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Der Mops, der Liebesbote spielte

Love Letters

von Alisha Bionda (Autor:in) Alisha Bionda (Herausgeber:in) Tanja Bern (Autor:in) Tanya Carpenter (Autor:in) Christine Eisel (Autor:in) Caitlyn Young (Autor:in) Andrea Weil (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

LOVE LETTERS—geschriebene Liebesgeständnisse, die ein-mal fröhlich sind, dann wieder melancholisch—und sogar über den Tod hinaus zwei Liebende verbinden. Tanja Bern, Tanya Carpenter, Christine Eisel, Caitlyn Young und Andrea Weil zeigen, wie unterschiedlich Liebesbriefe und ihre Geschichten sein können. 340 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Alisha Bionda

 

 

Neben den geflüsterten Worten der Liebe sind auch jene, die niedergeschrieben werden, zu Herz gehend.

 

LOVE LETTERS erhitzen das Gemüt, verraten Gefühle, wecken Sehnsüchte, verbergen (Liebes)Geheimnisse – und erreichen einen über den Tod eines geliebten Men-schen hinaus.

 

Wie unterschiedlich Liebesbriefe und die Geschichten derjenigen, die sie geschrieben haben, sein können, zeigt diese Novellensammlung.

 

Viel Spaß und romantische Lesestunden,

 

Alisha Bionda, Frühjahr 2020

 

 

 

Tanya Carpenter

 

 

Zoé, meine Liebste!

Wenn Du ahnen würdest, wie sehr mein Herz noch immer für Dich schlägt, obwohl Deines nun für immer schweigt. Es gibt so vieles, was ich Dir noch sagen wollte, noch immer sagen will. Dinge, die Du hättest wissen sollen, und nie mehr erfahren wirst. Zum Beispiel wie sehr ich Deine Nachrichten geliebt habe. Die tausende von Post-it-Zetteln, mit denen Du mein Leben zugepflastert hast. Ich glaube, ich hab Dir das nicht oft genug gesagt. Manchmal war ich sogar richtig genervt. Aber jetzt vermisse ich sie. Ich vermisse Dich.

Ich hab Angst, Zoé. Angst vor dem, was ich Dir nie gesagt habe und was mich jetzt eingeholt hat. Angst vor allem, was ich gemacht habe – für ihn. Wissend, dass es nicht richtig ist. Aber ich wollte doch ein Leben für uns. Und er hat mich schließlich aus dem Dreck gezogen, war immer gut zu mir. Das macht es nicht besser, nicht richtiger. Das weiß ich mittlerweile. Darum bin ich auch ausgestiegen, Zoé. Endlich hab ich den Mut dazu gefunden – viel zu spät.

Ich weiß, wenn ich mit Dir offen darüber geredet hätte, dann wäre das schon früher passiert. Rechtzeitig vielleicht. Weil Du mir den Weg gezeigt hättest. Du wusstest immer, was richtig und was falsch ist, mit Deinem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn und Deinem Glauben an das Gute. Daran denke ich nun, und so hast du es am Ende doch geschafft, mir den Schubs in die richtige Richtung zu geben. Durch Deinen Tod. Ich tu das für dich, Zoé, weil ich weiß, dass Du es so gewollt hättest. Du hast schon lange gespürt, dass ich nachts Dinge mache, die nicht richtig sind. Trotzdem bist Du bei mir geblieben, hast mich nie bedrängt und mir nie Vorwürfe gemacht. Nur hin und wieder waren da diese kleinen Worte zwischen den Zeilen in Deinen Nachrichten. Ich hab sie nicht sehen wollen. Ich hätte sie sehen müssen. Es ist eine makabre Ironie, dass ich mich erst durch Deinen Tod von ihm gelöst habe, wo Du doch nur deshalb sterben musstest, weil er dachte, dass ich ihn längst verraten hab. Dabei hab ich vor dieser Nacht nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht. Wie das Leben so spielt, nicht wahr? Oder in dem Fall eben der Tod. Dich zu verlieren, ist meine gerechte Strafe. Nur ist es nicht fair, dass Du die Rechnung begleichen musstest. Ich hätte an Deiner Stelle sterben sollen. So war es geplant. So wäre es richtig gewesen. Warum nur musstest Du ausgerechnet in dieser Nacht mit dem Boot rausfahren? Sonst hast Du es nie angerührt. Jetzt bist Du nicht mehr da. Nichts ist mir geblieben von Dir. Nur die Erinnerungen und blasse Bilder, die Deine Schönheit und Deinen Liebreiz niemals werden widerspiegeln können. Ich vermisse Dich, mein Engel. Mit jedem Tag, ja mit jeder Stunde. Mein Leben ist bedeutungslos ohne Dich, und trotzdem muss es weitergehen. Nur noch ein wenig. Bis ich diese eine Sache erledigt hab. Das bin ich Dir schuldig.

Und dann …

Ich weiß, Du würdest es mir nie vergeben, wenn ich Dir stumm nachfolge. Das allein lässt mich zaudern und bindet mich an ein Leben, das ohne Dich keines mehr ist.

Könnte ich nur einmal noch Deine Stimme hören, Dein wundervolles Lachen. Nur einmal noch Dein weiches Haar berühren, fühlen, wie es sich über mich legt – gleich einem Schleier aus Nacht, während wir uns lieben. Wenn mir das Schicksal doch nur noch ein einziges Mal erlauben würde, Deine süßen Lippen zu küssen und Dich in meinen Armen zu halten. Dich festzuhalten, damit Du mir nicht entrissen wirst. Ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden und würde alles besser machen. Alles richtig. Doch es wird nicht sein – kann nie mehr sein. Du bist fort. Und ich fühle mich wie ein Wanderer ohne Ziel, wie ein Ertrinkender im Ozean, wie ein Lied ohne Klang.

Auf ewig

Dein José

 

 

Heute

Der Wind verfing sich in seinen dunklen Haaren, während er gedankenverloren die Saiten der Gitarre zupfte. Dabei entlockte er dem Instrument eine wehmütige Melodie, die sich aus den Tiefen seiner Seele an die Oberfläche wand, um sich mit dem Rauschen der Brandung zu vermischen und weit übers Meer hinfort zu ziehen. Seine Stimme, rau und wund, kaum mehr als ein tränenschweres Flüstern, sang ein trauriges Lied über verlorene Liebe und gestorbene Hoffnung. Sang es mit so viel Tiefe und Verzweiflung, dass es selbst einen Felsen zum Weinen hätte bringen mögen. Doch die Eine, der dieses Lied galt, würde es nie empfangen. Josés Herz quoll über vor Sehnsucht und Pein – ein Schmerz, der niemals mehr enden würde, weil er Zoé für immer verloren hatte und ihr Tod eine immerwährende Schuld war, die auf ihm lastete und ihn in die Knie zwang. Seine große Liebe. Sein Licht, das ihn aus der Dunkelheit geführt hatte – um dann zu verlöschen. Nachdem es ein letztes Mal lichterloh gebrannt und ihm damit die Augen geöffnet hatte. Erneut stieg all die Bitterkeit des Schicksals in seiner Kehle empor. Er wandelte sein Leid in Klang mit seinem Spiel. Auf eine Art, die niemanden unberührt lassen konnte, der es vernahm. Nicht einmal die Männer in den dunklen Anzügen, die stets im Hintergrund blieben und ihn keine Minute aus den Augen ließen, ganz gleich, was er auch tat. Sie waren immer da, zumindest so lange, bis er seinen Teil der Abmachung erfüllt hatte. Was danach kam … ob man ihn auch dann noch beschützte … es war ihm egal.

Er verlor sich in jedem Ton, war der Welt zur Gänze entrückt, in der er ohnehin keine Freude mehr finden konnte, weil ohne Zoé jeder Tag bedeutungslos war. Mit dem letzten Akkord brach José am Strand zusammen. Er war ein junger Mann – schön, erfolgreich, begehrt und mit einem nahezu dämonischen Talent für die Musik. Donovan hatte das aus ihm gemacht, oder besser: Er hatte es für sich zu nutzen gewusst. Geld, eine schicke Wohnung, ein schnelles Auto, ein Boot ... dieses verdammte Boot. Warum nur hatte er nicht sehen wollen, dass all die Großzügigkeit, die sein Boss ihm gegenüber an den Tag legte, um ihn zu halten, nur Mittel zum Zweck war. Ein noch größeres Blendwerk, als seine Freundlichkeit und Fürsorge zuvor. Zoé hatte es immer geahnt. Sie hatte all das nicht gewollt, hatte sich vor Donovan gefürchtet und José tausend Mal gebeten, auszusteigen. Nicht mehr in die Clubs zu gehen, sondern einen anderen Weg mit seiner Musik einzuschlagen. Dabei hatte sie die Wahrheit nicht einmal gekannt.

Oder doch?

Egal.

Am Ende war der Preis für all das zu hoch gewesen. Jetzt fühlte er nichts mehr von dem Prunk und der Leichtigkeit, mit denen Donovan ihn eingefangen hatte. Stattdessen kam sich José vor wie ein Greis, obwohl nicht mehr als ein paar Monate vergangen waren seit jener Nacht, in der Zoés Seele gegangen war. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, wenn er alles verloren hätte, wenn nur sie ihm geblieben wäre. Seinen noch immer betörenden Anblick, über den sogar seine Wächter anerkennend murmelten, ertrug er nicht länger. Wenn er in den Spiegel sah, ekelte seine Schönheit ihn an, weil ihm bewusst war, zu was er sie missbraucht hatte. Tief im Inneren hatte er es immer gewusst, aber die Versuchung war zu groß gewesen. Der schöne Schein, die Illusion eines freien, unbeschwerten Lebens ¬ – irgendwann.

Es waren sein Aussehen und seine fast schon unheimliche Begabung gewesen, die ihn einst in diesen Sumpf gezogen hatten, in dem er viel zu lange freiwillig verweilt hatte, bis er den Schmutz von dort nie wieder gänzlich loswurde. Ihr war es egal gewesen. Sie hatte ihn dennoch geliebt. Nicht wegen seines Äußeren, sondern wegen des kleinen Stückchens Unversehrtheit in seiner Seele, das noch geblieben war – das sie erkannt und wieder zum Leben erweckt hatte, nur um am Ende bitter dafür zu bezahlen.

Er hatte auch bezahlt, oh ja. Aber längst nicht genug. Und jetzt sann sein Herz nur noch auf Rache. Seine Hände gruben sich in den feuchten Sand, bis man die Narben darauf nicht mehr sah. Selbst der Wind vermochte seine Tränen nicht zu trocken. Lautlos schluchzte er, zitterte unter der Last seiner Verzweiflung und Schuld. Warum nur? Warum hatte das Meer sie fortgenommen? Sie und nicht ihn? Warum hatte sie an diesem Abend das Boot genommen? Seine wunderschöne Zoé. Sie hatte den Tod nicht verdient. Das reinste Wesen auf dieser Erde. Es wäre an ihm gewesen, mit dem Leben zu bezahlen, nicht an ihr. Das Schicksal konnte so grausam sein. Als er sich erhob, war ihm als wögen seine Glieder Tonnen. Er torkelte auf die Brandung zu wie ein Betrunkener. Als seine Füße bereits von eisigem Nass umspült wurden, holte er aus und schleuderte die Flasche weit aufs Meer hinaus. Nie würde sie sie erhalten. Doch näher konnte er ihr nicht mehr bringen, was ihm auf dem Herzen brannte. Er musste es ihr sagen, bevor er in gut einer Woche alles auf eine Karte setzen und in diesen Gerichtssaal gehen würde. Was danach geschah, lag nicht mehr in seiner Hand. Aber mit seiner Aussage war es unwahrscheinlich, dass Donovan das Gefängnis jemals wieder verließ. Darum war er hier, abgeschottet von der Welt und besser bewacht als Fort Knox. Um sicherzustellen, dass er in einer Woche noch lebte. Nach seiner Aussage würde kein Hahn mehr nach ihm krähen, das wusste er. Vielleicht traf ihn dann eine Kugel von Donovans Handlangern. Auch das kümmerte ihn nicht. Er wollte nur leben bis zum Prozess, damit Donovan dafür büßte, was er getan hatte. Je schneller er danach sein eigenes Leben aushauchte, umso besser, dann wäre er wenigstens wieder bei Zoé.

Kurz versank die Flasche unter der Wasseroberfläche, ehe sie wieder auftauchte und mit der Brandung hinaus auf das offene Meer gezogen wurde. Sie tanzte auf den Wellen, drehte sich, und schwamm mit jedem neuen Sog der einsetzenden Ebbe weiter davon bis sie Josés Blicken entschwunden war. Allein und einsam, mit der letzten Botschaft einer tragischen Liebe in ihrem gläsernen Leib, driftete sie mit den Gezeiten davon. Hin zu einem unbestimmten Ziel. Glühend im Schein des roten Feuerballs, der sich in den dunklen Fluten zur Ruhe zu begeben schien. Und später gestreichelt von den kühlen Strahlen des bleichen Mondes, der ihr Geleit gab durch die Finsternis der Nacht.

 

 

Ein Jahr zuvor

José war müde. Die ganze Nacht hatte er in einem von Donovans Club gespielt. Es waren viele Frischlinge im Publikum gewesen, darum war es eine besonders harte Nacht gewesen. Sein Boss hatte gleich mehrere der Jungs und Mädels in den Backstagebereich gebracht, damit sich José und die Band um sie kümmerten. Es lief immer gleich ab. Seine Musik war das Erste, was sie berauschte. Danach sein Körper. Und später nur noch die bunte Zaubermedizin aus Donovans spezieller Apotheke. Die ersten Male waren gratis. Scheinbar harmlose Shots, um gut draufzukommen – und den Sex intensiver zu machen. Es dauerte nie lange, bis die Sucht sie packte. Danach hatte Donovan sie in der Hand. Wenn sie nicht zahlen konnten, schickte er sie anschaffen. Der Nachschub riss nie ab und er suchte sich immer nur diejenigen raus, die seinen Zwecken dienlich waren. José schauderte kurz, weil ihm wieder mal der Gedanke kam, dass er genauso hätte enden können. Groß war der Unterschied nicht, aber immerhin war er weitgehend clean geblieben, durfte seine Musik ausleben und musste sich nicht jedem widerlichen Freier hingeben, an den Donovan ihn verkaufte. Die Rekruten, die er vorbereitete, waren allesamt jung und hübsch, damit sie später ihrem Zweck dienten. Das machte es leichter, sogar dann, wenn es Jungs waren, obwohl ihm Mädchen lieber waren.

Manchmal kotzte es José an, weil er genug Grips hatte, um zu blicken, was hier abging. Aber wenn seine Laune zu tief sank, gab es meistens einen Bonus und dann rief er sich wieder in Erinnerung, wofür er das alles tat. Dass Donovan ihn schließlich aus dem Dreck gezogen hatte und er ihm sein Leben verdankte. Also blendete er weiterhin aus, was er da in Wahrheit tat und wohin es für diese jungen Menschen führte. Das war nicht sein Problem und durfte es niemals werden. Sie alle hatten eine Wahl, im Gegensatz zu ihm. In dieser Welt galt nunmal das Recht des Stärkeren, und er wollte nicht noch einmal am Boden liegen.

José gab das Geld, das er verdiente, nicht sinnlos aus, auch wenn seine Börse immer gut gefüllt war. Er machte sich nichts vor, für immer wollte er nicht so weitermachen. Er musste den Absprung schaffen, ehe er zu alt wurde und seine Schönheit verblasste. Für diese Zeit musste er vorbereitet sein. Ein Leben ohne Donovan und seine finsteren Geschäfte, wenn er nicht mehr das Gefühl hatte, diesem Mann noch etwas schuldig zu sein. Wann das sein würde … José wusste es nicht. Im Moment trieb er einfach so dahin, genoss den trügerischen Ruhm und all die Annehmlichkeiten – und behielt im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen das Später immer im Auge. José war nicht der einzige Catcher, mit dem Donovan seine Masche abzog. Der Kerl hatte unzählige Clubs überall im Land. Seine Lockvögel waren gezielt ausgesucht und sorgten dafür, dass die Geschäfte bestens liefen. Sex sells – noch dazu mit dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, weil man seinem Idol ganz nahekommen durfte. José zog sich erst zurück, wenn es kein Entrinnen mehr gab. Wenigstens musste er sich Folgen seines Tuns dann nicht mehr ansehen. So konnte er sein Gewissen den größten Teil der Zeit stumm halten. Die Wahrheit einfach ausblenden.

„Sei ihr Freund, sei ihr Lover“, sagte Donovan immer. „Gib ihnen das Gefühl, was Besonderes zu sein. Und wenn sie dir vertrauen …“

Es war so mies, aber warum sich Gedanken machen? Er tat nichts gegen ihren Willen. Sie suchten doch danach. Warum sonst kamen sie in Donovans Clubs? Immer wieder.

Eigentlich wollte José wie jeden Morgen einfach nur in sein Bett. Er war fertig von dem Gig und dem danach. Die Augen des Mädchens von letzter Nacht verfolgten ihn. Groß und panisch. Bisher hatte keine so schnell begriffen, worum es ging, wie sie. Aber das würde ihr auch nicht mehr helfen. Sein Magen rumorte. Er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Vor den Auftritten aß er nie und diesmal hatte er keinen Bissen mehr runterbekommen, solange diese Kleine vor ihm lag und mit den Auswirkungen des ersten Shots kämpfte. Er kam an einem kleinen Café vorbei und der Duft von Kaffee und frischen Sandwiches stieg ihm in die Nase. José überlegte nicht lange, sondern ging rein. Kaum, dass er die Schwelle übertreten hatte, fiel sein Blick auf sie. Schwarze Haare bis zur Taille, leuchtend grüne Augen, die wie Smaragde funkelten. Zierlich und doch unübersehbar stark. Sie stand hinter der Verkaufstheke und kochte gerade Kaffee. Als sie ihn sah, lächelte sie freundlich – es wirkte auf ihn wie ein Sternenregen. Belebend und euphorisierend. Ihm entging die Bewunderung in ihrem Blick nicht. Er wusste um sein Äußeres und seine Wirkung auf andere Menschen, schließlich war beides sein Kapital. Lässig trat er näher, neigte den Kopf zur Seite und überlegte sich, mit welchem Spruch er wohl ihr Herz erreichen könnte.

Gerade wollte er das Wort an sie richten, da streifte sein Blick, den er kurz durch den Raum schweifen ließ, ein vertrautes Gesicht. Alles in ihm erstarrte. Braune, unstete Augen hefteten sich auf ihn. Gehetzt, leer, ein bisschen panisch und dann voller Flehen. Blaze! Er hatte den hübschen Jungen seit fast einem Monat nicht mehr gesehen. Nicht drüber nachgedacht, obwohl gerade er sein Herz nicht völlig kalt ließ. Viel zu jung, devot aufgrund seiner Unerfahrenheit, was Donovan natürlich sofort geblickt und genutzt hatte. Wenigstens lebte er noch. José konnte seine Augen nicht von ihm wenden. Hilf mir, schien Blazes Blick zu sagen. Für einen Moment vergaß José die dunkelhaarige Schönheit hinter dem Tresen. Langsam ging er auf den Tisch zu, an dem Blaze saß. Der Junge klammerte sich an einen Becher mit Tee. Unter seinen Augen zeigten sich dunkle Ringe, die Haut war fahl und offenbar schlief Blaze seit Tagen draußen.

Verdammt, José wusste, wie das war. Hatte das alles selbst durch. Nicht zu wissen, wo man die nächste Mahlzeit herbekommen oder einen trockenen Platz zum Schlafen finden sollte. Jemand anderen in der Lage zu sehen, in der er selbst einst gewesen war, führte ihm diese Zeit wieder vor Augen und machte seine Schuldgefühle so groß, dass er gerade kaum atmen konnte.

José spürte die Blicke der jungen Frau in seinem Rücken, als er sich zu Blaze setzte.

„Hi, Blaze. Lange nicht gesehen.“

Blazes ganzer Körper zitterte, war ausgemergelt und schwach. An den Handgelenken und am Hals erkannte José verblassende blaue Flecke. Gottverdammt, dachte er.

„Hast du …“ Blaze hatte kaum Kontrolle über seine Stimme. „Hast du … vielleicht … was für mich?“

Die Hoffnung schnitt José in seine Seele. Nein, er hatte nichts dabei. Er rührte diesen Mist nicht an, auch wenn es für die Kids immer so aussah. „Ich kann dir was zu Essen kaufen. Und dir ein bisschen Geld geben“, sagte er leise.

Die Leere in den Augen des Jungen schwand ein bisschen. José drehte sich um und winkte die Schöne heran. „Wir hätten gern ein Frühstück“, bat er leise. „Und vielleicht noch einen Coffee to go und ein paar Sandwiches für später.“

Ihre Blicke trafen sich. Er sah ihr Mitleid für Blaze. Sie nickte schweigend, drehte sich um und kam wenig später mit zwei gefüllten Tellern zurück. José rührte nichts an. Er ließ Blaze alles aufessen. Danach schob er ihm einige Scheine über den Tisch. Er brauchte sie nicht unbedingt. Geld war nie sein Problem. Verstohlen, als täte er etwas Verbotenes, griff der Junge danach und steckte sie ein.

„Bin gleich wieder da“, sagte José und drehte sich um, damit er die Sandwiches noch für ihn holen konnte. Doch gerade, als er die Tüte in die Hand nahm, erklang die Türglocke und alles, was er von Blaze noch sah, war sein blonder Schopf, der um die Ecke verschwand.

„Kennst du ihn?“ Wieder dieses tiefe Mitgefühl in ihrer Stimme.

„Nein“, log José. „Er tat mir nur leid.“

Sie nickte. „Ja, mir auch. Darum der Tee.“ Sie lächelte scheu. „Das war eine gute Tat. Ihm was zu Essen zu kaufen. Ich hoffe, er benutzt das Geld nicht …“

Sie sprach es nicht aus, blickte beklommen auf den Tresen und fing an, ihn hektisch mit einem Lappen sauberzuwischen, obwohl nicht einmal ein Fussel darauf lag. Sanft legte er seine rechte Hand auf ihre und unterbrach ihr Tun. Ihre Hoffnung würde sich nicht erfüllen, das wussten sie wohl beide.

„Ich nehme dann die Sandwiches wohl mit. Wäre schade drum“, meinte er und zückte seine Börse, um zu bezahlen. „Moment noch. Der Kaffee“, sagte sie und nahm ihm die Tüte wieder ab, drehte sich weg. Als sie zurückkam, lächelte sie zaghaft und stellte sie vor ihm ab. Man konnte sehen, dass nun auch ein Becher darin verstaut war.

José legte einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen. „Stimmt so“, sagte er, hielt für einen Moment noch ihren Blick fest und bedauerte, nicht mit ihr ins Gespräch gekommen zu sein. Aber nach der Begegnung mit Blaze wirkte es irgendwie unpassend.

Auf dem Heimweg kreisten seine Gedanken immer wieder um den Jungen. Er zitterte plötzlich genauso wie Blaze. Diese leeren Augen! Verdammt, er war kein Idiot. Er wusste es doch. Auch wenn er es verdrängte. Aber es zu wissen und zu sehen waren zweierlei Dinge. Und jetzt gleich zweimal direkt hintereinander. Erst das Mädchen, jetzt Blaze ...

Fuck, er war noch so jung. Zu jung für die Straße. Zu jung für diesen Scheiß. Zu jung um zu sterben. So wie José damals, als Donovan ihn aufgegriffen hatte. Der Unterschied zwischen ihnen beiden waren lediglich die Absichten, die Donovan mit ihnen verfolgte. José kannte das doch, es sollte ihm nicht so viel ausmachen. Trotzdem blieb das Gefühl, dass er Blaze hätte helfen müssen, weil er eine Mitschuld an seinem Schicksal trug. Aber Blaze hatte den point of no return bereits weit überschritten.

Zuhause angekommen realisierte José, dass sein Magen immer noch knurrte, weil er Blaze ja sein Frühstück überlassen hatte. Er seufzte. Na ja, dann würde er sich eben die Sandwiches schmecken lassen. Er holte den Kaffee hervor, der noch immer lauwarm war und schüttete dann die belegten Brote auf den Tisch. Mit ihnen fiel ein kleiner, gelber Post-it-Zettel heraus. Mit gerunzelter Stirn nahm er ihn auf und las.

 

Hallo schöner, fremder Mann mit dem großen Herzen! Deine Tat hat mich sehr berührt. Es gibt nicht viele Menschen, die so selbstlos helfen. Du hast heute jemandem Hoffnung gegeben. Ich bete, dass er sie zu nutzen weiß.

Vielleicht verrätst Du mir ja Deinen Namen, wenn Du wieder mal vorbeikommst. Ich würde mich freuen. Ich mag nämlich Menschen wie Dich. Menschen mit Herz. Zoé

 

Zoé! José war sprachlos ob ihrer Nachricht. Gute Tat? Mensch mit Herz? Er lachte bitter. Wenn sie wüsste. Aber dass sie ihn wiedersehen wollte, ließ ihm die Kehle eng werden und beschleunigte seinen Puls. Er wollte sie auch wiedersehen. Nachholen, was er heute versäumt hatte. Und ja, er würde ihr auf jeden Fall seinen Namen verraten. Wenn sie wollte, gerne auch noch mehr. Nur die Schatten, die mussten bei ihm bleiben, sollten nicht in ihre Nähe. Zoé war ein Engel. Und deren Flügel mussten rein bleiben.

 

 

Als er das Café am nächsten Tag betrat, begrüßten ihn wieder ihre leuchtenden Augen und ihr strahlendes Lächeln, womit man Eisberge zum Schmelzen bringen konnte. Ihr dunkles Haar war zu einem Zopf geflochten, aber einige vorwitzige Strähnen hatten sich daraus gelöst und ringelten sich um ihr ebenmäßiges Gesicht. Sie raubte ihm den Atem, mehr noch als beim ersten Mal, obwohl er nicht sagen konnte, warum. Sie war einfach … unwirklich. Tatsächlich wie ein Engel, den eine höhere Macht zu ihm geschickt hatte. Was für ein irrer Gedanke. Er setzte sich zu ihr an die Theke, bestellte einen Kaffee und einen Schokomuffin und dann redeten sie. Sie war immer noch berührt davon, was er gestern für Blaze getan hatte. José war es unangenehm, dass sie ihn auf einen Sockel stellte, den er nicht verdient hatte, aber er sagte nichts dazu, sondern lenkte das Gespräch möglichst rasch in andere Bahnen. Von da an ging er jeden Tag zu Zoé. Innerhalb weniger Wochen, in denen sie täglich die zwei Stunden zwischen dem Öffnen des Cafés und dem großen Frühstücksandrang redeten, kamen sie sich näher, als ihm jemals ein anderer Mensch gewesen war. Sie erzählten sich von ihrer Vergangenheit, ihren Niederlagen und Erfolgen, Hoffnungen und Träumen. Da war so viel Vertrauen und blindes Verstehen. Natürlich verschwieg er ihr weiterhin all die Schattenseiten seiner Welt. Nicht aus seiner Zeit auf der Straße, aber das, was er Backstage für Donovan tat. Sie musste das nicht wissen. Er wusste nicht, was er mehr fürchtete – sie dadurch zu verlieren, oder sie mit sich in den Abgrund zu reißen. Aber loslassen konnte er sie auch nicht mehr. Sich von ihr fernhalten – undenkbar. Er schrieb ihr einen Song und sie war entzückt von seiner Künstlerseele. Umso mehr, nachdem er einige Male gratis im Café für die Gäste spielte. Über Geld sprach José nicht, denn er wollte nicht wie ein Angeber erscheinen und Zoé schien ohnehin niemand, den man damit beeindrucken könnte. Ihr Leben war auch nicht immer rosig verlaufen. Zoé erzählte von ihrer Familie, in der es leider mehr bittere als schöne Momente gegeben hatte. Von ihrem Studium, das sie abbrechen musste, weil das Geld nie reichte, egal wie viele Jobs sie angenommen hatte. Sie bedauerte es, hatte sich aber längst damit arrangiert. Ihr Traum war inzwischen ein anderer. Ein eigenes Café, in dem es Nahrung für den Körper und die Seele gab. Nicht nur mit Kaffee, Kakao und Gebäck, sondern auch mit Büchern. Das war ihr größter Wunsch. Und seit sie ihm davon erzählt hatte, wurde es zu einer fixen Idee, ihr diesen Traum einmal zu erfüllen und sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr aufzubauen. Fernab von Donovan und seinen Geschäften. Noch schaffte er es nicht, denn sich von Donovan loszusagen war alles andere als leicht. Wen er einmal in seinen Fängen hatte, den gab er ungern wieder frei. Aber mit Zoé existierte nun noch ein Grund mehr durchzuhalten und für eine Zukunft zu kämpfen.

Das zwischen José und Zoé war Magie. Schon ihr Name spiegelte all das wider, was er sich erhoffte. Ein Leben. Ein richtiges Leben. Zoé war nicht nur schön, sondern auch klug und das liebenswertestes Geschöpf, das ihm je begegnet war.

Er konnte nicht von ihr lassen, und sie nicht von ihm, obwohl sie lange Zeit nur umeinanderschlichen, wie zwei Katzen um den heißen Brei. Sie entwickelten kleine Rituale, die sie einander näherbrachten, ohne eine bestimmte Grenze zu überschreiten. Und wenn José gegen acht Uhr das Café verließ, dann stets mit einer Tüte voller Sandwiches und einer kleinen Botschaft von Zoé.

 

Weißt Du, dass Du Grübchen, in den Wangen hast, wenn Du lachst? Du lachst aber viel zu selten.

 

Zuhause hatte er das sofort überprüft und seitdem achtete er darauf, häufiger zu lachen oder wenigstens zu lächeln.

 

Hey, Schöner. Deine Augen sehen heute gar nicht so müde aus wie sonst. Ich glaube, es geht dir langsam besser.

 

Was auch stimmte, obwohl sie – zum Glück – nicht wissen konnte, woher das kam. Aber seit er sie täglich besuchte und mit ihr sprach, kam er innerlich zur Ruhe und brauchte bald keine Tabletten mehr zum Einschlafen. Kalter Entzug? Pah! Er hatte seine Ersatzdroge. Sie. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihre seelentiefen Blicke, die flüchtigen Berührungen – und all die Träume mit ihr, von denen er manche nicht laut auszusprechen wagte.

 

Sorry, heute gibt es leider nur Tunfisch. Ich weiß, du magst ihn nicht so sehr, aber der Lieferant war noch nicht da. Ich mach es morgen wieder wett.

 

Er hätte sogar Schlimmeres als Tunfisch gegessen, Hauptsache, sie hatte das Sandwich für ihn gemacht.

Ich hab Dich gestern vermisst. Nein, stimmt nicht, ich hab mir Sorgen gemacht. Jag mir nie wieder einen solchen Schrecken ein, wortlos einfach wegzubleiben.

Daneben ihre Handynummer. Es war ein einziges Mal vorgekommen, dass er wegen eines beschissenen Auftrags für Donovan zu spät dran gewesen war, um sie noch vor dem Frühstücksansturm zu besuchen. Dabei hatte er selbst am meisten gelitten, weil jeder Tag ohne Zoé sinnlos war. Aber immerhin war er so an ihre Nummer gekommen und seitdem telefonierten sie täglich vor seinen Auftritten, was ihnen noch mehr gemeinsame Zeit verschaffte.

 

 

Drei Monaten lief es so zwischen ihnen, bis er sich endlich traute, sie zu sich einzuladen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sie fragte. Und dann lächelte sie nur und gab ihm keine Antwort. Er kam sich vor wie der letzte Idiot. Bis er zu Hause seine Tüte mit den Sandwiches aufmachte und wieder ein Post-it von ihr fand.

 

 

Mein lieber José,

ich wusste nicht, wie geduldig eine Frau sein muss, wenn sie ihr Herz verschenken will. Wenn Du noch eine Woche länger gebraucht hättest, wäre ich Dir einfach zuvorgekommen. Ich will Dir endlich nahe sein. Ohne diesen Tresen zwischen uns. Oh mein Gott, vielleicht wirst Du erschrecken, denn ich habe tatsächlich auch Beine und nicht bloß einen Oberkörper.

 

Hinter dem Satz hatte sie ein tränenlachendes Smiley aufgemalt.

 

Ich freu mich auf unser erstes Date. Und lass Dir mit dem Rest nicht nochmal so lange Zeit, ja?

Mit Herzklopfen

Zoé

 

Dieses Date bestand aus einem Abendessen, bei dem so ziemlich alles schiefging. Der Kuchen verbrannt, die Nudeln verkocht, der Nachtisch nicht gar. Nur der Wein war gut, den hatte er ja auch nicht selbst machen müssen. Zoé lachte bloß, küsste ihn und blieb über Nacht. Es war die erste von unzähligen Nächten, in denen sie sich bis zur Erschöpfung liebten und neben ihren Körpern auch ihre Seelen miteinander vereinten. Ihnen beiden war klar, das hier war für immer. Schon eine Woche später zog Zoé bei ihm ein. José war so glücklich, wie nie zuvor in seinem Leben, auch wenn sein Leben mehr und mehr ein Drahtseilakt wurde. Zoé war zu klug und viel zu empathisch, um nicht die einen oder anderen Anhaltspunkte zu finden, die auf sein eigentliches Nachtleben hinwiesen. Sie stellte ihn nie infrage, aber die Sorge malte rasch tiefe Linien in ihr Gesicht, und Donovan hasste sie, weil sie José veränderte. Von dem Moment an, wo sie ein Paar waren, zog sich José mehr und mehr zurück, versuchte, sich den Treffen mit den Frischlingen zu entziehen, was für seinen Boss Einbußen bedeutete. Viele starben früher oder später an dem Zeug, das sie im Club bekamen, daher konnte Donovan es sich nicht leisten, dass der Nachschub an Kunden ausblieb. Er redete José mehrmals ins Gewissen und so versuchte er, ihn hinzuhalten und zu beruhigen. Zumindest ab und zu seine Nummer im Backstage abzuziehen, obwohl er sich jedes Mal schäbig vorkam, weil er Zoé praktisch betrog. Ihm wurde immer stärker bewusst, dass er aussteigen musste, aber er wusste nicht wie. José war zerrissen zwischen der Welt, die Donovan ihm geöffnet hatte, und dem Leben, das er mit Zoé führen könnte. Und dann begann Zoé schließlich doch, Fragen zu stellen und ihn mit kleinen Botschaften zwischen den Zeilen wissen zu lassen, dass sie die Dinge sah, auch wenn er nicht darüber sprach.

 

Ich liebe Deine Augen, José. Sie sind wie das Meer oder wie der weite Himmel. Wenn ich in Deine Augen sehe, fühle ich mich wundervoll frei. Wäre da nur nicht der Sturm, der in letzter Zeit so oft die Wellen aufwühlt und mich hilflos auf den Gezeiten treiben lässt.

 

Augen. Spiegel zur Seele. Er hoffte nicht. Er hatte Angst vor dem, was sie dann in seinen Augen sehen könnte, wenn sie nur ein einziges Mal zu tief hineinsah. Wenn aus ihrer Ahnung Gewissheit wurde und der Sturm zu einem Orkan.

 

Deine Stimme ist wie eine Berührung. Sie streichelt meine Seele. Das ist so … unbeschreiblich intim, weil es etwas in mir erreicht, das weit über alles Körperliche hinausgeht. Gott, das klingt so kitschig. Hoffentlich lachst Du mich jetzt nicht aus. Ich kann Deine Liebe hören, in jedem Wort. Aber auch Deinen Schmerz. Und dieser schneidet tief in mein Herz hinein, weil ich ihn nicht verstehe und weil er nach manchen Nächten so tief ist, dass ich Dein Seelenblut auf meiner Haut spüren kann.

 

Er hätte sie niemals ausgelacht. Er sprach so gerne mit ihr, wenn sie nach ihren sinnlichen Stunden in seinen Armen lag. Diese Nähe, dieses Vertrauen, bedeuteten ihm unendlich viel. Und genauso gern, wie er ihr von seinen Träumen erzählte und davon, wie sehr er sie liebte, lauschte er auch ihren Worten, wenn sie es ihm mit gleicher Münze zurückgab. Aber es war Selbstbetrug, zu glauben, dass sie nur das Licht in ihm sehen konnte, die Schatten jedoch nicht. Er wollte diese Dunkelheit vor ihr verbergen und scheiterte jedes Mal daran. Der Gedanke, dass es sie eines Tages verschlingen könnte, war mehr, als er ertragen konnte. Mehrmals versuchte er, sich einzureden, dass er sie gehen lassen musste. Sie schützen. Aber er war zu schwach. Voller Bitterkeit gestand er sich ein, dass ihr Leben so schön sein könnte, wenn … ja wenn er nur endlich den Absprung schaffen würde.

 

Ich könnte immer noch weinen vor Rührung. Du weißt gar nicht, was für ein Geschenk Du mir damit gemacht hast. Ich lese die Zeilen des Songs zwanzig Mal jede Stunde und da ist so ein Druck in meinem Herzen. Oh, José, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.

 

Er hatte ihr etwas zurückgeben wollen für ihre vielen kleinen Liebesnotizen. Und da Briefe nicht seine Stärke waren, hatte er ihr stattdessen einen weiteren Song geschrieben und freute sich, dass seine Worte sie erreichten. Sie musste nicht erklären, was sie fühlte. Er verstand es, weil er ihm genauso ging. Das Lied, das er für sie geschrieben und allein für sie gesungen hatte, war von ihr inspiriert. Aber das hatte er ihr erst einige Tage später erzählt. Es handelte von seinen Hoffnungen und Träumen mit ihr, und von der Dunkelheit, die er für sie verlassen wollte.

Es waren keine Zweifel, die ihn davon abhielten, den nächsten Schritt zu gehen. Es waren die Ängste, in was er sie mit hineinziehen würde, wenn er diese eine Schwelle übertrat. Zoé wusste zu wenig über ihn. Er gab so viel preis, wie er verantworten konnte, und trotz seiner Schweigsamkeit hatte er das Gefühl, dass sie ihn besser kannte, als er sich selbst. Sie blickte in seine Seele, sah seine Gefühle und vermutlich auch seine Sorgen, obwohl sie diese immer nur vage erwähnte, als wolle sie ihn nicht bedrängen. Aber mehr und mehr wurde ihm klar, dass Zoé mehr wusste, als gut für sie war, und dass Donovan dieses Risiko vielleicht irgendwann erkennen würde. Wenn er blieb, war sie immer in Gefahr, wenn er ging jedoch nicht weniger, denn Donovan würde das niemals einfach so hinnehmen. War das ein Leben, das er ihr zumuten wollte? Immer auf der Flucht?

 

 

„José?“

Überrascht hob er den Blick. Er war an diesem einen Morgen so in Erinnerung, Grübeleien, Zweifeln und Hoffnungen gefangen, dass es ihn innerlich zerriss, was sie natürlich merkte. Es wurde Zeit, Entscheidungen zu treffen, die weit größere Kreise zogen, als sie ahnen konnte. Er spürte, er näherte sich einem Kreuzweg. Einem Punkt, der danach schrie, das Richtige zu tun, weil er sonst alles verlieren konnte. Wäre da nur nicht dieser innere Druck gewesen. Dieses beschissene Gefühl der Verpflichtung gegenüber Donovan. Aber er musste auch an Zoé denken und wie es zwischen ihnen weitergehen sollte. Auf jeden Fall wurde es Zeit, dass er den nächsten Schritt tat. Sie konnten nicht ewig so weitermachen. „Du siehst fertig aus“, sagte sie sanft. „Nicht nur müde, sondern … ist etwas nicht in Ordnung?“

Die ehrliche Sorge in ihrer Stimme berührte ihn tief. Tatsächlich war vergangene Nacht etwas passiert, dass ihn stärker belastete, als es sein dürfte. Er war dabei gewesen, wie jemand starb. An diesem Mist, den er vertickte. Und es war dieses junge Mädchen gewesen, dessen Augen ihn an dem ersten Morgen verfolgt hatten, an dem er Zoé begegnet war. Nun konnte er ihre Augen erst recht nicht mehr vergessen. Vielleicht weil sie Zoés Augen so ähnlich waren. Oder weil sie nicht mehr kalt und starrend gewesen waren, sondern leer und gebrochen. In kaum mehr als einem halben Jahr.

Natürlich war er nicht so naiv, zu glauben, das Zeug sei ungefährlich. Er hatte immer gewusst, was es aus den Junkies machte und das viele von ihnen nicht lange überlebten. Aber es zu sehen, war anders, als es nur zu wissen. Dennoch änderte das nichts. Er konnte Donovan nicht den Rücken kehren. Dann wäre er tot. Das hatte man ihm unmissverständlich klargemacht, weil sein Boss tatsächlich langsam den Verdacht hegte, dass er aussteigen wollte. War das Mädchen ein Exempel gewesen? Vielleicht. Aber er wusste sowieso nicht, wo er hinsollte ohne diesen Job. Es gab keine Alternativen für ihn. Ohne Abschluss, ohne Background. Er war ein Niemand, ein Looser, besaß nicht mal Papiere. Alles, was er konnte, war Gitarre spielen – und Seelen in die Hölle locken.

Für einen Moment hätte er Zoé am liebsten alles erzählt. Gerade rechtzeitig besann er sich. „Es ist nichts“, wiegelte er ab. „Warte heute Abend nicht auf mich. Es kann spät werden.“

 

 

Er versuchte, sich zusammenzureißen, und eine Weile schien es ihm zu gelingen, denn Zoé wurde ruhiger und stellte keine Fragen mehr. Vielleicht machte sie sich bewusst etwas vor, genau wie er. Was sie beibehielt, waren ihre liebevollen Post-ist überall in der Wohnung, mit denen sie ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte.

 

Hallo Engel!

Du siehst so süß aus, wenn Du schläfst, weißt Du das? Ich könnte Dich stundenlang anschauen. Aber leider muss ich zur Arbeit. Es kann nicht jeder den halben Morgen verschlafen, so wie Du. *lächel*

Ich hab Dir Frühstück gemacht. Wir sehn uns später, nach meiner Schicht.

Tausend Küsse

Zoé

 

Nie beschwerte sie sich, dass er erst so spät – oder besser gesagt früh – nach Hause kam. Dass er lange schlief und ihnen nur die wenigen Stunden blieben, zwischen Zoés Schichtende und seinen ersten Auftritten am Abend in Donovans Bars. José versuchte immer noch, sie aus dieser Welt rauszuhalten, aber Zoé war zu hartnäckig. Sie wollte alles mit ihm teilen, auch die schweren Seiten des Lebens, und ihm beistehen, um seine Sorgen zu lindern. Er konnte nicht verhindern, dass sie ihn hin und wieder begleitete. An diesen Abenden war es natürlich undenkbar, dass er nach dem Auftritt neue Kunden für Donovan sicherte. Das missfiel seinem Boss sichtlich, aber vorerst schwieg er. Und Zoé war glücklich, Teil von Josés Leben sein zu dürfen.

 

Du hast wieder so wundervoll gespielt letzte Nacht. Deine Musik kann Seelen heilen. Es ist eine Gabe. Verschwende sie nicht.

 

Missbrauche sie nicht, las er zwischen den Zeilen, war sich aber nicht sicher, ob sie tatsächlich diesen Hintergedanken gehegt hatte, als sie es niederschrieb. Es war ein Seiltanz, den er da vollführte. Wann würde der Absturz kommen? Er wusste es nicht, also machte er einfach weiter. Zum Glück schien auch Donovan damit versöhnt, dass sich José wieder mehr auf seinen Job konzentrierte und die Schwermut hinter sich zu lassen versuchte. Er spielte allen etwas vor, am meisten sich selbst, das war ihm bewusst. Aber hatte er eine Wahl? Er musste auf Zoé achtgeben. Ihr durfte nichts passieren. Doch im Leben gab es nun mal nichts ohne Preis, und je verbissener er darum kämpfte, sich aus Donovans Netz zu lösen, umso fester wurde er darin eingesponnen, was schließlich auch von Zoé nicht unbemerkt blieb.

 

Du hast Dich so verändert, mein Schatz. Ich erkenne Dich manchmal kaum wieder. Das macht mir Angst. Was ist los, José? Warum redest Du nicht mit mir? Warum weichst Du mir aus, wenn ich Dich danach frage? Egal was es ist, wir schaffen das. Bitte vertrau mir. Sag mir, was Dich so bedrückt. Du siehst, wenn ich traurig bin und dann schenkst Du mir wunderschöne Dinge, aber ich will sie nicht. Ich will Dich – ich will Dich wieder glücklich sehen. Was kümmern mich schon Geld und Luxus?

 

Der erste wirklich große Knall ereignete sich, als Donovan eines Abends allen Ernstes vorschlug, man könne Zoé doch auch im Club arbeiten lassen, schließlich wären sie sich so ständig nahe. Mit ihrem Aussehen und ihrem Charme, dürfte sie eine perfekte Ergänzung zu José sein, wenn man sie nur gefügig dafür machen würde, und würde viele neue Kunden bringen. José rastete aus und vergaß zum ersten Mal, was er Donovan verdankte. Wenn es um Zoé ging, sah er rot, und dass Donovan ernsthaft vorschlug, sie in diesen Sumpf aus Gewalt und Dunkelheit zu ziehen, brachte sein Blut zum Kochen. Es kam zu einer Prügelei, die er zwar nicht gewann, aber mit Genugtuung realisierte er, dass Donovan nicht unbegrenzt Macht über ihn hatte. Wenn seine Bodyguards José nicht zurückgehalten hätten, er wusste nicht, was dann passiert wäre. Einen von ihnen hatte er beinah ausgeknockt. Mit dem Ellbogen. Aber die Kerle waren wie Schränke, die warf so schnell nichts um. Egal. Der Entschluss, zu gehen, rückte einen Schritt näher. Niemand, auch nicht Donovan, durfte Zoés Seele beschmutzen.

 

 

Hey, mein Held!

Ich bin stolz auf Dich. Endlich hast Du Donovan die Stirn geboten. Er darf keine Macht mehr über Dich haben. Ich weiß, er tut Dir nicht gut, er vergiftet Deine Seele, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie und womit. Vielleicht wirst Du es mir irgendwann erzählen. Ganz egal, was er früher für Dich getan hat, jetzt ist er wie ein Parasit, der Dir die Kraft aussaugt. Aber dass Du beginnst, Dich von ihm zu lösen, bedeutet mir unglaublich viel.

Ich liebe Dich.

Ich werde Dich immer lieben. Egal, was passiert.

Zoé

 

Der Stolz seiner großen Liebe in allen Ehren. Das änderte nur leider nichts daran, dass er Mist gebaut hatte und, statt sich zu von Donovan zu lösen, nur tiefer in dessen Fänge geraten war. Als er am Abend wieder in den Club ging, um Donovan sozusagen seine Kündigung unter die Nase zu reiben, wartete dieser schon auf ihn. Hohn und Schadenfreude in seinem Blick. Der Türsteher, den José mit dem Ellbogen an der Schläfe erwischt hatte, war am Vormittag angeblich an einer Hirnblutung gestorben. Ob es stimmte … schwer zu sagen. Aber der Mann war tot und die Schlägerei hatten alle im Club mitbekommen.

„Jetzt bist du ein Mörder, José“, erklärte Donovan triumphierend. „Entweder du wanderst in den Knast, oder du reißt endlich deinen kleinen Arsch zusammen und machst deinen Job wieder wie früher. Dann werden hier alle ihre Schnauze halten und du kannst mit deiner Süßen weiter einen auf eitel Sonnenschein machen. Na, was ist?“

José wurde schlecht. Er hatte keine Wahl, Donovan ihn in der Hand. Mehr als je zuvor. Widerwillig unterzeichnete er einen neuen Vertrag. Er verkaufte sich selbst. Aber Hauptsache, Zoé blieb in Sicherheit. Wenn er in den Knast wanderte, würde Donovan sie sich schnappen, das war ihm bewusst. Also tat er lieber, was der von ihm verlangte. Er war es gewohnt. Er konnte damit umgehen. Das hatte er immerhin jahrelang.

 

Es war eine Lüge. Er konnte es nicht mehr, weil Zoé alles verändert hatte. Er wollte das nicht mehr, sein Gewissen fraß ihn auf und ihre schmerzerfüllten Blicke, dass er weiterhin bei Donovan blieb – die unzähligen unausgesprochenen Fragen – das alles konnte er nicht ertragen. Er wusste keinen Ausweg mehr, weil Donovan ihn täglich spüren ließ, dass er ihm gehörte. Zoé weinte nächtelang, klammerte sich an ihn und fürchtete den Morgen. Alles in ihm drängte danach, sich ihr zu offenbaren, aber am Ende ließ er es stets bleiben. Er hatte Angst, dass sie ihn verließ, weil er nicht die Kraft aufbrachte, mit ihr zu reden, doch Zoé blieb, bemühte sich, ihm Kraft zu geben und an der Hoffnung festzuhalten, dass er irgendwann einen Ausweg fand und diesen auch ergriff. Er hasste es, sie zu enttäuschen.

 

 

Und dann kam dieser schicksalhafte Tag, an dem er frühmorgens ihre gemeinsame Wohnung betrat und Zoé nicht fand. Nur eine Nachricht von ihr, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

 

Mein liebster Schatz,

Du hast mich mit Deiner Nachricht zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht. Nicht nur, dass Du mir endlich auch einmal einen kleinen Brief schreibst statt eines Songs. Du ahnst nicht, wie sehr ich mir das immer gewünscht habe. Aber Du bist eben kein Romantiker, auch wenn Du singst wie ein Engel und küsst wie ein Satyr. Doch jetzt hast Du es getan. Und dann gleich mit dem schönsten Geschenk, das es überhaupt geben kann. Ich bin so unsagbar glücklich und stolz auf Dich. Jetzt wird alles gut. Du wirst sehen. Für uns beginnt ein neues Leben. Deine Entscheidung war richtig und Donovan wird uns nie wieder etwas anhaben können, jetzt wo er Deinen Vertrag gelöst hat. Ich freu mich so, nachher mit Dir zu feiern. Wir sehen uns auf dem Boot, ganz wie Du es gewünscht hast. Heute beginnt unsere Zukunft. Ich danke Dir. Ich liebe Dich,

Zoé

 

Er hatte ihr keine Nachricht geschrieben. Vielleicht hätte er es tun sollen. Früher schon. Dann hätte sie gewusst, dass diese vermeintlichen Zeilen, niemals von ihm stammen konnten.

Donovan!

Die Erkenntnis fraß sich wie Säure in sein Hirn. Großer Gott, was hatte er vor? Er musste zum Boot. Schnell. Vielleicht konnte er Zoé noch aufhalten, ehe sie es erreichte. Und was dann? Ihm war klar, dass Donovan irgendetwas plante. Wollte er ihn erpressen? Zoé als Geisel nehmen? Oder seine Andeutungen in die Tat umsetzen, indem er ihr einen Schuss setzte und sie dann mit in sein schmutziges Business zog? Tausend Szenarien gingen José durch den Kopf, während er zum Meer fuhr. Eine schlimmer als die andere. Aber keine erreichte das Grauen, das ihn tatsächlich erwartete.

 

 

Heute

Und wieder hing er in der Erinnerungsspirale fest. Hörte den ohrenbetäubenden Knall der Explosion, fühlte die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht, die umherfliegenden Splitter, die seine Haut zerfetzten, seine Hände durchbohrten. Und Sekunden später das Wasser in seinen Lungen, als das Ruderboot, mit dem er Zoé nachgefahren war, kenterte und ihn in die finstere Tiefe des Meeres fallen ließ. Wäre er doch nur gleich mit ihr gestorben. Aber das war er nicht. Am nächsten Morgen war er am Strand erwacht, verfolgt von den Dämonen der Nacht, innerlich zerrissen und wund, weil er alles verloren hatte, was sein Leben lebenswert machte. Die Versuchung war groß gewesen, ihr zu folgen, aber damit hätte er Donovan davonkommen lassen. Hatte er ihn auch töten wollen? Oder bloß gehofft, dass er José wieder in die Spur bringen könnte, indem er Zoé aus seinem Leben entfernte? Er wusste es nicht und würde es vielleicht nie erfahren. Es spielte auch keine Rolle, innerlich war er sowieso tot. Und mit dieser Leere im Herzen war er zur Polizei gegangen, hatte irgendeinem Officer, dessen Gesicht er heute nicht einmal wiedererkennen würde, alles erzählt, was er über Donovan wusste. Und über Zoés Tod. Seitdem war er hier und wartete auf den Prozess. Seine Zeugenaussage.

Und danach …

Er schloss die Augen. Für ihn gab es kein Danach.

 

 

Am nächsten Morgen ging José schon früh hinunter zum Strand. Es war albern, das wusste er selbst. Er würde dort keine Antwort auf seine Zeilen erhalten. Nicht einmal im Flüstern des Windes. Aber irgendwie hatte er am Meer das Gefühl, Zoé näher zu sein. Und wenn er die Songs spielte, die er für sie geschrieben hatte, konnte er sich einer Weile der Illusion hingeben, sie wäre noch bei ihm und würde das hier mit ihm gemeinsam durchstehen. Akkord für Akkord erweckte er ihre kurze Liebe auf der Gitarre wieder zum Leben, sang mit tränenrauer Stimme von all den Träumen, die sie niemals leben konnten. „Du spielst immer noch gut.“

Die Stimme des Mannes im Anzug klang aufrichtig bewundernd. José glaubte ihm trotzdem nicht und schnaubte leise.

„Kein Wunder, dass die Kids dir praktisch hörig waren.“

Er gab noch immer keine Antwort. Wozu auch? Er war nicht stolz drauf. Heute nicht mehr. Im Gegenteil.

„Es wird Zeit. Wir sollten zurück zum Haus. Du kannst nicht den ganzen Tag hier sitzen.“

„Gehen Sie nur. Ich komme gleich nach.“

Als sein Bewacher nicht reagierte, warf José ihm einen verachtenden Blick zu. Ein bitterer Zug legte sich um seinen hübschen Mund und er beschrieb den weitläufigen Strand und das Meer mit einer ausladenden Geste.

„Keine Sorge, ich laufe Ihnen nicht davon. Wo soll ich denn auch hin?“

Der Mann zögerte, aber dann nickte er schließlich und ließ ihn allein.

Endlich.

José legte die Gitarre in den Sand und ging einige Schritte auf die Brandung zu. Den Blick fest auf den Horizont gerichtet, wo sich die Sonne gerade anschickte, den Himmel zu erobern. Er wollte nur einen kurzen Moment ihre Strahlen genießen. Sich dem trügerischen Gefühl von Wärme hingeben. Bis plötzlich …

Reflexartig kniff José die Augen zusammen, als ihn etwas schmerzhaft blendete. Verwirrt schüttelte er den Kopf, schirmte sein Gesicht mit einer Hand ab und suchte den Strand nach der Quelle dieser grellen Reflexion ab. Kurz glaubte er, sich getäuscht zu haben, doch da funkelte es erneut unweit von ihm im Sand. Er trat zögernd näher und musste dann enttäuscht feststellen, dass es seine eigene Flasche war, die ihm da einen optischen Streich gespielt hatte. Offenbar wollte das Meer nicht einmal seine Flaschenpost. Warum auch? Es hatte ihm schließlich weit Wertvolleres genommen.

Mit einem bittersüßen Schmerz im Herzen, ergriff er die Flasche und zog sie aus dem Sand. Das Meer hatte keinerlei Spuren auf dem Glas hinterlassen. Nur der Korken war aufgequollen und Sandkörner klebten auf der Oberfläche. José wog die Flasche in seiner Hand, war versucht, sie einfach ein zweites Mal ins Meer hinauszuschleudern. Weiter diesmal als zuvor, damit sie die Brandung des Strandes überwand und in die Ferne schwamm. Doch dann überlegte er es sich anders. Seufzend betrachtete er das grüne Glas. Es fröstelte ihn unter dem frischen Wind, der vom Meer her aufzog. Langsam wandte er sich um und ging zum Haus zurück.

Er murmelte den beiden Polizisten einen kurzen Gruß zu und zog sich dann sogleich auf sein Zimmer zurück. José wollte allein sein. Schon jetzt spürte er Tränen in seine Kehle steigen, wenn er an die Zeilen dachte, die auf dem Papier im Inneren der Flasche standen und an die Frau, für die sie bestimmt waren. Zoé. Er ließ sich schwer zu Boden sinken, tausend Gedanken jagten sich hinter seiner Stirn. Er zog den Korken aus der Flasche, ließ das Papier in seine Hände gleiten, rollte es auf und … musste staunend erkennen, dass die Worte darauf nicht die seinen waren …

 

Mein lieber José,

leider hat Deine Nachricht nicht die Frau erreicht, für die sie gedacht war. Doch wie könnte sie auch, nicht wahr? Womöglich habe ich kein Recht, Dir an ihrer statt zu antworten, doch ich konnte nicht anders, denn der Schmerz, der aus jeder Deiner Zeilen sprach, berührte mich so tief, dass meine Tränen die Schrift verwischten, als müsse ich mit Dir gemeinsam um sie weinen – um Deine Zoé, und um eure Liebe, die so tragisch verloren ging. Mein Name ist Arianne. Ich lebe hier in diesem Haus an diesem Strand schon eine Weile, aber was sind schon Tage, Wochen, Monate? Für mich hat Zeit keine Bedeutung mehr. Ich habe kein Gestern und kein Morgen. Alles, was mir bleibt, ist der Moment, und ich versuche, das Beste daraus zu machen. Aber das ist gerade nicht wichtig.

Ich gehe zum Strand, Tag für Tag, weil es mich dorthin zieht wie ein magischer Zauberbann, doch Ruhe finde ich nicht. Erst Deine Worte ließen mich still werden, weil ich durch sie erkannte, wie viel Glück mir doch beschieden ist, im Vergleich zu Deinem Kummer. Lass mich Dir sagen, dass Zoé Dir sicher alles vergeben hat, und dass sie an Deiner Seite ist, das weiß ich ganz sicher. Und ich bin es auch. Ich weiß nicht, was euch widerfahren ist und was die Zukunft für Dich bereithält, doch wisse, es gibt immer Hoffnung. Verliere sie nicht. Du hast einen Weg gewählt, für Zoé, und ich fühle, es ist der richtige. Bring also zu Ende, was auch immer Du Dir vorgenommen hast. Aber danach: lebe! Denn das ist es, was sie sich sicherlich für Dich gewünscht hätte. Leben.

In enger Verbundenheit

Arianne

 

P.S.: Vergib mir meine zitternde Hand beim Schreiben, doch leider fehlt ihr noch immer die alte Kraft. Womöglich bleibt dies so für immer.

 

Lange starrte José auf die Zeilen und kämpfte mit dem Aufruhr seiner Gefühle. Konnte ein fremder Mensch so tief in seine Seele blicken, ohne ihm jemals begegnet zu sein? Offensichtlich. Es war wie ein Wunder, doch Ariannes Worte ließen ihn zur Ruhe kommen und besänftigten seine Verzweiflung. Er war dieser Fremden dankbar, dass sie Anteil an seinem Kummer nahm. Die krakelige Handschrift störte ihn nicht. Seine eigene war nicht viel besser, und wenn er Ariannes Worte richtig deutete, hatte wohl ein Unfall oder eine Krankheit dazu geführt, dass sie an Fertigkeit eingebüßt hatte. Er bedauerte das sehr, spürte er doch unzweifelhaft, dass sie darunter litt. In ihm erwachte das Bedürfnis, auch ihren Kummer, zu lindern, obwohl er dessen Grund noch weniger kannte, als sie den seinen.

 

Liebe Arianne,

Deine Worte sind ein seltsamer Trost für mich. Zu wissen, dass da noch jemand ist, der gerade mit dem Schicksal hadert und dessen Welt ein Scherbenhaufen ist. Ich lese auch aus Deinen Zeilen Schmerz. Magst Du mir davon erzählen? Wir sind zwei Gestrandete, so empfinde ich es zumindest. Wir blicken beide in eine Zukunft, die uns keine Freude mehr verheißt. Vielleicht können wir einander beistehen – eine Weile nur. Sofern die Gezeiten uns weiter gewogen sind, denn leider sind sie das einzige, was wir haben werden, um einander zu schreiben, da ich meinen Aufenthaltsort nicht preisgeben darf. Ich sende Dir Kraft und Mut. Denn ob Du es glaubst oder nicht, beides hast Du mir mit Deinen Zeilen gegeben.

Voller Hoffnung José

 

Es war so vollkommen bescheuert, darauf zu vertrauen, dass seine Nachricht diese mysteriöse Arianne erneut erreichte, aber José klammerte sich an die Hoffnung, weil es gut tat, jemandem seine Ängste und Gedanken mitteilen zu können. Anonym, risikolos, weil diese Frau nicht Teil seiner Welt war und wohl auch nie werden würde. In einer Woche musste José Fernandez aufhören zu existieren, doch bis dahin …

Er schüttelte den Kopf, während er dem gläsernen Behältnis nachsah, wie es auf den Wellen trieb. Nichts bis dahin. Es war eine völlig irrsinnige Hoffnung und noch dazu, wohin sollte das führen? Seine Sorge jemand anderem aufzubürden, war einfach nicht fair. Er hätte Arianne nicht antworten dürfen. Ein Glück, dass die Flasche sie vermutlich nie erreichte. Aber das tat sie. Denn schon am nächsten Morgen, als er von unsinniger Hoffnung getrieben wieder den Strand entlanglief, fand er die Flasche erneut. Sein Herz klopfte viel zu schnell, während er sie öffnete und bangte, dass es bloß seine eigenen Zeilen waren, die er darin fand. Aber es war ein Brief von Arianne. José blickte in die Ferne. Es musste etwas mit Ebbe und Flut zu tun haben, und Arianne lebte wohl auf einer der anderen kleinen Inseln hier. Müßig, darüber nachzudenken. Es waren unzählige. Mit ein Grund, warum man ihn hier versteckte, bis der Prozess losging. Selbst wenn etwas im Departement durchsickerte, würde es schwierig werden, auf die Schnelle die richtige Insel herauszufinden.

José atmete tief durch und rollte die Nachricht zur Gänze auseinander. Was hatte Arianne zu erzählen?

 

Mein lieber José,

lass uns nicht von meinem Leben sprechen. Es ist nichts als ein trostloser Raum voller kalter leerer Bilder. Nichts von Bedeutung. Mach Dir darüber keine Gedanken. Ich habe hier sehr liebe Menschen, die sich um mich kümmern. Aber Du, so fühle ich, brauchst ein Herz, das Dir zuhört und eine Seele, die Dich auffängt. Wenn es mir auf diesem Wege gelingt, Dir beides zu geben, will ich es gerne tun. Sieh es als eine Art Freundschaftsdienst an Zoé, die ich zwar nicht kenne, aber der ich mich durch Dich verbunden fühle. Wenn ich Dir auf diese Weise helfen kann, Deine Ängste zu besänftigen und dem Kommenden mit Mut und Hoffnung entgegenzusehen, so hat mein Leben wieder einen Sinn. Zumindest für eine Weile.

Also. Erzähl mir von Dir. Und von Zoé. Du sagst, Du seist schuldig, doch ich glaube das nicht. Manchmal können wir nichts für die Dinge, die uns widerfahren. Du hast ein gutes Herz, ich weiß es. Ich kann es fühlen. Sonst hätte sie Dich nicht so sehr geliebt. Du musst etwas Besonderes sein. Und ich denke mir, dass das Schicksal noch etwas Großes, Bedeutsames mit Dir vorhat.

Ich reiche Dir die Hand, und hoffe, Du ergreifst sie und hältst sie eine Weile,

Arianne

 

Fieberhaft schrieb José seine Antwort nieder. Arianne wollte mehr über Zoé erfahren? Nichts, was er lieber täte. Über sie zu schreiben, machte sie wieder ein stückweit lebendig. Worte über Worte sprudelten aus ihm hervor. Er merkte nicht, wie er die Seiten füllte. Arianne ihre Geschichte erzählte. Seine, Zoés und ihre gemeinsame. Alle Hoffnungen und Ängste, den Schmerz, die Trauer, die Wut. Es tat so gut, war so befreiend. Die Welt glitt von ihm ab. Sogar von dem Prozess schrieb er ihr, auch wenn er keine Namen oder Orte nannte und nur soviel von seinem Anteil daran preisgab, wie er gerade vertreten konnte.

Als José endlich fertig war, konnte er die Papierrolle kaum durch die enge Öffnung der Flasche schieben. Hoffentlich gelang es Arianne, sie dort herauszubekommen.

 

 

Abermals bangte José, ob seine Nachricht ankam und wie Ariannes Antwort, so sie ihm eine geben würde, ausfiel. Konnte man sich einem Menschen so nahe fühlen, den man gar nicht kannte. Bis jetzt hatte sie nur wenig geschrieben, und doch klang durch ihre Zeilen so viel mehr hindurch. Genau wie damals bei Zoé. Was mochte ihr passiert sein, dass sie davon sprach, kein Gestern und kein Morgen mehr zu haben? Sie musste großen Kummer in ihrem Herzen tragen, genau wie er. Er konnte es fühlen und wünschte sich, dass es ihnen vergönnt wäre, einander Linderung zu verschaffen. Bei ihm war es Arianne zumindest ein wenig gelungen, denn seine Angst vor dem Prozess wurde weniger, die Unruhe stiller. Im Laufe der Tage und weiterer Nachrichten von und an Arianne schwand Josés Gleichgültigkeit und Schwermut. Er fühlte sich wieder lebendig und schrieb sogar einen neuen Song. Diese Fremde war wie ein Lebenselixier und in ihm wuchs der Wunsch, sich irgendwie bei ihr erkenntlich zu zeigen, auch wenn das sicher nicht einfach werden würde. Aber es war ein Ziel. Etwas, das ihm Orientierung verlieh – ebenso sehr wie der Prozess selbst.

 

 

José atmete tief durch. Morgen war die Gerichtsverhandlung und seine Zeit auf der Insel würde zu Ende gehen, was bedeutete, dass er heute seine letzte Nachricht an Arianne schrieb und es danach in den Sternen stand, ob er erneut eine Gelegenheit dazu bekommen würde. Das schrieb er auch in seinen Brief. Wenn er seine Aussage gemacht hatte, war Donovan am Ende. Er kannte zu viele schmutzige Geheimnisse von diesem Bastard. Aber ungeschoren würde er auch nicht davonkommen. Vielleicht musste er sogar ebenfalls ins Gefängnis. Und dann …

Der Gedanke, jahrelang eingesperrt zu sein – schlimmer noch als in den letzten Wochen – verursachte ihm Übelkeit. Außerdem war da dieser drängende Wunsch erwacht, nach Arianne zu suchen. Mit ihr zu sprechen, ihre Hand zu halten, ihr Halt zu geben. Vielleicht konnte er so Wiedergutmachung leisten für all das, was er in seinem Leben falsch gemacht hatte. Für all die Existenzen, die er zerstört hatte, indem er für Donovan den Verführer und Drogenkurier spielte. Er bereute es, wusste, er war schuldig, aber dennoch hoffte er auf eine zweite Chance. Wenn er sie bekommen sollte, würde er es diesmal richtig machen. Vielleicht … ja vielleicht sogar mit Arianne.

Er musste sie sehen, wenigstens ein einziges Mal. Ihr all das sagen, was noch nicht in der Flaschenpost gestanden hatte. Und sie bitten, auf ihn zu warten. Es war Schicksal. Wie sonst war es zu erklären, dass eine Flaschenpost immer wieder ein bestimmtes Ziel erreichte? Er musste zu ihr, bevor sie ihn wegsperrten. Auch wenn er damit sein Leben riskierte, denn Donovans Männer konnten überall sein, auch nach dem Prozess noch. Aber versuchen wollte er es. Vielleicht konnten die Detectives aus dem Department ihm helfen, sie auf einer dieser Inseln zu finden. Es war nur ein winziger Funke einer Hoffnung, aber daran klammerte er sich fest. So sehr, dass er ihr auch dies in seiner letzten Nachricht schrieb. Seinen Wunsch, ihr zu begegnen. Nachdem er seinen Brief unterschrieben hatte, zögerte er kurz. Verstohlen warf er einen Blick über seine Schulter, aber seine Aufpasser nahmen kaum Notiz von seinem Tun. Kam es überhaupt noch darauf an, was er schrieb und wie viel er preisgab? In weniger als vierundzwanzig Stunden würden sie hier weg sein. Selbst Donovan dürfte in der kurzen Zeit kaum einen Mordanschlag an ihm organisieren können. José riskierte es und als die Flasche wie so viele Male zuvor im Meer landete, enthielt sie das letzte Quäntchen Wahrheit, das er Arianne bisher verschwiegen hatte. Sie hatte ein Recht darauf zu erfahren, wer er war und was er wirklich getan hatte. Wenn sie ihn danach genauso verurteilte, wie der Rest der Welt, hatte er es wohl verdient, aber er wollte – nein er musste – ehrlich zu ihr sein.

 

 

Am nächsten Morgen stand er mit bangem Herzen und zitternden Händen am Strand. Stundenlang. Er zögert ihre Abreise bis zur letzten Sekunde hinaus, weil er so sehr hoffte, noch einen letzten Gruß von Arianne zu erhalten. Wenn er dies nicht mit seinem wahren Gesicht verspielt hatte. Er war ein Verbrecher, da gab es nichts zu beschönigen. Auch wenn sein Herz nun einen anderen Weg einschlagen wollte.

Gerade als seine Bewacher deutlich machten, dass es nun wirklich Zeit wurde und sie ihn notfalls mit Gewalt und in Handschellen von hier wegbringen würden, fingen sich die Strahlen der aufgehenden Sonne in dem grünen Glas der vertrauten Flasche. Eilig hastete José zu der Stelle, wo das Meer sie gerade ausspuckte, ergriff sie und folgte dann den Cops in seine ungewisse Zukunft. Im Helikopter auf dem Weg in die Stadt, von wo ein Wagen sie dann zum Gericht bringen würde, las er die letzten Worte, die Arianne an ihn richtete.

 

Mein lieber José,

verzage nicht und mach Dir keine Sorgen. Alles wird gut, das weiß ich. Und geh nicht so hart mit Dir ins Gericht. Manchmal lässt das Leben uns kaum eine Wahl und wir sehen nur einen einzigen Weg, den wir gehen können, so falsch er auch sein mag. Was zählt ist, dass Du Deine Fehler erkannt hast und nun für sie geradestehst. Als sich Dir ein anderer Weg offenbarte, hast Du ihn angenommen, obwohl er schwer und steinig ist. Du tust das Richtige und Deine Zoé weiß das auch. Sie wäre sicher stolz auf Dich, genau wie ich. Also sei Du es auch. Es ist der Anfang eines neuen Lebens. Ein bisschen beneide ich Dich darum, weil ich diese Wahl nicht habe, aber ich gönne sie Dir von Herzen. Ich habe mit Schwester Mathilda gesprochen. Wenn die Ärzte mir grünes Licht geben, werde ich versuchen, zum Gericht zu kommen. Ich möchte Dich ebenfalls unbedingt sehen und Dich in meine Arme schließen, wenn Du all das überstanden hast. Wenigstens ein Mal. Egal, was danach auch kommen mag. Es gehört Mut zu dem, was Du tust. Aber auch, wenn ich es nicht schaffe, Du bist nicht allein. Denk immer daran. Im Herzen sind wir bei Dir – Zoé und ich. Und sollte es uns tatsächlich bestimmt gewesen sein, dass sich unsere Seelen streifen, dann werden wir uns begegnen, Du und ich. Wenn nicht jetzt, dann in einigen Jahren. Denn ja, ich werde warten. Es gibt nichts, was ich lieber täte, aber ehrlicherweise auch nichts, was ich anderes tun könnte, denn wie ich schon sagte, meine Zukunft ist ein ebensolches schwarzes Loch wie meine Vergangenheit. Nur Du bist wie ein Fixstern für mich geworden in diesen letzten Tagen, der mir wieder Hoffnung gibt, einen Sinn und den Mut, weiterzuleben. Dafür dank ich Dir. In inniger Freundschaft,

Arianne

 

 

Er trug ihre Zeilen nah bei seinem Herzen, als er wenige Stunden später den Gerichtssaal betrat und seinem einstigen Gönner und Peiniger in einer Person gegenüberstand. Der Prozess war hart. José durchlebte ihn wie fremdgesteuert, als würde er sich von außen betrachten und seinen Worten lauschen. Bizarr. Ohne Zoés Tod hätte er weder den Mut noch die Kraft aufgebracht, das hier durchzuziehen. Allein die Wut über ihr sinnloses Sterben hatte ihn dazu gebracht, sich der Polizei zu stellen und über die Machenschaften seines Bosses auszupacken. Jetzt war von dem Hass nichts mehr übrig. Er fühlte sich wie befreit, hatte seinen Frieden damit gemacht, auch wenn es noch immer schmerzte, aber er wusste, Zoé wurde dadurch Gerechtigkeit getan, dass der Schuldige seine Strafe bekam.

José begegnete Donovans hasserfülltem Blick, es berührte ihn nicht mehr. Diesem Mann schuldete er gar nichts, denn er hatte ihm das Liebste genommen, was es auf Erden gab. Alles, was jetzt noch zählte – alles, was er tun konnte – war, dafür zu sorgen, dass Donovan niemals wieder eine unschuldige junge Seele in den Abgrund riss. Josés Befürchtung, dass andere aus Donovans Dunstkreis die Geschäfte an sich reißen oder Rache an ihm nehmen könnten, erwies sich als unbegründet. Das komplette Syndikat war aufgemischt worden und im Zuge der Ermittlungen hatten sich auch andere entschieden, Josés Weg zu wählen. Er war nur einer von mehreren Kronzeugen. Gesichter zogen an ihm vorbei, jene, die mit Donovan in den Knast wandern würden und jene, die sich auf die richtige Seite gestellt hatten. Er kannte sie alle und war irgendwie erleichtert, dass dieses finstere Kapitel hier und heute tatsächlich zu Ende ging. Keine Toten mehr, für die er mehr oder weniger die Schuld mittrug. Das war ihm ein Trost. Sein eigener Prozess würde später folgen. Vermutlich in ein paar Wochen. Aber alle, die gegen Donovan ausgesagt hatten, durften auf ein mildes Urteil hoffen. Für ihren einstigen Boss hingegen gab es keine Gnade. Lebenslänglich erklang am Ende der Richtspruch.

Auf dem Weg nach draußen war es José als fiele eine tonnenschwere Last von seinen Schultern, die er all die Jahre mit sich getragen und stets ignoriert hatte. Er durfte wieder nach vorn blicken. Ein Leben haben. Auch wenn es zweifellos schwer wurde. Warm fiel das Licht der Sonne draußen auf sein Gesicht, wie eine Bestätigung, dass endlich alle Schatten vertrieben waren. Die Erinnerung an Zoé blieb ein dumpfer Schmerz in seinem Inneren, der niemals völlig heilen würde, aber der Trost überwog, ihr letztlich doch ihren größten Wunsch erfüllt zu haben. Dass er sich von Donovan löste und ein neues Leben begann. Auch wenn es nun ohne sie sein würde. Als er den Kopf hob, richtete sich sein Blick unvermittelt auf eine junge Frau, die wenige Schritte entfernt von ihm stand und ihn ebenfalls ansah. In ihrer Hand trug sie ein Schild mit der Aufschrift „Arianne“, aber das wäre nicht nötig gewesen. Er hätte es auch so gewusst, gespürt, und die Erkenntnis – tief im Inneren wohl längst schlummernd, aber erst jetzt in sein Bewusstsein sickernd – ließ ihn stumm dem Schicksal danken für eine zweite Chance in seinem verkorksten Leben. Er überwand die Distanz zwischen ihnen mit wenigen Schritten, ignorierte die Menschenmenge, die sie umgab. Wenn es irgendeiner Bestätigung des Himmels bedurfte, dass er heute das Richtige getan hatte, dann stand sie hier in Fleisch und Blut vor ihm. In seinem Herzen, seiner Seele, seinem Kopf war nur ein einziges Wort, das nun leise über seine Lippen kam, während er die Hand ausstreckte und ihr über die Wange strich. Und mit dieser Berührung erwachte auch in ihren Augen langsam ein tiefes Begreifen. Seine Kehle war fast zu eng, zum Sprechen und so kam ihr Name rau über seine Lippen. „Zoé!“

 

 

 

 

 

Tanya Carpenter

www.tanyacarpenter.de

 

In all ihren Geschichten legt Tanya Carpenter stets großen Wert auf die Gefühle ihrer Protagonisten. Auf ihre Hoffnungen und Träume, ihre Ängste und Sorgen, ihre Liebe und ihr Leid. Egal ob Vampire, Hexen, Werwölfe oder gewöhnliche Menschen, das Eintauchen in die Seele ihrer Figuren macht für sie den Zauber des Schreibens aus. Kein Wunder also, dass die Anfrage für „Love Letters“ eine ganz besondere Herzensangelegenheit wurde, und dann kam plötzlich eine Flaschenpost …

 

 

 

Andrea Weil

 

 

Meine liebe Lydia,

es ist lange her, dass ich einen Brief geschrieben habe. Die Verkäuferin im Laden hat sich richtig gefreut, als ich die Tintenpatronen gekauft habe, dabei ist sie deutlich jünger als wir. Wir sind immer stolz darauf gewesen, nicht zu den Alten zu gehören, die Angst vor der neuen Technik haben. Auch wenn es vier Versuche gebraucht hat, bis unser erstes Skype mit Max geklappt hat. Und dann wusste der Kleine nicht, was er zu dem Bildschirm sagen sollte, aus dem seine Großeltern gewinkt haben, grinsend wie zwei Irre. Ich habe die Briefe gefunden, heute. Du hast sie also doch aufgehoben. Wieder aus dem Müll geholt, als ich nicht hingeschaut hab. Das war der schlimmste Streit, den wir je hatten, in neunundvierzig Jahren Ehe. Näher waren wir einer Scheidung wohl nie als in diesem ersten Jahr meiner Rente. Zum ersten Mal seit langer Zeit nur wir zwei. Keine Arbeit, die mich abgelenkt hat, keine Kinder. Nur wir zwei und ich wie ein Fremder in Deinem Reich, ein Störenfried, der alles durcheinanderbrachte, was Du Dir aufgebaut hattest. Und ich wusste nicht, was ich Dir sagen sollte. Du hattest Recht. Mir ist es immer leichter gefallen, aufzuschreiben, was ich fühle, statt darüber zu sprechen. Schon als wir uns kennenlernten. Aber Du hattest keine Zeit, enttäuscht zu sein, dass der Verfasser dieser poetischen Liebesbriefe in Wahrheit ein maulfauler Stoffel war. Die Magie dieses Bündels Briefe hat lange genug gehalten, um Dich in meine Frau zu verwandeln. Dann kamen der Alltag, die Kinder, das Haus. Einundvierzig Jahre lang immer was zu tun. Die ganze Zeit hast Du sie aufgehoben, die Briefe. Um sie mir im richtigen Moment an den Kopf zu werfen. Nein, ich weiß nicht deshalb. Sonst wären wir wirklich auseinandergegangen, vor sieben Jahren. Als Du da standst, Tränen der Wut in den Augen, und die Briefe in den Müll fallen ließest, da hatte ich Angst, dass alles aus ist. Aber wir haben es geschafft, noch etwas aneinander zu finden. Mehr als Routine, mehr als Gewöhnung oder Konvention. Ich habe noch einmal neu das Sprechen gelernt. Und Du, dass die Welt nicht untergeht, weil ich meine getragenen Socken auf dem Wohnzimmersofa liegen lasse. Jetzt? Jetzt kann ich wieder nur schreiben. Und diesmal kann ich nicht mal darauf hoffen, dass eine Antwort kommt. Auf diesem dünnen, zartgrünen Papier, das immer nach einem Hauch Rosenwasser duftete. Ich hab Dir das Parfüm später gekauft und Du hast es nie aufgetragen. Du mochtest es nicht mal, hast Du mir später gestanden. Du dachtest nur, es gehöre sich so für einen Liebesbrief: nach Rosen zu duften. Chopard Wish war Deins. Du schriebst es mir jedes Weihnachten neu auf, dabei hatte ich mir den Namen längst gemerkt. Chopard Wish und Chrysanthemen. Im Topf, weil Schnittblumen so schnell sterben. Ich gieße sie für Dich, aber ich tue zu viel des Guten, meint Sandra. Manchmal will ich sie alle miteinander in die Mülltonne werfen. Wie kann es sein, dass eine Topfblume Dich überlebt?

Mir tut die Hand weh von dieser ungewohnten Schreiberei. Du würdest sicher Witze machen, wie schlecht mein Gekrakel zu lesen ist. Aber Du wirst diesen Brief nicht lesen. Eigentlich ist es nur eine andere Art, Selbstgespräche zu führen. Nein, so kann ich den ersten Liebesbrief nach fast einem halben Jahrhundert nicht beenden. Was soll ich sagen? Alles im Haus erinnert mich an Dich. Maik und Sandra haben sich angeboten, Deine Sachen durchzusehen und wegzuräumen. Aber was bliebe dann noch übrig? Du warst meine bessere Hälfte, in jedem Sinn. Mehr als die Hälfte. Ich liebe Dich.

 

Dein Ehemann. Vergiss „bis dass der Tod euch scheidet“!

Dein Hannes

 

 

Meine liebe Lydia,

warum schmeckt mein Hackfleischtopf nicht so wie Deiner, obwohl ich Dein Rezept benutze? Jede handschriftliche Ergänzung hab ich beachtet, Sahne statt Milch, mehligkochende Kartoffeln statt festkochende, damit sie ein bisschen auseinanderfallen. Aber es schmeckt nicht so gut. Ich hätte nie versuchen sollen, ihn zu machen. Maik hat den Topf im Kühlschrank entdeckt und mitgenommen. Er sagt, die Kinder mochten ihn. Schön für sie, dann haben wir die Lebensmittel nicht umkommen lassen. Lebens-Mittel. Mittel zum Leben. Nur zum Überleben, so kommt es mir vor. Seit meinem letzten Brief habe ich darüber nachgedacht, was es ist, was wir nach einundvierzig Jahren noch aneinander gefunden haben, um diese Ehekrise zu überstehen. Das dürfte keine Feministin hören, aber das Essen ist ein Teil davon, glaube ich. Die Liebe, die Du da reingesteckt hast. Wenn wir mal alle drei Kinder an den Tisch bekommen und …

Wann wird das sein? René schafft es ja jedes Weihnachten, zumindest an einem der Feiertage, aber Silvia mit ihren Schichten? Wenigstens ist uns Maik erhalten geblieben, und seine Sandra ist ein Goldstück. Auch wenn sie mir momentan auf die Nerven fallen. Ständig rufen sie an und laden mich ein, zum Konzert der Kleinsten, zum Picknick, lauter solches Zeug.

Essen, ja. Alle drei würden aus der Pistole geschossen eines ihrer Lieblingsgerichte von Dir nennen können. Wer als Kind schon so verwöhnt worden ist, macht es sich selbst und seinem Partner später nicht leicht. Und keiner von den dreien fängt mit vegetarisch oder so einem Unsinn an. Du hast viele schöne Gemüsegerichte gemacht, ohne Fleisch – Quiche! –, aber einfach aus Freude am Geschmack. Wenn ich von zu Hause aus gearbeitet habe, gab es kein Pardon: Mittags hatte ich am Tisch zu sitzen. Das war der Grund, warum ich öfter ins Büro gegangen bin als nötig. So sehr ich Dein Essen geliebt habe, es war eine Unterbrechung für mich, eine Störung, wenn ich gerade vor Kreativität sprudelte oder eine wichtige statische Berechnung machen musste. Irgendwann ist eines der Kinder aufgetaucht mit einer Mikrowellendose und einem Stück Lasagne darin, einem Eintopf, einem Glasnudelsalat. Nie bist Du selbst gekommen, vielleicht hattest Du keine Lust auf die Witze der Kollegen, wolltest nicht wie ein Hausmütterchen aussehen. Aber die Kinder haben sich dieses „Wir müssen aufpassen, dass Papa isst“ so zu Herzen genommen, dass sie selbst dann noch kamen, als sie schon erwachsen waren. Nicht jeden Tag. Aber mindestens zweimal die Woche. Wenn ich am späten Nachmittag unter der Drohung von unserer Sekretärin („Wenn du es nicht isst, mach ich’s“) in die kleine Kaffeeküche gegangen bin, um mir Dein Essen aufzuwärmen, dann habe ich immer gelächelt. Und es genossen. Zumindest die erste Gabel hatte immer meine volle Aufmerksamkeit. Erst ab der zweiten oder dritten habe ich nebenbei auf die Baupläne geschaut. Rückblickend bin ich ein furchtbarer Ehemann gewesen. Na ja, nicht furchtbar, es gibt sicher schlimmere. Aber unaufmerksam. Wann habe ich dich je gefragt, welche Pläne Du für Dein Leben hattest? Drei Kinder aufziehen – drei großartige Kinder – und ein Haus einrichten, das Dein Mann entworfen hat? Was ist im Alltag alles verloren gegangen? Ich bin sehr froh, dass wir noch diese Reise nach Indien gemacht haben, bevor Du nicht mehr konntest. Ja, ich habe über alles gemeckert, die Hitze, den Gestank auf dem Markt, die unbequemen Busse. Aber ich würde alles geben, Dich nochmal in diesem lilagelben Sari zu sehen, braun gebrannt, die Augen zusammengekniffen gegen die Sonne. Und erst die Sauerei bei diesem Holi-Fest! Ich hab noch auf dem Rückflug bunte Haarsträhnen hinter Deinen Ohren entdeckt. Jugendliche feiern das jetzt auch hier. An Renés Schule haben sich die Abiturienten zum Abschluss mit Farben beworfen. Ich bezweifle jedoch, dass sie die Stimmung nur annähernd nachahmen können, die wir erlebt haben. Diese Mischung aus unbändiger Lebensfreude und tief empfundener Heiligkeit. Warum haben wir so lange gebraucht, um das alles nachzuholen, meine Liebste? Das ist es, was mich zu einem schlechten Ehemann gemacht hat. Ich wünschte, ich hätte Dir noch mehr von der Welt zeigen können.

 

Ich vermisse Dich. Ich liebe Dich.

Dein Mann Hannes

 

 

Meine liebe Lydia!

Ich habe die Zeitung abbestellt. Wir haben uns ja schon seit Jahren darüber geärgert, dass immer mehr Rechtschreibfehler die Artikel verunstalten. Und immer mehr Blödsinn drin steht, irgendwelche dahingeschluderten Allgemeinplätze über Richtfeste – die nur verraten, dass der Schreiberling keine Ahnung hat von der architektonischen Bedeutung von irgendwas! – oder hochgespielte Skandälchen á la BILD. Als vorgestern eine Redakteurin anrief, um mit uns einen Termin für einen Artikel zur Goldhochzeit auszumachen, konnte ich einfach nicht mehr. Die Todesanzeige stand in ihrem verdammten Schundblatt drin! Ist es zu viel verlangt, dass die ihre eigene Zeitung lesen? So etwas Rücksichtsloses! Diese Artikel über irgendwelche Jubiläen sind ohnehin sehr oberflächlich. Ich verstehe, dass die Menschen ihren Freudentag mit anderen teilen möchten. Aber gleichzeitig merkt man beim Lesen, dass sie nicht ihre ganze Gefühlswelt vor der Welt ausbreiten wollen. Wo haben Sie sich kennengelernt? War es Liebe auf den ersten Blick? Haben Sie ein Geheimrezept, wie man so lange glücklich zusammenlebt? Das können wirklich nur junge Leute fragen, die noch in den rosa Wölkchen ihrer ersten Ehejahre schweben. Oder, von Hollywood verblendet, immer noch auf den Prinzen warten. Das Leben ist kein Film. Oft schleicht sich die Liebe wie ein Räuber durch die Hintertür herein, und du bemerkst sie erst, wenn sie direkt vor dir steht und dir ein Messer auf die Brust setzt. Natürlich erinnere ich mich noch an den Moment, als ich Dich zum ersten Mal sah. Und es stimmt, dass ich meinem Freund Martin am Telefon sagte, dass ich das Mädchen getroffen habe, das ich mal heiraten will. Was wusste ich mit zweiundzwanzig von Liebe oder was es heißt, zu heiraten und die Verantwortung für eine Familie zu übernehmen? Ich absolvierte einen Praxisteil meines Studiums bei Brennermanns Brückenbau – nicht gerade der erfolgreichste Teil, Häuser lagen mir mehr –, als Dein Dorf eine Ortsumgehung bekam. Wochenlang saß ich in diesem Kaff Masratshausen fest mit einem grippekranken Chef, Bauarbeitern, die wenig von dem „Studierten“ hielten (ich war aber auch ein kleiner Snob, das war ein Fehler, den ich zum Glück bald korrigiert habe), und Einheimischen, die zwar freundlich grüßten, aber sonst sehr zurückhaltend blieben. Die „Mühle“ war ein verzweifelter Versuch, meine Langeweile zu bekämpfen. Nicht, dass ich irgendwas erwartet hätte von so einer Dorfkneipe. Jeder kannte jeden, ich kannte niemanden. Ich saß in der Ecke und nuckelte an einem Bier, um mich herum einen Bannkreis aus Misstrauen. Es war Tanzabend, damals gab es das noch. Der Wirt hatte einen Teil der Tische weggeräumt und ein Kerl legte Platten auf. Ein paar Mädchen fingen an, sich zur Musik zu bewegen, einige Pärchen zogen nach. Je besser die Stimmung im Saal wurde, umso schlechter wurde meine eigene. Ich war kurz davor, aufzustehen und zu gehen, als in einer Ecke plötzlich Tumult ausbrach. Nach und nach fing die ganze Kneipe an, auf den Boden zu stampfen und „Liddy, Liddy!“ zu skandieren. Zwei packten Dich und hievten Dich auf einen Tisch. Du zappeltest und tatst so, als wolltest du Dich wehren. Dann standst Du da, hieltest Dir die Seite vor Lachen angesichts der trampelnden Menge, zwei charmante rote Flecken auf den Wangenknochen, ein Erröten wie mit einem Filzstift gemalt. Die Jeans brachte Deinen Po perfekt zur Geltung. Ja, das hörst Du nicht gern, ich weiß. Du bist nie das gewesen, was man als schlank bezeichnen würde, aber auch nie dick – und für meinen Geschmack war von allem genau die richtige Portion da. Eine tolle Figur, die Du nie verstecken musstest und es auch nie getan hast. Eine kurzärmelige lila Bluse – der Anstand verbietet mir, zu sagen, was ich dabei dachte. Kastanienbraunes Haar, zu zwei Indianerzöpfen geflochten, die ein bisschen dünn aussahen. Und dieses Lachen! Diese großen, weißen Zähne, diese vollen Lippen. Denn zum Küssen sind sie da! Aber Du hast sie nicht zum Küssen verwendet, nicht an diesem Abend. Stattdessen hast Du Deine Mundharmonika angesetzt und angefangen, „Blowing in the wind“ zu spielen. Bob Dylan hatte gerade erst die Platte rausgebracht. Kann man sich eine Welt vorstellen, in der niemand „Blowing in the wind“ kannte? Ich erinnere mich nicht mehr, wann mir der Song zuerst unterkam und was ich von ihm hielt. Ich weiß nur, dass ich am 16. November 1963 in der „Mühle“ in Masratshausen die beste Variante aller Zeiten gehört habe. Ich konnte mir später nie mehr Bob Dylans Platte anhören, so großartig sie auch ist. Ich wollte nur Dich hören. Keine glockenhelle Engelsstimme, sondern ein wenig rau, ungeübt, aber voll. Du warst kein Engel, eher eine wilde Indianerbraut, die zielsicher ihren Pfeil in mein Herz abgeschossen hatte. Du meine Güte, ich werde wirklich albern. Genau wie meine Briefe damals. Aber irgendwas musst Du an diesen lächerlich pathetischen Worten gefunden haben, sonst hättest Du mir nicht immer und immer wieder geantwortet. An diesem ersten Abend wagte ich nicht, Dich anzusprechen. Nachdem Dich die Bande endlich wieder vom Tisch heruntergelassen hatte, warst Du von Deinen Freunden umringt. Ich konnte in den Blicken der jungen Männer die gleiche Bewunderung lesen, die ich spürte, und wusste, ich hatte keine Chance. Trotzdem bin ich danach zu jedem Tanzabend in die „Mühle“ gegangen, so lange, bis der Theorieteil des Studiums weiterging. Manchmal wurde ich enttäuscht und Du ließest Dich nicht überreden, ein Lied zum Besten zu geben. Aber Du warst immer da. Und am vierten Abend hast Du in meine Richtung gelächelt, als Du vom Tisch geklettert bist, da bin ich mir sicher. Erst am letzten Abend vor meiner Abreise habe ich es über mich gebracht, Dich anzusprechen, als Du gerade von der Toilette wiederkamst. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, doch Du bist wirklich mit mir zur Bar gegangen und hast Dich mit mir unterhalten, während mich die Dorfjungen mit Blicken töten wollten. Das Gefühl habe ich fast genauso genossen wie das Gespräch mit Dir, ich arroganter Schnösel! Lydia, meine Indianerin, womit hatte ich Deine Aufmerksamkeit verdient? Ich mache die Augen zu und sehe Dich da auf dem Tisch stehen. The answer is blowing in the wind ...

 

Ich wünschte, der Wind könnte meine Gedanken zu Dir tragen, wo auch immer Du jetzt bist. Ich liebe Dich.

Dein dummer Hannes

 

 

Meine liebe Lydia,

eigentlich will ich den Stift gleich wieder hinlegen. Was soll dieses Geschreibsel hier? Heute hab ich einfach keine Energie, für gar nichts. Es ist vier Uhr nachmittags und ich habe immer noch den Bademantel über dem Schlafanzug an. Den neuen aus Seide, den Du mir in Indien kauftest und den ich nie angezogen habe, weil ich mein altes, verwaschenes Frotteeteil liebte, ausgefranste Ärmel und alles. Jedes Mal, wenn Du ihn mir nach ein paar Wochen gewaltsam von den Schultern zerrtest, drohtest Du, ihn in die Mülltonne statt in die Waschmaschine zu werfen. Das habe ich jetzt erledigt. Seit Deinem Tod trage ich nur noch den aus Seide, weil Du ihn für mich ausgesucht hast. Wahrscheinlich müsste er auch mal wieder gewaschen werden. Ich weiß nicht. Heute Morgen hab ich meine erste Tasse Kaffee getrunken und auf einmal ist mir was aufgefallen: Die erste Kanne mache ich immer noch so stark, wie Du ihn liebtest, obwohl er mir zu bitter ist und mein Herz flattert. Eine Tasse mit Dir zusammen, dann mit zitternden Händen meinen „Luschenkaffee“ gebrüht. Jahrelang haben wir das so gemacht. Und ich tue es nach wie vor, ohne dass es mir bislang aufgefallen ist. Nach dieser Erkenntnis habe ich mich erstmal wieder ins Bett gelegt. Oder eher auf das Sofa. Ich schlafe nicht mehr im Schlafzimmer. Das Bett ist mir zu groß, außerdem habe ich abends keine Lust mehr, die Treppe nach oben zu steigen. Noch etwas, worüber Maik mault. Dabei räume ich Kissen und Decke beiseite, wenn Besuch kommt. Sandra und er wollen mir jetzt eine Putzfrau ins Haus schicken. Nur über meine Leiche! Eine Wildfremde, die Deine Sachen verstellt und einen anderen Reiniger verwendet, damit das Bad nicht mehr nach Aprilfrische duftet – niemals!

Ja, ich sollte was essen. Das Frühstück ist ausgefallen. Hab ich Dir schon von meiner Theorie erzählt, dass Essen unsere Ehe gerettet hat? Mein Frühstück hatte auch einen kleinen Anteil dran, wage ich zu behaupten. Dass wir uns drauf einigten, dass Du mir, jetzt, wo ich Zeit habe, auch mal ein paar Hausarbeiten überlassen und Dich verwöhnen lassen konntest. Nach einigen missglückten Anfängen – Du musst zugeben, die neue Pfanne, die ich als Ersatz gekauft hab, war sogar besser als Deine alte – bin ich regelrecht über mich hinausgewachsen. Irgendwann hast Du mit dem Besteck auf den Tisch geklopft und wie ein Kind „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger“ gesungen, weil ich mich zu lange mit dem sorgfältigen Schnippeln der einzelnen Omelette-Zutaten aufgehalten habe. Manchmal musste Dein Mittagessen ausfallen, weil wir noch zu satt waren vom Frühstück. Die letzten Wochen Deines Lebens hast Du gar nichts mehr gegessen. Und Dich noch zehn Tage ans Leben geklammert, nachdem sie die Magensonde entfernt hatten. Es war Dein ausdrücklicher Wunsch, trotzdem kämpfte Dein Körper weiter. Du hast nie leicht aufgegeben, mich nicht und das Leben nicht. Aber letztlich musstest Du vor dem Krebs kapitulieren. Meine Indianerin hat mit Würde aufgegeben. So wie ein Häuptling mit erhobenem Haupt und einer weißen Fahne am Speer der übermächtigen Armee der Vereinigten Staaten entgegengeritten sein mag. Das einst braune Haar war nach der letzten, gegen den Rat der Ärzte abgebrochenen Chemo wieder gewachsen, weiß und dünn wie Löwenzahnflaum. Die Schmerzmittel haben dafür gesorgt, dass Du immer länger geschlafen hast. Wann immer Frau Bern einen neuen Tropf anhängte, wollte ich ihn runterreißen, schreien, sie schütteln und aus dem Haus werfen. Ich wollte jede Minute, die uns noch blieb, mit Dir verbringen. Aber das war ein egoistischer Gedanke, das wusste ich. Ich wollte natürlich nicht, dass Du Schmerzen hast. Oder eher: mehr Schmerzen als nötig. Nötig ... wer bestimmt das eigentlich?

Frau Bern wollte immer, dass ich sie Nadine nenne. Aber ich brachte das einfach nicht über die Lippen. Es ist sicher lobenswert und aufopferungsvoll und nicht leicht, als Sterbebegleiterin zu arbeiten. Also habe ich gelächelt und ausweichend geantwortet, wenn sie mir seelischen Beistand leisten wollte. Tief in meinem Innern hasste ich sie. Warum schreibe ich in einem Liebesbrief von einer Fremden? Ich möchte über Dich schreiben, über Dich und wie Du mir in Erinnerung geblieben bist. Ich möchte daran denken, wie ich Dich das erste Mal gesehen habe, mit diesen Indianerzöpfen auf dem Tisch. Wie Du bei dem Holi-Festival die Augen gegen den pinkfarbenen Staub zusammengekniffen hast, der über uns regnete, und so gelacht, dass Du gleich vierzig Jahre jünger aussahst. Aber das einzige Bild, das ich mir vors innere Auge rufen kann, bist Du in dem Pflegebett im Wohnzimmer, zusammengeschrumpelt wie eine Rosine ...

Oh Gott, wie komme ich nur auf so einen Vergleich? Aber ja, seither kann ich mein Müsli nicht mehr essen ... dummes Gehirn!

Wie trocken sich Deine Hand anfühlte, wenn ich neben Dir saß, stundenlang. Manchmal las ich Dir vor, aber wenn ich merkte, Du warst wach und voll da, sagte ich Dir, dass ich Dich liebe. Immer und immer wieder, weil ich nicht wollte, dass die letzten Worte, die ich Dir im Leben sage, irgendwas Banales sind über wund gelegenen Rücken oder Bettpfannen. Du warst, glaube ich, ein bisschen genervt. „Das weiß ich doch, du Dummkopf“, hast Du gewispert. „Sag mir, welche Vögel im Baum sitzen.“ Also beschrieb ich Dir die Tierchen, die an den Knödeln turnten.

Am Ende gab es keine großen Abschiedsworte. Du bist einfach so davongedriftet, von einem Schlaf in den anderen.

Ich mag nicht mehr weiterschreiben. Welchen Sinn hat es, die Erinnerung immer und immer wieder durchzugehen. Ich weiß nicht, ob ich diesen Brief überhaupt zum Friedhof bringen soll. Ich sollte den Steinmetz anrufen und auffordern, diesen Ritz zu beseitigen, der sich zwischen Umrandung und Platte gebildet hat. Statt sinnlose Briefe hineinzustecken. Die Du nie lesen wirst. Schlampige Arbeit! Ach, was soll’s? Irgendwie bringe ich das jetzt noch zu Ende.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948592219
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Witwer Gedächtnisverlust Mops Novellen Liebesbrief Hexe Liebe Briefroman Erzählungen Kurzgeschichten

Autoren

  • Alisha Bionda (Autor:in)

  • Alisha Bionda (Herausgeber:in)

  • Tanja Bern (Autor:in)

  • Tanya Carpenter (Autor:in)

  • Christine Eisel (Autor:in)

  • Caitlyn Young (Autor:in)

  • Andrea Weil (Autor:in)

Alisha Bionda wurde in Düsseldorf geboren und lebt seit 1999 auf den Balearen. Schon seit frühester Kindheit haben es ihr die Literatur und Musik angetan. Aber auch die bildenden Künste. Ihre ersten Fantasy-Romane sind im Ueberreuter-Verlag in der von Wolfgang Hohlbein ins Leben gerufenen „Edition Märchenmond“ erschienen. Seit 2009 gibt sie 18 Reihen in verschiedenen Verlagen heraus.
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Titel: Der Mops, der Liebesbote spielte