war so sehr auf ihr Opfer fokussiert gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sich ihr die anderen Hunde genähert hatten. Der größte und kräftigste unter ihnen verwandelte sich in einen Menschen. Es war der Mann, der ihnen damals nach der Verhandlung Tove ausgeliefert hatte. Mira kannte seinen Namen nicht, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Die Hunde waren wütend. Augenblicklich stürzte der Wächter sich auf sie.

Erstaunen

Tove versuchte verzweifelt, sich aus den Klauen des Adlers zu winden, doch es war hoffnungslos. Nun hatte der andere Vogel auch noch Mira fallen lassen. Sie war allein und wieder eine Gefangene der Gestaltwandler. Der Schneesturm ließ langsam nach. Mit Entsetzen nahm Tove irgendwann das Meer unter sich wahr. Wie weit konnte der Adler sie denn noch tragen? Und wo waren sie bloß hergekommen? Ihre Mutter hatte ihr damals erzählt, dass schon seit Generationen keine Adler mehr in Friedrichs Clan geboren worden waren. Entweder stammten sie von weit her oder sie waren schon sehr sehr alt. Letzteres schien wahrscheinlicher, so stark und ausdauernd wie sie waren. Tove wunderte sich allerdings darüber, dass der Adler seine Krallen nicht mit voller Kraft in ihr Fleisch geschlagen hatte. Er wollte sie nur forttragen, nicht töten. Noch nicht zumindest. Vor Erschöpfung fielen Tove die Augen zu. Dank ihrer Verwandlung war sie zuvor zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen. Die Landung nach dem schier endlosen Flug nahm sie allerdings nur noch im Dämmerzustand wahr.

„Wo habt ihr sie her?“, hörte sie eine aufgeregte, männliche Stimme rufen. Einige Pfoten näherten sich ihr. Nur mit Mühe gelang es Tove, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Eine dunkle Schnauze schnüffelte an den Kratzern an ihrem Rücken, die die Adlerklauen hinterlassen hatten.

„Etwa an der Grenze zwischen Norwegen und Schweden. Eine Gruppe Vampire hat sie gefangen gehalten.“ Einer der Adler gab die Antwort. Nun wurde Tove allerdings bewusst, dass es eine Frau war. Sogar beide Vögel waren weiblich.

„Ein merkwürdiges Wesen hat sie bewacht. Es war eine Vampirin, aber sie war warm“, fauchte die andere Adlerfrau leise. „Sie ist mir entwischt.“

„Das macht nichts, Kila“, gab die Stimme zurück, die ihr am nächsten war. Tove zwang sich, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Direkt neben ihr saß ein schwarzer Panther mit smaragdgrünen Augen und musterte sie eindringlich.

„Hab keine Angst. Die Blutsauger werden Kila und Ravenna nicht gefolgt sein. Sie sind schnell, aber das schaffen sie nicht“, sagte er zuversichtlich. Tove rappelte sich auf. Ihre vier Pfoten fühlten sich noch etwas taub vom eisigen Wind an. Sie befanden sich in einer alten, hohen Scheune. Die beiden Adlerfrauen saßen hoch über ihren Köpfen auf den Holzbalken des Dachstuhls. Der Panther neben ihr war größer und kräftiger gebaut als sie. Neugierig strich er einmal um sie herum, während ein weiterer Gestaltwandler die Scheune betrat. Bei ihm handelte es sich um eine Hyäne. Tove hatte nicht gewusst, dass es solche Gestalten überhaupt gab. Sie konnte nicht umhin, den Fremden verdutzt anzustarren. Außer von den Hunden, Bären, Raben und Friedrich, dem einen Löwen, hatte ihre Mutter nie erzählt.

„Wie du siehst, sind wir eine recht ungewöhnliche Gruppe“, knurrte der Panther freundlich. „Ich bin Marcus, die Adlerfrau mit den hellen Flecken im Gefieder heißt Kila, die andere ist ihre Schwester Ravenna. Und er hier…“, er wies mit dem Kopf zu der dürren Hyäne hinüber. „…ist Igor.“

Aller Augen ruhten auf Tove. Keiner dieser Gestaltwandler schien ihr von Grund auf feindlich gesinnt zu sein, was eine sehr angenehme Überraschung war. Trotzdem wollte sie ihnen lieber noch nicht die Wahrheit über die Vampirgruppe anvertrauen, die sie angeblich gefangen gehalten hatte. Vermutlich würden sie ihrer Geschichte sowieso keinen Glauben schenken.

„Willst du dich nicht auch vorstellen?“, fragte Marcus.

„Mein Name ist Tove.“

Die Vampire hatten die Stimme ihrer zweiten Gestalt nicht verstehen können. Die Gestaltwandler hingegen interpretierten das Knurren vollkommen richtig.

„Wo bin ich und was wollt ihr von mir?“, fragte Tove ohne Umschweife. In den Zügen des Panthers war ein leises Lächeln zu erkennen. „Komm mit mir, ich erkläre es dir.“

Sie verließen zu zweit die Scheune. Die beiden Adlerfrauen ruhten sich nach der langen Reise aus, der Hyänenmann hockte sich neben die Tür der Scheune und hielt Wache.

„Entschuldige, dass Ravenna deinen Rücken verletzt hat, aber auf die Schnelle ging es nicht anders“, begann Marcus das Gespräch.

„Nicht so schlimm, es wird heilen.“

„Gut. Du bist ein sehr junges Halbblut, nicht wahr?“

Tove nickte unsicher.

„Wegen deiner Abstammung musst du dir bei uns keine Sorgen machen. Außer mir sind zwar alle reine Gestaltwandler, aber sie akzeptieren uns.“ Marcus setzte leichtfüßig über einen gefrorenen Bach hinweg.

„Du bist auch ein Halbblut?“ Die Leopardin konnte es kaum fassen. Er roch überhaupt nicht nach Mensch.

„Ja und als Erstes kann ich dir verraten, dass du entgegen der gängigen Meinung der großen Gestaltwandler-Clans sehr wohl unsterblich bist.“

Tove blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Mutter hatte ihr das genaue Gegenteil gesagt, als sie acht Jahre alt gewesen war und gefragt hatte, warum sich das Gesicht ihrer Mutter niemals veränderte. Der Panther warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Die alten Oberhäupter haben diesen Glauben nur verbreitet, um die Gestaltwandlerinnen von Sterblichen fernzuhalten. Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, hörte ich auf zu altern. Irgendwann ist es auch bei dir so weit.“ Er senkte kurz die Lider. „Nur die zweite Gestalt erben wir nicht. Aber offensichtlich haben wir beide jeweils das Geschöpf gefunden, das bereit war, durch den Ausgleich einen Teil seiner Macht aufzugeben, um uns die Verwandlung zu ermöglichen.“

Tove schluckte schwer und folgte Marcus nur zögerlich weiter durch die unwirkliche, karge Landschaft. Im schwachen Licht der Wintersonne war weit und breit kein Zeichen von Menschen zu sehen. Die Scheune und das verfallene Bauernhaus, in dem Marcus und seine merkwürdige Gruppe hausten, waren die einzigen Gebäude. Die Gegend war durchzogen von kleinen Tümpeln und Sträuchern. Asheroth gab also einen Teil seiner Macht auf, damit sie ihre zweite Gestalt haben konnte? Tat er das freiwillig, oder war es ihm vielleicht gar nicht bewusst?

„Du redest wirklich nicht gern, oder Tove?“ Marcus legte den Kopf auf die Seite.

„Das hier ist meine dritte Entführung innerhalb weniger Wochen. Du verzeihst mein Misstrauen?“, gab sie in einem recht bissigen Ton zurück. Der Panther schien überrascht, aber er blieb geduldig. „Du darfst mir alles erzählen, was du möchtest.“

Tove schnaubte leise. „Um es kurz zu machen: Zuerst haben mich die Wächterhunde ins Hauptquartier von Friedrich Eisengrunth geschleppt, dann wurde ich zur Exekution an vier Vampire ausgeliefert. Aber anstatt mich zu töten, haben sie mich mitgenommen. Und jetzt bin ich… Wo sind wir hier überhaupt?“

„Ich verstehe dich vollkommen. Wir sind auf Shetland-Island, im Norden von Großbritannien. Es ist recht öde, aber hier sind wir weitgehend in Sicherheit.“

„Vor wem versteckt ihr euch?“, fragte Tove, obwohl sie bereits eine Ahnung hatte.

„Vor den Clans natürlich. Keiner von uns ist das, was erwünscht ist. Friedrich wollte die Adler nicht mehr. Nach und nach hat er in seinem Clan wirklich alle ausgelöscht, die ungehorsam oder eigensinnig waren. Kila und Ravenna sind nur um Haaresbreite entkommen. Ich bin wie du. Was mir blüht, brauche ich dir nicht zu erklären. Und Igor…“ Marcus senkte bekümmert die Ohren. „Seine Geschichte ist sehr traurig. Er muss selbst entscheiden, ob er sie dir erzählt.“

Tove nickte. Ihr Magen knurrte plötzlich lauter, als ihr lieb war. Marcus bleckte nur belustigt die Zähne. „Hast du dich schon daran gewöhnt, in deiner zweiten Gestalt zu jagen und zu essen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Noch gar nicht.“

Ein rohes Steak in Miras Villa war ihre letzte Mahlzeit gewesen, bevor Asheroth sie in den Kofferraum seines Wagens gesetzt hatte. Marcus näherte sich ihr mit einem Lächeln, das seine messerscharfen Fangzähne entblößte. „Dann haben wir wohl genug zu tun. Das heißt, wenn du bei uns bleiben willst.“

Tove hob ungläubig die Brauen. Er ließ ihr die Wahl?

„Wir haben dich nur von den Blutsaugern befreit. Was du jetzt tust, ist deine Sache“, beantwortete Marcus die unausgesprochene Frage in ihrem Kopf. Tove überlegte einen Augenblick. Sie hatte weder Geld für einen Flug noch Kontakte, die sie sicher zurück zu Asheroth geleiten konnten. Da er geächtet worden war, war keinem fremden Vampir mehr zu trauen. Und vielleicht konnte Marcus ihr beibringen, wie man sich verwandelte. Sie würde erst später nach einem Telefon oder irgendeiner anderen Möglichkeit fragen, wie sie zu ihrem Ausgleichsgeschöpf zurückkehren konnte. Marcus wirkte sehr vertrauenerweckend, doch ein wenig Geduld wollte Tove noch aufbringen.

„Ich würde gern bleiben. Nur eine Weile“, sagte sie zögerlich. Der Panther knurrte zufrieden. „Das hat Igor auch gesagt. Und nun ist er seit Jahrzehnten bei uns und mein bester Freund.“ Er stieß ihr mit dem Kopf leicht gegen die Schulter. „Dann zeig mir, wie schnell du laufen kannst. Danach üben wir anschleichen, falls noch nicht alle Tiere panisch geflüchtet sind.“

Gefangenschaft

Als Mira wieder zu sich kam, mussten ein paar Stunden vergangen sein. Sie spürte als erstes, dass ihre Füße den Boden nicht berührten. Sie war an ihren Handgelenken an einem starken Ast aufgehängt worden. Ein Blick nach oben bestätigte ihr, dass es Stahlketten waren, die ihre Gelenke fest umschlangen. Diese würde sie auch als Vampirin nicht einfach zerstören können. Um sie herum herrschte ein heilloses Durcheinander. Etwa vierzig Wächterhunde kläfften sich gegenseitig auf der breiten Lichtung im norwegischen Laubwald an, zu der sie sie geschleift hatten. Es war wohl jeder einer anderen Meinung. Neben ihrem Anführer stand der hagere blasse Gestaltwandler, den Mira als Rabenspäher kennengelernt hatte. Er verabschiedete sich gerade. „Ich fliege zum Hauptquartier.“

Der Oberste der Wächter nickte ihm zu und sorgte anschließend endlich für Ruhe. Offenbar gab es eine klare Rangordnung. Wenn dieser Mann etwas befahl, folgten die Hunde umstandslos. Einzelne nahmen ihre menschliche Gestalt an.

„WARUM ZUR HÖLLE LASSEN WIR DIESE KREATUR AM LEBEN, DRAGO?“, brüllte einer von ihnen.

„Sie hat Miguel getötet!“, schallte es von weiter hinten. Mira empfand keine Reue, obwohl sie nun auch den Namen ihres Opfers kannte. Der Hund hatte sie angegriffen und sie hatte sich verteidigt.

„Ich will ein paar Fragen stellen.“ Der Wächter namens Drago wandte sich betont langsam zu ihr um. „Und dann lassen wir dich brennen.“

Seine dunklen Augen wollten Mira durchbohren, doch sie war nicht sonderlich beeindruckt. Wahrscheinlich setzte er auf die Sonne, die so weit im Süden des Landes bald aufgehen würde, doch das würde absolut nichts nützen. Drago näherte sich ihr, wobei er vom dumpfen Knurren der anderen begleitet wurde.

„Das Halbblut lebt immer noch. Wo ist sie?“

Aus dieser Frage schloss Mira, dass die Hunde die Adler im dichten Schneetreiben nicht gesehen hatten. Nur ihren Aufprall auf dem hartgefrorenen Boden hatten sie bemerkt. Folglich kannten ausschließlich die beiden Raubvögel die Antwort. Sie bleckte die Zähne. „Ich weiß nicht.“

Drago schlug sie ins Gesicht. Im Vergleich zu Asheroths Verhör in seinem Haus in Frankreich war es erträglich.

„Was will Asheroth von ihr?“, bohrte er weiter. Mira schnaubte verächtlich. „Frag ihn doch selbst.“

Die Wächter brachen erneut in ohrenbetäubendes Bellen aus. Einige schienen nur noch einen Funken davon entfernt, die Vampirin in Stücke zu reißen. Dragos Miene wurde zusehends finsterer. Der Rabe hatte vermutlich schlechte Nachrichten für die Gestaltwandler überbracht.

„Und in welcher Beziehung stehst du zu diesem Monster?“, knurrte Drago leise. Diese eine Frage konnte Mira ehrlich beantworten. „Er ist mein Schwiegervater.“

Der versteckte Hinweis auf Asheroths leiblichen Sohn rief erneut in Erinnerung, dass die Vampire den Gestaltwandlern von Zeit zu Zeit ihre unverzichtbaren Begabten stahlen. Dass Mira selbst keinen Anteil daran hatte, sondern nur mit einem Geborenen liiert war, spielte selbstverständlich keine Rolle. Es steigerte den Zorn der Hunde nur noch. Allerdings schien ihnen nun auch bewusst zu werden, mit wem sie sich außer Asheroth noch angelegt hatten. Es war allgemein bekannt, dass Anzheru sehr viele mächtige Verbündete besaß. Sicher wussten auch die Gestaltwandler davon. Die ersten schlugen aus Furcht vor, seine Gefährtin lieber gehen zu lassen. Sofort entbrannte eine neue hitzige Diskussion, der Mira nicht ganz folgen konnte.

„RUHE!“, befahl Drago erneut. Die Hunde verstummten. Mira stieg mit einem Mal ein vertrauter Geruch in die Nase. Der Wind trug ihn her und natürlich nahmen ihn auch die feinen Nasen der Wächter wahr. Es waren Vampire und sie kamen näher. Die Hunde schauten beunruhigt zu ihrem Anführer und wieder in die Richtung, aus der sich die Vampire näherten. Worauf sie wohl warteten? Wenn Mira mit ihrer Vermutung richtig lag, hatten sie ihr Oberhaupt verloren. Ohne ihren Leitlöwen fiel es den Hunden offenbar schwerer, Entscheidungen zu treffen. Die Vampire hatten es nicht eilig. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie in Sicht kamen. Sie trugen schlichte, schwarze Umhänge mit großen Kapuzen, weshalb sie wie aus einer anderen Zeit wirkten. In ihrer Mitte zerrten sie zwei Gestalten mit sich, die an den Händen gefesselt waren. Mira hörte an ihrem rasenden Herzschlag, dass es Sterbliche waren. Die Hunde bildeten unter argwöhnischen Blicken eine Gasse für sie. Als die kleine Gruppe die Mitte der Lichtung erreicht hatte, blieben sie stehen. Der Vampir, der sie anführte, streifte seine Kapuze ab. Darunter kam ein kalkweißes Gesicht zum Vorschein, mit grauen Augen, die leicht aus dem Schädel hervortraten, und einem auffallend kräftigen Kiefer.

„Ich grüße euch, Wächter.“ Sein Lächeln war aufgesetzt. Mira beschlich augenblicklich die Angst vor dem, was er vorhaben könnte. Mit den Hunden hätte sie es aufgenommen, obwohl sie schon allein durch die massive Überzahl der Wächter keine Überlebenschance gehabt hätte. Aber mit diesem Vampir war es etwas anderes. Er musste einer der Ältesten sein.

„Was willst du, Cinric?“, fragte Drago ungeduldig. Sein Tonfall ließ eine alte Feindschaft vermuten.

„Ich möchte euch ein Angebot machen.“ Auf einen Wink stießen die Vampire hinter Cinric, die seine Leibwache sein mussten, die beiden Sterblichen ein paar Schritte vor und zogen ihnen die Kapuzen von den Köpfen. Es waren zwei junge Mädchen. Völlig verängstigt starrten sie von den Vampiren zu den Wächterhunden und anschließend kurz zu Mira.

„Diese beiden reizenden Geschöpfe haben wir in Aberdeen ausfindig gemacht. Sie sind Begabte, jung und gesund.“

Mira konnte sich denken, dass sie die Gabe besaßen, unsterbliche Nachkommen zu gebären. In der Nähe von Aberdeen lag die große Festung des Ältestenrats der Vampire. Vermutlich mieden die Gestaltwandler aus diesem Grund die gesamte Gegend und hatten die Familie der beiden Mädchen nie entdeckt. Es handelte sich ganz offensichtlich um Schwestern.

„Ihr habt für diese Gefangene dort keinerlei Verwendung“, fuhr Cinric fort, wobei er mit einer fahlen Hand auf Mira wies. „Ich schlage einen Austausch vor.“

„Sie hat einen von uns getötet!“, hielt Drago dagegen. Allerdings musterte er die beiden Mädchen schon mehr als interessiert.

„Das ist sehr bedauerlich, aber sie unterstützt Gesetzesbrecher unter den Vampiren. Bitte übergebt sie daher in unsere Gerichtsbarkeit.“ Cinric lächelte erneut künstlich in Miras Richtung. Seine Worte fraßen sich regelrecht durch ihre Trommelfelle in ihre Gedanken. Sie hasste Cinric jetzt schon wie die Pest. Ein paar der Hunde knurrten misstrauisch, doch Drago nahm das Angebot des Vampirältesten an. Miras Ketten wurden geöffnet, wobei Cinrics Leibwächter sie festhielten. Sie pressten sie auf den Boden und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Offensichtlich besaßen sie Übung darin, ihresgleichen gefangen zu nehmen. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde hatte Mira eine Chance, sich zur Wehr zu setzen. Sie verschnürten sie mit zwei kräftigen Seilen. Diese neuen Fesseln erlaubten überhaupt keine Bewegung ihrer Gliedmaßen. Ein großer, kräftiger Vampir warf sie über seine Schulter, woraufhin sie die Lichtung verließen. Nur wenn sie den Rücken so weit wie möglich bog, konnte Mira etwas außer dem schwarzen Umhang des Leibwächters sehen. Die Hunde streiften um die beiden Mädchen herum, die ihnen im Austausch für sie übergeben worden waren, und stupsten sie mit den Schnauzen an. Trotz ihrer eigenen Lage empfand Mira tiefstes Mitleid für sie. Sie wusste, dass der Handel mit Begabten früher einmal gang und gäbe gewesen war. Doch selbst ein Teil davon zu sein, widerte sie noch wesentlich mehr an als das bloße Wissen darüber. Als Mensch hätte Mira sich in dieser Situation wahrscheinlich übergeben müssen, aber ihr Vampirkörper hielt stand.

„Halt still!“ Der Leibwächter, der neben ihr ging, schlug sie auf den Hinterkopf. Mehr aus Reflex als aus Absicht ließ Mira ein dumpfes, aggressives Grollen ertönen. Ruckartig setzte ihr Träger sie ab und drehte sie um. Seine Hand schloss sich um ihre Kehle und presste ihren Kopf gegen seine Schulter.

„Anzheru hat dich aber auch wirklich nichts gelehrt. Man knurrt ältere Vampire nicht an.“ Der andere Leibwächter kam bedrohlich näher. Mira konnte sogar sein fahles Gesicht unter der riesigen Kapuze sehen. Er zog ein Messer hervor und hob es an ihre Wange.

„Lass das“, mischte Cinric sich ein. „Verschwendet ihr Blut nicht. Dafür ist es viel zu kostbar.“

Die beiden Leibwächter tauschten einen Blick aus. Mira konnte an ihren Augen ablesen, dass sie sich etwas anderes ausdachten, als ihr das Gesicht zu zerschneiden. Und das wahrscheinlich schon für jede Strafe für Gefangene, die es wagten, aufmüpfig zu werden. Am liebsten hätte sie sie auf der Stelle erschlagen, doch sie landete unsanft im Schnee. Der Fußmarsch wurde fortgesetzt. Der Vampir, der Mira zuvor getragen hatte, schleifte sie nun an dem Seil, das ihre Fußgelenke umschloss, hinter sich her. Und natürlich mit dem Gesicht nach unten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen großen Hubschrauber. Mira wurde auf die Ladefläche verfrachtet, während sie noch Schnee ausspuckte. Cinric und seine Leibwächter nahmen auf den Sitzen längs der Flanken des Helikopters Platz. Sie durfte gnädigerweise bei ihren beiden persönlichen Bewachern auf dem Boden sitzen. Die Seile hinterließen langsam Abdrücke. Mira war schleierhaft, aus welchem Material sie bestehen mussten, um so stabil zu sein. Cinric telefonierte kurz, dann befahl er dem Piloten zu starten.

„Was für ein Tag…“, sagte der Älteste mehr zu sich selbst und legte den Kopf zurück. Dann richteten sich seine steingrauen Augen wieder voller Gier auf Mira. „Deinen Namen und dein Gesicht kennen wir. Nun lass uns deine Stimme hören, mein Engel.“

„Ich grüße dich, Gebieter“, erwiderte sie sarkastisch, was ihr einen weiteren heftigen Schlag auf den Hinterkopf einbrachte. Cinric lachte nur erheitert. „Ich bin wirklich gespannt, was mein Bruder sich für dich ausdenkt. Du böses, kleines Mädchen.“

Mira zwang sich mit aller Kraft, nicht angewidert zu erschaudern. Vielleicht wäre es doch nicht so übel gewesen, sich von den Adlern entführen zu lassen. Dann hätte sie wenigstens noch Tove bei sich. Einige Kilometer weiter landete der Helikopter nur für die Dauer eines Atemzugs. Ein Vampir stieg durch die offene Luke an der linken Seite ein und sie hoben wieder ab. Sein starrer Blick durchbohrte Mira augenblicklich, weshalb sie sich auf eine merkwürdige Art nackt und verletzlich fühlte. Automatisch zog sie die Beine enger an ihren Körper, soweit es die Seile überhaupt zuließen. Er war hochgewachsen, aber recht dürr. Sein Gesicht kam Mira irgendwie bekannt vor. Immer noch musterte er sie, als wüsste dieser Vampir alles über sie. Langsam dämmerte ihr, um wen es sich handeln musste. Dieser Mann war Horatio, der älteste aller Vampire und Erster des Rates. Sie hatte ihn bereits einmal in den Gedanken von Asheroths Diener gesehen. Der Vater ihres Gefährten hatte Johann ohne mit der Wimper zu zucken erschlagen, weil er ihn an Horatio hatte verraten wollen.

„Darf ich vorstellen: Anzherus Liebchen“, sagte Cinric, wobei ihm die Siegesfreude deutlich anzuhören war.

„Ich weiß.“ Horatio schloss die Augen. Er wirkte wie berauscht. „Keiner beißt sie, sie beherrscht das Umkehren des Gedankenlesens.“

Mira presste stumm die Kiefer aufeinander. Ob dieses Verbot gut oder schlecht für sie war, würde sich noch zeigen. In Horatios Mundwinkel klebte ein wenig Blut, worauf Cinric ihn vorsichtig hinwies. Der Älteste wischte es mit dem Handrücken ab. Der Geruch dieses Blutes war Mira erschreckend vertraut. Das letzte Mal hatte sie ihn wahrgenommen, als Asheroth sich im Hauptquartier der Gestaltwandler die Hand an einem zerquetschten Glas aufgeschnitten hatte. Langsam wurde ein schlimmer Verdacht zur Gewissheit.

„Wenn wir in Aberdeen gelandet sind, kommt sie erst einmal in den Kerker“, ordnete Horatio an. „Wir fliegen sofort weiter.“

„Wohin so eilig?“, fragte Cinric mit hochgezogenen Brauen.

„In die Arktis. Du wirst mir nicht glauben, was Asheroth herausgefunden hat, wenn du es nicht mit eigenen Augen siehst.“

„Du hast ihn getötet“, sagte Mira tonlos. Einen anderen Schluss ließ die Situation nicht zu. Horatio hatte Asheroth ausgesaugt und ihm all seine Geheimnisse gestohlen. Dass der Leibwächter hinter ihr ihren Kopf an den Haaren hochriss und ihr befahl, nur nach Aufforderung zu sprechen, interessierte Mira kaum. Sie fühlte sich vom Schmerz wie betäubt. Es war schwierig, Asheroth zu mögen, dennoch war es ein dramatischer Verlust. Die Arktis? Sie hatte keine Ahnung, was dort von so großem Interesse sein könnte. Asheroths Gesicht tauchte in ihren Erinnerungen auf. Er hatte sich nur halb zu ihr umgewandt.

Es gibt Dinge, die nicht einmal du über Anzheru wissen darfst, so sehr du ihn auch liebst. Keine Kenntnis davon zu besitzen, bedeutet Sicherheit für dich.

Herz

Leandros betrachtete den zerborstenen Baum nur kurz. Ein Körper musste dagegen geprallt sein. Ein kleiner Stofffetzen hing in den Überresten der aufgerissenen Rinde, der eindeutig nach Mira roch. Es war die einzige Spur von ihr, ansonsten stank es nur nach Hund und Blut. Charles kämpfte sich durch den Schnee zu ihm.

„Dort drüben liegt ein Wächter. Mira hat es tatsächlich fertig gebracht, einen von ihnen zu töten.“ Er wies über seine Schulter.

„Tove?“

„Nicht das geringste Anzeichen.“

Leandros rieb sich den Nacken. Asheroth hatte sie in der Hoffnung hergeschickt, die Mädchen oder wenigstens eine brauchbare Spur zu finden. Aber nun würden sie ihm wohl sagen müssen, dass sie Mira und Tove endgültig verloren hatten. Er hasste es, seinen Gebieter zu enttäuschen. Charles schloss sich ihm nur widerwillig an, als Leandros die Suche aufgab. Allerdings musste auch er einsehen, dass es nichts weiter zu finden gab. Die Adler waren fort. Sie beeilten sich auf dem Weg zu der Zitadelle. Dort war Asheroth allein zurückgeblieben, um sich Friedrich Eisengrunth zu stellen, dem Oberhaupt der Europäischen Gestaltwandler. Der Wind trug ihnen den Geruch von Blut entgegen, weshalb die beiden Leibwächter zum Sprint übergingen. Zum Glück hatte es endlich aufgehört zu schneien. Ein paar Schritte von der Ruine entfernt entdeckten sie die Leiche von Friedrich Eisengrunth, beziehungsweise zuerst seinen Kopf und dann den Rest. Im Tod waren alle Gestaltwandler wieder Menschen, was Leandros schon immer gewundert hatte. Selbst wenn es ihm gelungen war, einen Vogel vom Himmel zu holen, hatte er ihn am Boden in menschlicher Gestalt vorgefunden.

„Gebieter?“, rief Charles in die Stille hinein. Er war nirgends zu sehen oder zu hören, aber es roch noch ein wenig nach ihm. Leandros wandte sich nur zufällig zu den Trümmern der Ruine um, die im Kampf wohl beschädigt worden war. Ihm stockte der Atem. Zwischen den großen Steinen, die herabgestürzt waren, lag ein absolut regloser Körper. Wie in Trance näherte er sich ihm. Die eisblauen Augen standen weit offen, er atmete nicht, sein Herz schlug nicht. Leandros kniete sich neben Asheroth auf die Erde. Seine Aura war ebenfalls nicht mehr spürbar. Charles ging an seiner anderen Seite in die Hocke und schloss die fürchterlich starren Augen ihres Gebieters.

„Dieses eine Mal hätten wir ihm nicht gehorchen dürfen. Wir hätten bleiben müssen“, sagte Leandros mehr zu sich selbst als zu seinem langjährigen Waffenbruder. Er empfand keinen Schmerz, nur unendliche Leere. Sechzehn Jahrhunderte lang war er Asheroth überall hin gefolgt, um an seiner Seite zu kämpfen. Und nun gab es ihn einfach nicht mehr.

„Wir nehmen ihn mit. Anzheru soll entscheiden, wo wir ihn begraben.“ Charles hob den Oberkörper ihres Gebieters behutsam an, hielt jedoch plötzlich inne. „Sieh dir das an!“

Leandros widerstrebte es, Asheroths Leichnam zu untersuchen. Dennoch folgte er der Aufforderung und warf einen Blick auf die linke Seite von Asheroths Nacken. Der Bissabdruck eines Vampirs war zu sehen. Folglich war ihr Gebieter definitiv nicht im Nachhinein den Löwenbissen erlegen.

„Horatio?“, fragte Charles unsicher.

„Wer denn sonst?“, gab Leandros gereizt zurück. Weder Cinric noch Seth, die übrigen Mitglieder des Ältestenrats, konnte es ernsthaft mit Asheroth aufnehmen. Leandros legte den Körper seines Gebieters über die Schultern und bestand darauf, ihn die ganze Zeit über allein zu tragen. Charles ging stumm und niedergeschlagen neben ihm her. Keiner von ihnen ahnte, wie knapp sie Horatio entgangen waren. Irgendwo in der schwedischen Einöde stahlen sie ein Auto. Dennoch brauchten sie einige Stunden, bis sie die Küste erreichten. Die Gruppe um Commodus hatte die baltische See mit Sicherheit schon hinter sich gelassen. Charles kümmerte sich um die Überfahrt von einem Ort namens Gävle aus. Ihm merkten die Menschen nicht an, was er war. Zudem wirkte er so ungefährlich, dass niemand fragte, ob sie etwas im Kofferraum transportierten. In Petersburg wurden sie bereits von Jasminas Vampiren mit einem Hubschrauber erwartet. Die ganze Reise über fühlte Leandros sich wie betäubt. Er hielt Asheroths Körper fest, etwas anderes erschien vollkommen unwichtig. Sie flogen nicht zum Hauptquartier des Östlichen Clans, sondern zu einem abgelegenen Stützpunkt mitten im Nichts. Jasmina hatte Wachen zur Verfügung gestellt, die sich vor dem Gebäude postiert hatten. Nachdem sie gelandet waren, hob Leandros den Leichnam in seine Arme und trug ihn auf das dunkle aber robust wirkende Gebäude zu. Commodus kam ihnen als Erster entgegen.

Anzheru hatte das Geräusch des sich nähernden Helikopters selbstverständlich gehört. Er eilte nach draußen. Vielleicht gab es endlich einen Hinweis auf Miras Verbleib. Seine Hoffnung löste sich schlagartig auf, als er Leandros und Charles aus dem Hubschrauber steigen sah. Er blieb neben dem hünenhaften Ältesten stehen, den er seinen Onkel nennen durfte. Leandros trug Asheroth. Sein Kopf und seine Gliedmaßen hingen schlaff herab. Kein Herzschlag war zu hören. Hinter Anzheru versammelten sich nach und nach seine Vampire. Sie hatten offenbar seine Hoffnung auf Neuigkeiten geteilt und konnten nun nur den leblosen Körper seines Vaters betrachten. Charles löste sich von Leandros und kam direkt auf Anzheru zu. Er war einer von zwei Vampiren der Leibwache des Ältestenrats, die Anzheru vor zehn Jahrhunderten in Aberdeen aufgezogen hatten. Sie hatten sich immer nahe gestanden. Selbst noch als Anzheru die Leibwache verlassen hatte, war Charles immer herzlich und freundlich mit ihm umgegangen. Wortlos drückte der Leibwächter ihn kurz an sich. Die Geste genügte.

„Es muss Horatio gewesen sein“, sagte Leandros voller Verachtung. „Er hat ihm nicht einen Tropfen Blut gelassen.“

Commodus verbarg das Gesicht in einer seiner riesigen Hände. Als er sie wieder sinken ließ, konnte Anzheru ihm deutlich seine Trauer ansehen.

„Schlimmer konnte es nicht kommen. Dein Vater wusste Dinge, die besser im Verborgenen geblieben wären, vermutlich sogar Dinge, von denen nicht einmal ich weiß.“

„Dann weiß Horatio auch, wo wir sind?“, fragte einer der Vampire hinter Anzheru.

„Er war noch nie selbst in diesem Stützpunkt“, warf einer von Jasminas Leibwächtern ein. Commodus nickte ihm zu. „Das ist gut, aber Horatio wird eine Ahnung haben. Einen offenen Angriff wird er zum jetzigen Zeitpunkt dennoch nicht riskieren, da bin ich sicher. Er wird abwarten, bis wir einen Fehler machen, der uns verrät. Aber wir werden uns nicht zeigen.“

Anzheru hatte kaum zugehört. Er hatte erst recht keine Ahnung von Asheroths Geheimnissen. Sein Vater hatte sein Wissen nie mit ihm geteilt. Nicht einmal eine Erinnerung an seine Mutter hatte er ihm gezeigt. Horatio wusste nun alles.

„Du sollst entscheiden, wo wir ihn begraben.“ Charles‘ sanfte Stimme riss Anzheru aus seinen Gedanken. Er erwiderte nichts. Er schaute den Leibwächter nur mit leerem Blick an. Es kam Anzheru vor, als würde die Zeit einen Augenblick still stehen. In seinem Brustkorb regte sich etwas, von dem er lange geglaubt hatte, es sei verschwunden. Es schlich sich langsam von seinem Herz in seine Gedanken. Noch ist es nicht zu spät. Ich weiß, dass er noch mit dem Tod ringt. Ich könnte... Anzheru atmete tief durch. Alle Augen waren gespannt auf ihn gerichtet.

„Gib ihn mir.“ Er streckte fordernd die Arme vor. Zuerst rührte Leandros sich überhaupt nicht, dann näherte er sich Anzheru mit ungläubiger Miene. „Was hast du vor?“

Statt dem Leibwächter zu antworten, übernahm er den Körper des Ältesten und trug ihn ins Haus. In der oberen Etage gab es noch ein kleines Zimmer, das derzeit niemand brauchte. Commodus wies die anderen an, sich fernzuhalten. Nur er folgte Anzheru hinauf. Vermutlich ahnte er, was geschehen würde.

Leandros ballte zornig die Fäuste. Warum hatte Anzheru nichts gesagt? Charles verhielt sich ungewohnt ruhig. Er bat Edward nur, mit ihm auf die Jagd zu gehen. Wahrscheinlich litt er immer noch unter den Folgen der vielen Hundebisse und brauchte frisches Blut. Edward, der einst mit ihnen in der Leibwache gedient hatte, warf erst Leandros und dann Konstantin einen forschenden Blick zu.

„Ist es in Ordnung, wenn Leandros und ich euch begleiten? Meine kleine Frau ist unersättlich und ich möchte Blut für sie haben“, sagte der blonde Junge und wies mit dem Kopf zu Violetta hinüber. „Jasminas Wachen kommen sehr gut ohne uns zu Recht.“

Leandros war über Konstantins Vorschlag erstaunt, schließlich hatte der Junge ihn Jahrzehnte lang gemieden, wenn es nur irgendwie möglich gewesen war. Nun schlug er vor, gemeinsam auf die Jagd zu gehen, und schaute ihn freundlich an. Charles und Edward erklärten sich einverstanden, Helena und Violetta hatten keine Einwände gegen die Abwesenheit ihrer Gefährten. Hand in Hand gingen sie auf einen kleinen Spaziergang, um Commodus‘ Befehl nachzukommen. Jasminas Vampire folgten ihnen in kurzem Abstand.

Anzheru legte Asheroths Körper auf dem schmalen Bett ab, dann zog er ihm die Überreste seiner Jacke und seines Hemds aus.

„Willst du es wirklich riskieren, Neffe? Er ringt schon sehr lange mit dem Tod. Es könnte dich mitreißen.“ Commodus flüsterte nur, obwohl das Haus vollkommen leer war. Jasminas Wachen befanden sich ausschließlich draußen und blieben strikt in Violettas Nähe.

„Ich bin mir der Gefahr bewusst“, erwiderte Anzheru stur. „Hast du ein Messer?“

Der Hüne seufzte leise und reichte ihm den Dolch, den er immer versteckt am Gürtel trug. Dann trat er zurück und hielt den Atem an. Anzheru tastete nach den unteren Rippen seines Vaters. Dort schnitt er seinen Brustkorb auf, um ihm nicht noch mehr Knochen zu brechen. Einiges an Gewebe versperrte den Weg zu seinem Herz, aber Anzheru blieb unnachgiebig. Er musste die Hand zum großen Teil unter Asheroths Rippen hindurch schieben, um seine Herzkammer zu erreichen. Auch diese ritzte er vorsichtig an. Commodus stand stumm hinter ihm und beobachtete nur, wie Anzheru seine Hand wieder aus dem leblosen Körper herauszog, um sich die Fingerkuppen mit seinem Dolch aufzuschneiden. Anschließend schob er seine Hand ein zweites Mal unter den Rippen seines Vaters hindurch und füllte sein Herz mit lebendigem Blut. Er konnte spüren, wie sehr das vampirische Gewebe nach Blut gierte und daher seine Schnittwunden offen hielt. Es würde immer weiter fließen. Aus diesem Grund war es sowieso sehr gefährlich, Wunden auf diesem Weg zu heilen. Sein eigenes Blut in das Herz eines anderen Vampirs zu füllen, war schon fast irrsinnig. Anzheru musste seinem Vater genug geben, damit er von der Schwelle des Todes zurückkehrte, aber auch selbst genug behalten, um nicht seinen Platz dort einzunehmen. Es lag nur ein sehr schmaler Grat zwischen Leben und Tod. Anzheru war bewusst, dass er bei weitem nicht so lange gegen den Tod ankämpfen konnte wie Asheroth. Niemand konnte das. Commodus hielt sich dankbarerweise bereit, Anzheru von seinem Vater loszureißen, falls er die Kontrolle verlieren sollte. Die Sekunden verstrichen. Der Geborene begann, den Blutverlust in seinem Kopf zu spüren. Jeder seiner Instinkte befahl ihm, sofort aufzuhören und sich sein Blut zurückzuholen. Ein Zucken, so gering dass es kaum zu spüren war, ging endlich durch Asheroths Herzmuskel. Anzheru atmete erleichtert auf und löste seine Fingerkuppen aus dem langsam erwachenden Organ.

„Hat es funktioniert?“, flüsterte Commodus.

„Es wird dauern, bis wir Gewissheit haben. Bleibst du bei ihm?“

Der Älteste nickte. „Ja, natürlich.“

Anzheru verließ mit eiligen Schritten den Raum und begab sich nach unten. Commodus holte ihn in der geräumigen Diele ein, von der aus größere Aufenthaltsräume und die Küche zugänglich waren. So groß wie jetzt war sein Blutdurst schon lange nicht mehr gewesen. Fahrig durchsuchte Anzheru die Küche nach irgendetwas, das seine brennende Kehle löschen konnte. Commodus lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete seine hastigen Bewegungen aufmerksam, bis der Geborene irgendwo in einem der zahllosen Schränke wenigstens eine halbvolle Flasche Rotwein fand.

„Warum tust du das?“

„Ich werde wahnsinnig vor Durst.“ Anzheru fiel es schwer, noch einen halbwegs ruhigen Ton zu treffen. Auf Commodus war er nicht wütend, aber sein Onkel besaß ein eigenartiges Talent dafür, zum falschen Zeitpunkt unpassende Fragen zu stellen.

„Du weißt, was ich meine.“ Der Älteste wies mit dem Kopf zur Decke. Genau über ihnen befand sich Asheroths Lager.

„Niemand wird verstehen, warum ausgerechnet du ein so großes Risiko für ihn eingegangen bist. Am wenigsten er selbst.“

Anzheru spannte die Kiefer an, dann trank er den kläglichen Rest in der Weinflasche in einem Zug aus.

„Wirst du mir antworten?“, hakte Commodus nach. Der Geborene setzte geräuschvoll die Flasche ab, dann schüttelte er den Kopf. Anzheru wäre am liebsten sofort aus dem Stützpunkt verschwunden, um niemandem mehr zu begegnen, der Fragen stellte.

„Verrätst du mir dann, woher du wusstest, dass diese eine Möglichkeit noch bestand? Auch ich habe geglaubt, er sei bereits verloren.“ Der Älteste blieb erstaunlich geduldig. Es war eine der Eigenschaften, die Anzheru so sehr an ihm schätzte. Er rieb sich den Nacken. „Wir sind miteinander verbunden. Du weißt, dass er mich immer und überall finden kann.“

Anzheru musste kurz an die Nacht zurückdenken, in der Asheroth eben diese Fähigkeit genutzt hatte, um ihn auf dem Weg zu Tristan und Kyrill abzufangen. Gemeinsam hatten sie Mira gerade noch befreien können. Commodus legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich dachte, es funktioniert nur in die eine Richtung.“

„Ich kann ihn nicht durch meinen Tastsinn aufspüren. Mein… Erbe beschränkt sich darauf, dass ich Asheroths Präsenz spüre. Sie war sehr geschwächt, aber noch nicht ausgelöscht.“

„Von dieser Fähigkeit hast du nie zuvor etwas erwähnt.“ Im Gesicht des Hünen zeichnete sich leise Sorge ab. „Hattest du sie von Geburt an?“

Anzheru nickte. „Es kam mir normal vor. Als mir bewusst wurde, dass es das nicht ist, war ich bereits sein oberster Leibwächter. Es erschien mir unangemessen, darüber zu reden.“

Und davon, dass er irgendwann die Stimmung seines Vaters von dessen Bewegungsmuster hatte ableiten können, wollte er auch jetzt nicht berichten. Commodus nickte endlich zufrieden und ließ ihn gehen. In der Diele sprach er ihn allerdings noch einmal an, bevor er auf die Jagd gehen konnte. „Schwöre mir, dass du zurückkommst, Neffe. Mach dich nicht allein auf die Suche nach deiner Tageswandlerin.“

Anzheru wandte sich ungeduldig zu ihm um.

„Allein wirst du es nicht schaffen und wenn du tot bist, hat sie nichts mehr von dir“, fügte Commodus mit Nachdruck hinzu. Seine dunklen Augen durchbohrten Anzheru unnachgiebig, bis er notgedrungen zustimmte.

„Asheroth wird dich nicht ohne eine Erklärung davon kommen lassen.“

„Warum?“, erwiderte der Geborene gereizt. „Warum kann er sich nicht damit zufriedengeben, dass ich ihn ins Leben zurückgeholt habe? Wenn er denn tatsächlich wieder aufwacht.“

Commodus atmete hörbar aus. „Es ist ganz einfach. Er will dich verstehen.“

„Seit wann das denn?“

Der Älteste warf ihm einen bedauernden Blick zu. „Ich weiß, dass sehr viel zwischen euch steht. Trotzdem solltest du über deine Antwort nachdenken, wenn du auf der Jagd bist. Und auch darüber, wie du zu Tove stehst.“

Anzheru rieb sich die Nasenwurzel. Leider musste er Commodus Recht geben. Das Halbblut würde früher oder später der zweite wichtige Punkt im Konflikt mit seinem Vater werden. Ohne ausreichend frisches Blut in seinem Körper würde er diese Sache niemals durchstehen. Commodus sah ihn allerdings immer noch unverwandt an.

„Willst du mir noch etwas sagen?“ Anzheru versuchte ein entschuldigendes Lächeln für sein aggressives Verhalten. „Onkel?“, fügte er hinzu.

„Ja, aber du solltest dich wirklich erst stärken. Geh jetzt.“

Ursprung

Es war dunkel. Absolut dunkel. Er konnte nicht atmen, keinen Muskel rühren. Nur der Tod war da und wartete. Der Tod würde weder müde noch ungeduldig werden. Sein Blut brannte. Es quälte ihn, seit sein Herz geöffnet worden war. Es war so fremd und doch vertraut. Schon einmal hatte er fremdes Blut in sich gespürt. Kurz bevor er zum allerersten Mal als Schattenwandler die Augen geöffnet hatte. Seine Finger krallten sich in nassen Stein. Die Welt fühlte sich intensiver und so viel lebendiger an. Der Boden vibrierte unter den Schritten zweier Männer, die sich ihm näherten. Asheroth setzte sich auf. Als seine Füße den Boden berührten, fühlte es sich an, als würden tausende Nadelstiche seine nackten Sohlen durchbohren. In dem finsteren Kerkerraum war mit den Augen kaum etwas zu erkennen, trotzdem wusste er, dass die beiden Männer keine Menschen waren. Er selbst fühlte sich nicht mehr an wie ein Mensch.

„Das ging verflucht schnell. Er hat nur einen Tag geschlafen.“

„Hector besitzt langsam Übung darin, vielleicht liegt es daran.“

Die beiden Männer sprachen Griechisch. Asheroth stemmte sich mit aller Kraft von seiner steinernen Liege, um ihnen entgegenzutreten. Dabei konnte er kaum stehen. Er war rasend vor Durst. Zuerst erschien ein blonder Mann mit grünen Augen in dem Durchgang, der in das verfallene Gewölbe führte. Ein wahrer Hüne mit dunklem Haar und Augen, die schimmerten wie dunkle Edelsteine, folgte ihm auf dem Fuß.

„WER SEID IHR UND WAS IST MIT MIR PASSIERT?“, brüllte Asheroth sie an. Er war kein Sklave. Wie konnten sie es wagen, ihn zu verschleppen?

„Ich bin Achilleas“, sagte der Blonde. „Dies ist mein Bruder Commodus. Beruhige dich, Hector wird es dir erklären.“

Als Achilleas sich ihm nähern wollte, zerrte Commodus ihn mit einer seiner prankenartigen Hände zurück. „Pass auf! Ich kann sie jetzt sogar sehen.“

„WAS? WAS KANNST DU SEHEN?“ Asheroth stand kurz davor, aus lauter Zorn auf sie loszugehen, obwohl sie beide größer waren als er.

„Deine Aura“, knurrte der Hüne, doch Achilleas wand sich unbeirrt aus seinem Griff und kam auf ihn zu. „Kannst du gehen? Hast du Schmerzen?“

„Es geht schon!“, gab Asheroth widerwillig zurück. Er wollte sich nicht stützen lassen, obwohl seine Sohlen bei jedem seiner Schritte heftig gegen die Belastung protestierten. Trotzdem konnte er die Schritte der beiden anderen immer noch spüren, als sie das Gewölbe verließen. Vor ihnen erstreckte sich ein endloser Sandstrand, doch dies war nicht seine Heimat.

„Wo zum Henker sind wir?“, fragte Asheroth wütender denn je. Dieser Durst machte ihn wahnsinnig. Er war ernsthaft versucht, Meerwasser zu trinken, obwohl er von den Seefahrern Karthagos wusste, dass es den Durst nur schlimmer machte.

„Nahe Rom“, mischte sich eine fremde Stimme ein, bevor Achilleas antworten konnte. Asheroth fuhr herum. Ein Mann trat aus dem Schatten der Ruine hervor. Er war groß und hager, seine kalten blauen Augen fixierten ihn wie ein Raubtier seine Beute. Dies war also Hector, der ihn gefangen genommen und verschleppt hatte. Ohne dass er das Geringste gespürt hatte, war er von Karthago aus über das Meer nach Norden gebracht worden, aber das beschäftigte Asheroth nun nicht mehr so sehr. Ein Mann wie Hector war ihm zuvor nie begegnet.

„Willkommen, mein Sohn.“ Seine Stimme ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Er war unheimlich stark, jeder seiner Schritte verriet es. Sein Herz schlug unregelmäßig und seltsam gedehnt.

„Komm mit mir. Ich werde dir alles erklären.“

Asheroths Zorn war verraucht. Hectors gesamte Erscheinung war so eindrucksvoll, obwohl er von dürrer Gestalt war, dass er nicht einmal mehr daran dachte, ihn anzugreifen. Die anderen blieben zurück. Asheroth entdeckte noch einen dritten dieser unmenschlichen Männer bei einem kurzen Blick über die Schulter. Er war ähnlich dürr wie Hector, nur kleiner. Und er starrte Asheroth durchdringend an, beinahe schon eifersüchtig. Später sollte er erfahren, dass er Horatio hieß und der älteste der Brüder war. Auf dem Weg zur nächsten Hafenstadt erzählte Hector Asheroth seine Geschichte. Er stammte aus einer weit entfernten Region, die nun zum persischen Reich gehörte. Sein Dorf war als Exempel für die umliegenden Siedlungen restlos vernichtet worden.

„Sie verbrannten die Häuser, streuten Salz auf die Äcker und vergifteten die Brunnen. Die Familien wurden ausgerottet, nicht einmal die Kinder nahmen sie mit. Nur Atra, die Frau des Oberhauptes, ließen sie am Leben. Und aus blankem Hohn gaben sie ihr ihre vier Kinder zurück, damit sie allen anderen erzählten, wie mächtig die Perser waren.“

Hectors Miene konnte Asheroth entnehmen, dass er gerade einem dieser vier Kinder über die Dünen folgte. Doch er empfand kein Mitleid. Solche Dinge passierten. Es war ein effektiver Weg den Widerstand kleinerer Völker zu brechen und sie zu unterwerfen.

„Meine Mutter verfluchte die Perser und all jene, die uns nicht zu Hilfe gekommen waren“, fuhr Hector fort. „Meine Schwestern, mein Bruder, wir alle schworen ewige Rache.“

Asheroth hob skeptisch die Augenbrauen. Wie sollte so etwas möglich sein? Seine Pläne würden mit Hector sterben. Kein einzelner Mann und auch nicht vier Geschwister konnten ein Reich wie das der Perser vernichten.

„Und aus diesem Grund suchten meine Geschwister und ich Wege, stärker zu werden. Meine Schwester Irsia verbrüderte sich mit den unsterblichen Wölfen des Tibers und verhalf ihnen somit dazu, bei Mondlicht menschliche Gestalt anzunehmen. Ihrer Bitte Menschen zu töten, kommen die Mondwandler nun sehr gerne nach“, erzählte Hector gedankenverloren weiter. „Meine zweite Schwester Jala ist nach Norden aufgebrochen, um nach anderen Feinden des Menschen zu suchen. Meinen Bruder Dastan habe ich bedauerlicherweise aus den Augen verloren.“

„Und was habe ich damit zu tun?“, fragte Asheroth ungeduldig.

„Als ich dich nahe deiner Heimat eine Löwin jagen sah, wusste ich, dass du wie geschaffen für unsere Angelegenheiten bist. Du bist furchtlos, nicht einmal der Tod ängstigt dich.“ Hectors Augen begannen zu funkeln, als hätte er einen wertvollen Schatz entdeckt. Asheroth zuckte nur mit den Schultern. „Der Tod folgt mir schon sehr lange.“

„Wie lange? Erzähle es mir, mein Sohn.“

Asheroth empfand es langsam als abstoßend, wie beharrlich dieser Fremde ihn mit Sohn ansprach. „Seit meiner Geburt“, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen.

„Weshalb?“

Er atmete angestrengt aus und erschauderte selbst bei dem Geräusch, das aus seiner Kehle drang. Es war das Grollen eines Raubtiers. Hectors Augen wurden schmal. „Antworte, Asheroth.“

Sein Tonfall war plötzlich nicht mehr freundlich, sondern gebieterisch. Asheroth verstand nicht, warum es wichtig war, doch er sagte es ihm. „Meine Zwillingsschwester wurde nach mir tot geboren. Und alle sahen es als schlechtes Zeichen an.“

„Du wirst gemieden.“

„Ja!“ Der Zorn loderte erneut in ihm auf. Asheroth würde diesen Durst nicht mehr lange aushalten. Hector schenkte ihm etwas Ähnliches wie ein Lächeln. „Die Menschen haben allen Grund dazu. Auf dir lastet ein Fluch. Und nun, da du einer von uns bist, ist seine Auswirkung noch wesentlich stärker geworden.“

„Was bin ich denn?“ Asheroth schrie beinahe, es kümmerte ihn nicht, dass ihn eventuell irgendjemand hörte.

„Ich habe dich zu einem Schattenwandler gemacht. Du bist größer und stärker als ein Mensch. Verletzungen und Krankheit können dir nichts anhaben. Solange du dich vom Sonnenlicht fernhältst, kann dir nichts etwas anhaben.“ Hectors Mundwinkel formten sich zu einem diabolischen Grinsen. „Dafür verlange ich nur deine Treue und deinen Gehorsam. Ich weiß, dass du Durst hast. Ich werde dir zeigen, wie du ihn stillen kannst.“

In jener Nacht hatte er zum ersten Mal das Blut eines Menschen getrunken und anschließend eine ganze Familie ausgerottet. Asheroth empfand keine Reue. Kein Mensch hatte ihn je gemocht. Seine eigene Familie hatte ihn immer verabscheut. Manchmal hatte er sich gewünscht, dass es nicht so wäre, aber von diesem Gedanken verabschiedete er sich nun. Er genoss es sogar ein wenig zu töten. Und es gab insgesamt nicht viele Regeln, an die er sich halten musste.

Gehorche Hector, tritt nicht in die Sonne, trinke nicht von Tieren und halte dich von Menschen fern. Oder töte sie.

Wochen lang hatten er und seine Brüder sich unter Hector lautlos durch die römische Bevölkerung gemordet. Dank seines Tastsinns fand Asheroth die nahrhaftesten Menschen wesentlich schneller als die anderen. Er lernte, nach jenen zu suchen, die keine versteckten Geschwüre hatten. Achilleas riet ihm nach kurzer Zeit, den anderen seinen überscharfen Sinn lieber nicht zu zeigen. Vor allem Hector sollte nichts davon wissen. Achilleas und Commodus vertrauten ihrem Gebieter nicht ganz und hielten ebenfalls geheim, dass sie besondere Fähigkeiten besaßen. Der Hüne konnte Dinge sehen, die für die anderen im Verborgenen blieben. Achilleas hingegen besaß bessere Ohren als jedes andere Raubtier. Er schloss sich Asheroth auf der Jagd an, wann immer Hector es zuließ. Überhaupt schien Achilleas, der ursprünglich aus Sparta stammte, Asheroth trotz seiner Aura zu mögen. Commodus hingegen misstraute ihm noch eine ganze Weile und Horatio verachtete ihn aus irgendeinem unerfindlichen Grund. Allerdings behandelte der älteste der Brüder sie in diesem Punkt alle gleich. Nach etwa zwei Monaten beschloss Hector, das Umland von Rom zu verlassen und sie zogen zu Fuß über die Alpen. Es stellte keine Schwierigkeit für die Schattenwandler dar, denn sie waren ausdauernder als jedes andere Lebewesen. Jede Nacht legten sie viele tausend Schritte zurück, nur im Tageslicht konnten sie nicht weiterziehen. Nördlich der Alpen trafen sie auf sehr kriegerische Menschen, welche von den Römern später einmal als Germanen bezeichnet werden sollten. Hector wollte einen der ihren zu einem Schattenwandler machen. Der junge Mann namens Cinric war ihm aufgefallen, weil er sich während einer Fehde zwischen zwei Dörfern als erbarmungsloser und effektiver Kämpfer erwiesen hatte. Asheroth hatte seinen Gebieter auf jenem Streifzug begleitet, auf dem sie Cinric entdeckt hatten, und hatte ein ähnliches Handeln wie bei seiner Entführung erwartet. Hector hatte ihn blitzartig überwältigt und verschleppt, doch mit Cinric redete der Vater der Schattenwandler seelenruhig vor seiner Verwandlung, als wäre es das Normalste der Welt. Verwirrt sprach Asheroth Achilleas in der folgenden Nacht darauf an, als sie gemeinsam mit Commodus auf die Jagd gingen.

„Er hat mit jedem von uns vorher darüber gesprochen. Nie wieder die Sonne sehen zu dürfen, ist schließlich ein hoher Preis“, erwiderte der Spartaner verwundert.

„Ihr durftet es euch aussuchen?“, wiederholte Asheroth verständnislos.

„Ja, ich war ein Sklave, bevor Hector mich fand. Er versprach mir, dass ich den Mann töten darf, der mich mein ganzes Leben lang gequält und gedemütigt hat. Was hatte ich schon zu verlieren?“ Commodus rieb sich den Nacken. „Hat er dir etwa nicht die Wahl gelassen?“

Asheroth schüttelte den Kopf. Achilleas weigerte sich, seine Geschichte zu erzählen, aber darüber würde er sich erst später wieder Gedanken machen. Es war das erste Mal, dass Asheroth sich von Hector betrogen fühlte. Kurz darauf erschien Cinric in ihrem Lager, um ihren Gebieter aufzusuchen. Tatsächlich stimmte er freiwillig zu, ein Schattenwandler zu werden. Hector ging mit ihm fort. Asheroths stummer Zorn wuchs. Zum einen war ihm nicht die Wahl gelassen worden, zum anderen verriet Hector ihnen nicht, wie er seine Geschöpfe erschuf, sondern tat es im Geheimen. Achilleas war ebenfalls anzumerken, dass er mit der Situation unzufrieden war. Allerdings weigerte er sich, mit Asheroth zu sprechen. Irgendetwas stand zwischen ihnen, doch Asheroth hatte zu diesem Zeitpunkt keine Nerven für seinen Bruder übrig. Während sie auf Cinrics Erwachen warten mussten, stellte Asheroth Hector allein zur Rede. „Warum hatten die anderen die Wahl, ob sie dir folgen wollen, aber ich nicht?“

Sein Gebieter senkte bedrückt die Lider über seine kalten, blauen Augen. „Ich wusste, dass du das eines Tages fragen würdest, Sohn. Ich hatte mir immer Männer gewünscht, die mir aus Überzeugung folgen, daher fragte ich deine Brüder vorher, ob sie es wirklich wollten. Aber du… Als ich dich jagen sah und wusste, dass du selbst als Mensch schon etwas Unmenschliches an dir hattest, da musste ich dich einfach haben.“

Asheroth verzog ungläubig das Gesicht. „Du hattest Angst, ich würde ablehnen?“

„Ja! Der Gedanke, dich nicht in meinem Gefolge zu haben, machte mich rasend. Du musst wissen, dass auch ich vor meiner Wiedergeburt als Schattenwandler etwas Abstoßendes an mir hatte. Die Menschen, die mich umgaben, fürchteten mich.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Wenn ich leibliche Söhne haben könnte, wünschte ich, sie wären wie du. Ich hoffe, du vergibst mir irgendwann mein selbstsüchtiges Handeln. Gefällt dir dein neues Leben denn nicht?“

Zu behaupten, er wäre lieber kein Schattenwandler, wäre eine Lüge gewesen. Asheroth nickte nur stumm. Doch die verweigerte Wahl blieb ihm immer im Gedächtnis.

Nachdem Cinric endlich als Schattenwandler erwacht war, erfüllten Hector und alle seine Söhne die Bedingung für seine Gefolgschaft. In nur einer Nacht rotteten sie ein ganzes Dorf aus, das seinem Stamm feindlich gesinnt gewesen war. Asheroth empfand zu diesem Zeitpunkt nichts dabei, aber er bemerkte, dass Achilleas Frauen und kleine Kinder mied. Nach diesem Blutbad verließen sie das Land der Germanen endlich und zogen weiter nach Westen. Überall schien es Menschen zu geben. Asheroth vermutete, dass Hector weiter nach potenziellen Söhnen suchte, doch keiner der Kelten schien sein Interesse zu wecken. Er beobachtete die Menschen nur und lernte durch zuhören ihre Sprachen. Nebenbei forderte er seine Söhne auf, den Schwertkampf zu üben. Asheroth besaß keine nennenswerte Erfahrung im Kampf, da er nicht in der Armee Karthagos aufgenommen worden war. Bei Commodus verhielt es sich ähnlich, denn einen einfachen Sklaven lehrte niemand das Kämpfen. Cinric hatte immerhin schon an den wilden Schlachten seines Volkes teilgenommen und stellte sich halbwegs vernünftig mit dem Schwert an. Achilleas hingegen war in seinem menschlichen Leben ein Spartiat, ein Soldat Spartas, gewesen und machte seiner Herkunft alle Ehre. Obwohl Commodus als der Ältere körperlich stärker war als er, gelang es ihm nicht einmal, Achilleas auch nur in Bedrängnis zu bringen. Hector schaute ihnen einige Nächte lang zu, wobei Horatio einem Schatten gleich an seiner Seite blieb. Der älteste der Söhne nahm nicht an den Übungskämpfen teil. Asheroth wunderte sich zwar ein wenig darüber, aber es kümmerte ihn nicht weiter, da er so Horatios Argwohn und Gehässigkeit nicht ständig aus nächster Nähe ertragen musste. Einige Wochen später und wieder nahe Rom ergab es sich, dass er allein mit Achilleas bei einem verlassenen römischen Stützpunkt den Schwertkampf übte. Die anderen waren auf die Jagd gegangen. Asheroth machte im Vergleich mit seinen Brüdern definitiv die besten Fortschritte, aber das genügte dem Spartaner offenbar nicht. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihn schmerzhaft zu Boden zu schicken. Nebenbei herrschte zwischen ihnen immer noch eisernes Schweigen über Hectors Verhalten und Achilleas‘ Vergangenheit. Asheroth beging daher den Fehler, ihn im Zorn anzugreifen. Der Spartaner konterte ihn mit Leichtigkeit aus und verpasste ihm eine tiefe Schnittwunde in der rechten Seite, bevor er ihn erneut zu Fall brachte. Asheroth blieb keuchend liegen. Seine Wunden heilten zwar schnell, aber Schmerz empfand er nach wie vor.

„Du schützt deine rechte Flanke nicht“, bemerkte Achilleas tonlos.

„Das spüre ich“, erwiderte Asheroth verbissen und hielt sich die rechte Seite.

„Erbärmlich! Was warst du vorher? Ein Priester, der sich nie die Hände schmutzig machen musste?“, spottete der Spartaner weiter.

„Mein Vater ist tatsächlich Priester der Tanit, falls dich das interessiert.“

„Eine angesehene Familie also“, murmelte er herablassend. Achilleas‘ Sarkasmus trieb Asheroth langsam zur Weißglut. Er schleuderte das Breitschwert zu Boden, sein älterer Bruder tat es ihm gleich. Mit den bloßen Fäusten gingen sie aufeinander los.

„Wie kommt es, dass du sie überhaupt nicht vermisst?“, fragte Achilleas gehässig, nachdem er ihm die Nase gebrochen hatte. Asheroth ließ nur ein lautes, tiefes Grollen ertönen. Was ging es ihn schon an?

„Habe ich den wunden Punkt getroffen? Sind sie vielleicht froh, dass du fort bist?“

Jetzt war Achilleas zu weit gegangen. Asheroth duckte sich im letzten Moment unter seinem nächsten Angriff hindurch und riss ihn von den Beinen. Sie wälzten sich über die Erde, bis der Spartaner ihn auf den Schulterblättern festnagelte.

„Nun, Asheroth? Willst du nicht antworten?“

Sie bluteten beide, Asheroth aus der Nase, Achilleas hatte eine breite Platzwunde über dem linken Jochbein. Außerdem hatten einige Rippen bei ihnen beiden deutlich hörbar geknackt, als sie gebrochen waren.

„Sie hassen mich!“ Er stieß den Spartaner mit aller Kraft von sich. Schweratmend blieben sie auf der Erde sitzen.

„Sie hatten immer schon Angst vor mir, weil sie glaubten, ich bringe den Tod!“

Der Sarkasmus schwand aus Achilleas‘ Gesicht. „Und dann akzeptierst du einfach, was Hector dir angetan hat?“

Asheroth zuckte mit den Schultern. „Er gab mir eine Zukunft! Und Anerkennung! In meiner Heimat wäre ich spätestens nach dem Tod meines Vaters entweder verstoßen oder getötet worden. Meine eigene Mutter hat versucht, mich zu vergiften!“

Achilleas starrte ihn entsetzt an. Eine Weile herrschte Stille bis auf das Geräusch des Windes.

„Ich verstehe“, sagte der Spartaner schließlich. Asheroth atmete wieder etwas ruhiger und musterte ihn eindringlich. „Was ist mit dir? Du durftest entscheiden, ob du Sparta verlässt, oder nicht?“

Achilleas starrte zu Boden. „Nein, das konnte ich nicht. Ich wurde ausgepeitscht und aus meiner Heimat verbannt. Als Hector mich fand, war ich halb tot.“

Er rieb sich nachdenklich über Nacken und Schultern. „Er versprach mir Vergeltung. Ich war blind vor Rachsucht und bettelte regelrecht darum, dass er mich am Leben erhält.“

Endlich erzählte auch Achilleas seine Geschichte. Er hatte immer geglaubt, er würde seinem Hauptmann dienen und würde dafür respektiert werden. Doch bei der ersten Gelegenheit wurde er von jenem Hauptmann fallen gelassen und für ein Verbrechen bestraft, das er nicht begangen hatte. Niemals hätte er es gewagt, der Tochter seines Königs auch nur ein Haar zu krümmen, doch den Worten seines Hauptmanns wurde nun einmal mehr Glauben geschenkt als den seinen.

„Dann war es dein gutes Recht, Rache zu fordern“, warf Asheroth ein. Achilleas schüttelte den Kopf. „Wenn ich ihm offen mit dem Schwert entgegengetreten wäre vielleicht. Aber ich tötete ihn im Schlaf. Dann habe ich fast meine ganze Einheit ausgelöscht, die mich nicht in Schutz genommen hatte. Das hatten sie nicht verdient.“

„Und du bereust, dass du nun zu Hector gehörst.“ Es war offensichtlich. Asheroth brauchte es nicht als Frage zu formulieren. Mittlerweile waren sie wieder aufgestanden und gingen an der hohen Klippe vor dem Außenposten entlang.

„Ja, ich bereue es zutiefst. Die erste Zeit unter ihm gefiel mir, obwohl er mich manchmal maßregelte. Es war ein berauschendes Gefühl, stärker zu sein als jene, die mich meiner Heimat beraubt hatten. Stärker als jeder Mann zu sein.“ Aber bereits seit Monaten bezweifelte Achilleas, dass sie das Richtige taten und dass dieses Leben einen vernünftigen Zweck hatte. Sein Auskommen als Soldat, ein Weib, ein paar Kinder und einen ehrenhaften Tod, mehr hatte er nie erwartet. Diese Worte würden Asheroth immer im Gedächtnis bleiben. Noch nie zuvor hatte ihm jemand einen so tiefen Einblick in sein Wesen gewährt.

„Was ist mit dir? Hast du nicht wenigstens auf irgendetwas gehofft?“, fragte Achilleas unvermittelt. Asheroth mied seinen Blick. Als er sich von seinem Bruder entfernen wollte, hielt dieser ihn an der Schulter zurück. „Wirklich gar nichts?“

„Manchmal habe ich mir gewünscht, dass andere keine Angst vor mir haben.“ Und tief im Inneren war dieser Wunsch immer erhalten geblieben. Er würde es auch immer bleiben, Asheroth wollte es bloß nicht wahrhaben. Achilleas nickte mitfühlend. „Um eine Familie steht es schlecht, nehme ich an?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben doch sowieso keine Frauen. Und wer weiß, ob wir als Schattenwandler überhaupt Kinder zeugen können.“

Als sie es später wagten, Hector darauf anzusprechen, ob er auch Frauen verwandeln konnte, reagierte er äußerst ungehalten. Angeblich war eine Verwandlung aufwendig und risikoreich und ein Weib war es ihm nicht wert. Achilleas fragte, ob er sich dann wenigstens Sterbliche nehmen durfte. Allein dafür schlug Hector ihn mehrfach heftig ins Gesicht. Asheroth fühlte sich zunehmend hin- und hergerissen. Einerseits mochte er sein Dasein als Schattenwandler und folgte Hectors Befehlen bereitwillig. Andererseits bedrückte es ihn, dass Achilleas sich unwohl und einsam fühlte. Noch wesentlich schlimmer wurde es, als Hector begann, sie in die Kriege der Menschen zu schicken. Es war absolut nichts Ehrenhaftes daran, die unwissenden Sterblichen des Nachts abzuschlachten. Auch Commodus teilte Achilleas‘ Bedenken. Mit Horatio und Cinric sprachen sie lieber nicht darüber, denn die beiden zeigten nicht im Geringsten Reue oder Zurückhaltung bei dem, was sie taten. Im Gegenteil. Asheroth wurde den Eindruck nicht los, dass vor allem Horatio Spaß daran hatte, andere zu quälen, und Cinric war ihm nur zu gerne behilflich. Achilleas widerte ihr Verhalten über alle Maßen an, da war Asheroth sich sicher. Sie sprachen Horatio und Cinric im Grunde nur noch mit Bruder an, weil Hector es so wollte. Die Zeit verging. Ganze Jahre verstrichen, doch sie wurden nicht älter, nur stärker. Asheroth konnte spüren, dass sein Körper sich seit dem Tag seines Erwachens als Schattenwandler überhaupt nicht veränderte. Achilleas und Commodus bereitete dies ebenfalls Unbehagen, aber keiner von ihnen wagte es, Hector darauf anzusprechen. Langsam wurde er unberechenbar. In der einen Nacht war er freundlich und erlaubte ihnen zu jagen, wo und solange sie wollten. In der nächsten durften sie nur unter seiner Aufsicht trinken, da er sie verdächtigte, sich mit Tieren zu behelfen, statt Menschen zu töten. Achilleas, Commodus und Asheroth hegten den Verdacht, dass ihr Schöpfer allmählich den Verstand verlor. Sein Streben nach ewiger Rache schien Tribut von ihm zu fordern.

Ansichtssache

Als sie die Augen öffnete, konnte Tove zuerst nur Umrisse erkennen. Sie lag im Heu in der alten Scheune, in die sie nach der wenig erfolgreichen Jagd mit Marcus zurückgekehrt war. Verschlafen setzte sie sich auf. Sie wusste nicht einmal, ob Tag oder Nacht war. Ständig vor Anspannung zu lange wach zu sein und nur unregelmäßig auszuruhen fühlte sich auf die Dauer ungesund an. Tove rieb sich die Augen, dann betrachtete sie ihren Handrücken. Sie war wieder ein Mensch!

„Alles in Ordnung?“ Marcus schlich auf lautlosen Pfoten auf sie zu. „Du hast dich im Schlaf zurückverwandelt, aber ich wollte dich deshalb lieber nicht wecken.“

Sie nickte nur perplex. Mit einem hastigen Blick an sich herab stellte Tove fest, dass ihre Kleider zum Glück noch da waren, wo sie hingehörten. Oder wieder. Auf jeden Fall saß sie nicht nackt vor Marcus auf dem Boden. Er hatte sich zwar als wesentlich geduldiger ausgezeichnet als Asheroth und er war wirklich nett, aber Tove wusste immer noch nicht, wie weit sie ihm trauen konnte. Der schwarze Panther schaute sie besorgt an. „Hast du es nicht unter Kontrolle?“

„Wann ich mich verwandle, meinst du?“

Er nickte.

„Leider nein.“ Tove erhob sich und streifte ein wenig Heu von ihrer Jeans. „Bis vor kurzem dachte ich, ich könnte niemals eine zweite Gestalt haben.“

„Also hast du den Ausgleich mit deinem Gegenstück nicht abgeschlossen?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Tove schüttelte bedrückt den Kopf. Bestimmt machte Asheroth sich große Sorgen um sie. Was hätte sie nicht alles darum gegeben, ihm wenigstens ein kleines Lebenszeichen von sich zukommen zu lassen. „Dazu fehlte uns die Zeit. War es bei dir auch so? Konntest du es erst kontrollieren, als der Ausgleich vollkommen war?“

Wieder nickte der Panther mit seinem mächtigen, schönen Kopf.

„Darf ich fragen, wer dein Ausgleichgeschöpf war?“ Tove bedeutete ihm, mit ihr die dunkle Scheune zu verlassen, um die Unterhaltung ein wenig aufzulockern. Von den Adlerschwestern und dem Hyänenmann war nichts zu sehen, aber ihr Geruchssinn verriet Tove, dass zumindest Igor in der Nähe war.

„Sein Name ist Vincent.“ Marcus zögerte ein wenig. „Ich habe ihn ewig nicht gesehen. Nur eine alte Telefonnummer habe ich noch.“

„Ist er ein Gestaltwandler?“ Tove versuchte, einen neugierigen aber nicht zu fordernden Ton zu treffen, damit der Panther nicht hellhörig wurde. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, wobei er sie aufmerksam musterte. Offenbar versuchte auch Marcus einzuschätzen, wie viel er Tove bereits sagen durfte. Es war Mittag, doch durch die vielen dichten Wolken war es auch draußen nicht richtig hell. Die triste Landschaft tat ihr Übriges zu Toves ohnehin angespannter Stimmung. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nein, Vincent ist kein Gestaltwandler“, sagte Marcus schließlich und legte die Ohren leicht an. „Es klingt vielleicht merkwürdig, aber er ist einer der Unsterblichen Wölfe des Tibers.“

Tove hob überrascht die Augenbrauen. Also gab es wirklich Ausgleichspaare zwischen allen unsterblichen Rassen. Über die Wölfe wusste sie allerdings noch weniger als über die Vampire. Man nannte sie auch Mondwandler oder Werwölfe und angeblich gab es seit dem letzten großen Krieg zwischen den Unsterblichen nur noch sehr wenige von ihnen. Außerdem war Tove erzählt worden, dass bei ihnen der Mensch immer erst die zweite Gestalt war und der Wolf die erste. Dies war der entscheidende Unterschied zwischen ihnen und den Gestaltwandlern. Und auch zwischen diesen beiden Rassen hatte es entsetzliche Konflikte gegeben.

„Habe ich dich verschreckt?“, fragte Marcus und holte Tove in die Gegenwart zurück. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, falls wir irgendwann einmal auf Vincent treffen sollten. Mir und meinen Verbündeten tut er garantiert nichts an.“

„Gut.“ Sie versuchte, den Panther anzulächeln, der sich neben ihr auf die Hinterläufe zurückgesetzt hatte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ein Zusammentreffen zwischen Asheroth und den Gestaltwandlern, die sie hierher verschleppt hatten, wohl kaum glimpflich verlaufen würde. Bevor Marcus nach Toves Ausgleichsgeschöpf fragen konnte, entdeckten sie eine der Adlerschwestern am Himmel. Sie setzte zum Sturzflug an. Mit atemberaubender Geschwindigkeit näherte sie sich dem Boden. Nur wenige Meter über der Erde bremste der mächtige Vogel abrupt ab und nahm seine menschliche Gestalt an. Ravenna landete kraftvoll und sicher auf ihren Füßen.

„Was ist passiert?“, fragte Marcus angespannt.

„Ich war auf dem Festland“, sagte sie atemlos. „Beim Hauptquartier.“

„Du hast dich dort verwandelt?“ Der Panther sprang auf. Tove wusste, warum er sich über Ravennas Handeln aufregte. Die Gestaltwandler konnten spüren, wenn sich ihresgleichen in der Nähe verwandelte und somit war sie Gefahr gelaufen, entdeckt zu werden.

„Beruhige dich, Marcus. Der große Clan ist viel zu beschäftigt, um sich auf jedes Geschöpf in der Nähe zu konzentrieren“, blockte die Adlerfrau ihn gelassen ab. „Friedrich wurde getötet!“

Marcus verharrte mitten in der Bewegung. Tove stockte der Atem.

„Ich konnte nicht alles verstehen, weil ich flüchten musste, aber es war einer der Vampirältesten! Einer der Hunde faselte irgendetwas vom Speer des Ältestenrats.“ Ravenna war deutlich anzumerken, dass es ihr nicht im Geringsten um Friedrich Eisengrunth leidtat.

„Damit kann nur Asheroth gemeint sein“, sagte Marcus leise. Die Adlerfrau erschauderte, als er den Tove so vertrauten Namen aussprach. „Meinst du?“

„Ganz sicher. Nur er wurde so genannt, weil er in jedem Krieg immer an vorderster Linie stand, egal ob gegen seine eigenen Vampire oder andere Unsterbliche.“

Dieser Titel ihres Ausgleichsgeschöpfs war Tove allerdings neu. Unwillkürlich zog sie ihre Jacke enger um sich. Ravenna warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Ihre menschliche Gestalt war weit weniger imposant als ihre zweite. Sie war relativ klein und hager, aber besaß ein durchaus hübsches Gesicht.

„Hast du schon einmal von diesem Mann gehört?“, fragte sie. „Er ist der allerschlimmste unter den Blutsaugern, der Tod in Person.“

Tove verzog nur die Mundwinkel und nickte kaum merklich.

„Weißt du, ob es schon einen Nachfolger gibt?“, wollte Marcus wissen. Ravenna zuckte mit den Achseln. „Ein Rabe ganz bestimmt nicht. Die Hunde sind den Bären zahlmäßig weit überlegen, also wird es wohl einer von ihnen werden.“

„Drago“, würgte Tove hervor, ohne darüber nachzudenken. Die Erinnerung an den Wächter, der sie beinahe im Kerker des Hauptquartiers vergewaltigt hatte, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.

„Da könntest du Recht haben. Er ist, wenn ich mich richtig erinnere, der älteste unter den Hunden“, stimmte Ravenna ihr zu.

„Also gibt es wohl tatsächlich keinen neuen Löwen“, murmelte Marcus nachdenklich, während er an Tove vorbei schlich. „Wohin ist Kila geflogen?“

„Weiter ins Inland. Die Vampire wirken ebenfalls ein bisschen unruhig.“

Marcus schnaubte verächtlich. Tove folgte ihm nur langsam. Diese kurze Unterhaltung hatte ihr gezeigt, dass sie auf keinen Fall preisgeben sollte, in welcher Verbindung sie zu Asheroth stand. Sie hatte in der kurzen Zeit mit ihm bemerkt, dass er gemieden wurde und alle Vampire wegen seiner Aura Abstand zu ihm hielten, aber unter anderen Unsterblichen eilte ihm offensichtlich ein sehr schlechter und brutaler Ruf voraus. Von seiner eigentlichen Funktion, bevor der Älteste ihretwegen geächtet worden war, hatte Tove nichts gewusst.

Am nächsten Abend kehrte auch Kila in das Bauernhaus auf Shetland-Island zurück. Sie verwandelte sich ebenfalls in einen Menschen zurück, um ungehindert auf dem Boden zu landen. Nun war noch deutlicher zu sehen, dass sie Ravennas Schwester war. Ihrem Aussehen nach hätten die Adlerfrauen durchaus Zwillinge sein können. Tove hatte sie schon entdeckt, als sie noch im Sinkflug gewesen war. Es fiel ihr schwer, sie nicht sofort mit zahllosen Fragen zu überhäufen. Alle gesellten sich vor dem Haus zu ihnen, um Kilas Bericht zu lauschen. Tove hielt den Atem an.

„Ihr werdet mir nicht glauben!“

„Dass Friedrich von Asheroth getötet worden ist, wissen wir bereits. Atme durch, erzähle der Reihe nach“, versuchte Marcus die Adlerfrau zu beruhigen.

„Ja, aber dieser Kampf hat in einer Ruine in Schweden stattgefunden. Es muss die sein, in der wir dich gefunden haben, Tove. Was hast du vorher mitbekommen? Wollten die beiden mal wieder einen Krieg beginnen?“

Alle Blicke wanderten zu ihr. Tove hob unsicher die Schultern. „Danach klang es eigentlich nicht.“

Marcus hob besorgt die Brauen. „Ihm wurdest du in Friedrichs Hauptquartier ausgeliefert? Du warst Asheroths Gefangene?“

„Ja.“ Tove presste die Lippen aufeinander. Offenbar konnten die anderen Verständnis dafür aufbringen, dass sie lieber nicht darüber sprechen wollte, denn keiner bedrängte sie in dieser Sache weiter. Allerdings befürchteten sie wohl andere Beweggründe.

„Jeder hat irgendetwas anderes über den Blutsauger behauptet, daher war ich kurz in Aberdeen, um sicher zu gehen“, fuhr Kila fort.

„Bist du verrückt geworden?“, herrschte Ravenna ihre Schwester an. „Die Leibwächter hätten dich sehen können!“

Kila winkte ab. „Die waren viel zu beschäftigt. Sie streiten sich über eine Gefangene.“

„Es war trotzdem ein sehr großes Risiko“, pflichtete Marcus Ravenna bei.

„Sie sagen, Asheroth ist auch tot“, fuhr die Adlerfrau unbeirrt fort. „Ein anderer Ältester hat ihn umgebracht!“

Toves Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Kopf war plötzlich vollkommen leer.

„Das wird die Gestaltwandler hoffentlich besänftigen“, sagte Igor. „Dann sollte es vorerst keinen offenen Krieg geben.“

Es war das erste Mal, dass Tove seine raue, tiefe Stimme hörte. Die Hyäne stand mit gespitzten Ohren neben ihr. Kila zuckte unschlüssig die Achseln. „Gut möglich, dass die Hunde keine Rache mehr wollen. Aber das weiß man ja nie so genau.“

„Ja, hoffen wir das Beste.“ Marcus nickte nachdenklich. Tove wandte sich ruckartig ab und entfernte sich von der Gruppe. Es kümmerte sie nicht, was die anderen von ihrem Verhalten hielten, oder ob sie sich vielleicht gerade verriet. Sie wollte nur noch weg. Asheroth mochte für andere der Todesbote schlechthin gewesen sein, doch für sie war er das einzige Geschöpf, das ihr Geborgen- und Sicherheit geben konnte. Und den Ausgleich. Nur auf halbem Ohr hörte Tove noch, dass Kila weiter über die Wächterhunde berichtete. Offenbar hatten sie eine gefangene Vampirin gegen Begabte getauscht. Ravenna schnaubte angewidert. Marcus beteiligte sich nicht mehr an der aufgeregten Unterhaltung. Er folgte Tove zur Scheune hinüber, wobei er absichtlich leise Geräusche beim Gehen verursachte, damit sie ihn hörte. Am liebsten hätte sie sich in der dunkelsten Ecke der Scheune verkrochen, doch Marcus würde sie überall finden. Am offenen Scheunentor versagten ihre Beine ihr den Dienst. Ausgerechnet jetzt nahm Tove ihre Leopardengestalt an. Es schmerzte längst nicht mehr so heftig wie beim ersten Mal, trotzdem blieb sie schwer atmend im Eingang der Scheune liegen.

„Du hast dich wirklich noch nicht oft verwandelt“, stellte Marcus besorgt fest. „Es dauert noch sehr lange.“

Tove schnaubte nur. Der Panther stupste sie sanft mit der Schnauze an. „Kannst du aufstehen? Lass uns hinein gehen.“

Mühsam richtete sie sich auf und kroch an ihren Schlafplatz im Heu. Marcus setzte sich neben ihr auf die Hinterläufe zurück. „Ist alles in Ordnung, Tove? Du brauchst keine Angst mehr davor zu haben, dass die Vampire nach dir suchen könnten.“

„Ja“, gab sie tonlos zurück. Ohne Vorwarnung schnappte Marcus nach ihrem Genick. Er biss nicht zu, es fühlte sich eher danach an, als würde er sie wie ein Katzenbaby davon tragen wollen. Tove stemmte sich gegen ihn, weshalb er sie in eine kleine Kabbelei verstrickte. Nach wenigen Atemzügen ließ er zum Glück wieder los.

„Was soll denn das?“, fragte Tove mürrisch.

„Es geht dir furchtbar, also muntere ich dich auf“, hielt Marcus leutselig dagegen. Sie konnte nicht umhin, ihn anzulächeln. Der Panther war das geduldigste Wesen, das man sich vorstellen konnte. Selbst jetzt bedrängte er sie nicht, obwohl er wusste, dass sie in Verbindung mit Asheroth gestanden hatte. Der grundsätzliche Argwohn der Gestaltwandler gegen die Vampire beschützte sie paradoxerweise. Diese Nacht schlief sie dicht an seine Seite geschmiegt, was Tove ein klein wenig tröstete.

Aberdeen

Um sie herum gab es nichts außer kaltem, glattem Stein. Miras Zelle war nicht einmal breit genug, um sich darin auszustrecken. Aufstehen konnte sie hingegen mühelos, denn wenigstens über ihr war reichlich Platz. Im Grunde war ihr Gefängnis ein tiefer Schacht im Gemäuer der Festung von Aberdeen. Eine schwere Steinplatte lag über dem Loch, durch das sie hinab gelassen worden war, sodass sie in vollkommener Dunkelheit dasaß. Hinauf klettern war unmöglich, da die Wände spiegelglatt und ihre Hände immer noch gefesselt waren. Die Luft war kalt und feucht. Horatio und Cinric hatten sich tatsächlich nur sehr kurz in der Festung aufgehalten. Mira war einem Vampir übergeben worden, der ähnlich schweigsam wie Leandros und auf seine Art erhaben wie Commodus war. Er war der Hauptmann der Garde der Leibwache und hieß Leyth. Mehr hatte Mira nicht erfahren, obwohl er für sie verantwortlich war. Als sie aus dem Hubschrauber gestoßen worden war, hatten sie sämtliche Leibwachen gierig angestarrt. Leyth hatte Mira abgeschirmt, während er ihre Fußfesseln gelöst und sie in ihr Verlies verfrachtet hatte. Trotzdem erschauderte sie heftig bei der Erinnerung an ihre Ankunft in Aberdeen. Nebenbei war sie entsetzt darüber gewesen, wie viele Leibwächter der Ältestenrat besaß. Asheroth umgab sich grundsätzlich nur mit zwei Vampiren, Commodus war sogar allein in Anzherus Villa aufgetreten. Die dunkle Eingangshalle und der Hof der Festung wurden hingegen von mindestens zwanzig Vampiren bewacht. Mira hatte sich nur kurz umsehen können, als Leyth sie in Empfang genommen hatte. Die Festung war riesig, ein Bollwerk wie aus einer anderen Zeit, ebenso wie ihre Bewohner. Ohne Umschweife war sie in eine zweite Halle gebracht und in dieses verfluchte Loch gesteckt worden. Als Leyth die Platte über ihr Verlies geschoben hatte, hatte sie kurz die Panik ergriffen. Mittlerweile hatte Mira allerdings einen kleinen Vorteil darin erkannt. Die Leibwächter konnten sie nicht sehen. Von Zeit zu Zeit hörte sie ihre Stimmen hoch über ihrem Kopf. Ihr Verlies war so schalldicht, dass sie sie nicht eindeutig verstehen konnte, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es des Öfteren um sie ging und Leyth die anderen Männer fernhielt. Es gab keine Vampirinnen in der Leibwache. Irgendwann nickte Mira vor Erschöpfung ein. Durch die fortwährende Dunkelheit verlor sie jegliches Gefühl dafür, wie lange sie schon in ihrem Verlies saß. Eine Sterbliche hätte höchstwahrscheinlich sehr schnell einen Nervenzusammenbruch erlitten, wenn sie nicht vorher verdurstet wäre. Niemand sah nach ihr. Die Leibwächter fürchteten offenbar nicht, dass Mira sich befreien könnte. Und auch nicht, dass sie vor Durst den Verstand verlor. Das Blut des Gestaltwandlers, den sie getötet hatte, zehrte sich besorgniserregend schnell auf. Wie lange man sie wohl hungern lassen würde? Leyth wusste bestimmt, dass sie noch eine sehr junge Vampirin war. Mira schwirrte der Kopf. Sie wollte sich nicht vorstellen, was alles mit ihr passieren würde, wenn sie erst wieder aus diesem Loch heraus durfte. Anzheru war bestimmt bereits völlig außer sich vor Sorge. Gäbe es doch irgendeine Chance, zu ihm zurückzukehren. Mira wünschte sich nichts, außer von ihm umarmt zu werden und sein lächelndes Gesicht zu sehen. Wieder trampelten die Leibwächter über die Steinplatte auf ihrem Verlies. Mira hob den Blick, doch nichts veränderte sich. Kein Lichtschimmer drang in ihren Gefängnisschacht. In ihrem Brustkorb bildete sich unvermittelt ein dumpfer Schmerz, als sie angestrengt ausatmete. Woher rührte er bloß, sie hatte schließlich keine Verletzungen? Nach weiteren fünf Atemzügen war der Schmerz zu einem massiven Brennen angewachsen. Mira krümmte sich am Boden und suchte fieberhaft nach einer Erklärung. Der Durst konnte es so plötzlich nicht sein. Als sie es nicht mehr aushielt, schrie sie laut auf, was ihr wenigstens etwas Erleichterung verschaffte. Schwer atmend öffnete sie die Augen. Es war nicht mehr vollkommen dunkel in ihrer Zelle, bloß woher kam das Licht? Die Steinplatte hoch über ihrem Kopf war an Ort und Stelle! Trotz des Schmerzes und der Verwirrung hörte Mira sich schnell nähernde Schritte. Sie zwang sich, sich aufzusetzen und still zu halten. Ihr Brustkorb protestierte heftig, als sie das Atmen unterdrückte, doch Mira gewann langsam die Kontrolle zurück. Es wurde wieder völlig dunkel. Ein schabendes Geräusch kündigte an, dass die schwere Steinplatte zu ihrem Verlies angehoben wurde. Bevor Leyth sie mit Hilfe eines Stricks hinunter gelassen hatte, hatte Mira gerade noch sehen können, dass sich die Platte perfekt in das komplizierte Muster des glatten Steinbodens der Halle einfügte. Man musste wirklich wissen, wo ihre Zelle war. Oder einen Tastsinn wie Asheroth besitzen. Der grelle Lichtkegel einer Taschenlampe richtete sich auf sie.

„Was ist geschehen?“, bellte Leyth. Ihre Schmerzensschreie waren offenbar hoch und laut genug gewesen, um die Leibwächter aufhorchen zu lassen. Mira erwiderte nichts.

„Antworte!“, befahl Leyth mit einem drohenden Unterton.

„Ich…“, begann sie unsicher.

„Wir können deine Zelle auch gerne fluten. Mal sehen, ob du nach drei Tagen im kalten Wasser redseliger wirst.“ Es war eine unbekannte Stimme. Ein anderer Vampir musste neben dem Hauptmann der Garde stehen.

„Ich war eingeschlafen und hatte einen Alptraum!“, giftete Mira zurück.

„Und deshalb machst du so einen Lärm?“

Es klang, als wäre allein das eine Auspeitschung wert. Leyth schaute sie unentwegt über den Schein der Taschenlampe hinweg an.

„Hast du Durst?“, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

„Ja“, antwortete Mira dieses Mal wahrheitsgemäß. Leyth verschwand daraufhin kurz aus ihrem winzigen Sichtfeld. Die anderen Vampire, die sich in der Halle über ihr befanden, murmelten ungläubig etwas in einer alt klingenden Sprache. Etliche Leibwachen streckten ihre Köpfe über den Rand des Gefängnisschachtes, um sie anzusehen. Mira konnte nicht umhin, die Beine näher an den Körper zu ziehen, als ob es sie schützen könnte. Ein paar der Vampire über ihr wirkten besorgt, die anderen schienen Gefallen an ihrer Angst zu finden. Nach einigen Atemzügen kehrte glücklicher Weise der Hauptmann der Garde zurück.

„Verschwindet wieder auf eure Posten! Ihr wisst alle, wem sie gehört.“

Mira erschauderte, was wenigstens niemand außer Leyth bemerkte. Wortlos ließ er ein langes Seil mit einem Haken in das Verlies hinab. Sie schaute ihn ungläubig an, schließlich waren ihre Arme immer noch an ihren Oberkörper gefesselt.

„Knie dich hin und beug dich vor!“, befahl er ungeduldig. Offenbar gab es absichtlich eine Art Öse im Seil, die die Vampirin auf ihrem Rücken nicht sehen konnte. Leyth gelang es bereits im zweiten Versuch, den Haken zu befestigen und sie hinauf zu ziehen. Am Rand des Schachtes hielt er das Seil nur noch mit einer Hand, mit der andern packte er Mira am Bund ihrer Jeans und setzte sie auf den kalten Steinen ab.

„Du wirst noch andere Kleider bekommen“, merkte er beiläufig an, während er eine kleine Schale mit einer dunkelroten Flüssigkeit aus einer Flasche füllte. „In Hosen läufst du bestimmt nicht mehr lange herum.“

Mira verkniff sich einen sarkastischen Kommentar darüber, dass sie überhaupt nicht lief und auch über ihre Kleider sagte sie lieber nichts. Wenn sie sich nicht völlig irrte, existierten die meisten Leibwächter schon sehr lange, zum großen Teil sogar länger als Anzheru. Folglich war ihr Bild von Frauen vorsichtig ausgedrückt traditionell geprägt.

„Trink.“ Der Hauptmann hielt ihr die Schale hin. Mira befolgte seinen Befehl, trank jedoch trotz ihrer brennenden Kehle nur langsam. Es schmeckte merkwürdig, es musste sich um ein Gemisch aus Blut und altem Wein handeln.

„Braves Mädchen.“ Leyth stellte die leere Schale ab. Das war leider schon alles. Zügig ließ er sie wieder in ihr Verlies hinab.

Verständnis

Der Stützpunkt des Östlichen Clans lag in völliger Dunkelheit da. Nur im Erdgeschoss brannte ein schwaches Licht, das Anzheru verriet, wo sich die anderen aufhielten. Er hatte eine kleine Gruppe gewöhnlicher Wölfe aufgespürt, die eine passable Mahlzeit abgegeben hatten, aber ausreichend gewappnet für ein erneutes Gespräch mit Commodus fühlte er sich nicht. Er wünschte, er könnte einfach gehen und nach Mira suchen. Zurück zu der alten Ruine und dann nach Süd-Westen. Vielleicht hatten Charles und Leandros doch irgendetwas übersehen. Er wusste selbst, wie unrealistisch seine Hoffnung war. Schließlich halfen die beiden Leibwächter normalerweise Asheroth dabei, die Verurteilten aufzuspüren. Trotzdem wollte Anzheru nicht aufgeben und einfach abwarten. Mira musste sich in Gefangenschaft befinden, sonst hätte er längst irgendein Lebenszeichen von ihr erhalten. Hoffentlich ließ Commodus ihn bald gehen. Als Anzheru das Haus betrat, hörte er leise Stimmen aus dem erleuchteten Aufenthaltsraum, außerdem rasende menschliche Herzschläge. Irritiert öffnete er die schwere, hell gestrichene Tür zu dem freundlich anmutenden Raum voller gemütlicher Sessel. Im Kamin glühten ein paar knorrige Holzscheite. Seine Vampire und Asheroths Leibwachen hatten es sich nach ihrer Jagd bequem gemacht. Violetta saß ausnahmsweise nicht auf Konstantins Schoß, was sie im Moment sichtlich bedrückte. Stattdessen saß ihr Gefährte bei Leandros und hatte einen Arm um seine Schultern gelegt. Sie glichen sich aus. Dieses Mal war es allerdings Leandros, dem es damit nicht besonders gut zu gehen schien. Unter einem der Fenster hockten vier verschreckte Menschen, die zu Boden starrten. Es waren drei Männer und eine Frau. Edward wandte sich zu Anzheru um. „Wir wissen, dass du nicht viel von Blutsklaven hältst, aber…“

Der Geborene winkte ab. „In Anbetracht unserer Lage war es eine sinnvolle Entscheidung. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“

Die Sterbliche schaute entsetzt zu ihm auf, denn offenbar hatte sie verstanden, was Edward gesagt hatte. Dem Gesicht nach war sie Europäerin. Tatsächlich spielte Anzheru mit dem Gedanken, von ihr zu trinken. Das Blut der Wölfe hatte ihn gestärkt, jedoch war auf die Dauer nichts anderes so nahrhaft wie Menschenblut für einen Vampir. Er wandte sich lieber ab.

„Wo ist Commodus?“, fragte er Charles.

„Er hat gesagt, er müsse telefonieren.“

Da der Älteste nicht im Haus war, sollte niemand mithören. Anzheru nickte den versammelten Vampiren zu, um sich wieder zu verabschieden und nach oben zu gehen. Leandros starrte ihn verständnislos an. Als er mit Asheroths Körper in den Armen den Stützpunkt erreicht hatte, war der Leibwächter zornig gewesen, nun hatten sich wohl durch den Ausgleich auch andere Empfindungen hinzugesellt.

„Warum begraben wir ihn nicht, oder verbrennen ihn? Worauf wartest du noch?“, fragte Leandros unwirsch, als Anzheru bereits mit dem Rücken zu ihm im Türrahmen stand. Diese Frage schien alles zu sein, was ihn beschäftigte. Der Geborene warf ihm einen möglichst neutralen Blick über die Schulter zu.

„Hab Geduld.“ Mehr sagte er lieber nicht. Noch war es zu früh, um ihm Hoffnung zu machen. Leandros war einer der wenigen, die wirklich um Asheroth trauerten. Der Älteste lag vollkommen reglos auf dem Bett. Anzheru tastete nach seinem Puls. An seinem Hals war nichts zu spüren, nur wenn er die Hand flach auf Asheroths Brustkorb drückte, konnte er einen schwachen, extrem langsamen Puls ausmachen. Er war noch so leise, dass selbst vampirische Ohren ihn nicht wahrnehmen konnten, doch er war vorhanden. Anzheru hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel, dann zwei vertraute Stimmen. Commodus und Jasmina hatten soeben den Stützpunkt betreten. Er entschied, ihnen entgegen zu gehen.

„Wie ich sehe, seid ihr erst einmal versorgt. Wer sind sie?“, wollte das Oberhaupt des Östlichen Clans über die gefangenen Menschen wissen, die im Aufenthaltsraum kauerten.

„Touristen. Man wird annehmen, dass sie von einem ausgehungerten Wolfsrudel angefallen wurden“, antwortete Edward. Jasmina hob skeptisch die Brauen.

„Menschen finden immer eine Erklärung für das Verschwinden ihresgleichen. Mach dir keine Sorgen, mehr holen wir uns nicht“, versicherte ihr Charles. Anzheru verstand ihre Bedenken nur zu gut. Wenn mehrere Menschen in kurzer Zeit verschwanden oder sogar ganze Gruppen, wurde nach ihnen gesucht. Und das erregte zu viel Aufsehen. Commodus betrachtete die verängstigten Sterblichen, die verstohlen von einem Vampir zum anderen schauten, dann warf er Anzheru einen bedeutungsvollen Blick zu. Er folgte ihm hinaus, während Jasmina sich zu Violetta gesellte. Konstantin hielt Leandros an seinem Sitzplatz fest. Anzheru fragte sich nebenbei, was die beiden dazu bewegt hatte, sich endlich auszugleichen und dazu noch in Gesellschaft der anderen.

„Manchmal denke ich, ich sollte phönizisch lernen. Dann könnte ich mit Asheroth und dir reden, ohne mich jedes Mal von den anderen zu entfernen.“ Commodus ging voran. Sie entfernten sich nur ein kleines Stück vom Haus. Jasminas Wachen hatten sich zurückgezogen.

„Ich musste feststellen, dass es zu großem Unmut führt, wenn man uns reden hört, aber nicht versteht.“ Anzheru dachte reumütig an seinen kurzen Aufenthalt in Asheroths Chateau in Frankreich zurück. Mira war furchtbar wütend auf ihn gewesen. Commodus nickte verständnisvoll, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Du wolltest mir etwas sagen?“, hakte der Geborene nach. Tausende Gedanken waren ihm während der Jagd durch den Kopf geschwirrt, doch weder hatte er sich eine Erklärung für Asheroth zurechtgelegt, noch hatte er eine Ahnung, was sein Onkel von ihm wollen könnte.

„Ich möchte wissen, ob du Verständnis für deinen Vater aufbringen kannst. Warum er sich in diese Lage begeben hat.“

Anzheru biss sich auf die Unterlippe. „Nein, ehrlich gesagt, kann ich das nicht. Asheroth hat zweieinhalb Jahrtausende auf seine Art existiert und dieses kleine Halbblut stellt plötzlich alles auf den Kopf. Er könnte ohne sie weiterleben.“

„Körperlich vielleicht ja“, stimmte Commodus zu. „Aber es ist ihm nicht mehr möglich, den Verlust eines so großen Potenzials zu überwinden.“

Der Geborene hob irritiert die Brauen. „Den Verlust seiner Aura meinst du? Ich hatte immer den Eindruck, dass er sie im Kampf als durchaus nützlich empfunden hat. Gegen Asheroth zu kämpfen, hat stets bedeutet, gegen die Angst selbst zu kämpfen. Und wer konnte das schon?“

„Richtig, aber um welchen Preis? Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir mitten im Krieg zu eurem Haus kamen und von deiner Geburt erfahren haben? Da warst du bereits drei Monate alt und konntest laufen.“

„Ja, natürlich.“ Anzheru verzog verunsichert das Gesicht. Jene Nacht lag nun über tausend Jahre zurück. Es war eine von vier Begegnungen zwischen ihm und seinem Vater gewesen, bevor er zur Leibwache ausgebildet worden war.

„Du wusstest schon, wer Asheroth war. Hanna hatte es dir gezeigt“, fügte Commodus hinzu.

„Ja.“ Anzheru ballte die Fäuste. Er hatte seinen Vater in ihren Erinnerungen gesehen, als er ihr letztes Blut getrunken hatte.

„Ich habe deinem Vater ins Gesicht gesehen, als du lächelnd auf uns zu gelaufen kamst. Er konnte es kaum glauben. Niemand außer Hanna selbst hatte sich je so sehr gefreut, ihn zu sehen. Als du seine Aura spüren konntest, bist du jedoch aus Angst sofort wieder geflohen. Ich glaube, er hat niemals so viel Schmerz empfunden wie in jener Nacht.“

Anzheru atmete hörbar aus. „Er hat mich wütend angesehen. Er gab mir die Schuld an Mutters Tod.“

„Nein, du irrst dich. Asheroth war wütend, weil er sie nicht hatte retten können. Das macht einen gewaltigen Unterschied. Und er war entsetzlich traurig, weil er begreifen musste, dass nicht einmal du, sein eigen Fleisch und Blut, gegen seine Aura immun bist.“

Es herrschte einen Augenblick Stille. Anzheru rieb sich die Stirn. „Hat er dir das tatsächlich gesagt?“

„Nein“, gestand Commodus zögernd. Er schien einen Entschluss zu fassen. „Ich möchte, dass du dir eine meiner Erinnerungen ansiehst.“

Während er den linken Ärmel hochschob, hob Anzheru überrascht die Brauen. Einerseits war es allgemein verboten, die Ältesten zu beißen. Andererseits wusste er trotzdem schon aus Erfahrung, dass es fürchterlich war, Erinnerungen durch die Augen seines Onkels zu sehen. Er nahm so viel mehr wahr, dass es die Sinne eines normalen Vampirs völlig überforderte.

„Sie ist sehr kurz“, versicherte ihm der Älteste und streckte ihm den Arm entgegen. Unsicher ergriff Anzheru sein Handgelenk. Erst auf einen weiteren, fordernden Blick biss er zu.

Er sah das Innere des Hauses in der Normandie, in dem er geboren worden war. Jede farbliche Nuance und jeder noch so kleine Lichtstrahl ergaben im Zusammenspiel ein so komplexes Bild, dass es Anzheru schwer fiel, die Einfachheit der Wände und Möbel zu erkennen. Er bewegte sich auf eine geschlossene Tür zu.

„Asheroth, wir sollten aufbrechen. Die Sonne geht unter.“ Er öffnete die Tür. Vor ihm befand sich ein großes Bett. Asheroth lag seitlich darauf, ihm den Rücken zugewandt. Seine Aura bildete eine Kuppel, die in ihrem ganzen Umfang den Großteil des Raumes erfüllte. Schwer und dunkel lag sie über ihm.

„Hast du mich nicht gehört, Bruder?“

Asheroth drehte sich unvermittelt von der Seite auf den Rücken. In den Armen hielt er ein kleines, schlafendes Kind, dessen Haar rotbraun wie sein eigenes war.

„Wenn er schläft, spürt er es nicht. Anzheru. Mein Sohn…“

Anzheru stolperte so hastig zurück, dass er beinahe stürzte. Davon hatte er absolut nichts geahnt. Keine ihrer Begegnungen war liebevoll verlaufen, wenn er wach gewesen war. Es war extrem irritierend, sich selbst in einer so fremden Erinnerung zu sehen. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte.

„Kannst du oder willst du nicht begreifen, was Tove für ihn bedeutet?“, fragte Commodus noch einmal.

„Es geht doch wohl nicht nur um mich!“, fauchte Anzheru ungläubig.

„Das mag sein. Aber es gibt sonst keine Geschöpfe, an denen ich es dir so gut verdeutlichen kann. Er hat oft etwas anderes behauptet, aber auch Asheroth braucht die Nähe zu anderen.“

„Unsere Konflikte kann es nicht rückgängig machen!“

„Aber es gäbe eine Zukunft“, hielt Commodus unbeirrt dagegen.

„Und um welchen Preis?“, knurrte Anzheru. „Wir haben nicht nur sie verloren, sondern auch Mira!“

Der Älteste senkte kurz die Lider über seine axinitfarbenen Augen. „Ich weiß nur zu gut, dass es schwer ist Geduld zu haben, aber hab Vertrauen.“

„Was meinst du?“ Anzheru war bei dieser merkwürdigen Aufforderung hellhörig geworden. Doch so sehr er auch darum flehte, mehr sagte Commodus auf dem Rückweg zum Stützpunkt nicht darüber.

Kampflektion

Die Tümpel waren zugefroren. Eine dünne Schneedecke bedeckte die karge Landschaft, wodurch es wenigstens hell war. Tove strich an niedrigen Sträuchern vorbei, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Tief geduckt schlich sie sich an einen einsamen Rothirsch an, der Grashalme unter dem Schnee suchte. Erst im letzten Moment gab sie ihre Deckung auf und sprang auf ihn zu. Tatsächlich gelang es ihr nach einem kurzen Sprint, das große Tier mit den Pranken zu packen. Tove brachte es jedoch nicht über sich es totzubeißen und ließ los. Völlig verängstigt stob der Hirsch davon.

„Das war dein bester Versuch.“ Marcus kam hinter einem Felsbrocken hervor, von dem aus er ihre Jagd beobachtet hatte. „Warum hast du nicht zugebissen?“

„Ich weiß nicht.“ Die Leopardin wandte sich ihm zu. „Wir haben andere Möglichkeiten, an Nahrung zu kommen, wir müssen nicht töten.“

Tage waren vergangen, seit Kila die verheerenden Nachrichten überbracht hatte. Tove hatte sich trotz Marcus‘ Fürsorge kein bisschen erholt. Es fiel ihr immer schwerer zu verbergen, wie sehr sie Asheroth vermisste.

„Das stimmt, aber für den Notfall hast du gelernt zu jagen. Glaub mir, wenn du nur ausgehungert genug bist, frisst du sogar Ratten.“ Marcus begann, sie zu umrunden. Tove hatte trotz ihrer schlechten Verfassung durchaus bemerkt, dass er ihre Nähe suchte. Dankbar für ein bisschen Ablenkung hielt sie still, statt ihm auszuweichen.

„Was willst du als Nächstes lernen?“ Wieder einmal stupste er sie mit der Schnauze an. Tove sah auf ihre Pfoten. „Kämpfen.“

Marcus hielt inne. „Das klang nicht sonderlich entschlossen. Gegen wen, meinst du, musst du kämpfen?“

„Keine Ahnung. Die Wächter?“

Der Panther setzte sich auf seine Hinterläufe zurück. „Es ist sehr schwierig, wenn du keine Kontrolle über deine zweite Gestalt hast.“

„Damit muss ich leben“, erwiderte Tove etwas zu schnell. Marcus hob die Braue zu einem Fragezeichen. „Ist deinem Ausgleichsgeschöpf etwas zugestoßen? Du sagtest, euch hätte die Zeit gefehlt, um den Ausgleich zu vollenden.“

Sie nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Ihn anzulügen kam ihr falsch vor, da der Panther sie so herzlich in der kleinen Gruppe aufgenommen hatte.

„Das ist nicht gut“, murmelte Marcus. „Da du mir offensichtlich nicht einfach sagen willst, wer es ist, werde ich raten. War es einer der Vampire?“

Sie nickte erneut. Zum Glück war ihre zweite Gestalt nicht in der Lage zu weinen, sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen. Stattdessen knurrte sie nur leise.

„Und dabei wird immer behauptet, dass man wenigstens die Rasse mit seinem Gegenstück gemein haben muss.“ Marcus schüttelte den Kopf. „Für uns Halbblute gilt diese Regel definitiv nicht. Gut, wir werden morgen Abend anfangen zu trainieren. Ich werde Igor bitten, dich zu unterstützen. Er ist ein sehr guter Lehrer.“

Jedoch schweigsam wie ein Fels, wie Tove in der folgenden Nacht feststellen musste. Sie leckte sich die Pfote, die bei ihrem letzten Angriffsversuch ein wenig gelitten hatte. Die Adlerschwestern saßen in ihrer zweiten Gestalt auf dem Dach der Scheune und schauten interessiert zu. Marcus schritt unruhig an ihrem Trainingsplatz, einer inzwischen schneefreien Wiese, auf und ab. Er bat den Hyänenmann, etwas behutsamer vorzugehen, aber seine Worte blieben wirkungslos. Tove störte sich allerdings nicht daran. Igors Vorgehensweise erschien ihr nicht von Grund auf falsch. Jetzt geschont zu werden, würde ihr später im Ernstfall nichts bringen.

„Du hast Potenzial“, gestand der Hyänenmann ihr irgendwann nach Mitternacht zu. „Und immerhin Ausdauer.“

„Danke“, erwiderte Tove trocken und rollte sich mühsam vom Rücken auf den Bauch. Drei ihrer vier Pfoten schmerzten höllisch. Ihr Rückgrat fühlte sich an, als hätte ihr Gegner jeden Wirbel einzeln aus- und wieder eingerenkt.

„Ein einzelner Hund ist leicht zu besiegen. Das größte Problem mit ihnen ist, dass sie immer im Rudel auftauchen. Wenn du deine Reichweite besser abschätzen kannst, üben wir den Gruppenkampf“, beschloss Igor mit einem erwartungsvollen Blick an Marcus. Der Panther tat sich sichtlich schwer damit, dem Vorschlag zuzustimmen. Tove konnte ihm von den Augen ablesen, dass er nicht gegen sie kämpfen wollte, selbst dann nicht, wenn es nur eine Übung war.

„Wir können zweibeinige Gegner abgeben“, rief Kila vom Dach.

„Sehr gut. Tove, du wirst dir noch wünschen, du hättest nie um Kampflektionen gebeten.“ Der Hyänenmann grinste breit, was seinem Gesicht etwas sehr Gespenstisches verlieh. Tove hatte ihn mittlerweile etwas besser kennen gelernt. Daher wusste sie, dass er Marcus treu ergeben war und an sich ein liebenswertes Wesen besaß. Igors zweite Gestalt war allerdings recht gewöhnungsbedürftig. Die Leopardin fragte sich im Stillen, ob das der Grund war, aus dem er in seinem Clan nicht erwünscht gewesen war. Ihn in Gegenwart der anderen direkt darauf anzusprechen kam nicht in Frage, also wagte Tove ihren nächsten Angriff.

Wesen

Es war wie auf glühenden Kohlen zu sitzen. Anzheru konnte spüren, dass Asheroths Körper sich langsam erholte, aber er war immer noch nicht aufgewacht. Commodus hatte ihm erneut das Versprechen abgenommen den Stützpunkt nicht zu verlassen, bevor sicher gestellt war, ob Asheroth leben oder sterben würde. Fahrig streifte Anzheru durch das Haus. Leandros war immer noch furchtbar wütend auf ihn, weshalb er ihm aus dem Weg ging. Konstantin nahm ihn dafür in Schutz. Er hatte gesagt, es sei das erste Mal, dass Leandros sich tatsächlich mit Trauer und Schmerz auseinandersetzen musste, vor ihrem Ausgleich war es dem Leibwächter unmöglich gewesen, derlei Empfindungen zu durchleben. Leandros hatte sich einfach nur entsetzlich leer gefühlt und daher hatte Konstantin aus Mitgefühl den Ausgleich mit ihm gewollt. Diese Erklärung leuchtete ein. Allerdings hätte Anzheru sich nur zu gern mit dem kleinen, stämmigen Leibwächter auf einen Trainingskampf eingelassen, damit sie sich beide abreagieren konnten. Die übrigen Vampire seines Clans versuchten, wie auf Eierschalen um ihn herum zu balancieren. Keiner wagte es, Miras spurloses Verschwinden anzusprechen. Kurz vor Mitternacht entschieden die anderen, erneut auf die Jagd zu gehen. Die vier Sterblichen, die sie hergeschleppt hatten, waren zwar noch alle am Leben und gesund, aber offenbar wünschten sich auch die anderen Vampire einen effektiveren Zeitvertreib als im Stützpunkt herumzusitzen. Außerdem wurde Anzheru den Eindruck nicht los, dass Charles Gefallen am jüngsten der Männer fand. Vielleicht hatte der Junge namens Steven daher eine kleine Überlebenschance. Commodus hatte sich nicht mit ihnen auf die Jagd begeben. Er saß vollkommen ruhig im Aufenthaltsraum vor dem Kamin und las. Anzheru fragte sich gerade, wie lange man existieren musste, um so geduldig zu werden wie er, als er ein leises Geräusch aus der oberen Etage hörte. Sein Onkel schoss sofort an ihm vorbei und die Treppe hinauf. Ein zweites, lauteres Geräusch ertönte, wobei auch eine Erschütterung im Boden zu spüren war. Anzheru folgte Commodus nur zögerlich hinauf. Die Treppe erschien ihm unendlich lang und dann doch zu kurz, um auf dem Weg einen klaren Gedanken zu fassen. Vorsichtig spähte er durch die aufgestoßene Tür. Asheroth lag gekrümmt auf dem Boden. Offenbar hatte er nach seinem ersten Atemzug sofort versucht aufzustehen und war gestürzt. Behutsam hob der Hüne unter den Ältesten ihn wieder auf das Bett.

„Anzheru…“, murmelte Asheroth.

„Er ist hier, beruhige dich.“ Commodus versuchte, ihn auf die Seite zu drehen, sodass sie sich ansehen konnten. Es gelang ihm jedoch nicht. Asheroth schien jeden Muskel anzuspannen. „Sein Blut brennt so…“

„Es dauert, bis sich dein Körper regeneriert hat. Bleib ruhig liegen und ich hole dir etwas Blut.“ Commodus‘ Vorschlag klang schon beinahe wie ein Befehl. Asheroth nickte kaum merklich und blieb auf dem Rücken liegen. Nachdem der Hüne den Raum verlassen hatte, biss Anzheru die Zähne zusammen und näherte sich langsam seinem Lager. Mit seinem Atem war auch seine lebensfeindliche Aura wieder vorhanden. Anzherus Kopf fühlte sich absolut leer an, als hätte er alles vergessen, was er hatte sagen wollen.

„Du bist hier“, wiederholte Asheroth nur und starrte ihn mit eisblauen Augen an.

„Ja.“

„Geh nicht weg. Es ist…“ Er unterbrach sich und versuchte, sich aufzurichten. Anzheru drückte ihn kopfschüttelnd wieder auf die Matratze. „Hör auf Commodus, du bist geschwächt. Es grenzt an ein Wunder, dass es überhaupt funktioniert hat.“

Asheroths eisig kalte Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um sein Handgelenk. Ein Teil seiner Kräfte war also schon zurückgekehrt.

„Warum?“ Mehr brachte er nicht heraus. Der Geborene zögerte. Commodus behielt wieder einmal Recht. Sein Vater starrte ihn verständnislos an, als wäre Anzheru von den Toten auferstanden und nicht er selbst. Der Hüne kehrte mit einer Schale voll Blut zurück. Dem leisen Wimmern im Haus nach zu urteilen, hatte er einen der Blutsklaven verletzt.

„Hier, trink.“

Asheroth ließ Anzheru endlich los, um nach der Schale zu greifen. Gierig trank er sie in einem Zug leer. Der Geborene ließ sich auf der Bettkante nieder, während Asheroth Commodus die Schale zurückgab.

„Bleib liegen!“, befahl der Hüne noch einmal, obwohl Asheroth sich nur unter einem leisen Stöhnen auf die Seite drehte.

„Darf ich dich bitten zu gehen?“, fragte Anzheru ruhig.

„Selbstverständlich, Neffe.“ Mit einem Gesichtsausdruck zwischen Zufriedenheit und Anspannung zog Commodus sich wieder auf seinen Platz im Aufenthaltsraum zurück. Das frische Blut zeigte bereits Wirkung. Asheroths Muskeln entspannten ein wenig, seine Augen nahmen ihr menschliches Dunkelbraun an sowie den rötlichen Schimmer, der seine Aura symbolisierte. Offenbar wollte auch er nicht, dass Commodus zuhörte, denn er wechselte ins Phönizische. „Du hättest mich einfach sterben lassen können. Warum hast du es nicht getan? Warum hast du mich geheilt und dabei dein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt?“

„Ich konnte nicht anders“, entgegnete Anzheru knapp.

„Warum nicht?“

Der Geborene stützte den Kopf auf die Ellbogen und verbarg das Gesicht vor ihm.

„Erkläre es mir!“ Es klang beinahe wie ein Flehen. Anzheru atmete tief durch, bevor er seinen Vater wieder ansah. „Es liegt an Mutters Blut.“

„Wie das?“ Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Dein Körper muss es längst aufgezehrt haben.“

„Es ist aufgezehrt. Allerdings blieben die absoluten Grundzüge ihres Wesens erhalten. Sie wurden ein Teil von mir. Zum Beispiel hat Mutter sich immer gewünscht, dass wir in Frieden leben können. Deshalb war ich so oft dagegen, dass wir in den Kampf ziehen.“ Anzheru machte eine kurze Pause, um Asheroth Zeit zum Nachdenken zu geben.

„Und wie weit betrifft es mich?“ Es fiel ihm sichtlich schwer zu begreifen, was Anzheru sagte.

„Sie hat dich geliebt. So sehr, dass es auf mich überging, noch bevor ich dich kannte.“

Asheroth erwiderte nichts. Von seinen Lippen blieb nur ein schmaler Strich.

„So wütend ich auch auf dich bin, ich kann dich ihr zu Liebe nicht sterben lassen.“ Anzheru wandte erneut das Gesicht ab. Niemandem hatte er je davon erzählt. Nicht einmal Mira wusste etwas von dieser Verbindung zu seinem Vater. Er spürte, dass Asheroth vorsichtig über seinen Arm strich.

„Du solltest noch wissen, dass es etwas gibt, das diesen… Umstand außer Kraft setzen kann.“ Anzheru packte die Hand, die auf seinem Unterarm liegen geblieben war und sah ihm wieder direkt in die Augen. „Falls du es jemals wagst, Mira in meiner Gegenwart etwas anzutun, schlage ich dir den Kopf ab.“

„Ja, Sohn.“ Asheroth rollte sich mit einem Lächeln auf den Lippen zusammen und schloss die Augen.

„Mehr willst du nicht dazu sagen?“, fragte Anzheru ungläubig.

„Nein.“

Der Geborene fühlte sich ein wenig wie betäubt, als er wieder nach unten ging. Die Reaktion seines Vaters ergab nicht viel Sinn. Commodus saß starr vor dem Kamin und schaute in die Glut. Er sah nicht auf, als Anzheru den Raum betrat und sich in einen der Sessel fallen ließ.

„Du hast Recht. Es treibt einen in den Wahnsinn, wenn man euch hört, aber nicht versteht.“

Anzheru lächelte schwach. „Er schläft jetzt. Er soll entscheiden, wie viel er dir darüber erzählt.“

„Er wird nichts preisgeben. Diese Sache geht nur euch beide etwas an.“ Commodus schüttelte sacht den Kopf. Anzheru lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die anderen würden bald von der Jagd zurück sein.

„Toves Namen hat er nicht erwähnt?“

„Nein, darum ging es ihm noch nicht“, gab der Geborene zurück. „Aber wenn er die Kraft hat aufzustehen, wird er nach ihr suchen.“ Daran gab es keinen Zweifel. Wenn Asheroth Tove jetzt aufgab, wäre alles umsonst gewesen. Anzheru begann langsam zu begreifen, warum dieses Kind so wichtig für seinen Vater war.

Unterwerfung

Mira wurde von einem lauten, schabenden Geräusch geweckt. Licht fiel in ihren Gefängnisschacht. Seit Leyth ihr eine Schale von dem übelschmeckenden Gemisch aus Wein und Blut gegeben hatte, hatte niemand mehr ihr Verlies geöffnet. Nun hätte sie gern gefragt, wie viel Zeit vergangen war, jedoch gebot ihr der Hauptmann der Garde zu schweigen. Er führte sie durch die Eingangshalle auf eine breite, gemauerte Treppe zu, über die man tiefer ins Innere der Festung gelangte. Im Vorbeigehen betrachtete Mira ein großes, quaderförmiges Objekt, das mit einer Plane abgedeckt war. Die Leibwachen wuchteten es zu viert noch ein Stück vorwärts, dann stellten sie es mitten in der Halle ab.

„Wohin, Gebieter?“, fragte einer der Vampire.

„Bringt ihn nach oben in den Saal, vor den großen Kamin“, befahl Cinrics Stimme von oberhalb der Treppe, die Mira und Leyth gerade erklommen. Ihre Augen und Ohren hatten leichte Schwierigkeiten, sich wieder an eine lebendige Umgebung zu gewöhnen. Dennoch nahm Mira nun Details der Festung wahr, die sie in der finsteren Nacht, in der sie hergebracht worden war, nicht bemerkt hatte. Ein paar wenige Gemälde zierten die Wände und alte Schwerter waren aufgehängt worden, ansonsten war die Einrichtung rein funktional. Niemand konnte hier etwas wie Wohnlichkeit empfinden. Dagegen war Asheroths Chateau in Frankreich ein geradezu herrlicher Ort gewesen. Mira hätte alles darum gegeben, jetzt dort zu sein, statt hier in Horatios Gefangenschaft. Dass Asheroth sie ins Gesicht geschlagen hatte, um Antworten zu bekommen, erschien ihr nun vollkommen unwichtig. Bei ihm hatte sie inzwischen wenigstens eine Ahnung, wie er sich verhalten würde und warum. Ihre erste Station war ein geräumiges Bad, das erstaunlich modern wirkte. Leyth ließ Mira neben der Wanne stehen, die in eine breite Wandnische eingelassen war, und drehte das warme Wasser auf. Handtücher, Unterwäsche und ein schwarzes Kleid lagen schon bereit. Wie sollte das funktionieren? Miras Arme waren nach wie vor auf ihren Rücken gefesselt. Die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage folgte prompt, indem Leyth sie mit dem Gesicht zu Wand drehte und begann, ihre Fesseln zu lösen.

„Rühr dich nicht einen Zentimeter“, warnte er sie. „Ich habe Anweisung, dich nackt auf dem Hof auszupeitschen, wenn du Ärger verursachst.“

Mira erschauderte. Diese Anweisung kam garantiert von Cinric. Er hatte sie dermaßen gierig angestarrt, er wollte bestimmt nicht nur ihr Blut. Und dabei wusste der Älteste ganz genau, dass sie zu Anzheru gehörte. Die Seile fielen nach und nach zu Boden.

„Ausziehen kann ich mich alleine“, knurrte Mira leise, als sie endlich wieder die Arme bewegen konnte. Leyth wich gerade mal zwei Schritte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Soll ich nur im Wasser sitzen, oder bekomme ich Seife?“ Sie bemühte sich nicht sonderlich um einen höflichen Tonfall. Er warf ihr einen warnenden Blick zu, dann ging der Leibwächter zu einem der klinisch weißen Schränke am Waschbecken hinüber. Wenn überhaupt, würde Mira nur absolut geruchslose Seife bekommen. Vor allem männliche Vampire mochten die künstlichen Gerüche von menschlichem Duschgel nicht. Das wusste sie, seit Anzheru damals ihr Shampoo einfach weggeworfen hatte. Leyth reichte ihr wie vermutet ein weißes Stück Seife und auch einen Kamm hatte er aus dem Schrank zu Tage gefördert.

„Lässt du mich jetzt einen Moment allein?“, fragte Mira, obwohl sie die Antwort bereits erahnte.

„Nein“, gab Leyth wie vermutet tonlos zurück.

„Würdest du dich dann bitte abwenden“, sagte sie mit breitgezogenen Mundwinkeln, bevor sie ihre Unterwäsche auszog. Der Leibwächter drehte sich immerhin seitlich zu ihr, sodass er starr geradeaus zur Tür sah und nicht in die Badewanne. Obwohl Mira ihre Situation durchaus bewusst war, war das heiße Wasser eine wahre Wohltat. Ihre Zelle war eisig kalt gewesen. Sie legte den Kopf auf die Knie und ignorierte den fremden Vampir im Raum so gut es eben ging. Nur ein paar Minuten durfte sie baden, dann musste sie das schwarze Kleid anziehen, ihre Haare auskämmen und ihm wieder über den schier endlosen Korridor folgen. Durch einen Türspalt bemerkte Mira den großen, quaderförmigen Gegenstand, den die Leibwachen in die Empfangshalle getragen hatten. Da die Plane verrutscht war, konnte sie sehen, dass es sich um einen Eisblock handelte. Was hatte Horatio bloß auf seiner Reise in die Arktis gefunden? Der Marsch endete in einem Raum mit hohen Fenstern, in dessen Mitte eine große, kreisrunde Tafel aufgebaut war. Nur fünf Stühle standen daran. Mira erkannte das Siegel des Ältestenrates wieder, welches kunstvoll in der gewaltigen Tischplatte eingearbeitet war. In der Mitte prangte ein Auge, dessen Pupille zu beiden Seiten konvex war, statt rund. Es symbolisierte die Funktion des Rates, die Vampire auf der ganzen Welt zu beobachten und im Zaum zu halten, damit die Menschen niemals auf sie aufmerksam wurden. Die runde Iris des Auges bildete gleichzeitig das Zentrum eines sechszackigen Sterns. Jeder der geschwungen auslaufenden Zacken stieß an den äußeren Ring des Siegels, in dem die Initialen der Ältesten in dunklen Mosaiken eingefasst waren. Mira wunderte sich im Stillen darüber, dass es sechs waren, Anzheru hatte ihr immer nur von fünf Ältesten erzählt. Für wen wohl das zweite A zwischen Commodus und Asheroth stand? Zwei weitere Leibwächter erwarteten sie. Leyth umfasste Mira von hinten und zwang sie, die Hände vorzustrecken. Einer der beiden Vampire legte sie in Ketten. Gegen ihren Willen begann sie zu zittern, woran sich jedoch niemand störte. Offenbar war es noch keinem Gefangenen besser ergangen. Danach führte sie der Hauptmann der Garde weiter unter eins der hohen Fenster.

„Knie dich hin!“, befahl er barsch. Mira gehorchte nur widerwillig. Schon als sie noch sterblich gewesen war, hatte sie es gehasst, vor anderen Vampiren knien zu müssen. Es war so erniedrigend. Und dass sie eine ganze Weile auf dem kalten Steinboden ausharren musste, machte es nur noch schlimmer.

Als Horatio den Raum betrat, senkten die Leibwächter kurz die Köpfe vor ihm. Da Mira es ihnen nicht sofort gleich tat, packte Leyth ihre Haare und presste ihren Kopf so weit nach unten, dass sie mit der Stirn beinahe den Boden berührte. Nach etwa zwei Sekunden zog er sie wieder hoch. Der Älteste aller Vampire glitt unaufhaltsam durch den Raum auf sie zu. „Willkommen in Aberdeen, mein schönes Kind.“

Seine Stimme war schneidend, Mira spannte reflexartig jeden Muskel an. Wenn sie sich bloß befreien und durch das Fenster flüchten könnte. Er blieb vor ihr stehen und streckte die Hand nach ihrem Kinn aus. Nur weil Leyth immer noch ihre Haare festhielt, konnte Mira ihm nicht ausweichen, als er ihr Gesicht hob. Seine Fingerspitzen waren eisig, seine Nägel glichen Rasiermessern.

„Weißt du, was Gehorsam bedeutet?“, fragte er ruhig. Diese seltsame Frage konnte nichts Gutes bedeuten. Mira fletschte wortlos die Zähne.

„Legt sie auf den Tisch“, befahl der Älteste gleichmütig. Die Leibwächter wuchteten sie rücklings auf die blankpolierte Tafel in der Mitte des Raumes. Die beiden Fremden hielten ihre Füße. Leyth packte die Kette an ihren Händen und zerrte ihren Körper in die Überstreckung.

„Es war eine einfache Frage, auf die du nur ja oder nein hättest antworten müssen.“ Horatio strich über ihre Wange, ihren Hals hinab und dann weiter über ihr Brustbein. „Andere haben deine Widerspenstigkeit vielleicht hingenommen, aber nun wird sie dir nichts mehr nützen.“

Er zog einen übelriechenden Dolch hervor und fügte Mira mehrere, oberflächliche Schnitte an Armen und Beinen zu. „Es ist nur eine geringe Dosis, aber in wenigen Minuten wirst du feststellen, wie effektiv dieses Gift ist. Wenn du morgen immer noch nicht auf einfache Fragen antworten willst, erhöhen wir die Dosis.“

Seine starre Miene ließ darauf schließen, wie sehr er Mira verachtete. Der Älteste beugte sich vor, sodass er ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Du wirst dich beugen, Mira. Glaube nicht, dass es für mich schwierig wird, deinen Willen zu brechen.“

Er befahl den Wachen sie festzubinden, dann zogen sich die vier Vampire zurück. Miras Herzschlag verlangsamte sich, obwohl sie sich keineswegs beruhigte. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber die strammen Seile hielten ihren Körper gnadenlos in der überstreckten Haltung gefangen. Als Mensch hätte sie wohl kaum auch nur eine Stunde auf diese Art durchgehalten. Nach etwa fünf Minuten begann das Gift, seine Wirkung zu entfalten. Ausgehend von den schlecht verheilenden Schnitten breitete sich Schmerz aus, brennend, stechend und alles durchdringend. Mira hätte sich gekrümmt, wenn sie sich bloß hätte rühren können. Irgendwann konnte sie nicht mehr verhindern, unregelmäßig Laute zwischen Stöhnen und Schluchzen von sich zu geben. Nachdem das Brennen auf der Haut ein wenig nachgelassen hatte, fühlte es sich an, als würden sich ihre Eingeweide von innen zerreißen. Und es hielt Stunden lang an. Die Sonne ging auf, als ihre Muskeln begannen, zu krampfen. In weiter Entfernung hörte Mira von Zeit zu Zeit die Schritte und Rufe der Wache, allerdings klang alles recht undeutlich.

„Hilfe“, flüsterte sie, schreien konnte sie nicht mehr. Verzweiflung legte sich langsam und bedrohlich über den Schmerz.

„Bitte, irgendjemand…“ Mira versagte die Stimme. Das Gift griff mittlerweile sogar ihre Knochen an. Dennoch würde sie hieran nicht sterben. Ihr vampirischer Körper würde sich regenerieren. Horatio hatte zwar angedroht, dass es hierzu sogar noch eine Steigerung gab, aber tödlich war dieses fürchterliche Gift nicht. Ewig würde sie nicht durchhalten, das wurde Mira schmerzlich bewusst. Sie wünschte sich so sehr, zu Hause bei Anzheru zu sein. Was wusste Horatio nun über ihn, das Asheroth verheimlicht hatte? Die Angst um ihren Gefährten trieb ihr die Tränen in die Augen. Als die Wirkung des Gifts ihr Maximum überschritten hatte, atmete Mira längst nicht mehr. Ihr Puls war so stark verlangsamt, dass ein menschlicher Arzt sie wahrscheinlich für tot erklärt hätte. Ein leises Geräusch verhinderte, dass sie vor Erschöpfung einschlief. Jemand trat neben ihr an den Tisch. Mira versuchte erneut, ein „Bitte“ herauszubringen, doch angenehm kühle Fingerspitzen legten sich über ihren Mund. Sie hörte ein leises Reißen wie von Fleisch, dann tropfte Blut auf ihre Lippen. Nur einen winzigen Schluck ließ derjenige sie trinken, dann zog er sein Handgelenk wieder weg und verschwand genauso schnell, wie er erschienen war. Mira brachte es nicht fertig, die Augen zu öffnen oder seinen Geruch einzuatmen. Sie schlief ein, während sich die Sonne langsam über ihren Zenit hinaus schob.

Ursprung

Die Welt rückte von Minute zu Minute etwas näher. Impulse ließen sich etwas klarer zuordnen. Sein Tastsinn war immer schärfer geworden. Immer schon. Eines Abends rief Hector Asheroth zu sich. „Ich habe eine Bitte an dich, mein Sohn.“

„Ja, Gebieter?“, fragte er verunsichert. Die Miene seines Schöpfers war düster verzerrt, sein Blick in die Ferne gerichtet.

„Ich möchte, dass du nach meinem verschollenen Bruder Dastan suchst“, knurrte er. „Irsia und Jala leisten ihren Beitrag zu unserem Schwur, doch Dastan hält sich im Verborgenen und bricht sein Versprechen. Es ist an der Zeit, dass er dafür büßt.“

Wie sollte er einen einzelnen Mann denn bloß finden? Asheroth versuchte, seine Skepsis zu verbergen, als er fragte, wie er dies bewerkstelligen sollte.

„Er sieht mir ähnlich und dürfte den Sterblichen aufgefallen sein, die ihm begegnet sind. Gehe nach Osten und frage in jedem Dorf nach ihm. In diesem Fall darfst du Menschen nahe sein. Irgendwann wirst du Erfolg haben.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739371436
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Vampirkrieg Lichtaura Fantasy Gestaltwandler Schattenaura Liebe düster dark

Autor

  • Al Rey (Autor:in)

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt wohnt sie im schönen Rheinland.
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Titel: Tageswandler 2: Anzheru