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Aequipondium: Die Entdeckung des Gegengewicht-Kontinents

von Ima Ahorn (Autor:in)
190 Seiten
Reihe: Aequipondium, Band 1

Zusammenfassung

Ein unfähiger Entdecker strandet auf einem magischen Kontinent

Kaum angekommen, hat Siegbald Sockenloch auch schon alles verloren: Seinen Leibdiener, sein Gepäck, ja sogar seine Kleider. Dabei wollte er doch nur schnell den Gegengewicht-Kontinent entdecken und dann rasch zurück in die Heimat fahren.

Doch statt Ruhm, Reichtum und freundlichen Eingeborenen findet er dort Hexen, Riesenhühner und sprechende Tiere. Und auch die Heimreise kann er sich gleich aus dem Kopf schlagen, erklärt ihm der König des seltsamen Kontinents. Aequipondium ist das letzte Exil für magisches Volk, wundersame Kreaturen und sprechende Tiere. Wer erst einmal da ist, darf nicht wieder fort. So sitzt der Entdecker ganz unerwartet in der Fremde fest. Doch es kommt noch schlimmer: Nach dem Tod eines Schlossbewohners sind auch sein Ruf und seine Freiheit in Gefahr.

Wird Siegbald es schaffen, seinen Ruf zu retten und einen Weg nach Hause zu finden?

Humorvolle Fantasy für alle, die spannende Abenteuer, skurrile Charaktere und phantasievolle Tiere lieben.

Alle Bücher der Serie können auch einzeln gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

D

as Erste, das er sah, war ein Auge. Ein riesiges orangefarbenes Auge, dessen runde, schwarze Pupille sich kaum einen Fuß vor seinem Gesicht befand. Es schien ihn nachdenklich zu betrachteten. Wobei das wohl eine Interpretation war, die er der Erinnerung später hinzugefügt hatte. Im Moment saß er gefesselt und starr vor Schreck in seiner Badewanne und wartete darauf, gefressen zu werden. Das wäre dann wohl das wenig rühmliche Ende seiner Expedition, fuhr es Siegbald durch den Kopf. Zumindest würde er sich nicht das hämische Gespött seiner Freunde anhören müssen, das angesichts einer weiteren gescheiterten Unternehmung unausweichlich wäre.

Doch der Eigentümer des Auges hatte inzwischen wohl befunden, dass Siegbald nicht weiter wichtig sei. Der Kopf wendete sich ruckartig in eine andere Richtung, um den Rest des verlassenen Lagers in Augenschein zu nehmen. Rote Hautfalten und ein weißer Bewuchs, wie Federn, umgaben das Auge, erkannte Siegbald, als das Monster sich langsam weiterbewegte. Dabei drehte es ruckartig den Kopf hin und her, sodass der Kamm und die Hautlappen unterhalb des riesigen Schnabels hin und her schwangen. Hin und wieder scharrte es mit den schuppigen, krallenbewehrten Füßen auf dem Boden herum und schaute, was es freigelegt hatte. Wenn er sich aufrichtete, mochte der Vogel vielleicht drei oder vier Meter hoch sein. Doch auch dies war eine Erkenntnis, die Siegbald erst später hatte. Aus seiner momentanen Position, gefesselt und auf dem Boden der Wanne sitzend, war er einfach nur gewaltig und furchteinflößend.

Bald darauf, hatte der monströse Vogel wohl genug gesehen. Er schüttelte sich heftig, sodass Steinchen, Blätter und Federn auf Siegbalds Gesicht herabregneten. Dann drehte er dem Lager den Rücken zu und verschwand zwischen den Bäumen.

Die relative Stille des Urwalds senkte sich über das verlassene Kannibalen-Lager. Ein leichter Wind bewegte die Blätter der Bäume und nur ein paar Papageien oder vielleicht auch Affen kreischten weit entfernt in den Wipfeln. Siegbald war allein. Zumindest soweit er das aus seiner momentanen Lage beurteilen konnte. Zuerst hatten seine Entführer die Flucht ergriffen und ihn allein in ihrem Lager zurückgelassen. Dann war auch der Monstervogel verschwunden, der sie vertrieben hatte. Die Erleichterung, die er beim Verschwinden des Untiers verspürt hatte, wich zunehmend einem Gefühl von Hilflosigkeit und Panik. Hier saß er, Siegbald Odin Sockenloch, mitten im Urwald auf einem unentdeckten Kontinent, nackt und gefesselt in seiner Feldbadewanne.

Während Siegbald darauf wartete, ob die Kannibalen oder die Ameisen ihn zuerst auffressen würden, dachte er darüber nach, wie er in diese haarsträubende Situation geraten war.

Teil 1 – Die Reise

W

enn er es genau bedachte, musste er wohl seinem Vater die Schuld daran geben, dass er überhaupt jemals auf die Idee gekommen war, sich als Entdecker zu versuchen.

Es war kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag und Siegbald weilte bei seinem Freund Horst Wilhelm von Knobelsdorff in dessen Haus nahe des brandenburgischen Städtchens Lebus, als ihn der Brief seines Vaters erreichte.

Falls Siegbald auf ein verspätetes Geldgeschenk gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Stattdessen forderte Vater Sockenloch ihn unmissverständlich auf, endlich einen ehrbaren Beruf zu ergreifen, statt weiterhin sein Taschengeld mit den wahnwitzigen Unternehmungen seiner Freunde zu verschleudern. Siegbald habe doch wohl nicht ernsthaft erwartet, dass die Verarbeitung von Holzwolle zu Kleidung ein lohnendes Geschäft sei! Die Zeit des Faulenzens sei nun vorbei, denn er, Samson Otto Sockenloch, weigere sich, seinem Sohn noch einen einzigen roten Heller zu geben.

Siegbald war verzweifelt. Nicht nur die vollkommen übertriebene Forderung seines Vaters setzte ihn unter Druck. Sein einstmals hübsches Gesicht bekam seit neuestem Falten und auch seine blonde Lockenpracht wurde spärlicher. Die Damen, die früher um seine Aufmerksamkeit wetteiferten, hatten begonnen, sich von ihm zurückzuziehen und seinem Plan, irgendwann eine hübsche, junge Erbin zu heiraten, einen Dämpfer versetzt. Sogar sein Freund Horst Wilhelm, den man beim besten Willen nicht als Augenweide bezeichnen konnte, zog inzwischen mehr Aufmerksamkeit auf sich, als Siegbald.

Die meisten seiner Freunde und selbst sein Bruder waren inzwischen durch Heirat oder notfalls durch Arbeit zu Vermögen und Ansehen gekommen. Nur er taumelte weiterhin durch das Leben, wie eine Eintagsfliege im Birnenmost.

Statt Mitleid für seine finanzielle Zwangslage, erntete der junge Sockenloch von seinem Freund Horst nur Hohn und Spott.

„Reich sein müsste man”, sinnierte Siegbald nach ein paar Gläsern Branntwein, die er sich zum Trost gegönnt hat. Gedankenverloren drehte er den Globus, der in einer Ecke des Raumes stand. „Die alten Entdecker hatten es da noch leicht. Sie mussten das Gold nur aufsammeln und nach Europa schaffen.“

„Sicher“, bestätigte von Knobelsdorff grinsend. „Vor hundert Jahren konnte man noch mit dem Schiff übers Meer fahren, auf einem fremden Kontinent landen und die primitiven Wilden brachten einem Gold, Edelsteine und Gewürze bis aufs Schiff, und ihre schönsten Töchter gleich dazu.“ Er nahm sich ein Glas Wein und prostete Siegbald zu. „Auf Cortez und die anderen.“

„Aber ganz im Ernst: was soll ich jetzt machen?”, jammerte Siegbald und ließ sich auf einen Lehnstuhl plumpsen.

„Wie wäre es, wenn du dein Glück mal bei der alten Dotti von Wintzingerode versuchst? Die Gute ist vielleicht nicht mehr ganz taufrisch, aber ich glaube, sie findet dich attraktiv.“ Von Knobelsdorff zwinkerte verschwörerisch und warf ihm einen Luftkuss zu.

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst.“ Entrüstet funkelte Siegbald seinen Freund an. „Da melde ich mich ja noch lieber zum Militär.“

„Groß genug wärst du jedenfalls. Nur schade, dass der Alte Fritz die Langen Kerle aufgelöst hat. - Da wirst du wohl doch besser ein berühmter Entdecker.“ Von Knobelsdorff drehte den Globus, so dass er nun den Pazifischen Ozean zeigte. „Schau, hier gibt es noch ein weißes Fleckchen, das du entdecken kannst”, spottete er und deutete auf die Südhalbkugel.

„Danke auch”, erwiderte Siegbald sarkastisch.

„Oder du widmest dich Entdeckungen, die näher liegen”, schlug von Knobelsdorff vor und warf ihm ein Exemplar von Gleditschs „Betrachtung über die Beschaffenheit des Bienenstandes in der Mark Brandenburg“ zu. „Ich bin sicher, das Liebesleben der gemeinen Küchenschabe wäre ein aufregendes Forschungsgebiet.“

„Du nimmst mich nicht ernst”, erwiderte Siegbald eingeschnappt und warf das Buch zurück. Er nahm noch einen Schluck Branntwein und starrte nachdenklich auf den Globus. „Aber was, wenn dort wirklich noch etwas zu entdecken ist?“

„Du meinst, etwas wie den geheimnisvollen Gegengewicht-Kontinent?“

Siegbald zuckte mit den Schultern. „Das wäre doch immerhin möglich, oder nicht?“

„Und bestimmt gibt es dort haufenweise Gold. Nachdem ihn bisher noch keiner entdeckt hat, kann er nicht allzu groß sein. Um die Welt trotzdem im Gleichgewicht zu halten, muss er also sehr schwer sein. Sicher gibt es dort Berge von Gold.“

Siegbald ignorierte die ätzende Ironie seines Freundes. „Wieso denn nicht?“

„Sockenloch, wenn du wirklich glaubst, dass es heutzutage noch irgendwo auf der Welt einen unentdeckten Goldkontinent gibt, bist du dümmer, als ich dachte. - Wenn es dort Reichtümer gäbe, hätte sie sicher schon jemand gefunden.“

„Also ich glaube daran”, behauptete Siegbald. „Und ich werde dort hinfahren und es finden.“

„Und wie willst du dort hinkommen?”, fragte von Knobelsdorff mit der Stimme der Vernunft.

Siegbald zögerte. „Das weiß ich noch nicht. Aber ich bin sicher, ich werde einen Weg finden.“

Eigentlich müsste es ganz einfach sein, ein Entdecker zu werden, überlegte Siegbald. Immerhin haben es schon viele vor ihm geschafft. Sein benebeltes Hirn zeigte ihm Szenen, die er aus Büchern und Zeitungsausschnitten kannte: Kupferstiche von mutigen Entdeckern, die von winzigen Wilden mit Geschenken begrüßt wurden, mit Schätzen beladene Schiffe und ehrenvolle Empfänge beim König. Und in jedem der Bilder war er, Siegbald Odin Sockenloch, der ruhmreiche Entdecker. Alles was er brauchte war... Es war schwierig, sich im angetrunkenen Zustand zu konzentrieren. Stirnrunzelnd versuchte Siegbald sich zu erinnern, was ihm eben eingefallen war. „Ein Geldgeber”, sagte er und erhob sich schwankend. „Ich brauche einen reichen Unterstützer.“ Unsicher blickte er im Zimmer umher, bis sein Blick an seinem Freund hängen blieb.

„Könntest du nicht mal mit deinem Onkel reden?”, fragte er. „Der hat doch das Vertrauen des Königs. Es wäre sicher ein leichtes für ihn, mich auf eine Forschungsmission in die Südsee zu schicken.“

Abschätzend blickte von Knobelsdorff seinen Freund an. „Ich glaube, es wird Zeit, dass du ins Bett kommst.“

Benommen nickte Siegbald. Dann klammerte er sich an den Arm seines Kameraden. „Aber du wirst deinen Onkel fragen. Versprochen?“

„Jaja”, antwortete der und rief Siegbalds Diener Johannes, der seinen betrunkenen Herrn ins Bett bringen sollte.

Wenn Horst Wilhelm von Knobelsdorff geglaubt hatte, sein Freund hätte seine verrückte Idee am folgenden Tag vergessen, so wurde er enttäuscht. Auch das Versprechen, seinem Onkel Georg Wenzelslaus von Knobelsdorff zu schreiben, hatte Siegbald nicht vergessen. Der Onkel war Maler, Landschaftsgestalter und Architekt im Dienste Friedrichs II. von Preußen und Siegbalds beste Chance auf einen Unterstützer am königlichen Hof. So blieb Horst letztendlich nichts übrig, als einen Brief an seinen Onkel aufzusetzen.

Der Traum, auf die andere Seite des Globus zu reisen, den zu entdeckenden Kontinent im Namen des Friedrichs des Großen von Preußen in Besitz zu nehmen und bei den eingeborenen Wilden ein paar Kisten bunter Glasperlen und Federn gegen Hühnerei-große Goldklumpen einzutauschen, war für Siegbald zur fixen Idee geworden. Es würde ein Kinderspiel werden, glaubte er.

Einige Wochen später reiste Siegbald für ein Treffen mit Horsts erfolgreichem Onkel nach Potsdam. Den König würde er selbstverständlich nicht treffen. Doch wenn er von Knobelsdorff vom wissenschaftlichen Wert seiner Mission überzeugen konnte, sollte dies ausreichen, um königliche Unterstützung für seine geplante Expedition zu bekommen. Tagelang hatte er botanische und geografische Schriften studiert. Er konnte eindrucksvoll Männer wie Johann Gottlieb Gleditsch und Carl von Linné zitieren. Gleditsch gab er dabei sogar als seinen Mentor und Lehrer aus, obwohl er ihm nie persönlich begegnet war. Sie hätten sich aber zumindest theoretisch in einem der zahllosen eleganten Salons treffen können, in denen Gleditsch verkehrte. Es würde schon keiner merken.

Das Treffen verlief gut und mehrere Wochen später bekam er die erhoffte Nachricht: er wurde zum „Sonderbotschafter Preußens auf dem antipodischen Kontinente“ ernannt und erhielt eine nicht unbeträchtliche Summe, um ein Schiff für die Reise auszurüsten. Die Expedition würde neben Siegbald auch der Geograph und Vermesser Alfons Ludwig Hundeshagen begleiten, doch würde dessen Hauptziel die Erkundung und Kartierung eines Gebietes westlich der Magellanstraße sein.

Von den größten Geldsorgen befreit, widmete sich Siegbald mit bisher nie gezeigter Energie der Vorbereitung seiner Expedition. Er sprach mit potentiellen zusätzlichen Geldgebern und Unterstützern, mit Expeditionsausrüstern und Abenteurern, Kapitänen und Naturphilosophen. Unzählige Briefe wurden geschrieben, Ausrüstung besichtigt und Kisten gepackt.

Im Sommer 1769 war es dann soweit: Von Swinemünde aus ging es über die Kanarischen Inseln nach Brasilien. Von dort fuhren sie südwärts, vorbei an Patagonien und durch die Magellanstraße. Nach einem letzten Zwischenstopp in Valparaíso erreichten sie den Südpazifik. Das vermutete Zielgebiet zwischen dem [...] Grad südlicher Breite und […] westlicher Länge hatte Siegbald mit Hilfe einiger erfahrener Geografen und Navigatoren errechnet. Das Schiff sollte, so es denn keine unvorhergesehenen Zwischenfälle gab, im Frühjahr dort sein.

Über die Seereise gibt es im Übrigen wenig zu berichten. Siegbald, der sich von seiner anfänglichen Seekrankheit erholt hatte, verbrachte die meisten seiner Tage in gelassener Gleichförmigkeit. Morgens nahm er einen Kaffee mit Schiffszwieback. Anschließend ließ er sich von seinem Diener Johannes rasieren und unternahm, so es das Wetter zuließ, einen Spaziergang an Deck. Den übrigen Vormittag verbrachte er mit seinem Tagebuch oder damit, Briefe an seine Freunde und Verwandten zu schreiben. Die hier enthaltenen Südseeprinzessinnen, Seeungeheuer, neu entdeckten paradiesischen Inseln und gewaltigen Stürme entstammten einzig seiner Fantasie. Er hielt es jedoch für die Pflicht eines jeden Entdeckers, Abenteuer und Erfolge zu vermelden, um die Daheimgebliebenen zu beeindrucken. Den Nachmittag verbrachte Siegbald Zeitung lesend in seiner Koje. Die Zeitungen, sieben an der Zahl, glättete und bügelte sein Diener Johannes jeden Tag, um ihnen so zumindest den Anschein von Frische zu geben. Anschließend legte er seinem Herrn das zum Wochentag gehörende Exemplar vor, der es entgegennahm, als seien es die neuesten Nachrichten des Tages. Nach Monaten auf See hatte Siegbald jeden Artikel bereits mehrfach gelesen. Doch verfehlte das tägliche Ritual nie seine beruhigende und einschläfernde Wirkung. Nach seiner ausgedehnten Mittagsruhe war er beim Abendessen mit dem Kapitän und dem Geographen Hundeshagen munter und hungrig, bereit für einen weiteren Abend voll Plauderei und Kartenspielen.

Gelegentlich fanden sie kleinere Inseln, die teils unbewohnt, teils mit freundlichen, aber armen Insulanern bewohnt waren. Viele von ihnen schienen nur von Fisch, Früchten und Kokosmilch zu leben und ihre Zeit im Übrigen mit Singen und Tanzen zu verbringen. Siegbald und der Geograph Hundeshagen machten sich einen Spaß daraus, Namen für die entdeckten Inseln zu finden. Bald zierten die Drei-Palmen-Insel, der Haizahn und der Schildkrötenrücken ihre Karten. Auch ihre Geldgeber und Freunde wurden nicht vergessen. Der Inselgruppe der Wilhelminen (nach der Lieblingsschwester ihres Königs) folgten die Gleditschen und das Knobelsdorff-Atoll. Auf letzterem hielten die Bewohner Schweine, so winzig, dass sie kaum größer als gewöhnliche Hauskatzen waren. Vor einigen Inseln wurden sie auch von Kriegskanus empfangen, doch blieben ihre Begegnungen ansonsten zumeist freundlich. Man lief auch mal auf ein Riff, jedoch ohne das ein größerer Schaden entstand. Das entstandene Loch wurde rasch geflickt und Hundeshagen schlug mit einem frechen Grinsen vor, die gefährliche Untiefe auf den Namen Sockenloch zu taufen.

Im März 1770 hielt das Schiff einen Kurs geradewegs nach Westen, dem […]. Breitengrad folgend, als es zur Überraschung des Kapitäns und des Navigators tatsächlich auf eine beträchtliche Landmasse stieß. Sie folgten der unzugänglichen Steilküste bis eine passende Bucht für die Landung gefunden war. Kisten und Gepäck wurden in ein Boot verladen und Siegbald, der sich auf einmal gar nicht mehr für ein solches Abenteuer gerüstet sah, wurde mit seinem Diener Johannes an Land gebracht. Hundeshagen sollte wie geplant in Richtung Magellanstraße zurückkehren und dort seine Kartierungen vollenden, während Siegbald den fremden Kontinent, den sie Friedrichsland nennen wollten, erkunden würde. In ein oder zwei Monaten würden sie zurückkommen, um ihn abzuholen.

Der Ort der Landung war perfekt. In einer kleinen Bucht lag ein sichelförmiger weißer Sandstrand. Azurblaues Meer wurde hier zu einem türkisfarbenen Südseetraum. Das smaragdgrüne Wuchern des Dschungels, ein kleiner Bach mit Süßwasser und ein paar Kokospalmen vervollständigten das Bild. Als besondere Erfrischung lag sogar eine fast reife Kokosnuss auf dem Strand bereit. Siegbald hatte das Gefühl, der erste Mensch zu sein, der diesen Strand je betreten hatte.

„Passt ja auf, Mann”, unterbrach einer der Seemänner, die ihn hergebracht hatten, seine Träume. In verschwörerischem Tonfall ließ er ihn wissen: „Dieser Stand ist verflucht. Vor zwei Jahren auf der Santa Katharina haben wir hier ein ganzes Boot voller Männer verloren. Sind beim Wasser bunkern einfach verschwunden. Eben waren sie noch da und am nächsten Morgen – futsch.“

„Ach halt‘s Maul, Joaquim”, unterbrach ihn ein anderer Seemann. „Hört nicht auf ihn, Euer Gnaden. Der ist ein bisschen plemplem. Sonst hätten wir ihn in Valparaíso auch nicht fürn halben Schiffszwieback und ne warme Jacke anheuern könn‘.“

Siegbald nickte verständnisvoll und gab dem Seemann ein paar Münzen. Der beeilte sich, gemeinsam mit Joaquim das Boot ins Wasser zu schieben, um zurück zum Schiff zu rudern. Siegbald hatte sich längst zum Land umgedreht, als Joaquim eine Kopfnuss von seinem Bordkameraden bekam. Er hörte auch nicht, wie der sagte: „Spinnst du, solche Geschichten zu erzähln? Der Käpt‘n reißt uns den Kopf ab, wenn wir den Verrückten wieder mit an Bord bringen.“

Während Johannes das Zelt aufbaute und das Abendessen vorbereitete, wanderte Siegbald den Strand entlang und malte sich aus, wie ihn die Einheimischen voll Ehrfurcht empfangen würden. Es war heiß und er fragte sich, ob es ausreichen würde, wenn er morgen nur den Dreispitz, ohne die weiße, lockige Perücke tragen würde. Mit seinen beinahe zwei Metern Körperhöhe war er auch in seiner Heimat ein großer Mann. Hier unter den kleineren Südseeinsulanern war er ein Riese. Trotz der hohen Temperaturen: auf Weste und Rock konnte er so wenig verzichten, wie auf die Beinkleider und die seidenen Stümpfe. Er nahm sich vor, sich von Johannes morgen das blaue Justaucorps mit den goldenen Knöpfen vorlegen zu lassen. Sicher war es für ein Urwaldvolk beeindruckender als das flaschengrüne Ensemble.

Zurück im Lager ließ Siegbald sich dankbar auf einen Stuhl im Schatten seines inzwischen aufgebauten Zeltes nieder. Sein Reiseschreibtisch war bereits aufgestellt. So konnte er sich seinem Tagebuch widmen, bis Johannes ihm draußen im Schatten eines aufgespannten Sonnensegels das Abendessen servierte.

Während er aß, ließ er seinen Blick über den Strand schweifen. Ein Teepavillon. Morgen würde er Johannes einen Teepavillon bauen lassen. Er könnte seinen Kaffee kultiviert im Schatten des Pavillons trinken und die Eingeborenen wären sicher beeindruckt. Entzückt von seiner Umsicht und seinem Einfallsreichtum ließ er sich von Johannes ein weiteres Glas Wein einschenken. Den Blick auf den Horizont gerichtet, der sich langsam von Türkis zu einem dunklen Ultramarin verfärbte, ließ er sich von Johannes die Füße massieren. Nach der langen Schiffsreise waren seine Muskeln die Anstrengungen eines Strandspaziergangs wohl nicht mehr gewöhnt.

Was auch immer sich Siegbald vorstellen mochte, als er sich an diesem Abend auf sein Feldbett legte, nie hätte er sich träumen lassen, was in den darauffolgenden Tagen geschah. Wie hätte er auch ahnen können, dass man ihn überfallen und aus seinem luxuriösen Stranddomizil entführen würde, ausgerechnet, während er sein morgendliches Bad nahm. Noch schlimmer war jedoch, dass seine nur kindergroßen Entführer ihn irgendwo im Dschungel zurückgelassen hatten. Nackt, würdelos und gefesselt in seiner Badewanne, ohne seinen Diener, ohne sein Gepäck und gänzlich ohne irgendein Anzeichen des nötigen Respekts vor seiner Person.

 

Seit dem Auftauchen des Monstervogels waren inzwischen mehrere Stunden vergangen. Siegbalds Lage hatte sich jedoch nicht verbessert. Seine Haut war von den Resten seifigen Wassers aufgedunsen und schrumpelig. Zudem juckte es ihn ganz entsetzlich und er litt unter großem Durst. Die Wände der Feldbadewanne waren aus dickem geöltem Leinen und so fest um ihn herumgewickelt, dass er sich kaum bewegen konnte. Jeder Versuch, sich zu befreien, war bisher gescheitert. Einziges Ergebnis seiner Bemühungen war, dass er nun nicht mehr aufrecht saß, sondern samt der Wanne zur Seite gekippt war. Seine Wange lag in einer Mischung aus Seifenwasser und Dreck auf dem Boden, sodass er sich Auge in Auge mit diversen Käfern und anderem Krabbelgetier befand.

„Erstaunlich welche Qualität die Wanne hat”, fuhr es ihm durch den Kopf. „Was die Strapazierfähigkeit betrifft, hat der Händler nicht übertrieben.“

Mehrfach hatte er versucht, den Stoff durch Anspannung seiner nicht unbeträchtlichen Arm- und Beinmuskulatur zum Zerreißen zu bringen. Doch das Material hielt. Jetzt spannte er die Schultern, um sich zumindest aus der Lache aus Seifenwasser zu befreien. Ein kurzer Ruck, eine leichte Drehung des Beckens und die Wanne richtete sich tatsächlich auf. Doch ehe sich Siegbald an der verbesserten Lage erfreuen konnte, begann er, langsam aber unausweichlich auf die andere Seite zu kippen. Mit einem Platschen landete Siegbald auf der anderen Wange. Er stöhnte frustriert.

Zu seinem Erstaunen erschien in seinem nun veränderten Blickfeld bald darauf eine kleine, in einen graugrünen Umhang gehüllte Gestalt, die sich durch Siegbalds am Boden verstreute Besitztümer wühlte. Ohne den Mann oder die Wanne zu beachten, hatte die Gestalt den Kopf gerade in Siegbalds Umhängetasche gesteckt und schien deren Inhalt zu untersuchen.

Einen Moment beobachtete Siegbald den winzigen Fremden verwundert, doch der schien ihn noch immer nicht bemerkt zu haben und schnüffelte weiter ungerührt in der Tasche herum.

„Hey, du da. Finger weg von meinen Sachen!”, rief Siegbald, als er es nicht mehr aushielt.

Blitzschnell zog der Fremde seinen Kopf hervor. Ohne sich umzudrehen packte er die Tasche und war zwei Sekunden später im Gebüsch verschwunden. Perplex starrte Siegbald auf die Stelle, an der eben noch die Gestalt gewesen war. Jetzt war er wieder allein, dämmerte ihm. Und Hilfe brauchte er wirklich dringender, als den Inhalt dieser Tasche. Wer konnte sagen, ob das Vogelmonster nicht irgendwann wiederkam oder vielleicht sogar Schlimmeres im Urwald lauerte.

„Hallo? Bis du noch da? - Magst du nicht zurückkommen?”, rief er in den Busch.

Er lauschte einen Moment, aber es war nichts zu hören, als das Zirpen und Zwitschern des Urwalds.

„Es war nicht so gemeint. Bitte komm zurück. Du kannst die Tasche auch behalten”, bettelte er.

Angestrengt beobachtete Siegbald das Gebüsch, durch das der Fremde verschwunden war. Aber es kam keine Antwort. Schließlich schloss er die Augen und ließ den Kopf auf den Boden sinken. „Mist, verdammter”, fluchte er. Das hätte wirklich besser laufen können. Wahrscheinlich verstand ihn der Fremde noch nicht einmal. Wenn er nicht wiederkam, konnte es Stunden, ja Tage dauern, bis ihn wieder ein menschliches Wesen fand. Möglicherweise war er bis dahin längst tot. Minuten vergingen, während Siegbald sich seiner wachsenden Verzweiflung ergab. „Mist, Mist, Mist”, wiederholte er.

„Mist? Hast du gesehen, wo Mist?”, fragte eine raue Stimme hinter ihm interessiert.

Siegbald fuhr herum. Diesmal bewegte sich die störrische Badewanne kein Stück und so konnte er nur aus dem Augenwinkel sehen, dass die Gestalt im graugrünen Umhang jetzt etwa zwei Meter hinter ihm stand.

„Ähm. Guten Tag. Macht es dir etwas aus, hier herüber zu kommen?”, fragte er, als ihm begann, der Nacken wehzutun.

Der Fremde schien darüber nachzudenken. Schließlich zuckte er mit den Schultern und stellte sich vor den am Boden liegenden Mann.

Siegbald sah einen bodenlangen, graugrünen Umhang, dessen Kapuze das Gesicht des Fremden verbarg. Er trug eine Tasche, seine Tasche verbesserte Siegbald sich, einen Rucksack und etwas, das eine Wasserflasche sein mochte. Ein gebraucht wirkendes, langes Messer hing an einem Strick zwischen den Falten des Umhangs und ließ die Gestalt gefährlich aussehen, obwohl sie kaum einen Meter maß. Dieser Eindruck wurde noch durch die Krallen verstärkt, die unter dem Gewand hervorlugten und durch die weißen Reißzähne, die er im Schatten der Kapuze auszumachen glaubte. Vielleicht war es einer dieser schauerlichen Schamanen, die es bei den Wilden gab, vermutete Siegbald. Er hatte gehört, dass sie sich oft mit Schädeln und Krallen toter Tiere behängten. Wäre die Kleidung nicht gewesen, so hätte er das Wesen schon aufgrund der geringen Größe für ein Tier gehalten. So wunderte sich Siegbald nur, welch seltsame Menschen es in diesem Teil der Welt gab, denn der Fremde ähnelte keinem der Völker, die er bisher in der Südsee gesehen hatte.

Der Fremde musterte ihn seinerseits interessiert. Er wirkte dabei in keiner Weise überrascht oder ängstlich, mitten im Wald einen riesigen, in einer Badewanne gefesselten Mann vorzufinden, sondern lediglich, als hätte er beim Spazierengehen eine interessante Pflanze oder einen seltenen Käfer entdeckt. Ein paar lange, weiße Haare, die unter der Kapuze hervorragten, zuckten leicht. Schnurrhaare? fuhr es Siegbald durch den Kopf. Er tat diese Idee aber sofort als Unsinn ab. Sicher trug der Schamane nur eine Maske.

Um den kleinen Mann freundlich zu stimmen, schüttelte sich Siegbald so gut es ging seine langen blonden Locken aus dem Gesicht und versuchte, möglichst nett und harmlos auszusehen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem angestrengten Lächeln, das den Fremden augenblicklich dazu bewegte, einen Schritt rückwärts zu machen. Siegbald gab es auf, lächeln zu wollen.

„Danke, dass du wiedergekommen bist“, sagte Siegbald nachdem sie sich gegenseitig eine Weile schweigend studiert hatten.

Jetzt, wo er nicht mehr lächelte, entspannte sich der Fremde ein wenig. Er hielt den Kopf schief, als würde er nachdenken. Mit keiner Bewegung zeigte er, ob er verstanden hatte, was Siegbald sagte.

„Wärst du wohl so nett, mich loszuschneiden?”, fragte Siegbald und versuchte vergeblich, sich ein Stück zu bewegen.

Der Fremde drehte den Kopf und betrachtete die Wanne, in der Siegbald gefangen war. Wortlos zog er sein Messer hervor und durchschnitt die Stricke, die das Leintuch zusammenhielten. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Er beobachtete, wie Siegbald sich freikämpfte und mühsam aufrichtete. Da ihn seine Angreifer beim morgendlichen Bad überrascht hatten, war Siegbald vollkommen nackt. Durch das lange Liegen in kaltem Seifenwasser war seine blasse Haut grau und schrumpelig geworden. Seine Glieder waren steif und schmerzten. Beim Anblick des nackten Mannes schnaubte der Fremde, als sei er angewidert. Rasch trat er noch ein paar Schritte zurück.

Schamesröte schoss Siegbald ins Gesicht, während er sich hastig abwandte. Ein Handtuch und sein Morgenmantel wären das mindeste gewesen, was sein Diener Johannes jetzt hätte bereithalten sollen. Es war zu ärgerlich, dass Johannes bei Siegbalds Entführung wohl erschlagen worden war. „Entschuldige mich kurz”, murmelte er und begann, in den herumliegenden Resten nach ein paar Kleidungsstücken oder zumindest einer Decke zu suchen.

Die grünhäutigen Kannibalen hatten einen Teil seines Gepäcks vom Strand hierher in den Dschungel mitgenommen, als sie ihn entführten. Hier hatten sie dann eine Pause gemacht und den Kessel aufgebaut. Während Siegbald sich panisch den Kopf zermarterte, wie er sie davon abhalten konnte, ihn zu töten und zu kochen, war irgendetwas geschehen. Urplötzlich waren seine Angreifer aufgesprungen und in den Wald gerannt. Doch trotz ihrer plötzlichen Flucht hatten sie kaum etwas Brauchbares zurückgelassen. Nur Siegbald, der für die fliehenden Wilden offenbar zu schwer oder hinderlich war, einen verbeulten Kessel, ein paar überreife Früchte und eine zerbrochene Kiste. Die Kiste war Teil seines Expeditionsgepäcks gewesen. So hoffte Siegbald, wenigstens darin noch etwas Sinnvolles zu finden. Doch Band 5 von Diderots Encyclopédie und eine Flagge des Kurfürstentums Brandenburg waren die einzigen Gegenstände, die noch unversehrt waren. Kleidung oder eine Decke war nicht zu finden.

Sinnierend betrachtete Siegbald die umliegende Vegetation. Er verwarf den Gedanken an ein Baströckchen aber so rasch, wie er gekommen war. Sich wie Adam und Eva mit Blättern zu bekleiden, wäre einfach zu lächerlich. Unzufrieden murmelte Siegbald vor sich hin, während sein Retter ebenfalls begann, die herumliegenden Reste zu durchstöbern. Schließlich fiel Siegbalds Blick noch einmal auf die Flagge. Eine Laune hatte ihn dazu bewegt, zusätzlich zur Preußischen Fahne auch die farbenprächtigere Brandenburgische Flagge einzupacken, die hier vor ihm lag. Sie war ein beeindruckendes Werk aus feinster Seide, mehr als drei Meter lang und mit einem herrlich gearbeiteten Wappen. Ihr Ziel war es, die Wilden in den neuen Ländern zu beeindrucken, und das wäre ihm auch sicher gelungen. Kurz zögerte Siegbald, dann faltete er den Stoff auseinander, wickelte ihn um seinen Körper und knotete ihn über der Schulter zu einer Toga. So sollte es gehen. Seine nackten Waden schauten unten heraus und wenn er sich bückte, zog es unangenehm an seinem verlängerten Rücken. Aber es war immerhin besser, als gar nichts zu tragen.

Noch immer mit Laub und Dreck in den blonden Haaren, aber betont würdevoll drehte er sich zu dem Fremden um. „Siegbald Odin Sockenloch, Sonderbotschafter seiner Exzellenz Friedrich des Großen, König in Preußen und Kurfürst von Brandenburg”, stellte er sich vor und verbeugte sich leicht. „Ich danke Euch für Eure Hilfe.“

Der Fremde schien ihn höflich zu betrachten, sagte aber nichts. Dann hob er eine der herumliegenden Früchte auf und Siegbald hörte, wie er im Schutz seiner Kapuze schmatzend hineinbiss.

„Darf ich vielleicht den Namen meines Retters erfahren?”, hakte Siegbald nach und lächelte freundlich. Als immer noch keine Antwort kam, setzte er etwas verunsichert nach: „Versteht Ihr mich überhaupt?“

Siegbald bedauerte, dass er sich in den letzten Wochen nicht mit den Sprachen der einheimischen Stämme beschäftigt hatte. Irgendwie war er immer davon ausgegangen, dass sie eine zivilisierte Sprache wie Deutsch oder Französisch sprechen würden. Falls nicht, fände sich sicher irgendein einheimischer Häuptling oder Schamane, mit dem man sich verständigen konnte. Auf eine Situation, wie diese hier, war er nicht vorbereitet.

Der Fremde zog die Frucht unter der Kapuze hervor und hielt sie ins Licht, als wolle er sie genauer betrachten. Ein angewidertes Grunzen erklang, dann warf er sie ins Gebüsch.

„Schwiebl”, sagte er kauend.

„Wie bitte?“

Der Fremde schluckte. „Augusta Zwiebel. - Mein Name.“

„Ah”, machte Siegbald. „Nun, ich bin hocherfreut Euch kennenzulernen. Ich hoffe mich baldmöglichst für Eure großzügige Hilfeleistung erkenntlich zeigen zu können. Mein Dienstherr, der hochwohlgeborene König in ..“

„Hast du gesehen, wohin SIE gegangen?”, unterbrach ihn Zwiebel, als deutlich wurde, dass Siegbald so schnell nicht aufhören würde zu reden. Der Fremde deutete auf den zertretenen Boden.

„Ähm, was?”, fragte Siegbald, irritiert von der Unterbrechung. Er fing sich aber gleich wieder und fuhr fort: „Also was ich sagen wollte, mein ehrwürdiger Dienstherr...“

„La Divina Gallina”, antwortete Zwiebel, noch ehe Siegbald ausreden konnte, und legte erwartungsvoll den Kopf schief. Als der große Mann immer noch kein Zeichen des Verstehens gab, breitete Zwiebel die Arme aus und ruderte ein paar Mal damit auf und ab, um seinen Punkt zu verdeutlichen.

„Das göttliche Huhn? Großer Vogel? Du gesehen?”, fragte er, jedes Wort langsam und deutlich aussprechend, als spräche er zu einem Schwerhörigen oder einem, der mit sehr wenig Intelligenz gesegnet war. Das Wort ‚sehen‘ verdeutlichte er, indem er auf sein verborgenes Gesicht und dann in den Dschungel deutete.

Ein paar Sekunden lang starrte Siegbald seinen klein gewachsenen Retter mit offenem Mund an, während er versuchte, von der förmlichen Vorstellung seiner Person und seines Anliegens auf die Frage von Zwiebel zu wechseln. Endlich klappte er den Mund zu und deutete wortlos auf die Stelle, an der der Horrorvogel Stunden zuvor verschwunden war.

„Danke”, antwortete Zwiebel. Ohne sich weiter um Siegbald zu kümmern, machte der Fremde sich daran, der Spur des Vogels zu folgen.

 

Stunden mussten vergangen sein. Siegbald beeilte sich, um Zwiebel nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren. Seine nackten Arme und Beine waren zerkratzt, seine seidene Flaggentoga ausgefranst und löcherig. Zweige, unter denen die kleine Gestalt seines Führers problemlos hindurchhuschte, schlugen dem großgewachsenen Siegbald gnadenlos ins Gesicht. Längst war er zu erschöpft, um sich noch darüber zu beklagen. So gab er nur einen halbunterdrückten Schmerzenslaut von sich, als ihn eine weitere dornenbewehrte Ranke ein blondes Haarbüschel aus dem Kopf riss. Er rieb sich mit der Hand über die schmerzende Stelle und wankte weiter.

Als Zwiebel dem Weg der Divina Gallina gefolgt war, hatte Siegbald nur kurz gezögert. Bisher waren ihm hier nur die Kannibalen und ein monströser Vogel begegnet. Der kleine Schamane war der erste, der ihm freundlich gesinnt war, und der einzige, der ihm helfen konnte. Siegbald lief ihm nach. Doch hatte er ihm bald nicht mehr folgen können. Das Graugrün seines Umhangs verlor sich im Gebüsch und die kleine Gestalt wand sich geschickt und fast lautlos durch das dichte Unterholz. Minutenlang war Siegbald ziellos durch den Urwald geirrt, ständig in Angst dem Monstervogel, Kannibalen oder noch schlimmerem zu begegnen. Schlingpflanzen, Baumstämme und Gestrüpp hatten sein Fortkommen behindert, Dornenranken und Spinnennetze nach ihm gegriffen. Nur mühsam konnte er sich im Dschungel einen Weg bahnen. Als plötzlich schlängelnd und zuckend etwas auf ihn herabfiel, wäre er vor Schreck fast in Ohnmacht gefallen. Doch nachdem die vermeintliche Schlange regungslos vor seinen Füßen liegengeblieben war, fand er keine Kobra oder Python, sondern eine einfache Liane. In der Zwischenzeit hatte er die Spur des Fremden gänzlich verloren. Er hatte nach Zwiebel gerufen, doch aus dem Dschungel kam nur ein tiefes, grollendes Knurren, das ganz sicher nicht aus der Kehle seines kleinen Retters stammte. In Panik war Siegbald in die entgegengesetzte Richtung gerannt, hatte eine Gruppe rastender Affen aufgescheucht und war schließlich mit einem Klatschen in einem stinkenden Haufen gelandet – Matsch, er hatte sich vorgenommen, es als Matsch zu betrachten. Hier hatte Zwiebel ihn schließlich gefunden und sofort hochzufrieden begonnen, etwas von dem Matsch in seine Tasche zu schaufeln. Siegbald hatte versucht, mit geschlossenem Mund zu lächeln und sich nicht zu übergeben, während Zwiebel ihm die Vorzüge des Düngens mit Hühnerkot, insbesondere göttlichem Hühnerkot aufzählte. Offenbar war der kleine Kerl ein Gartenfreund.

Anschließend hatte Siegbald ihn gebeten, ob er ihn nicht zurück an den Strand zu seinem Feldlager bringen könne. Dort, so hoffte er, konnte er sich waschen und sicher auch einige seiner Kleidungsstücke finden. Vielleicht hatte sogar sein Diener Johannes den Angriff überlebt. Der könnte ihm ein anständiges Abendessen bereiten, während er sich ankleidete. Wobei er zugeben musste, Johannes Überleben war ein Punkt, bei dem er starke Zweifel hegte. Immerhin hätte er kommen und seinen Herrn retten müssen, wenn ihm das irgendwie möglich gewesen wäre.

Zwiebel war nicht begeistert gewesen, hatte aber schließlich zugestimmt. Voraussetzung sei aber, dass sie schnell und leise wären. Denn, so erklärte Zwiebel, wenn El Gallo Divino Siegbalds buntes Kleid sähe, gäbe es nichts mehr, was ihn retten könnte. Der Gatte der göttlichen Henne sei unglaublich eifersüchtig auf jeden, der bunter ist, als er selbst. Siegbald blickte an sich herunter. Seine Flaggentoga mochte inzwischen schmutzig und zerrissen sein, aber sie war trotzdem zweifellos bunter als alles, was er in dieser grünen Hölle bisher zu Gesicht bekommen hatte. Doch ob die Geschichte stimmte oder nicht: für den erschöpften Siegbald war sie nur ein weiterer Grund, schnellst möglich aus dem Dschungel und zu seinem Gepäck sowie einem kleinen Stückchen Zivilisation zu kommen.

Lautlos und in seinem graugrünen Umhang fast unsichtbar schlich Zwiebel durch den Dschungel, während Siegbald ihm mühsam und leise stöhnend folgte. Die Flucht durch den Wald hatte seinen Orientierungssinn vollends durcheinandergebracht. Trotzdem hatte er den Verdacht, dass Zwiebel ihn in die verkehrte Richtung oder sogar im Kreis führte, als er ein ums andere Mal scheinbar über den selben Baumstamm klettern musste. Endlich lichtete sich der Dschungel und das Meer glitzerte durch die Bäume. Ein paar Schritte noch, dann:

Der Ort war perfekt. In einer kleinen Bucht lag ein sichelförmiger weißer Sandstrand. Azurblaues Meer wurde hier zu einem türkisfarbenen Südseetraum. Das smaragdgrüne Wuchern des Dschungels, ein kleiner Bach mit Süßwasser und ein paar Kokospalmen vervollständigten das Bild. Als besondere Erfrischung lag sogar eine fast reife Kokosnuss auf dem Strand bereit. Siegbald hatte das Gefühl, der erste Mensch zu sein, der diesen Strand je betreten hatte. Zwiebel setzte sich unter eine Palme und fing an in seinem Rucksack zu kramen.

Verwirrt schaute sich Siegbald um. Von seinen Kisten und dem Gepäck gab es keine Spur, auch nicht von seinem Diener Johannes. Nichts ließ vermuten, dass an diesem Strand noch heute Morgen ein recht komfortables Feldlager gestanden haben könnte. Ein Zelt mit Feldbett und seinem Schrankkoffer, ein tragbarer Sekretär, die kleine Feldküche mit dem silbernen Teeservice, die Badewanne – nicht die kleinste Spur war von alledem zu sehen. Auch der mit Palmwedeln gedeckte Teepavillon, den er Johannes am zweiten Tag hatte bauen lassen, war verschwunden. Das erstaunlichste aber war, dass es auch keinerlei Fußspuren gab. Weder seine eigenen, noch die von Johannes oder den kleinwüchsigen, grünhäutigen Kannibalen, die ihn entführt hatten.

Seine Verwirrung schlug schließlich in Ärger um und voll gerechtem Zorn baute er sich vor Zwiebel auf, um ihm ordentlich die Leviten zu lesen. Stundenlang ließ der Kerl ihn durch den Dschungel laufen, nur um dann an den falschen Strand zu kommen. Doch ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, schaute Zwiebel zu ihm auf und legte fragend den Kopf schief. „Ist nicht dein Strand?“

Siegbald ließ die Schultern sinken und blickte sich noch einmal um. Dann deutete er auf den unberührten Strand. „Es sieht so ähnlich aus, aber hier müsste ein recht komfortables Feldlager stehen. Ein Zelt mit Feldbett und meinem Schrankkoffer, ein tragbarer Sekretär, die kleine Feldküche mit dem silbernen Teeservice... Aber nicht die kleinste Spur von alledem ist zu sehen. Auch der mit Palmwedeln gedeckte Teepavillon ist weg.“

„Teepavillon?“

„Eine Art offene Hütte, in der man sitzt und seinen Tee nimmt”, erklärte Siegbald automatisch, ehe ihm bewusst wurde, wie seltsam diese Erklärung in einer solchen Umgebung klingen musste.

Verständnislos blickte Zwiebel auf den leeren Strand. Er versuchte erfolglos, sich den ganzen Krempel vorzustellen, den der Mann aufgezählt hatte. Schließlich zuckte er gleichgültig mit den Schultern und kramte weiter in seiner Tasche.

„Keine meiner Kisten ist hier. Und Johannes auch nicht”, insistierte Siegbald.

„Was ist Johannes?“

„Mein Diener. Er hätte Wache halten sollen, aber er wurde wohl beim Angriff erschlagen.“ Siegbald zögerte. „Ob sie ihn gegessen haben?“

Zwiebel schaute auf den Strand und schien nachzudenken. „Alles weg, aber richtiger Strand, nein?“

Siegbald schaute sich um. Es sah tatsächlich aus, wie bei seiner Ankunft. „Vielleicht“, gab er schließlich zu.

Sein Begleiter nickte, als sei nun alles klar. „Wichtelleute sicher schon aufgeräumt haben. Goblinleute machen viel Unordnung immer. Deinen Freund aber bestimmt nicht aufgegessen haben.“ Zwiebel schaute noch einmal den Strand entlang. „Du sicher, Goblinleute nicht mitgenommen deinen Johannes?“, fragte er dann.

Siegbald runzelte nachdenklich die Stirn. „Sicher bin ich nicht. Aber ich habe ihn nicht gesehen. Allerdings war meine Aussicht auch etwas eingeschränkt.“

Zwiebel brummte irgendwas, das nach einem Schimpfwort klang. Aber ob es den Goblinleuten galt oder ihm selbst, vermochte Siegbald nicht zu sagen.

Ein Blick zum Himmel zeigte der kleinen Gestalt, dass der Nachmittag schon weit fortgeschritten war. Bis zum Sonnenuntergang blieb nur wenig mehr, als eine Stunde. „Zu spät zum Weitergehen heute. Werden hier übernachten. - Nimm Kokosnuss und hilf Feuerholz sammeln. Wichtelleute müssen ohnehin unsere Spuren wegfegen. - Morgen wir gehen zu König.“

Damit erhob sich Zwiebel und verschwand im Wald.

„Warte”, rief Siegbald ihm besorgt hinterher. „Was ist mit den Kannibalen?“

„Keine Kannibalen. Goblinleute haben Arbeit getan. Kommen erst wieder, wenn neues Schiff kommt”, hörte Siegbald aus dem Wald.

In der nächsten Stunde sammelte Zwiebel Feuerholz und Blätter für ein Lager. Am Strand fand er ein paar Muscheln, Algen und Meeresschnecken für das Abendessen. Auch ein paar Krabben fing er in den Felsspalten am Rande des Strands. Schon bald köchelte in einem kleinen Kessel, den er aus den Tiefen seines Rucksacks zutage gefördert hatte, eine köstlich riechende Suppe.

Siegbald war einige Zeit ziellos am Strand entlang gewandert und hatte vergeblich nach Spuren gesucht. Nur seinen Glücksbringer hatte er gefunden. Eigentlich war es nicht mehr als ein wertloser Stein mit einem Loch darin. Dann war er zurückgekehrt, um sich endlich zu waschen und Zwiebel zu helfen. Der hatte es sich inzwischen am Lagerfeuer bequem gemacht und wartete darauf, dass die Krabben gar wurden. Siegbald bemerkte, dass Zwiebel nur Blätter für sein eigenes kleines Lager gesammelt hatte. So beeilte er sich, ebenfalls noch ein paar Palmwedel und Blätter zu sammeln, auf denen er schlafen konnte. Er war froh, dass er sonst nichts tun brauchte. Zwiebel schien zu wissen, was er tat, und Siegbald war gern bereit, die Verantwortung für sein Überleben und sein Abendessen an den kleinen Kerl abzutreten.

Als die Sonne unterging, saßen sie schließlich gemeinsam am Lagerfeuer. Zwiebel hatte geschickt die Kokosnuss geöffnet und zu einem Trinkgefäß für Siegbald geschnitzt. Eine Muschel, die auf ein gespaltenes Stöckchen gesteckt und mit einem Streifen Baumrinde festgebunden war, diente als Löffel. Siegbald war etwas skeptisch, ob er das gesammelte Meeresgetier wirklich essen wollte. Doch aus Höflichkeit ebenso wie aus Hunger probierte er die Suppe. Sie schmeckte erstaunlich gut.

„Danke”, sagte Siegbald, nachdem sie gegessen hatten und Zwiebel schläfrig an seinem Rucksack lehnte. „Ich weiß noch nicht, wie ich durchhalten soll, bis mein Schiff wiederkommt, aber ohne dich hätte ich sicher nie wieder hier hergefunden.“

Zwiebel machte eine wegwerfende Geste. „War sicher harter Tag für dich.“

Siegbald nickte und seufzte. „Das kannst du dir nicht vorstellen. Angefangen bei dem enttäuschenden Frühstück, dann die Kannibalen und das Monsterhuhn...“

Sein kleiner Begleiter hob abwehrend die Hände. „Nicht jetzt. Zu viel für heute. Jetzt schlafen.“

Mit einiger Mühe bremste Siegbald seinen Redefluss. Er hätte gern noch ein wenig Mitgefühl für seine durchlittenen Abenteuer gehabt, aber der kleine Mann hatte sicher recht. „Soll ich Wache halten?”, fragte er schließlich.

„Nicht nötig. Wichtelleute werden uns wecken, wenn Gefahr.“

Zwiebel gähnte ausgiebig, wickelte sich fester in seinen Umhang und drehte ihm den Rücken zu.

Wichtelleute? Siegbald hätte gern mehr über diese seltsamen Wächter gewusst, die Zwiebel inzwischen ein paar Mal erwähnt hatte. Doch tatsächlich war auch er schon so müde, dass es ihm fast gleich war.

Eingewickelt in seine Flaggentoga und bedeckt von ein paar Blättern versuchte auch Siegbald zu schlafen. Doch es waren nicht nur die Sandflöhe und die Kälte, die ihn noch lange wachhielten. Jedes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Während Zwiebel schlief, suchte Siegbald den Waldrand immer wieder nach verräterisch glitzernden Raubtieraugen ab. Kaum legte er sich nieder, tauchten das orangerote Auge des Monstervogels oder hunderte kleiner grüner Kannibalenhände vor seinen geschlossenen Augen auf. Nur der Sternenhimmel, über den sich hell leuchtend die Milchstraße bis hinab zum Kreuz des Südens zog, entschädigte ihn ein wenig. Erst gegen Morgen schlief er endlich ein.

Ein ohrenbetäubendes Geschrei riss Siegbald aus dem Schlaf. Fast hätte vor Schreck sein Herz ausgesetzt. Desorientiert blickte Siegbald um sich, während er versuchte, sich zu erinnern, wo er war. Strand, Palmen, ein kleiner Kerl mit Umhang – immer noch auf diesem schrecklichen Gegengewicht-Kontinent. Mit einem Stöhnen ließ er sich zurück auf den Blätterhaufen sinken, der ihm als Bett gedient hatte. Doch Zwiebel bohrte ihm unbarmherzig eine spitze Kralle in den Oberarm, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.

„Schnell. Müssen weg”, drängte er. „Ist Gallo Divino. Und er wütend.“

Langsam setzte sich Siegbald wieder auf. Interessiert betrachtete er Zwiebel, dessen Gesicht im Morgenlicht deutlicher zu erkennen war, als gestern im Wald. Hatte Siegbald die pelzige Nase und die Reißzähne gestern noch für eine Maske gehalten, so sah er jetzt, dass sie tatsächlich Zwiebels eigenes Gesicht waren.

„Was bist du eigentlich?”, fragte er, ohne sich zu rühren. „Wie ein Mensch siehst du jedenfalls nicht aus. Bist du ein sprechender Affe?“ Es wurde Zeit, dass er sich auch um den wissenschaftlichen Teil seiner Expedition kümmerte, fand Siegbald. Dieser Zwiebel war ganz sicher ein interessantes Forschungsobjekt.

„Was? - Nicht jetzt, müssen weg“, drängte Zwiebel, während er vergeblich versuchte, Siegbald auf die Füße zu ziehen. Schließlich gab er auf. „Lauf in Wald. Dort du dich verstecken kannst”, rief er noch, ehe er selbst, so schnell er konnte, auf den Waldrand zu sprintete.

„KI-KIRI-KIIIHH!“ Ein Schrei ertönte vom Ende des Strands.

Endlich sah auch Siegbald die Gefahr. Ein gewaltiger Hühnervogel war am Ende des Strands aus dem Dschungel getreten. Ein Paar gemeine gelborangene Augen blickten in seine Richtung, der Kamm darüber war leuchtend rot und gefährlich angeschwollen. Jetzt plusterte sich der Hahn zu einer noch beeindruckenderen Größe auf und flatterte drohend mit seinen kurzen Flügeln. An den kräftigen Füßen hatte er scharfe Krallen, lang wie Dolche. Ein Laufvogel, registrierte Siegbald abwesend. Er sollte darüber in seinem Reisetagebuch schreiben, falls er die Begegnung überlebte und sein Journal irgendwo wiederfand.

Während ein Teil seines Verstandes mit wissenschaftlichen Beobachtungen beschäftigt war, verweigerte ein anderer Teil, der die Muskeln steuerte, ihm den Dienst. Starr vor Schreck betrachtete Siegbald das Monster. Es war sicher noch größer, als das Ungeheuer, das ihm gestern so gefährlich nahe gekommen war. Als der Riesenvogel plötzlich begann, kreischend auf ihn zu zu stürmen, kam auch Siegbald endlich auf die Beine. Rasch griff er nach seinem Glücksbringer, dann rannte er los.

„In Wald”, rief Zwiebel. Doch in seiner Panik hört Siegbald nichts als das Rauschen seines eigenen Blutes. So schnell er konnte, rannte er auf seinen bloßen Füßen den Strand entlang. Auf dem festen, feuchten Boden am Wasser kam er schneller voran, als im tiefen, weichen Sand näher am Wald. Nur weg, dachte er, während die Brandenburgische Flagge hinter ihm flatterte wie eine, nun, wie eine Fahne eben.

Sand und Wasser spritzten hinter ihm auf, doch das Hühnermonster holte auf. Um schneller laufen zu können, raffte Siegbald seine Toga, wie eine Frau ihre Röcke. Es war nicht so einfach, den rutschigen Seidenstoff zu halten und gleichzeitig seinen Glücksstein nicht zu verlieren.

„Lass Kleid los”, rief Zwiebel ihm vom Waldrand aus zu. „Gallo Divino nur wütend auf buntes Kleid.“

Doch eher würde Siegbald sterben, als sein einziges Kleidungsstück einem Monster zu überlassen. Nochmals erhöhte er sein Tempo. Mehr Sand und Wasser spritzten unter ihm auf, als er mit höchstem Tempo über den Strand rannte. Muschelschalen schnitten ihn in die nackten Füße und ein unbändiges Stechen in der Lunge gab ihm das Gefühl, gleich keine Luft mehr zu bekommen. Doch der Hahn hatte inzwischen soweit aufgeholt, dass er den wehenden Togastoff mit dem Schnabel packen konnte. Kurz geriet Siegbald aus dem Gleichgewicht, während sich der Knoten der Toga löste. Rasch krallte er seine Finger in den rutschenden Seidenstoff. Mit einem kräftigen Ruck riss er sich wieder los. Nur ein kleiner Stoffstreifen blieb im Schnabel des Vogels zurück. Ein wütendes Kreischen folgte Siegbald, der krampfhaft den Flaggenstoff festhielt und gleichzeitig versuchte, nicht an Tempo zu verlieren. Doch der Vogel war schneller als er. Nur Sekunden später packte der Hahn den Stoff wieder, und diesmal fester.

Siegbald schlug der Länge nach hin und sein Stein rutschte ihm aus der Hand. Verzweifelt kniff er die Augen zu, zog die Beine an und rollte sich zusammen. Er wartete darauf, dass der Vogel auf ihn einhackte. Ein, zwei, drei Sekunden vergingen, ohne dass etwas passierte. Siegbald wartete. Nach einer halben Minute war immer noch nichts passiert. Er fühlte, dass der Vogel den Stoff losgelassen hatte. Vorsichtig öffnete Siegbald ein Auge.

Der Monstervogel stand direkt über ihm. Ein schuppiges, gelbes Bein war ihm so nahe, dass er es mit der Hand hätte berühren können. Doch das orangefarbene Auge des Vogels war nicht auf ihn, sondern auf den gut faustgroßen Stein gerichtet, der kaum einen Meter von Siegbalds Hand entfernt aus dem Sand ragte. Fasziniert versuchte der Hahn erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge durch das Loch zu schauen, das den schwarz-weißen Stein durchbrach. Er pickte mit dem Schnabel danach, aber Stein und Loch blieben, wo sie waren.

Ganz langsam zog Siegbald seine Hand heran. Als der Vogel nicht reagierte, robbte er vorsichtig ein paar Meter vom Monster weg. Dann erhob er sich auf alle viere und krabbelte davon. Schließlich richtete er sich ganz auf und ging gemessenen Schrittes zum Waldrand. Keinesfalls wollte er nochmals die Aufmerksamkeit von Gallo Divino auf sich ziehen. Doch der Hahn war noch immer damit beschäftigt, das Geheimnis des Lochsteins zu durchschauen.

Zwiebel, der ihn am Rande des Dschungels erwartete, schaute verwundert zwischen Siegbald und dem Monstervogel hin und her.

„Wie du das gemacht?”, fragte er schließlich.

Siegbald schaute zurück und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht genau. Auf einmal interessierte er sich nicht mehr für mich oder die Toga. Dabei ist der Stein nur ein kleines Andenken an meine Heimat. Ein Stein mit einem Loch. Ein Glücksbringer. Als Kinder nannten wir so etwas einen Hühnergott.“

„Aha.“ Zwiebel nickte, als wäre nun alles klar. „Warum du nicht gleich verwendet?“

Siegbald schaute verständnislos auf Zwiebel herunter. „Was verwendet? Den Stein? Woher hätte ich das wissen sollen?“

„Hühnergott”, wiederholte Zwiebel das Wort, mit dem Siegbald den Stein bezeichnet hatte.

„Hühnergott? - Ach du meinst Hühner-GOTT”, Siegbald lachte und schüttelte amüsiert den Kopf. „Aber das ist doch nur ein wertloser Glücksbringer. Nichts Magisches oder so.“

„Wie du meinst”, sagte Zwiebel und blickte zu Gallo Divino, der noch immer rätselnd auf dem Strand stand.

„Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich eine ganze Kiste Hühnergötter mitgebracht und als Schutzamulette gegen Gallo Divino verkauft. Ich hätte steinreich werden können“, überlegte Siegbald laut. „Stein-reich”, wiederholte er grinsend und schaute Zwiebel erwartungsvoll an.

Der jedoch studierte inzwischen den Himmel. Dann lauschte er in den Dschungel. „Sollten jetzt besser gehen. Wollen bald beim König sein“, sagte er und schickte sich an, auf einem schmalen Pfad, der nicht mehr als ein Wildwechsel zu sein schien, im Wald zu verschwinden.

„Warte doch mal”, hielt Siegbald ihn an. „Was ist das eigentlich für ein König? Außerdem kann ich mich doch so nicht vor deinem König sehen lassen. Können wir nicht erstmal in dein Dorf gehen? Und was hast du da eigentlich gestern Abend gemeint mit Kobolden und Wichteln, die den Strand putzen? Und wer bist du überhaupt? Ich meine, ich bin dir durchaus dankbar und so, aber bevor ich nicht ein paar Antworten bekomme, mache ich keinen Schritt mehr.“ Siegbald blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wie du willst”, sagte Zwiebel gleichmütig und schulterte seine Taschen.

Siegbald blickte auf den Strand. Der Monsterhahn hatte sich aufgerichtet und schien zu überlegen, was aus seinem Opfer geworden war. Einen Moment lang starrte er auf den Waldrand und Siegbald hatte das ungute Gefühl, dass das Ungeheuer ihm genau in die Augen blickte.

„Tut mir leid, Zwiebel”, sagte er rasch. „So war das nicht gemeint. Natürlich komme ich mit. Wir sind doch schließlich Freunde, nicht wahr? - Aber ein paar Antworten könntest du mir schon geben.“

Zwiebel nickte. „Einverstanden. Aber erst laufen. Antworten später.“

„Was auch immer du sagst”, antwortete Siegbald und folgte dem kleinen Kerl in den Wald.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als Siegbald plötzlich fragte: „Sind hier eigentlich alle Hühner so groß?“

Zwiebel blieb stehen und schaute verständnislos zu dem Menschen auf.

„Ob alle Hühner so groß sind wie der Hahn da.” Siegbald deutete in Richtung Strand.

Die kleine Gestalt drehte sich wieder um und ging kopfschüttelnd weiter. „Nur Gallo Divino.“

„Schade”, brummte Siegbald. Jetzt, wo er außerhalb des Gefahrenbereichs des Riesenhuhns war, hatte er angefangen darüber nachzudenken, was man mit so einem Vogel anfangen könnte, wenn er zahm wäre. Im Vergleich zu einem europäischen Huhn, war das Tier gewaltig. Ein paar davon auf einem Hof bei Potsdam könnten die gesamte Viehwirtschaft revolutionieren. Hunderte Menschen könnten von einem einzigen Huhn satt werden, von den Eiern ganz zu schweigen. Wieviel so ein Tier wohl wog? Seine Fantasie hatte ihm bereits Scharen von Riesenhühnern gezeigt, die auf den Feldern Brandenburgs weideten und von berittenen Hirten bewacht wurden. Ein König, der sich bereits für kleine Dinge, wie diese neumodischen Tartoffeln so begeistern konnte, würde ihn für diese Entdeckung sicher in den Adelsstand erheben.

Sie hielten schließlich an einem kleinen Bachlauf. Moos und abgestorbenes Laub bedeckten den Boden. Es war still und friedlich.

„Wie weit ist es noch zu deinem König?”, fragte Siegbald, der sich erschöpft am Bachufer niederließ und seine schmerzenden Füße ins Wasser hielt.

„Halber Tag vielleicht. Wenn wir weiter so langsam gehen, wahrscheinlich zwei.“

Siegbald stöhnte und ließ sich auf den Rücken fallen. Sein Begleiter seufzte lautlos und schüttelte verwundert den Kopf. Nach einem ebenso faszinierten, wie angewiderten Blick auf Siegbalds bleiche Zehen im Wasser, ging Zwiebel ein paar Schritte bachaufwärts, legte sich auf den Bauch und begann lautstark zu trinken.

Ein Piksen in seinem Bauch ließ Siegbald mit einem Schreckenslaut auffahren. Panisch schaute er um sich, doch es war nur Zwiebel, der neben ihm saß.

„Also? Was du willst wissen?”, fragte der kleine Kerl.

„Hm? Achso.“ Siegbald rieb sich die Augen. Dann massierte er sich die Schläfen und versuchte, sich zu konzentrieren. Eigentlich wäre es höchste Zeit für das Frühstück, aber er wollte Zwiebel gegenüber nicht wehleidig erscheinen. „Also diese grünen Menschenfresser, die mich überfallen haben. Das waren Kobolde, richtig?”, fragte er stattdessen.

Zwiebel schüttelte den Kopf. „Goblin-Leute. Bewachen Kaitangata One auf der Isla del Ogro. Aber sind Vegetarier.“

„Wer ist Kaitangata One?“

„Nicht wer. Ist Name von Strand, Kaitangata One bedeutet Strand von Kannibalen.“

„Also gibt es doch Kannibalen?“

„Nein. Nur Strand.“

„Hast du nicht eben gesagt, diese Goblins sind Vegetarier? Trotzdem wollten sie mich fressen! Bevor sie weggerannt sind, hatten die sogar schon einen riesigen Kessel aufgebaut. Und ein oder zwei kamen dauernd rüber gerannt, um mich mit ihren Gabeln zu piksen. Da schau.“ Siegbald begann seine Toga zur Seite zu schieben, um Zwiebel die roten und blauen Flecke zu zeigen, die die Goblingabeln hinterlassen hatten.

Aber sein Begleiter schüttelte den Kopf, ohne einen Blick auf Siegbalds bleiche Haut zu werfen. „Kessel für Suppe”, sagte er bestimmt. „Sind hungrige Kerle und Gemüse macht sie nicht lange satt. Aber nicht Leute fressen. Zum König bringen. Das ihre Arbeit. Fremde fangen und zum König bringen. Piksen nur, um Spaß zu machen.“

Siegbald verzog das Gesicht. Er fand den Goblinhumor gar nicht komisch. „Also waren die im Grunde ungefährlich? Aber sie haben Johannes getötet.“

Zwiebel schaute ihn an. „Nicht ungefährlich”, sagte er ernst. „Goblinleute sind faules und eigensinniges Pack. Manchmal sie Fremde einfach in Wald bringen, damit Gallo Divino sie frisst. Oder Fred. Oder Lux. Oder Dolchbaum. Oder geben einfach Keule auf Kopf.“

„Und dein König beauftragt wirklich diese unzuverlässigen Kobol.. ähm Goblins, ihm alle Fremden zu bringen?”, hakte Siegbald nach.

„Ja.“

„Warum?“

Diese Frage schien Zwiebel zu überraschen. „Damit sie nicht gefressen werden?”, schlug er schließlich vor.

Siegbald gab auf. „Dann erzähl mir noch ein bisschen über deinen König.”

Zwiebel schaute ihn verständnislos an. „König ist König. Aber ist nicht mein König. Ist König von ganz Aequipondium.“

„Aequipondium? Was ist Aequipondium?“

Zwiebel legte den Kopf schief und betrachtete Siegbald eine Weile. „Aequipondium ist Papa“, sagte er dann und deutete auf den Boden, die Bäume und den Bach. Mehr gab es dazu offenbar nicht zu sagen.

„Erzähl mir von dir”, versuchte Siegbald ein neues Thema. „Wer bist du? Was bist du? Ich glaube, jemanden wie dich habe ich noch nie gesehen.“

„Ich bin Zwiebel”, sagte Zwiebel. „Bin Untergärtner im Schloss und helfe manchmal bei Königs Riesengemüsezucht.“

Siegbald betrachtete die kleine, bepelzte Gestalt, die ihn seit gestern durch den Dschungel führte. Noch immer hatte er nicht genau sehen können, was sich unter dem Umhang verbarg, nur ein fellbedecktes Gesicht und Krallen anstelle von Händen hatte er wahrgenommen. Ein kleingewachsener, haariger Mensch war es nicht. Da war er sich inzwischen ziemlich sicher. Ein alberner Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, nachdem er von Goblins, Wichteln und Königen gehört hatte. „Sag mal, bist du ein Tier? Bist du vielleicht ein sprechender Affe oder der gestiefelte Kater?”, fragte er grinsend und schaute, ob er unter dem Umhang einen langen Katzenschwanz ausmachen konnte.

Er hörte ein wütendes Fauchen und im nächsten Augenblick fand sich Siegbald auf dem Boden wieder. Zornig blitzen ihn Zwiebels kleine schwarze Augen an. Die Reißzähne in seinem Mund waren nur wenige Zentimeter vom Gesicht des Menschen entfernt. Die kleine Gestalt saß auf seiner Brust und Krallen bohrten sich schmerzhaft in die nackte Haut an Siegbalds Kehle.

„Hey”, rief er und versuchte, Zwiebel von sich herunter zu schieben. Doch der Druck auf seine Kehle verstärkte sich. Einen Moment lang starrte er geschockt zu Zwiebel auf.

Er schloss kurz die Augen und konzentrierte sich darauf, ganz still zu liegen, um den kleinen, aber überraschend gefährlichen Kerl nicht weiter zu provozieren. „Hrrh”, machte er schließlich. Er schluckte vorsichtig. Dann versuchte er es erneut. „Tschuligug?”, krächzte er.

Nichts passierte. Nach ein paar Sekunden kniff Zwiebel die Augen zusammen. Erst jetzt schien er Siegbald wieder wirklich wahrzunehmen. Vorsichtig nahm er die Krallen von Siegbalds Kehle und kletterte vom Brustkorb des Mannes.

„Tut leid”, grollte Zwiebel und drehte sich weg, während Siegbald sich langsam aufrappelte. Nach einer Weile setzte er sich neben Siegbald ans Bachufer und zog die Kapuze vom Kopf. Zwiebel hatte einen mit Fell bedeckten Kopf mit kleinen runden Ohren und schwarzen Augen. Von der großen runden Nase bis zu den Ohren verliefen die typischen weißen Längsstreifen eines Dachses.

Eine Weile starrte Zwiebel schweigend auf das gegenüberliegende Bachufer. Nur ein paar Vögel und das Murmeln des Baches waren zu hören. Dann wandte er sich zu Siegbald um und starrte ihn herausfordernd an. „Ich hasse Katzen”, verkündete er. „Du kannst nicht wissen, aber es gibt lange Fehde zwischen meiner Familie und Katzen-Leuten. Viel Blut und Schmerz durch Lügen und Verrat dieser hinterhältigen Einschmeichler.“ Er gab ein kehliges Knurren von sich.

Schließlich stand Zwiebel auf und schüttelte sich, als ob er böse Erinnerungen loswerden wollte. Er zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und sammelte seine Taschen ein. „Müssen weiter, solange Fred schläft”, verkündete er.

Siegbald zögerte kurz, dann kam er schwerfällig auf die Füße. Mechanisch schickte er sich an, Zwiebel weiter durch den Dschungel zu folgen. Doch sein Verstand war noch dabei zu verarbeiten, was er gerade gesehen und gehört hatte. Riesenhühner und kleine grünhäutige Menschen versuchte er noch dem fremden Kontinent zuschreiben, auch wenn sein Begleiter sie als Goblins bezeichnet hatte. Neue Tierarten und fremdartige Menschen gab es auf jedem neuen Kontinent. Aber ein sprechender Dachs mit einem Hass auf den gestiefelten Kater? Das konnte es einfach nicht geben. Siegbald fragte sich, ob er beim Angriff auf das Lager eine Keule auf den Kopf bekommen hatte. Wenn er alles nur träumen würde, wäre das eine Erklärung. Andernfalls müsste er davon ausgehen, dass er verrückt geworden war. Das wäre gar nicht gut, schon gar nicht für den Sonderbotschafter des Königs in Preußen und Kurfürsten von Brandenburg. Andererseits könnte er in dem Fall annehmen, dass alles hier ein Produkt seiner Fantasie wäre. Somit wären auch die Gefahren nicht real. Was für ein ermutigender Gedanke. Mit einem seltsamen Lächeln hob er den Kopf und beeilte sich, zu dem sprechenden Dachs aufzuschließen. Prompt stieß er sich den Zeh schmerzhaft an einem Stein. Unglaublich, dass seine Fantasiewelt so schmerzhaft sein konnte.

Wage war Siegbald bewusst, dass Zwiebel irgendetwas gesagt hatte, während er selbst nachgedacht hatte. Bisher war der kleine Kerl eigentlich eher schweigsam gewesen. Ob es etwas Wichtiges war? Egal, er würde es noch früh genug herausfinden.

Zwiebel hatte unterdessen ausführlich erklärt, was es mit Fred auf sich hatte. Er hoffte inständig, der große und ziemlich tollpatschige Mensch habe die Gefahren verstanden und würde sich etwas zusammenreißen. Keiner mochte sich vorstellen, wie es wäre, wenn Fred erwachte. Ein spitzer Schmerzensschrei und ein Fluch ertönten hinter ihm. Einen Moment später war am krachenden Brechen von Zweigen im Unterholz zu hören, dass ihm der Mensch wieder folgte. Ernüchtert schüttelte Zwiebel den Kopf. Er fragte sich, wie so ein ungeschickter Mann so lange hatte überleben können.

Einige Zeit später erreichten Zwiebel und Siegbald einen von Flechten und Gebüsch bewachsenen Felsen. So zumindest sah es für Siegbald aus. Der Fels ragte mehr zwanzig Meter hoch auf. Überall bedeckte ihn ein eigenartiger, graugrüner Bewuchs, der fast wie Bambus aussah, nur irgendwie schuppiger.

Zwiebel drehte sich zu Siegbald um. „Fred“, flüsterte er und legte einen Finger an die Lippen.

Siegbald nickte. Fred, so hatte er verstanden, war ein grausiges Monster, das in dieser Gegend hauste und derzeit schlief. Gern hätte er gewusst, ob es sich dabei um einen weiteren Vogel oder um ein anderes Raubtier handelte. Es war ja auch möglich, dass es eine riesige Schlange war, nach der er nun Ausschau halten musste. Auf dem Waldboden konnte er jedenfalls keinen Hinweis entdecken.

Zwiebel zeigte nach oben und deutete, dass sie hinaufklettern müssten. Sofort begann er mit dem Aufstieg. Siegbald atmete tief durch. Er wünschte, er hätte Zwiebel erklären können, wie sehr er Höhen hasste und dass ihm selbst auf einer hohen Leiter mitunter schwindlig wurde. Doch der Dachs hatte mehr als deutlich gemacht, dass absolute Stille gefordert war, wenn sie lebend an Fred vorbei kommen wollten. Zwiebel war inzwischen etliche Meter über Siegbald und würde bald aus seinem Blickfeld verschwinden. Zeit, sich zusammenzureißen. Siegbald wickelte sich seine Toga fester um den Körper und folgte dem Dachs vorsichtig. Dank des Bewuchses, an dem er sich festhalten konnte, war der Aufstieg einfacher, als er befürchtet hatte. Bald wurde der Anstieg flacher, und kurz darauf konnten sie aufrecht gehen, ohne sich an die Halme zu klammern. Einen Pfad gab es hier oben nicht und die gräulich-grünen Halme standen dicht an dicht. Siegbald fragte sich, wie Fred sich hier wohl fortbewegte. Ob er sich durch die Wipfel dieser seltsamen Pflanzen schwang? Für Zwiebel waren die dicht stehenden Gewächse kein großes Problem, doch der breitschultrige Siegbald hatte einige Mühe, sich zwischen den armdicken Halmen hindurch zu schieben. Auch seine Toga blieb immer wieder an den Schuppen der Halme hängen, sodass er sie los zupfen und neu verknoten musste.

Nach wenigen Minuten war er von der Anstrengung schweißgebadet. Frustriert rüttelte er an den Halmen und fluchte leise. Erschreckt drehte sich Zwiebel zu ihm um, zischte und deutete zum Himmel. Kam dort Fred? Noch nicht. Doch die Bewegung der Halme verstärkte sich nach oben und war so sicher auch aus der Entfernung sichtbar und hörbar. Wenn Fred das nicht bemerkt hatte, hatten sie unverschämtes Glück. Energisch bedeutete Zwiebel dem Menschen, still zu sein und sich vorsichtig zu bewegen. Doch einen Moment später lief ein Zittern durch den Felsen. Zwiebel gab einen kurzen Schreckenslaut von sich und lief los. Siegbald versuchte, ihm zu folgen. Mit beiden Armen schob er die Halme zur Seite, um rascher hindurch zu kommen. Nur weg von Fred, was auch immer er sein mochte.

Kurz darauf erbebte der ganze Felsen so stark, dass Zwiebel und Siegbald zu Boden gingen. Gleichzeitig begann sich der gesamte Grund zur Seite zu neigen.

„Er wach”, flüsterte Zwiebel heiser und drückte sich fester an den Boden. Suchend blickte er nach links und rechts. Schließlich schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. „Bleib ganz still liegen. Ich ihn ablenke”, raunte er Siegbald zu. „Und fass auf keinen Fall noch mal sein Haar an.“ Der Dachs sprang auf und verschwand im Bewuchs.

Siegbald blieb an den Boden gepresst liegen und versuchte, sich nirgendwo festzuklammern, da er keine Ahnung hatte, was Zwiebel mit ‚seinem Haar‘ gemeint hatte. Der Boden war inzwischen deutlich geneigt. Bald müsste er sich festhalten oder herunterrutschen. Aber schließlich hörte der Fels auf, sich zu bewegen. Nach einiger Zeit sah Siegbald, wie sich die graugrünen Halme wie im Wind wiegten, genau in der Richtung, in der Zwiebel verschwunden war. Ob es Zwiebel gelungen war, Fred abzulenken? Wenn es zu einem Kampf käme, wäre der Dachs sicher hoffnungslos unterlegen. Eigentlich hätte er nicht allein gehen dürfen. Immerhin war Siegbald viel größer und stärker als Zwiebel. Andererseits schien der Dachs zu wissen, was er tat. Angst und Gewissen rangen um einen Entschluss. Noch immer war kein Geräusch aus Zwiebels Richtung zu hören. Schließlich entschied sich Siegbald, dem Dachs nachzugehen. Genau in diesem Moment wurde es finster. Ein gewaltiger Schatten fiel auf den Menschen. Durch die Spitzen der Halme war kaum etwas zu erkennen. Ob das Monster ein Riesenadler war? Was auch immer es war, es verharrte nur kurz über Siegbald. Als es sich weiterbewegte, erkannte er, dass es kein Vogel, sondern ein riesiger, haariger Arm war. Am Ende des Arms befanden sich drei baumlange Klauen, die sich nun auf den Felsen unter ihm herabsenkten. Das reißende und krachende Geräusch, das Siegbald nun hörte, erinnerte ihn an den Zusammenbruch einer riesigen Scheune. Nur war es hier noch lauter. Der Lärm schien sich auf ihn zu zu bewegen. Siegbald drückte sich auf den Boden. Er wartete darauf, von den riesigen Klauen zerrissen zu werden, wissend, dass er keinesfalls schnell genug laufen konnte, um ihnen zu entkommen. Doch bevor sie ihn erreichten, hörte das Geräusch auf. Arm und Klauen hoben sich und bewegten sich zu einer anderen Stelle des Waldes. Diesmal senkten sie sich weiter entfernt auf den Felsen nieder. Wieder kratzten die Klauen den Boden entlang. Noch zwei weitere Male wiederholte sich das, ehe der Arm sich endgültig hob und verschwand. Eine neue Erschütterung lief durch den Boden. Danach blieb es still.

Siegbald blieb abwartend am Boden liegen. Minuten vergingen, doch Zwiebel tauchte nicht wieder auf. Er fragte sich, ob das Monster den kleinen Dachs erwischt hatte. Würde das Ungeheuer ihn verfolgen, wenn er sich jetzt bewegte?

Mehr Zeit verging. Siegbald beschloss, sich auf die Suche nach dem kleinen Kerl zu machen. Er hatte es verdient. Im Übrigen wusste Siegbald ohnehin nicht, wie er allein aus dem Dschungel herauskommen sollte. Als er versuchte, die Richtung zu bestimmen, in der er Zwiebel finden würde, erschien der plötzlich wie aus dem nichts. Erschöpft ließ er sich neben Siegbald auf den Boden fallen.

„Nun warten müssen”, verkündete der Dachs im Flüsterton. „Fred sich beruhigt, aber noch nicht wieder schläft. Müssen still sein und dürfen keinesfalls seine Haare ziehen.“

„Welche Haare?”, frage Siegbald leise und schaute sich verwirrt um.

Zwiebel glotzte ihn an. „Freds Haare”, sagte er und deutete auf die graugrünen Halme. Ganz langsam und deutlich, als spräche er zu einem Kind, setzte er hinzu. „Dürfen Fred nicht kitzeln, sonst wacht er wieder auf. Habe ich dir erklärt: Um von Isla del Ogro zu König zu kommen, wir müssen über Freds Körper klettern.“

„Erklärt?“ Siegbald wollte schon protestieren, doch dann fiel es ihm ein. Zwiebel hatte tatsächlich unten im Dschungel irgendetwas erklärt. Nur war Siegbald mit eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Blut schoss ihm ins Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass er sie mit seiner Unaufmerksamkeit in solche Gefahr gebracht hatte. „Natürlich. Hattest du ja gesagt“, murmelte er, unwillig seinen Fehler zuzugeben.

Er schaute auf den Boden, der auf einmal überhaupt nicht mehr nach Boden oder Fels aussah. Jetzt fiel ihm auch der leicht modrige und etwas moschusartige Geruch auf. Er war nicht allzu unangenehm, unterschied sich aber deutlich vom fruchtigen Fäulnisgestank des restlichen Urwalds. Wenn er genau aufpasste, spürte er sogar Freds Atemzüge. Ganz langsam, vielleicht einmal in der Minute, hob und senkte sich der Boden. Siegbald fragte sich, wie ihm das bisher entgehen konnte.

„Ist Fred ein – Troll?”, fragte er flüsternd.

„Was ist ein Troll?”, wollte Zwiebel wissen. Doch ehe Siegbald antworten konnte, schüttelte er den Kopf. „Ein Gigafaultier”, flüsterte er. „Wahrscheinlich das einzige seiner Art.“

„Ein Giga-Faultier? Ein Faultier? Und was ist ein Giga? So ein großes Tier gibt es doch gar nicht.“

Zwiebel zuckte nur mit den Schultern. „Jetzt ausruhen, bis Fred schläft”, verkündete er. Er zog sich die Kapuze über die Augen, wickelte sich in seinen Umhang und legte sich nieder.

Nach einer Weile legte auch Siegbald sich hin. Doch er blieb noch lange wach und versuchte, sich ein Gigafaultier vorzustellen. Ob Zwiebel ihn nur verspottet hatte? Andererseits hatte er den Arm selbst gesehen. Kein Naturphilosoph der Welt würde so etwas für möglich halten, glaubte Siegbald. Er begann, sich ausmalen, was so ein Riesentier wohl in einer europäischen Stadt bedeuten würde. Die Entdeckung allein könnte ihn weltberühmt machen. Aber wie fängt man ein Gigafaultier und wie transportiert man es über das Meer? Ob es schwimmen konnte?

Die Sonne stand bereits tief, als Zwiebel ihn weckte. „Müssen jetzt weiter”, flüsterte er. „Nicht Haare berühren und ganz vorsichtig.“

Langsam und vorsichtig arbeiteten sich Mensch und Dachs durch das Dickicht aus Faultierhaar. Als die Sonne vollständig untergegangen war, rasteten sie, bis sie sich im Schein des aufgehenden Mondes weitertasten konnten. Diesmal ging es ohne Zwischenfälle voran. Kurz vor Mitternacht erreichten sie endlich den Kopf des Faultieres.

Die Haare waren hier kürzer. Im silbernen Mondlicht konnte Siegbald unter sich Freds geschlossene Augen und seine Nase sehen. Ein Tafelberg breitete sich unter dem Kopf des Riesentiers aus, während sein Hinterteil auf der Isla del Ogro aus dem Dschungel ragte. Siegbald wagte nicht zu fragen, über welchen Körperteil sie nach oben geklettert waren. Noch tiefer, unter dem Rückgrat von Fred verlief ein Meeresarm. Er war nicht allzu breit, doch im klaren Wasser konnte Siegbald selbst bei Mondschein dunkle Schatten ausmachen, die sich rastlos auf und ab bewegten.

„Was ist das?”, flüsterte er Zwiebel zu und deutete auf die Schatten im Wasser.

„Frag nicht.“

Vorsichtig machten sie sich an den Abstieg. Zwiebel hatte den Boden bereits erreicht, als plötzlich das Gesicht des Faultiers anfing zu zucken. Für Siegbald fühlte es sich an wie ein Sturm, als Fred tief einatmete. Der Mensch, der in diesem Augenblick gerade dicht unterhalb der Nase des Faultieres hing, konnte sich kaum halten. Er atmete auf, als der Sturm vorbei war und suchte nach einem besseren Halt, ohne in das empfindliche Nasenloch zu greifen. Doch in dem Moment, als er mit seiner rechten Hand losließ, gab Fred ein donnerndes Niesen von sich. Siegbald wurde durch die Luft geschleudert und landete schmerzhaft viele Meter entfernt auf dem Boden. Ein langer Riss teilte seine Flaggentoga nun beinahe in zwei Hälften und weitere Schrammen und blaue Flecke verliefen von der Schulter bis über seine Hüfte. Stöhnend richtete Siegbald sich auf. Die Arme schmerzten ihn, von der Anstrengung des Abstiegs und nun taten ihm auch noch von der harten Landung die Knochen weh. Vorsichtig befühlte er seinen Ellbogen und seinen Knöchel. Zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Sich mit den Händen am Boden abstützend, kam Siegbald auf die Füße. Doch ehe er sich aufrichten konnte, schoss Zwiebel auf ihn zu und rammte seine Kniekehlen. Mit einem Keuchen ging Siegbald erneut zu Boden.

„Psst. Schau”, flüsterte der Dachs und zeigte auf das Gigafaultier. Über ihnen im Mondlicht konnten sie erkennen, wie sich Freds gewaltige Augen öffneten. Ein oder zweimal zwinkerte Fred mit der Geschwindigkeit eines sich langsam öffnenden Tores. Dann schloss er die Augen wieder. Der Boden unter ihren Füßen bebte und es ertönte ein Krach, als würde ein ganzer Wald umbrechen. Fred begann, seinen gewaltigen Körper auf die andere Seite zu drehen. Sie hörten das Platschen von Gesteinsbrocken, die ins Meer fielen. Hinter ihnen, auf der Isla del Ogro erscholl lautes Protestkreischen, als sich ein Schwarm tropischer Vögel aus dem Dschungel nahe Freds Füßen erhob. Es dauerte lange, bis wieder Ruhe einkehrte.

„Werden nicht mehr über Fred klettern können”, stellte Zwiebel schließlich fest. „König wird nicht zufrieden sein. Aber Fred beinahe aufgewacht. Hat seit hundert Jahren keiner mehr erlebt.“

Als der Morgen graute, machten sich Zwiebel und Siegbald an den letzten Abstieg vom Tafelberg in die darunterliegende Ebene. Siegbald hatte seine zerrissene Toga notdürftig neu verknotet, doch der schmutzige und zerrissene Stoff ließ deutlich mehr von seiner blassen Haut durchscheinen, als ihm lieb war. Im Schatten einiger Palmen legten sie schließlich eine Rast ein und Zwiebel gestattete Siegbald, ein paar Stunden seine schmerzenden Glieder auszurasten.

Bald darauf kamen sie an einen Weg. Die Landschaft verwandelte sich in etwas, das Siegbald zu Hause in Brandenburg als Zivilisation bezeichnet hätte. Der wilde Urwald verschwand. Stattdessen wechselten sich Felder mit Dörfern, Gärten und Palmenhainen ab. Die Dörfer und ihre Bewohner sahen für Siegbalds Augen fast gewöhnlich aus. Sie sahen nicht aus, wie die Eingeborenendörfer, die er auf den Inseln der Südsee gesehen hatte, sondern sie wirkten irgendwie europäisch. Er sah graue Steinhäuser, strohgedeckte Fachwerkhäuser und rote Ziegelbauten. An einem kleinen See stand eine Siedlung aus Stelzenhäusern und er sah ein paar schwarzhaarige Gestalten, die in einem kleinen Kanu auf dem See zu fischen schienen. Die Fischer waren die einzigen, die den Südseeinsulanern ähnlich sahen. Die meisten anderen Menschen wirkten wie typische Europäer, wenn auch einige so groß waren, dass man sie fast für Riesen halten konnte. Nur ihr Umgang mit ihren Haustieren erschien Siegbald etwas seltsam. An einem Feldrand sah er einen Bauern, der sein Mittagessen einschließlich des Weinkrugs mit seinen Ochsen zu teilen schien. An anderer Stelle überließ eine Frau die Farbwahl für ihre Vorhänge ihrem Esel.

Wo auch immer sie hinkamen, erregten Siegbald und Zwiebel einiges Aufsehen. Viele der Häuser, die sie passierten, waren peinlich sauber. Lange Wäscheleinen mit strahlend weißer Wäsche hingen in den Gärten. Die Bewohnerinnen der Häuser schienen von Siegbalds heruntergekommener Erscheinung regelrecht beleidigt zu sein und tuschelten kopfschüttelnd mit ihren Nachbarinnen. Siegbalds Wangen glühten jedes Mal und, sein unzureichendes und schmutziges Gewand festhaltend, beeilte er sich weiterzukommen.

„Hexen”, kommentierte Zwiebel, als sie an einem weiteren hübschen Häuschen vorbei kamen, dessen Hausherrin gerade die Wäsche abnahm. „Sie großen Wert auf Sauberkeit legen. Am Putztag sie ihren Ehemännern das Leben zur Hölle machen.“

Ein wenig später kamen sie an einer Hütte vorbei, die Siegbald nur als Pfefferkuchenhäuschen bezeichnen konnte. Er blieb stehen und starrte es hungrig an. War es sehr unhöflich, wenn er sich ein Stückchen vom Dach abbrach und verzehrte?

„Komm”, sagte Zwiebel und zog ihn weiter. „Dort eine traditionelle Hexe wohnt. Ist nicht so nett, wie die anderen. Aber nicht mehr viele gibt.”

Siegbald konnte das kleine Pfefferkuchenhäuschen noch immer nicht aus den Augen lassen.

„Problem ist aufwändige Haushaltung. Nicht nur Kinder, die Fensterscheiben und Türknöpfe wegessen, sondern auch Mäuse. Und schöner, weißer Zuckerguss bei jedem Regen weg gewaschen und muss neu gemacht werden. Darum die meisten Hexen sind Weiße Hexen. Machen nur noch Wäschezauber und Kräuterkunde“, erklärte Zwiebel.

Gegen Mittag rasteten sie an einem Dorfbrunnen, der mit einer überraschend detailgetreuen Elefantenstatue verziert war. Siegbald, der Elefanten bisher nur aus Büchern und von Bildern kannte, studierte die Statue neugierig. Als er mit den Fingern über die faltige Haut fahren wollte, hielt ihn Zwiebel zurück.

„Besser nicht anfassen. Sie manchmal kitzlig. Wenn sie bewegen, kann schlimme Unfälle geben.“

Am Nachmittag tauchte endlich der Schlossberg am Horizont auf. Zahnstein hatte Zwiebel den Ort genannt, ein überraschend treffender Name. Von weitem betrachtet, ragte der Berg wie ein Zahn aus der sonst flachen Landschaft auf. Er wirkte jedoch nicht wie ein Schneide- oder Eckzahn, sondern eher wie ein ausgewachsener Backenzahn, komplett mit drei langen Wurzeln, auf denen er ruhte. Das Schloss selbst befand sich oben auf der waagerechten Kaufläche des Zahns. Ein eindrucksvoller Garten umgab das Schloss, dessen hohe grüne Bäume, blühende Büsche und Rankpflanzen weit über den Rand des Felsens zu sehen waren. Unterhalb des Schlosses konnte Siegbald einige Höhlen erkennen. Karies, dachte er unwillkürlich und grinste bei dem Gedanken. Eine breite Treppe wand sich um eine der drei Säulen des Schlossbergs. Doch anstatt Siegbald die Treppe hinauf zu bringen, führte Zwiebel ihn unter dem Zahn hindurch.

Im Schatten des Felsens fanden sie eine kleine, etwas baufällige Hütte an einem Teich. Die Hütte wirkte ärmlich. Doch himmelblaue Vorhänge hingen an den Fenstern und ein Krug und ein paar Trinkbecher standen auf einem alten Fass neben der Tür. Ein paar Schweine suhlten sich hinter der Hütte im Dreck und allerlei Angelausrüstung hing an der Außenwand. Über allem hing ein leichter Geruch nach Fischabfällen und Schweinen. Unter einem Baum am Teich saß ein bärtiger Alter und flickte ein Netz. Er trug einen Strohhut, ein weites braunes Hemd, das einmal rot gewesen sein mochte, und eine graue Hose, die an mehreren Stellen durchlöchert war.

„Wohnst du hier?”, fragte Siegbald seinen Begleiter. „Ich würde mich wirklich gern noch waschen, ehe ich deinem König begegne.“ Er blickte auf seine dürftige Kleidung. Die aus der Brandenburgischen Flagge geknotete Toga war fleckig und an vielen Stellen zerrissen. Die bleichen Beine und nackten Füße, die darunter hervorragten, waren dreckverkrustet und hatten blutige Kratzer. Blonde Bartstoppeln bedeckten sein Kinn und seine einst lockige Haartracht klebte verdreckt und strähnig an seinem Kopf.

Statt seine Frage zu beantworten, trat Zwiebel vor den alten Mann und verneigte sich.

Der Alte schaute auf und lächelte erfreut. „Ah, Augusta. Da bist du ja. Wo warst du? Was hast du mir heute mitgebracht? Komm, setz dich zu mir.“

Augusta?! Siegbald blickte auf seinen kleinen Begleiter. War Zwiebel tatsächlich eine Frau? Oder wie nannte man das bei Dachsen? Eine Dächsin?

Zwiebel schob die Kapuze vom Kopf und lächelte, sodass eine Reihe scharfer, weißer Zähne sichtbar wurde. Wie aus dieser Richtung gut zu erkennen war, zierten Ohrringe die kleinen flauschigen Ohren des Dachses. Zwiebel war offenbar eine Dächsin.

Diese Erkenntnis trieb Siegbald augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht. Es war ihm schon würdelos erschienen, sich von einem sprechenden Tier helfen lassen zu müssen. Aber dass es dazu noch eine Frau, ein Mädchen, oder zumindest ein weibliches Wesen war. Siegbald versuchte sich zu erinnern, ob er sich vor ihr entblößt hatte. Natürlich, die Wanne. Es brachte auch nichts, sich einzureden, Zwiebel sei ja nur ein Tier. Die letzten Tage hatten gezeigt, dass sie ein vernunftbegabtes Wesen war. Er hielt sich beide Hände vor das Gesicht und ließ sich zu Boden sinken, während seine Ohren die Farbe reifer Kirschen annahmen.

„Entschuldige, Augusta”, murmelte er. „Ich war wohl – nicht besonders galant.“

Die Dächsin blickte auf ihn herunter und schnaubte belustigt. Verwundert betrachtete der alte Mann den am Boden sitzenden Siegbald. Viel konnte er nicht erkennen. Ein hinter großen Händen verborgenes Gesicht, umgeben von schmutzigen, blonden Locken, die am Hinterkopf schon recht dünn wurden, und ein Paar tiefroter Segelohren. Die Gestalt hatte breite Schultern, bleiche Haut und war in einen seltsamen bunten Fetzen gehüllt. Der Alte blickte fragend zu Zwiebel, die daraufhin die Augen verdrehte. Sie zeigte nach Norden und deutete mit den Händen Wellenbewegungen an. Der Alte nickte: also ein Fremder. Mal wieder.

„Da haben die Goblins wohl mal wieder nur die halbe Arbeit gemacht”, kommentierte er seufzend. „Ich habe mich schon gefragt, was aus ihm geworden ist. Die Wichtel haben gestern einen ganzen Haufen Kisten und Gepäck oben am Schloss abgeliefert, konnten mir aber nicht sagen, was aus ihrem Besitzer geworden war. Wo hast du ihn gefunden?“

„Festgebunden in Wald auf Isla del Ogro. Divina Gallina hat Goblin-Leute verjagt.“

„Tsts”, machte der Bärtige. „Dann hat er Glück, noch am Leben zu sein. Aber was hast du dort gemacht? Du weißt, dass sich dort niemand sehen lassen soll. Es ist einfach zu gefährlich.“

Zwiebel setzte ein halb schuldbewusstes, halb spitzbübisches Lächeln auf. Dann griff sie hinter sich und zog triumphierend Siegbalds Tasche hervor. Sie öffnete die Tasche und zeigte dem alten Mann deren Inhalt. „Dünger für Schlossgarten”, verkündete sie stolz. „Kacka von Divina Gallina.“

„Augusta, das ist wunderbar. Damit werde ich den Riesenrübenwettbewerb dieses Jahr sicher gewinnen”, strahlte der Alte und nahm ihr die Tasche ab. „Aber du weißt, dass ich es verboten habe.“ Er schaute auf die Dächsin herab, wie ein Vater, der seine Lieblingstochter tadeln muss. Zwiebel nickte ergeben, aber ihre Augen blitzten vergnügt.

Schließlich verschwand das Lächeln vom Gesicht des Alten. „Zeit, sich der Pflicht zu widmen, schätze ich.“

Siegbald hatte sich inzwischen etwas gefangen. Er war aufgestanden und hatte begonnen, sich den schlimmsten Dreck aus den verklebten Haaren zu zupfen. Jetzt wandte sich der alte Mann an ihn und verkündete feierlich: „Willkommen in Aequipondium, Fremder. Sprecht, was führt Euch an unseren Hof?“ Die Netznadel in seiner Hand und das nach Fisch stinkende Netz verdarben ein wenig die förmliche Geste, mit der er Siegbald zum Sprechen aufforderte.

Unsicher blickte Siegbald zwischen dem Alten und Zwiebel hin und her. Schließlich nahm er sich zusammen und antwortete ebenso förmlich: „Ich danke Euch für Euer Willkommen. Siegbald Odin Sockenloch ist mein Name. Ich bin Botschafter des Preußischen Königs. Eure, ähm, Freundin Augusta versprach, mich zu Eurem König zu bringen. Zuvor, so bitte ich Euch, gestattet ihr mir, mich an Eurem, ähm, Hof ein wenig frisch zu machen.“ Siegbald verneigte steif vor dem Alten.

Der bärtige Alte schaute ihn mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln an. „Also eigentlich bin ich”, begann er, dann seufzte er resigniert. „Dentella hat wohl wieder einmal recht”, murmelte er. Er nahm den Strohhut von Kopf und fuhr sich mit der Hand durch sein ergrautes Haar. Dann schaute er sich suchend um.

„Augusta, bist du so gut und gibst mir meine …” Er deutete mit einer ungeduldigen Geste Richtung Hütte. „Ich glaube, sie liegt da drüben irgendwo.“

Zwiebel war sofort aufgesprungen und zur Hütte geeilt. Eine kurze Suche förderte das gewünschte Objekt unter einigen verhedderten Angelleinen zutage, die auf einem kleinen Schemel lagen. Ein paar welke Gänseblümchen und Glockenblumen steckten in einem Reif aus Golddraht, der jetzt zusätzlich mit ein paar Fischschuppen und Wasserpflanzen verunziert war. Augusta versuchte, die schlimmsten Verschmutzungen zu beseitigen, ehe sie den Reif an den Alten übergab. Doch der winkte ihr, es endlich herzugeben. Missmutig blickte er auf das Drahtgestell herab und zog selbst noch ein oder zwei der welkenden Blumen heraus.

„Trixi fand, es sieht damit besser aus”, murmelte er und seufzte, wie nur ein leidgeprüfter Vater seufzen kann. „Wie dem auch sei. Kein Wort zu meiner Frau, Augusta, hörst du?“

Zwiebel drehte den Kopf weg und schaute in die Luft. Fast erwartete Siegbald, sie unschuldig pfeifen zu hören. Sie hatte nichts gesehen, hieß das wohl.

Entschuldigend blickte der Alte zu Siegbald, ehe er sich das goldene Drahtding auf den Kopf setzte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752126815
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Fantasyabenteuer Tierfantasy Hexen Märchen für Erwachsene Drachen Entdecker Heldenreise Humor Historisch Abenteuer Reise Fantasy Urban Fantasy

Autor

  • Ima Ahorn (Autor:in)

Ima Ahorn verschlang schon als Kind Abenteuerromane, Märchen und Geschichten über Entdecker. Sie bedauerte, dass die Zeit der großen Entdeckungen vorüber ist. Als sie erwachsen wurde, folgten bei ihr Abitur, Studium und ein Job in der IT ganz traditionell aufeinander. Für Entdeckungen und Abenteuer blieben da nur historische Romane, Fantasy und Urlaubsreisen. ...bis sie den großen Schritt wagte: Sie hat gekündigt, um Europa zu bereisen und um Schriftstellerin zu werden.
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Titel: Aequipondium: Die Entdeckung des Gegengewicht-Kontinents