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Tageswandler 5: Gigi

von Al Rey (Autor:in)
278 Seiten
Reihe: Tageswandler, Band 5

Zusammenfassung

Ihre Ermittlungen führen die Interpol-Agentin Virginie Roussel zum Standort einer ominösen Firma. Sie vermutet, dass illegale Experimente an Menschen durchgeführt werden. Statt wehrlosen Zivilisten findet sie dort jedoch Vampire vor. Jenseits jeder Berichterstattung tobt ein Krieg zwischen Unsterblichen und synthetischen Hybriden, der bereits zahllose Opfer gefordert hat. Die Agentin muss schnell eine Entscheidung treffen… bereits erschienen: Band 1 Mira, Band 2 Anzheru, Band 3 Letizia, Band 4 Shaun und die Kurzgeschichte Marada in Planung: Band 6 Igor und Band 7 Yero

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tageswandler 5

~Gigi~

Von Al Rey

Über die Autorin

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.

Kontakt:

al-rey.jimdofree.com

al-rey@gmx.de

Widmung

Für Marion

Prolog

Jasmina lauschte in die Dunkelheit. Es war mitten am Tag, doch in den Keller unter dem Quartier des Südlichen Clans drang kein einziger Sonnenstrahl. Lucía bewohnte mit ihren Vampiren ein mittelalterliches Kloster am Rand von Saragossa, das von einer mannshohen Mauer umgeben war. Von der Straße aus war nichts zu sehen, sodass der Clan bestens getarnt war. Als Jasmina mit Elvera und den beiden Leibwächtern eingetroffen war, hatten sie jedoch einen recht großen Durchbruch in der Außenmauer vorgefunden. Es sah aus, als wäre ein Sprengsatz gezündet worden, der auch die nahen Gebäudetrakte beschädigt hatte. An der Oberfläche hatten sie weder Vampire noch Hybriden-Söldner angetroffen. Einem Instinkt folgend hatte Elvera nach einem Weg ins Untergeschoss gesucht und war im Kreuzgang des Klosters fündig geworden. Jasmina hätte auf einen muffigen Weinkeller getippt. Stattdessen besaß Lucía eine unterirdische Festung aus unzähligen Gängen, die von gepanzerten Türen unterbrochen wurden. Die vier Vampire hatten sich aufgeteilt, um das Labyrinth schneller erfassen zu können. Scheinbar befand sich in der Mitte des Komplexes eine Zentrale, die zu allen Seiten abgeschirmt war. Die Panzertüren waren wie Ringe darum angeordnet. Sie trafen sich vor jener, die aufgebrochen worden war. Fünf Vampire und ein Söldner der Firma lagen dort tot am Boden. Lucía befand sich nicht unter ihnen. Elvera bedeutete ihnen per Handzeichen, ab jetzt dicht zusammen zu bleiben und ihr zu folgen. Je näher sie dem Mittelpunkt des Labyrinths kamen, desto deutlicher hörten sie die Herzschläge von mindestens sechs Hybriden. Abgesehen davon war es bedrückend still. Die übrigen Vampire mussten hinter einer schalldichten Tür verborgen sein. Obwohl ihre Feinde sie mittlerweile ebenfalls hören mussten, kam ihnen auf dem schmalen Gang niemand entgegen. Jasmina glaubte, ein Klicken zu hören. Im nächsten Moment erfüllte eine ohrenbetäubende Explosion den gesamten Komplex.

„Vorwärts!“, zischte Elvera. So schnell sie konnten, näherten sie sich der Festungszentrale. Sobald das Donnern der Betonbrocken geendet hatte, ertönte ein zorniges Grollen. Endlich erreichten sie den letzten Korridor, der sie direkt zur Zentrale führte. Die Söldner hatten die Tür gesprengt, wobei ein Teil der Decke eingestürzt war. Hinter den Trümmern glühten die eisblauen Augen von Lucía auf. Sie fletschte die Zähne wie ein in die Enge getriebenes Raubtier und griff an. Die Söldner bildeten blitzschnell zwei Reihen, die eine dem Durchbruch zugewandt, die anderen zielten mit ihren Gewehren auf Elvera. Dabei standen sie Rücken an Rücken, um einander zu decken. Ungeachtet der Giftpfeile rannte die älteste Vampirin weiter auf sie zu. Im letzten Moment sprang sie ab und trat dem Mann auf der linken Seite so hart gegen den Oberschenkel, dass er mit einem lauten Schrei einknickte. Den Söldner in der Mitte traf ihr Sai in den Kehlkopf. Leyth rammte dem dritten ihrer Gegner sein eigenes Gewehr gegen den Kiefer. Jasmina übersprang die erste Söldnerreihe und stürzte sich auf den Mann, der Lucía zu Boden rang. Sie erwischte ihn gerade noch, bevor er ihr eine Kugel in den Kopf jagte. Der Söldner schlug hart auf dem Boden auf und rutschte noch ein paar Meter weiter. Lucías Vampire fielen blutgierig über ihn her, um diesen Gegner brauchte Jasmina sich keine Gedanken mehr zu machen. Sie wich der Machete des nächsten Söldners aus und rollte sich ab. Das hatte ihr Gegner offenbar vorausgeahnt, denn er war sofort wieder zur Stelle. Seinen nächsten Schlag musste sie mit ihrem Messer abfangen.

„Dich kenne ich doch“, knurrte der Hybrid. „Du müsstest längst tot sein!“

Jasmina bleckte die Zähne. Tatsächlich erinnerte sie sich verschwommen an sein Gesicht. Er parierte ihren nächsten Angriff und traf ihr linkes Jochbein mit dem Ellbogen. Als er erneut mit der Machete ausholte, sprang ihn ein Schatten auf vier Pfoten an und verbiss sich in sein Handgelenk. Es war ein Wolf. Der Söldner schüttelte ihn laut fluchend ab und stieß ihn gegen die Wand. Diese eine Sekunde Unaufmerksamkeit genügte Jasmina jedoch, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Anschließend köpfte sie ihn zur Sicherheit vollständig. Elvera, Leyth und Onur hatten die drei Söldner, die sich ihnen entgegengestellt hatten, mittlerweile überwältigt. Lucía schlug die Zähne in den Hals ihres letzten Gegners. Während sie sein Blut trank, schwand auch sein Widerstand. Jasmina wandte sich ab und suchte nach ihrem unverhofften Helfer. Wo war er bloß so plötzlich hergekommen?

„Schaltet den Notstrom an“, sagte Lucía. „Wenn er denn funktioniert.“

Nach einigem Flackern blieben die Neonröhren an und erhellten die Zentrale mit kaltem weißem Licht. Der recht kleine, hellbraune Wolf rappelte sich vom Boden auf und rieb mit der linken Vorderpfote über seinen Kopf. Er hatte eine kleine Platzwunde über dem Auge, ansonsten war er unverletzt. Er roch weder nach Gift, noch wie ein Gestaltwandler. Jasmina ahnte, wen sie vor sich hatte. „Ich grüße dich, Philippe.“

Er nahm seine menschliche Gestalt an, um ihr zu antworten. Philippe war in den vergangenen Jahren ein gutes Stück gewachsen. Auch er schien schneller zu altern als ein menschliches Kind, aber nicht so rasend schnell wie ein geborener Vampir. Äußerlich war er etwa fünfzehn.

„Ich wollte nur helfen“, sagte er verlegen.

„Das hast du“, gestand Jasmina ihm zu. Elvera trat an ihre Seite. „Sieh an. Wo sind Vincent und die anderen Wölfe?“

„Ich bin allein.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen.

„Warum?“ Die älteste Vampirin blieb freundlich aber bestimmt.

„Ich bin hergekommen, um nach Neuigkeiten zu fragen. Seit Commodus uns vor diesen seltsamen Hybriden-Söldnern gewarnt hat, will ich Vincent davon überzeugen, dass wir euch helfen.“ Philippe schaute zu Lucía hinüber. Sie war noch damit beschäftigt, die Reste ihres Clans zu beruhigen.

„Er weigert sich“, riet Jasmina. Das Gegenteil hätte sie mehr als gewundert. Der Junge nickte. „Vincent will abwarten, ob die Firma sich überhaupt für die Werwölfe interessiert. Wenn nicht, geht uns diese Sache seiner Meinung nach nichts an.“

„Wenn doch, werden die Hybriden ihn angreifen“, stellte Elvera fest.

„Das glaube ich auch. Aber er ist so furchtbar stur.“ Philippe ließ die Schultern hängen. Jasmina verkniff sich einen Kommentar darüber, dass seine Sturheit nicht Vincents schlimmste Eigenschaft war. Der Junge konnte schließlich nichts dafür.

„Räumt auf und durchsucht zur Sicherheit die gesamte Anlage“, befahl Lucía ihren Vampiren. „Und vergesst das Loch in der Außenmauer nicht. In den alten Ställen sollten noch passende Steine liegen.“

„Lohnt sich das überhaupt? Diese Mauer kann jeder überspringen“, merkte Philippe an.

„Sie dient zur Tarnung gegen die unwissenden Menschen, junger Wolf“, gab das Oberhaupt des Südlichen Clans streng zurück. „Wenigsten die müssen wir aufrechterhalten, sonst wimmelt es hier bald von neugierigen Augen. Wie bist du hereingekommen?“

„In meiner Wolfsgestalt passe ich durch den Lüftungsschacht neben der Bibliothek.“

„Offensichtlich müssen wir auch diesen besser tarnen.“ Sie schüttelte verblüfft den Kopf. Dann verneigte Lucía sich vor Elvera. „Ich danke dir, Gebieterin. Ohne eure Hilfe wäre von meinem Clan wohl nichts übrig geblieben.“

Jasmina hatte zehn Männer und Frauen gezählt, die nach und nach den Raum verlassen hatten, um den Befehlen ihres Oberhaupts nachzukommen. Sie hatte gerade einmal fünf ihrer Vampire zurück. Alle anderen waren tot oder noch in Gefangenschaft. Es gelang ihr nicht, Lucías dankbares Lächeln zu erwidern.

„Wir hatten Glück, dass es so wenige Hybriden waren. Gegen meinen Clan haben sie um die 40 Männer geschickt“, sagte sie stattdessen. Lucía erschauderte. „Ich hörte, selbst die Garde der Ältesten war ihnen nicht gewachsen.“

„Das ist leider wahr. Aber es ist auffällig, wie verschieden ihre Einsatz-Teams sind. Vielleicht hängt es davon ab, ob sie Gefangene machen wollen oder nur darauf aus sind, uns zu töten.“ Elvera legte bekümmert die Stirn in Falten. „Beim nächsten Angriff werden es sicherlich mehr sein.“

„Und jetzt wissen sie von unserem unterirdischen System“, ergänzte Lucía. „Hier ist es nicht mehr sicher. Wir werden Ordnung schaffen und dann verschwinden.“

„Wohin?“, wollte die älteste Vampirin wissen. „Nur falls wir eure Hilfe in Anspruch nehmen müssen.“

„Wir werden uns mit Jeremy und seinen Vampiren zusammentun und Paris von dieser Plage befreien. Wir wollten schon vor über einer Woche aufbrechen, aber sie haben uns überrascht und wir mussten uns verschanzen.“

„Tut das.“ Elvera wandte sich wieder zu Philippe um. „Und du? Kehrst du zu Vincent zurück?“

Der Junge verzog das Gesicht. „Ich glaube, das ist keine gute Idee.“

„Weiß er überhaupt, wo du dich herum treibst?“ Jasmina hob gespannt die Brauen.

„Nicht so genau“, wich Philippe ihrer Frage aus.

„Du bist heimlich abgehauen“, schloss sie daraus. Normalerweise hatte Vincent jeden einzelnen seiner Wölfe unter Kontrolle, da er ihnen mit seinen bloßen Gedanken Befehle übermitteln konnte. Auf Philippe traf das offensichtlich nicht zu.

„Du hörst seine Stimme also nicht in deinem Kopf, seit er dich aufgenommen hat?“, fragte Jasmina, um sicher zu gehen.

„Nein und das regt ihn manchmal ziemlich auf.“

„Verstehe. Allein herumstreunen solltest du allerdings auch nicht.“ Sie warf Elvera einen fragenden Blick zu. Die älteste Vampirin nickte kaum merklich.

„Dann komm mit uns. Jemanden, der durch Lüftungsschächte passt, können wir bestimmt brauchen.“

Philippe strahlte sie an, während sie Lucías Zentrale verließen. „Sind Charles und Kian bei euch?“

„Nein, Anzheru hat nichts von ihnen gehört, seit wir gegen die Firma kämpfen.“

Sein Lächeln erstarb abrupt. „Also wurden sie gefangen genommen?“

„Wir wissen es nicht.“

Leandros

Marek blieb ein paar Schritte hinter seinem Gebieter stehen. Batiste hielt sich wie immer zu seiner Linken. Mira hatte sich wenigstens dazu überreden lassen, hinter ihnen zu bleiben, statt vorne weg zu marschieren. Der finnische Stützpunkt der Firma, in dem Asheroth Leandros vermutete, lag vor ihnen. Es handelte sich um ein recht großes Gebäude am Rande eines Industriegebiets. Kila hatte die Gegend für sie ausgekundschaftet und den Weg vorbei an Produktions- und Lagerhallen vorgeschlagen, obwohl die Sterblichen selbst mitten in der Nacht noch arbeiteten. Um den Stützpunkt herum gab es sonst schließlich nichts, das sie verborgen hätte. Jetzt kreiste die Adlerfrau hoch über ihnen, um sie zu warnen, sollten noch mehr Söldner der Firma auftauchen. Marek nahm einen grausam vertrauten Geruch wahr, seit sie die Gebäude hinter sich gelassen hatten.

„Sie verbrennen Tote“, knurrte Batiste. Achilleas spähte um die Ecke des letzten Containers, der ihnen noch Deckung gab.

„Ich zähle drei Wachen, einer am Tor, zwei an den Fenstern“, flüsterte Mira.

„Insgesamt sind es mehr als sonst. Und ich höre Menschen.“ Der Älteste lehnte sich auf seinen Speer und dachte nach. Marek wartete gespannt auf seine Entscheidung. Normalerweise führte sein Gebieter sie in einen direkten Angriff, ohne auf Lärm und Gefahr zu achten. Allerdings befanden sie sich im Moment in der Nähe von Sterblichen und er wollte wohl kaum Anzherus Tageswandlerin gefährden. Marek fühlte Miras Hand auf seiner Schulter. Innerhalb eines Atemzugs glich sich seine Körpertemperatur wieder der eines Menschen an. Obwohl er sich mittlerweile von den Folgen seiner Gefangenschaft bei der Firma erholt hatte, spürte der Leibwächter einen deutlichen Unterschied. Miras Wärme machte sie nicht nur unsichtbar für die Scanner der Firma, sie gab ihnen mehr Kraft. Batiste atmete hörbar aus, als sie ihn wieder losließ. Achilleas ergriff ihre Hand, bevor sie seinen Rücken erreichte.

„Ich kann ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen“, bot sie an. Der Älteste nickte und bedeutete seinen Leibwächtern, sich jeweils am äußersten Rand ihrer Deckung zu positionieren. So hatten sie die kürzesten Wege zu den beiden Wachen an den Fenstern.

„Seid lautlos“, lautete sein Befehl. Marek unterdrückte sogar seinen Atem. Auf Achilleas‘ Zeichen trat Mira ein paar Schritte zurück und ließ ihre Augen aufglühen. Wie erwartet starrten die Söldner für einen Moment in ihre Richtung und sahen nicht, wie sich die drei Vampire aus dem Schatten der Container lösten. Marek hatte schon einen Fenstersims im Stockwerk unterhalb seines Gegners erreicht, als dieser ihn überhaupt erst bemerkte. Bevor er seine Maschinenpistole abfeuern konnte, schwang Marek sich durch das geöffnete Fenster und trat ihm mit voller Kraft gegen die Brust. Der Söldner taumelte rückwärts, was dem Vampir Zeit für einen zweiten Angriff verschaffte. Marek holte ihn von den Füßen und hieb mit einem Dolch auf seine Kehle ein. Mit der freien Hand hielt er ihm vorsichtshalber den Mund zu. Vor dem Gebäude ertönte ein dumpfes Geräusch wie von einem Aufprall, danach war es wieder still. Noch waren sie nicht entdeckt worden. Marek sah kurz nach draußen. Batiste hatte seinen Gegner aus dem Fenster gezerrt und auf den Pflastersteinen aufschlagen lassen. Die dritte Wache war von Achilleas‘ Speer durchbohrt worden. Sein Gebieter bedeutete ihm, zurückzutreten, damit sie den gleichen Weg ins Gebäude nehmen konnten wie er. Mira folgte ihnen als letzte durch das offene Fenster. Der Älteste schlich voran, leicht geduckt und seinen Speer erhoben. Sie hörten Stimmen, die aufgeregt miteinander diskutierten.

„Die Anweisungen von Dr. Morgan sind unmissverständlich. Wenn es bis heute nicht funktioniert, exekutieren wir die übrigen Testobjekte!“

„Diese Deadline ist Schwachsinn! Ihre Körper brauchen einfach länger, um die Stoffe anzunehmen.“

„Das sagst du ihr“, hielt eine dritte Stimme dagegen. „Wenn du mich fragst, stimmt mit dieser Frau was nicht.“

„Seid ihr bald fertig? Wir haben den Befehl, gegebenenfalls das Labor abzubauen und euch zur nächsten Basis zu bringen.“

Marek vermutete dahinter drei Laborassistenten und ein Söldner-Team, dessen Anführer langsam die Geduld verlor. Achilleas beschleunigte seine Schritte, weshalb sie zwangsläufig mehr Lärm verursachten.

„Vampire!“, brüllte einer der Hybriden. Die Männer waren in Stellung gegangen, als sie die Produktionshalle erreichten. Marek sah fünf Söldner direkt vor ihnen, die schon mit Gewehren auf sie zielten. Ein weiteres Paar Augen machte er vage auf einer höher gelegenen Plattform im hinteren Teil der Halle aus. Achilleas sprang hoch, um den Giftpfeilen auszuweichen. Marek und Batiste lösten sich von seinen Seiten und schlugen jeweils einen Bogen, um den Söldnern in die Flanken zu fallen. Während sie zum Nahkampf übergingen, rannten die Wissenschaftler panisch davon. Im Augenwinkel sah der Leibwächter, dass sie auf eine Tür am anderen Ende der Halle zuliefen. Darum würden sie sich nach den Söldnern kümmern. Marek wich einem Schlag seines Gegners aus und hieb mit seinem Dolch nach seinem Oberschenkel. Dabei traf ihn ein Giftpfeil in den Arm. Der Mann auf der Plattform musste zuerst auf ihn gezielt haben. Achilleas hatte bereits einen Söldner mit dem Speer erwischt und stützte sich auf Batistes Schulter ab, sodass er sofort herumwirbeln und wieder zustoßen konnte. Seinen eigenen Gegner rammte Marek so hart, dass sie gegen eine Panzerglaswand krachten und er ihm den Brustkorb quetschte. Ihre simple Taktik ging auf. Sie waren nah genug an die Söldner herangekommen um ihre Überlegenheit im Nahkampf zu nutzen. Der Leibwächter wagte einen erneuten Blick zu den flüchtenden Wissenschaftlern. Sie blieben wie versteinert stehen, als ein Körper vor ihnen auf dem Boden aufschlug. Mira hatte das Gemetzel umgangen und den Schützen auf dem Plateau übernommen, während er, Achilleas und Batiste die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Die drei Sterblichen wichen zögerlich vor ihr zurück. Marek köpfte den Mann, den er gegen die Scheibe gerammt hatte. Gemeinsam mit Batiste überwältigte er auch den letzten Söldner. Anschließend zog der Leibwächter den Pfeil aus seinem Fleisch. Die Einstichstelle brannte und es breitete sich in seinem Körper aus. Aber dank Miras Wärme würde Marek es problemlos überwinden. Sein Gebieter und Batiste hatten ebenfalls leichte Blessuren davon getragen. Nichts, worum man sich sorgen musste. Jetzt hatten sie Zeit, das Labor genauer zu betrachten. Die meisten Zellen waren leer. An der Innenseite einer Scheibe klebte geronnenes Blut. Im nächsten Panzerglaskubus lag ein Vampir auf einer Pritsche. Ein bitterer Geruch lag in der Luft, den Marek noch nicht aus den Laboren kannte.

„Was habt ihr angerichtet?“, fragte Mira leise aber bestimmt. Die Wissenschaftler sahen verängstigt zwischen ihr und Achilleas hin und her. Es waren zwei Männer und eine Frau.

„Bitte… lasst uns gehen“, stammelte der jüngste von ihnen. „Wir haben nur Anweisungen befolgt.“

„Für die ihr bezahlt werdet“, stellte die Tageswandlerin fest. „Was habt ihr hier getan?“

Der Nachdruck in ihrer Stimme war unmissverständlich. Die eingekreisten Sterblichen rückten noch näher zusammen.

„Wir haben getestet, ob man Vampire zu Hybriden machen kann. Aber…“ Der Laborassistent schob sich hinter die einzige Frau im Team. Achilleas setzte geräuschvoll das stumpfe Ende seines Speers auf, um zu signalisieren, dass er ungeduldig wurde. Außerdem bewegte er sich langsam aber stetig auf die kleine Gruppe zu.

„Es geht nicht!“, stieß die Frau hervor. „Selbst wenn wir die Reihe noch länger laufen lassen würden.“

„Nichts kommt gegen euer verfluchtes Blut an!“ Der Wissenschaftler, der sich hinter ihr versteckt hatte, zog einen eiförmigen, metallischen Gegenstand aus der Kitteltasche und warf ihn Achilleas vor die Füße. Nach einem Knall stieg rasend schnell dichter Rauch auf, der ihnen die Sicht nahm. Marek hörte ihre hastigen Schritte. Sie mussten wirklich verzweifelt sein, wenn sie hofften, ihnen auf diese Weise zu entkommen.

„Berührt den Rauch nicht!“, befahl sein Gebieter und wich ein paar Schritte zurück. Er zeigte ihnen seine linke Handfläche. Es sah aus, als wäre seine Haut verätzt worden. Hinter dem dunklen Qualm ertönten Schreie, als Mira die Wissenschaftler nacheinander erwischte. Ein schriller Alarm übertönte sie, als der Rauch die Decke erreichte. Marek vermutete, dass es sich um einen Rauchmelder handelte, denn er schaltete sich automatisch ab, nachdem eine altersschwach surrende Entlüftungsanlage angesprungen war. Nach und nach verzog sich der Rauch und gab den Blick auf Mira frei. Sie hielt die Laborassistentin an den Haaren gepackt. Ihre Kollegen wanden sich am Boden.

„Das war unklug.“

„Bitte nicht“, wimmerte die Sterbliche.

„Wir nehmen sie nicht mit“, sagte Achilleas kühl. Selbst wenn sie sich nicht gewehrt hätten, wären die Assistenten von Dr. Morgan wohl kaum als Blutsklaven in Frage gekommen. Marek und Batiste machten es kurz und schmerzlos. Mira sah sich derweil die Hand des Ältesten an. „Es heilt bereits. Dieses Kampfgas ist wohl noch nicht ganz ausgereift.“

„Aber wir sind vorgewarnt.“ Sein Gebieter betrachtete die Zellen. „Durchsucht alles.“

Er selbst ging zu dem Kubus zurück, in dem sie bereits einen Vampir entdeckt hatten. Zum Glück war die Steuerung für die Zellentür nicht verschlüsselt. Achilleas hob den Vampir von seiner Pritsche und trug ihn zum Operationstisch, der auf dem Gang zwischen den Zellen stand. Marek trat an seine Seite, nachdem er seinen Abschnitt der Panzerglaskuben ergebnislos abgegangen war. Der Vampir vor ihnen sah fürchterlich aus. Sein Gesicht war eingefallen, seine Haut rissig, die Lippen aufgesprungen. Sein linker Arm war mit dunklem, dichtem Fell bedeckt.

„Das kommt also dabei heraus, wenn man versucht, uns in eine Tiergestalt zu zwingen“, sagte Marek leise.

„Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll.“ Sein Gebieter rieb sich die Stirn, dann ritzte er sein Handgelenk auf, um dem Vampir sein Blut zu geben. Er öffnete nach kaum einem Atemzug die Augen.

„Nicht“, flüsterte er heiser. „Es…“

„Ja?“, Achilleas legte ihm die Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm herunter.

„Es wird nicht zurückgehen. Bei den anderen war es auch so. Mein Körper ist von innen zerstört.“

„Wie ist dein Name?“

„Wassilij.“

„Was kann ich für dich tun, Wassilij?“

„Erlöse mich, Gebieter“, flehte der Vampir. Achilleas richtete sich auf. Marek reichte ihm sein Schwert.

„Wie du wünschst. Wem werde ich es sagen müssen?“

„Jasmina.“ Er schloss die Augen. „Meine Gefährtin ist bereits tot.“

Der Älteste nickte verständnisvoll und erfüllte seine letzte Bitte.

„Wo ist Leandros?“, fragte er anschließend tonlos.

„Hier“, rief Mira aus einer der Zellen. Ihre Stimme klang mehr als beunruhigt. Marek und sein Gebieter eilten hinüber. Sie drückte beide Hände auf seine Brust. Leandros‘ Körper war mit Wunden übersät, aber er zeigte noch keine äußerlichen Veränderungen wie Wassilij. Marek blieb am Kopfende der Pritsche stehen. Als sein alter Waffenbruder die Augen öffnete, versuchte er ein Lächeln.

„Du? Ausgerechnet.“ Leandros schien wenig begeistert. Der Leibwächter schnaubte belustigt. „Du hast mir auch gefehlt, alter Freund.“

„Es geht ihm also bestens.“ Achilleas klang überaus erleichtert. Wenigstens seinen Humor hatte Leandros nicht verloren. Mira schüttelte sacht den Kopf. „Irgendwas ist anders. Wärme allein genügt nicht. Ich werde ihm Blut geben.“

„Tu das. Wir entsorgen die Leichen.“

„Ich hätte da einen Vorschlag, Gebieter.“ Batiste erschien an der Zellentür. „In der nächsten Halle befindet sich ein Hochofen, der immer noch in Betrieb ist. Darin haben sie auch diejenigen verbrannt, die wir draußen riechen konnten. Da bleiben wirklich keinerlei Spuren.“

„Dann nutzen wir diese Gelegenheit.“ Der Älteste verließ Leandros‘ Zelle und packte einen der Laborassistenten am Kragen seines Kittels. Plötzlich hielt er jedoch inne und lauschte. Seine Leibwächter taten es ihm aus Gewohnheit nach.

„Klingt, als wäre da noch jemand“, merkte Marek an. Batiste warf ihrem Gebieter einen fragenden Blick zu. Achilleas bedeutete ihm, bei Leandros und der Tageswandlerin zu bleiben. „Es ist nur ein Mensch. Marek und ich kümmern uns darum.“

Seinen Speer nahm der Älteste auch nicht mit. Wahrscheinlich handelte es sich um einen weiteren Wissenschaftler, der aus dem entfernten Gebäudetrakt zu fliehen versuchte. Eilig schlichen sie vorwärts. Überraschenderweise entfernten die fremden Schritte sich nicht von ihnen.

„Kommt derjenige auf uns zu?“, fragte der Leibwächter ungläubig.

„Du liegst richtig. Und es ist eine Frau.“ Achilleas wies in den Gang links von ihnen. „Wir kreisen sie ein.“

Marek sprintete in einem parallel verlaufenden Korridor an ihr vorbei. Allerdings fand er vorerst keine Abzweigung, durch die er hinter die Sterbliche gelangen konnte.

„Wer ist da?“, hörte er sie rufen. Angst schien sie nicht zu haben. Endlich konnte der Leibwächter in die richtige Richtung abbiegen und zurücklaufen. Einige Meter hinter ihr wurde er langsamer und begann, sich anzuschleichen.

„Das wollte ich auch gerade fragen“, antwortete Achilleas. Marek konnte ihn jetzt sehen. Er und die Sterbliche standen sich mittlerweile auf dem Korridor gegenüber. Sie zielte mit einer Pistole auf ihn.

„Und Sie werden sich zuerst vorstellen“, fügte der Älteste hinzu. Die Sterbliche gab sich immer noch unbeeindruckt. „Warum fangen wir nicht mit dem Kerl hinter mir an?“

Marek hielt irritiert inne. Wie hatte sie ihn bemerkt?

„Der gehört doch zu Ihnen, oder nicht?“, fragte die Sterbliche fordernd.

„Beeindruckende Instinkte“, gestand Achilleas ihr zu und setzte sich wieder in Bewegung. „Also, mit wem habe ich die Ehre? Arbeiten Sie für die Firma?“

„Nein. Sie etwa?“

Der Älteste schüttelte den Kopf. „Ich bin hier, um sie zu vernichten. Worin besteht Ihr Interesse?“

„Keinen Schritt näher!“ Ihr Tonfall blieb barsch und erstaunlich selbstsicher. „Sagen wir, ich vertrete internationale Interessen. Was wissen Sie über diese Firma?“

Achilleas machte noch einen Schritt auf sie zu.

„Bleiben Sie stehen, oder ich schieße!“

„Ich schlage vor, wir…“

Ein lauter Knall unterbrach ihn im Satz sowie in der Bewegung. Die Sterbliche hatte tatsächlich auf ihn geschossen. Marek löste sich aus seinem Versteck hinter einer hohen Kiste, um einzugreifen. Warum auch immer sein Gebieter es darauf hatte ankommen lassen, ob sie wirklich schießen würde, noch einmal würde sie es nicht tun. Als er von hinten nach ihr greifen wollte, schnellte die Sterbliche herum. Marek packte nur einen Wimpernschlag, bevor sie erneut abdrücken konnte, ihr Handgelenk und lenkte den Schuss nach oben ab. Anschließend bekam er auch ihre zweite Hand zu fassen, verdrehte ihr die Arme so, dass sich der Lauf der Waffe oberhalb ihres Kehlkopfes in ihren Unterkiefer bohrte, und zwang sie in die Knie. Ihr Widerstand war für eine Sterbliche nicht zu verachten. Achilleas hatte sich nicht gerührt. Verblüfft betrachtete er seinen blutenden Oberschenkel. „Das ist wesentlich schmerzhafter, als ich dachte.“

Die Sterbliche fluchte leise auf Französisch. „Unter was für Drogen steht ihr denn?“

„Verzichten wir ab jetzt auf Förmlichkeiten. Wie kommst du darauf?“, fragte der Älteste immer noch freundlich. Marek juckte es in den Fingern, ihr mindestens die Arme zu brechen.

„Mit so einer Verletzung geht man zu Boden.“ Langsam schlich sich Unsicherheit in ihre Stimme. „Normalerweise.“

„So schlimm ist es auch nicht.“ Achilleas näherte sich ihnen und streckte die Hand aus. „Die Waffe.“

Damit sie ihre Pistole übergeben konnte, würde Marek sie aus seinem Griff entlassen müssen. Er schaute seinen Gebieter ungläubig an.

„Bitte“, fügte dieser nachdrücklich hinzu. Der Leibwächter bog die Arme der Sterblichen wieder zurück, sodass sie die Waffe nur noch in Achilleas‘ Hand legen musste.

„Was sagt mir, dass du mich nicht sofort tötest?“, fragte sie.

„Du hast mein Wort.“

„Aha.“ Es überzeugte sie offensichtlich nicht.

„Hat das unter den Sterblichen denn gar keine Bedeutung mehr?“, fragte Achilleas ernst.

„Nein“, brummte Marek, woraufhin sein Gebieter die Waffe an sich nahm.

„Sterbliche?“, hakte sie nach. „Was zum Teufel geht hier vor?“

„Das erfährst du früh genug.“ Achilleas bedeutete ihm, die Frau mitzunehmen. „Ich komme gleich nach. Ich sehe mir nur noch die Kommandozentrale an.“

Leandros war fürs Erste versorgt. Mira richtete sich auf und sah sich um. Dieses Labor der Firma war ausgestattet wie jedes andere, nur das Panzerglas der Zellen war noch dicker. Sie hatten also geahnt, dass ihre Experimente schief gehen würden. Batiste schleifte gerade den letzten Toten aus dem Raum. Leandros griff nach Miras Arm. Er hatte immerhin schon die Kraft, sie am Ärmel zu zupfen. „Ich danke dir.“

„Tu das, wenn wir Gewissheit haben, dass du es überlebst.“ Sie versuchte ein Lächeln, es gelang ihr aber nicht ganz. Leandros schloss die Augen. „Wo ist Kila? Ist sie in Sicherheit?“

„Sie kämpft mit uns. In diesem Moment kreist sie über uns, um uns vor weiteren Feinden warnen zu können.“

In Sicherheit war die Adlerfrau folglich nicht. Dennoch wirkte der Leibwächter sehr erleichtert. „Natürlich tut sie das.“

Mira strich noch einmal über die Platzwunde an seinem Kopf. Wenigstens seine sichtbaren Verletzungen begannen zu heilen.

„Vorwärts!“, befahl Marek auf dem Gang zum Labor. Mira wandte sich mit einem unguten Gefühl um. Wen hatten er und Achilleas im Gebäude noch aufgegriffen? Er stieß eine Sterbliche vor sich her. Sie gehörte offensichtlich nicht zur Firma, und da sie wirklich nur ein Mensch war, war sie wohl auch kein Forschungsobjekt.

„Wen haben wir denn da?“, fragte Batiste interessiert. Marek blieb mitten im Raum stehen und hielt ihren Oberarm gepackt. „Sie weigert sich, etwas zu sagen. Gib mir irgendwas, womit ich sie fesseln kann.“

Batiste reichte ihm ein paar Kabelbinder. Während der Leibwächter ihr die Hände auf den Rücken fesselte, verzog die Sterbliche keine Miene. Mira bemerkte jedoch, dass sie Leandros betrachtete und sich auch sonst sehr genau umsah.

„Was hat da eben eigentlich solchen Lärm gemacht?“, wollte Batiste wissen.

„Sie hat Achilleas angeschossen!“ Marek konnte offenbar immer noch nicht glauben, dass der Älteste es fürs Erste hingenommen hatte. Mira hob verblüfft die Brauen.

„Ouh…“, Batiste verzog das Gesicht. „Das wird teuer, meine Liebe.“

Der amüsierte Unterton in seiner Stimme ließ die Sterbliche erstaunlich kalt. Sie schien sich nicht das erste Mal in Gefahr zu befinden.

„Wer bist du?“, fragte Mira. Die dunklen Augen ihres Gegenübers musterten sie nur eindringlich.

„Hast du sie durchsucht?“, fragte sie an Marek gewandt. Bestimmt hatte sie ein Portemonnaie und einen Ausweis bei sich. Der Leibwächter schüttelte den Kopf. Auch wenn es sich bei ihr um Achilleas‘ Kriegsbeute handeln mochte, holte die Vampirin es nach und fand tatsächlich ein Messer im Schaft ihres Stiefels. Marek nahm es mit einem wütenden Schnauben entgegen und steckte es ein. Weitere Waffen hatte die Sterbliche nicht bei sich, aber ein Handy. Auch dieses landete in Mareks Gewahrsam. Als Mira die Hand in die Innentasche ihrer Jacke schob, wehrte sie sich schon etwas mehr. Die Vampirin bekam etwas Schmales aus Leder zu fassen. Es war jedoch kein Portemonnaie, sondern eine Dienstmarke.

„Du bist von Interpol“, stellte Mira zufrieden fest. „Virginie Roussel.“

„Also eine Agentin?“, wollte Batiste wissen.

„Korrekt“, gab Virginie kühl zurück.

„Mein Name ist Mira. Wonach hast du hier gesucht? Ermittelst du gegen diese Firma?“

Die Interpol-Agentin neigte nur leicht den Kopf, was wohl Zustimmung bedeutete.

„Wenn ja, sind wir nicht deine Feinde.“ Die Tageswandlerin betrachtete die Dienstmarke erneut. Das Emblem zeigte eine Weltkugel eingerahmt von einem Blätterkranz und einem Schriftzug, dahinter ein Schwert und eine Waage. Es interessierte sie enorm, wie Interpol auf die Firma aufmerksam geworden war. Vielleicht waren sie gerade auf unverhoffte Verbündete gestoßen.

„Du bist Belgierin“, riet Virginie. Miras Akzent war für die Französin unverkennbar.

„Woher stammen diese beiden… Gentlemen?“

Sie schob die Dienstmarke zurück in die Jackentasche der Agentin. „Nationalität spielt unter uns keine Rolle.“

„Was dann?“

„Loyalität.“ Mira wägte ab, ob sie ihr bereits jetzt zeigen sollte, was sie wirklich waren. Bevor sie eine Entscheidung traf, kehrte Achilleas zu ihnen zurück. Er faltete ein paar Bögen Papier zusammen und steckte sie in die Jackentasche. „Die Computer und Kameras sind erledigt. Seid ihr soweit?“

Batiste nickte ihm zu, ohne etwas über die Leichen zu sagen.

„Gut.“ Der Älteste blieb neben Mira stehen und betrachtete seine Gefangene. Virginie war unbestreitbar hübsch und nur unwesentlich kleiner als die Tageswandlerin. Ihr schwarzes Haar war zu einem strengen Zopf zurückgebunden, ihre dunkle Haut makellos. Der dunkelgraue Trenchcoat war funktional und schmeichelte dennoch ihrer sportlichen Figur. Je länger Mira sie beobachtete, desto sicherer war sie sich, dass diese warmen, dunklen Augen schon einige menschliche Abgründe gesehen hatten. Sie schätzte Virginie auf Mitte dreißig, vielleicht etwas älter.

„Wir sollten mit ihr reden, bevor wir zum Hubschrauber gehen. Die Arbeiter könnten uns sehen“, merkte sie an. Sie würden Leandros tragen müssen, aber das war immer noch weniger verdächtig als eine gefesselte Frau, die sich wehrte. Marek reichte Achilleas das Messer, das Mira in ihrem Stiefel gefunden hatte. „Das gehört ihr.“

„Du kämpfst nicht zum ersten Mal“, stellte der Älteste interessiert fest. „Kläre mich über diese internationalen Interessen auf.“

„Ich ermittle gegen diese ominöse Firma, die nirgendwo gemeldet ist“, sagte die Agentin knapp.

„Weswegen?“, hakte Mira nach. Einen Moment schien sie abzuwägen, ob sie weiter auf ihrer abweisenden Position beharren sollte. Dann lenkte Virginie ein. „Der offizielle Verdacht lautet Veruntreuung von Investitionsgeldern. Die Anzeige war anonym und wurde inzwischen wieder zurückgezogen. Aber ich habe eines dieser… Labore im verlassenen Zustand in Nordfrankreich gefunden. Einiges deutet auf illegale Versuche an Menschen hin.“

„Und deshalb machst du weiter“, stellte Mira fest. „Wie viele Agenten unterstützen dich?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe mich allein in dieser Sache festgebissen.“

„Weiß jemand, dass du hier bist?“

„Natürlich weiß mein Vorgesetzter, wo ich bin.“

Achilleas‘ Augen wurden schmal. „Bist du sicher?“

Virginie wandte ihm den Blick zu. Vom außergewöhnlichen Gehör des Ältesten konnte sie selbstverständlich nichts wissen.

„Das hast du gesagt, um dich zu schützen, aber es stimmt nicht ganz, nicht wahr?“, mischte Mira sich schnell ein. „Deinen exakten Standort kennt er nicht.“

„Nein, er weiß nur, wohin ich geflogen bin“, gab die Agentin zu. Das kam Miras Idee sehr entgegen. Sie beschloss, es Achilleas zu erklären. „Sie könnte uns eine große Hilfe sein.“

„Inwiefern? Denkst du, du findest mit ihr die Quelle des Geldes, um der Firma den Nachschub abzuschneiden?“

„Möglich, aber mir geht es um etwas anderes.“ Mira wandte den Blick wieder der Agentin zu. Die Selbstverständlichkeit, mit der Virginie ihr trotz allem standhielt, machte sie ihr sympathisch. Fremde Vampire scheuten mittlerweile den direkten Blickkontakt zu ihr wie zu den Ältesten. Es mochte respektvoll sein, doch Mira fühlte sich wesentlich wohler, wenn sie ihr offen begegneten.

„Selbst wenn es uns gelingt, die Firma zu vernichten, hinterlässt sie Spuren. Die Anzeige wurde fallen gelassen, aber es gibt einen Akteneintrag. Mit ihrer Hilfe können wir die Spuren vielleicht verwischen.“

Achilleas nickte langsam. Die Agentin hob gespannt die Brauen. „Ich war ehrlich zu euch. Jetzt seid ihr dran. Wer seid ihr? Irgendwelche Special Forces, bloß ohne die obligatorische Kriegsbemalung?“

„Stellen wir ihr Kila vor“, sagte der Älteste und hob Leandros behutsam auf seine Schultern. Damit vermied er fürs Erste, ihr die Verwandlung der Vampire zu zeigen. Stattdessen würde Virginie gleich den nahtlosen Übergang vom Adler zur zierlichen Frau sehen. Mira bezweifelte im Stillen, dass dies ein schonenderer Weg der Erkenntnis war. Aber sie wollte Achilleas in dieser Sache nicht widersprechen. Seine Leibwächter flankierten ihn wie sein eigener Schatten, während sie die Agentin am Arm hinter ihm her führte. Ihr Atem blieb ruhig und gleichmäßig, obwohl sie eine tiefe Blutlache am Ausgang passierten. Wenige Atemzüge nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, landete Kila wie erwartet zwischen ihnen und einem Container, wobei sie ihre menschliche Gestalt annahm. Mira spürte, wie Virginie jeden Muskel anspannte.

„Was zur Hölle geht hier vor?“, murmelte sie ungläubig. Sie beobachtete die Szene wie gebannt.

„Wie geht es dir?“, fragte die Adlerfrau und berührte das Gesicht ihres Gefährten.

„Mach dir keine Sorgen“, gab Leandros leise zurück. Es klang unendlich müde.

„Gib ihn mir, ich trage ihn“, forderte Kila. Ihr standen Tränen der Erleichterung in den Augen. Achilleas kam ihrem Wunsch mit einem Lächeln nach. Dann ließ er sich zu Mira und der Interpol-Agentin zurückfallen, während sich die Gruppe im Schatten der Gebäude vorwärts bewegte.

„Willkommen unter den Unsterblichen“, flüsterte Achilleas. Virginie erwiderte nichts und starrte Kila immer noch wie versteinert an.

„Die Adlerfrau, deren Verwandlung du gerade gesehen hast, ist eine Gestaltwandlerin. Meine Männer und ich sind Schattenwandler. Das bezaubernde Geschöpf an deiner Seite ebenso.“

„Schatten… was?“ Zum ersten Mal lag ein Hauch von Angst in ihrer Stimme.

„Vampire“, erklärte Mira den altmodischen Begriff. Was sie von Achilleas und den anderen unterschied, würde sie der Agentin noch nicht sagen. Sie wehrte sich jetzt schon stärker gegen ihren Griff, was Mira ihr nicht verdenken konnte. Obwohl sie auf dem Rückweg zum Hubschrauber das Industriegebiet auf einer Nebenstraße umgingen, befanden sie sich in der Nähe von Menschen. Bevor Virginie auf die Idee kam zu schreien, musste Mira sie beruhigen. Sie blieb stehen und drehte die Agentin zu sich um.

„Das ist nicht möglich! So etwas gibt es nicht“, stammelte sie.

„Ich fürchte doch. Aber wie ich bereits sagte, sind wir nicht deine Feinde. Zum Beweis werde ich jetzt deine Fesseln durchschneiden.“

Um sie trotzdem unter Kontrolle behalten zu können, hielt Mira sie immer noch mit einer Hand fest. Der Kabelbinder schnürte so tief in ihre Haut, dass es bestimmt schmerzte. Die Agentin hatte sich jedoch nichts anmerken lassen. Achilleas behielt sie ebenfalls genauestens im Auge, während sie kurz und geistesabwesend über ihre Handgelenke rieb. Ihr Puls beruhigte sich nicht im Geringsten.

„In was bin ich hier reingeraten?“, fragte Virginie, als sie ihren Weg fortsetzten. „Vampire sind nur Legenden!“

„Wir haben uns versteckt, um den Frieden zu wahren“, erklärte der Älteste bereitwillig. „Vor etwas mehr als einem Jahr wurden wir verraten. Seitdem setzt diese Firma alles daran, uns zu vernichten.“

„Um es mit uns aufnehmen zu können, haben sie künstliche Hybriden erzeugt, die die Stärken unserer Rassen auf sich vereinen“, ergänzte Mira. „Das erklärt hoffentlich, was du in diesem Labor vorgefunden hast.“

Virginie schwieg, bis sie den Hubschrauber erreichten. Kila stieg trotz Leandros‘ Gewicht mühelos mit ihm in den Laderaum.

„Beweise“, sagte die Agentin unwirsch. „Die Adlerfrau kann eine optische Täuschung gewesen sein. Und das fehlende Schmerzempfinden lässt sich durch Drogen erklären. Ich will Beweise!“

Achilleas übergab Marek seinen Speer, dann wandte er sich wieder zu ihr um. „Ich hatte gehofft, Kila wäre Beweis genug, aber ich habe mich wohl geirrt. Sieh genau hin.“

Mira hatte noch nie einen Menschen über die Existenz der Unsterblichen aufklären müssen. Sie beobachtete Virginies Miene ganz genau, während die Augen des Ältesten betont langsam das stechende Eisblau der Vampire annahmen. Niemand sonst hatte die Verwandlung so gut unter Kontrolle wie er. Der Agentin stockte der Atem. Jetzt glaubte sie ihnen, auch wenn sie nicht gebissen worden war.

„Und wie geht es jetzt weiter?“ Sie brauchte vielleicht noch eine Weile, um sich wieder zu fangen, aber ihren Mut verlor Virginie deshalb nicht. Achilleas hob beeindruckt die Brauen.

„Du kommst als mein Gast mit uns. Wir werden sehen, ob wir Miras Idee umsetzen.“ Der Älteste zog ein Messer hervor. „Ich bedauere, dass es da einen lästigen Brauch unter uns gibt, was die Gegenwart von Sterblichen betrifft.“

Er wollte ihr sein Sklavensiegel verpassen. Mira erinnerte sich gut daran, wie erniedrigend es sich damals angefühlt hatte, auch wenn Anzheru sie auf diesem Weg beschützt hatte. Das würde es erschweren, Virginie für ihre Sache zu gewinnen. Sie legte dem Ältesten eine Hand auf den Arm. „Nicht in meinem Haus!“

„Bist du sicher?“

„Niemand wird sie anrühren. Du hast mein Wort.“

Virginie

Der Hubschrauber setzte sanft auf dem Landeplatz vor Anzherus Hauptquartier auf. Fliegen lag Achilleas wesentlich besser als Autofahren. Der Motorlärm dröhnte ihm zwar noch lauter in den Ohren, aber wenigstens musste er keine Spuren halten oder Geschwindigkeitsbegrenzungen beachten. Er stellte die Rotoren ab und stieg aus dem Cockpit. Mira hatte neben ihm gesessen und ging nun mit ihm zur Frachtraumluke. Zuerst kletterte Kila mit Leandros heraus. Asheroths oberster Leibwächter war mittlerweile eingeschlafen, aber daran schien sich seine Gefährtin nicht zu stören. Mit einem fröhlichen Lächeln trug sie ihn zum Haus. Hinter ihr stieg Batiste aus, dann Virginie und abschließend Marek. Die Agentin betrachtete die Umgebung sehr genau. Vielleicht zählte sie sogar, mit wie vielen Vampiren sie es zu tun hatte. Achilleas kannte diesen taxierenden Blick nur zu gut aus früheren Kämpfen. Der schwarze Panther, der lautlos an ihnen vorbei schlich, fesselte jedoch ihre Aufmerksamkeit. Marcus nahm seine menschliche Gestalt an.

„Ihr habt eine von denen mitgenommen?“, fragte er skeptisch. „Weiß sie etwas über unsere Vermissten?“

„Nein, sie ist keine Laborassistentin“, antwortete Mira.

„Ich bin von Interpol“, ergänzte Virginie mit fester Stimme.

„Und das bedeutet?“ Der Panther richtete seine Frage immer noch an die Tageswandlerin.

„Dass sie unser Gast ist. Komm mit herein. Wir sollten unseren nächsten Schritt besprechen.“ Mira ging voran ins Hauptquartier. Anzheru begegnete ihnen in der Eingangshalle und küsste seine Gefährtin zur Begrüßung auf die Wange. Die Agentin hielt seinem forschenden Blick stand, kam ihm allerdings nicht näher als nötig. Während sie auf Asheroth und Freya warteten, betraten mit den Leibwächtern auch Jacky und Letizia den Saal. Unvermittelt starrten sie Virginie an.

„Was ist mit den beiden?“, fragte sie leise. Da die Vampirinnen sie trotzdem hören konnten, wandten sie sich gezwungen ab.

„Beunruhigen sie dich?“, wollte Achilleas wissen.

„Sie wirken so… hungrig.“

„Das liegt an deinem Geruch.“

Virginie sah ungläubig zu ihm auf, nahm seine Antwort jedoch vorerst kommentarlos hin.

„Wo steckt Igor?“, fragte Marcus. Freya blieb nur wenige Schritte von ihm entfernt stehen und verschränkte die Finger. „Wir werden auf seine Gesellschaft verzichten müssen.“

Ihrem Tonfall nach würde sie es ihm später erklären, wenn weniger Ohren lauschten. Achilleas hatte den Hyänenmann zuletzt gesehen, als er mit Shaun trainiert hatte. Igor war ein sehr merkwürdiger Gestaltwandler. Meistens beobachtete er nur stumm, bei anderen Gelegenheiten stand er allein im Mittelpunkt. Er hatte sich im Kampf gegen die Firma direkt an die Vampire gewendet statt an seinesgleichen. Und obendrein hatte Igor sich in Jasmina verguckt, was nicht einmal seine Freunde verstanden. Was nun wieder geschehen war, machten die Gestaltwandler besser unter sich aus. Freya sah das ihrer eisernen Miene nach genauso. Asheroth betrat als letzter den Saal, woraufhin die Gespräche verstummten. Er musterte die Sterbliche an Achilleas‘ Seite missbilligend. „Deine Kriegsbeute hat bei unserer Besprechung nichts zu suchen.“

„Das ist Virginie nicht. Wie sich zeigt, gibt es auch Menschen, die gegen die Firma kämpfen.“ Achilleas verschränkte die Arme. Er hätte ihr sein Siegel nur gegeben, um sie vor den anderen zu beschützen. Miras Einwand war ihm sehr entgegengekommen.

„Tatsächlich?“ Sein Bruder war wie so oft nicht einfach zu überzeugen. Virginie schwieg erstaunlicherweise. Ob Asheroth sie wirklich so sehr einschüchterte, konnte der Spartaner leider nicht in ihren schönen dunklen Augen ablesen. Die Agentin schien sehr sorgfältig abzuwägen, wann sie etwas erwiderte.

„Wie viele?“, wollte Asheroth wissen.

„Nur sie weiß von uns. Das heißt, noch sind wir im Verborgenen. Lass es uns versuchen“, sagte Mira.

„Solange sie keine Armee vorweisen kann, obliegt sie deiner Verantwortung.“

„Wie du wünschst.“ Sie stellte der Agentin kurz ihre Familie und ein paar andere namentlich vor.

„Guten Tag“, sagte Virginie höflich, obwohl ihr nur skeptische Blicke zugeworfen wurden. Jacky versuchte als einzige ein Lächeln. Achilleas war allerdings aufgefallen, dass sie nicht mehr atmete, seit sie die Sterbliche entdeckt hatte. Der Durst musste inzwischen unerträglich sein.

„Warst du schon bei Leandros?“, fragte die Tageswandlerin anschließend. Asheroth nickte. „Erkläre uns trotzdem, was vorgefallen ist.“

„In dem Labor in Finnland, zu dem du uns geschickt hast, haben sie versucht, Vampire zu Hybriden umzuformen. Damit haben sie denjenigen schwer geschadet. Bis auf Leandros und einen Vampir aus Jasminas Clan waren alle bereits tot und verbrannt, als wir eingetroffen sind.“

Ein düsteres Raunen ging durch den Raum. Anzherus Leibwachen wirkten nur kurz bestürzt, dann wütend.

„Ich habe Autopsieberichte aus der Zentrale mitgenommen“, ergänzte Achilleas und zog die Seiten hervor, die er mitgenommen hatte. „Je jünger die Vampire waren, desto schneller ging die innerliche Vergiftung voran. Leandros war der älteste in dieser irrsinnigen Testreihe. Vermutlich schlägt sein Herz deshalb noch.“

„Das denke ich auch“, merkte Asheroth an.

„Wir haben vier Vampire und einen Gestaltwandler zu beklagen. Ich werde es Jasmina mitteilen, sobald sie zurück ist.“

Die Notizen über den Gestaltwandler reichte er an Marcus weiter. Der Panthermann legte die Stirn in Falten. „Das ist einer von Darius‘ Raben.“

„Darius ist der Bär, der derzeit die Europäischen Gestaltwandler führt?“, fragte Freya.

„Korrekt“, bestätigte Asheroth. „Wann hast du zum letzten Mal mit ihm gesprochen?“

„An dem Tag, an dem ihr Aberdeen an die Firma verloren habt.“ Marcus holte sein Telefon hervor und tippte eine Nummer ein. Nach ein paar Freizeichen meldete sich nur eine Mailbox.

„Sehen wir lieber nach ihnen?“, fragte er beunruhigt.

„Ich bin dafür“, sagte Anzheru. Asheroth wandte sich an Freya. „Hast du etwas wahrgenommen? Ich dieses Mal nicht.“

Die Eulenfrau verneinte. „Einen Großangriff auf sie hätte ich hoffentlich bemerkt.“

„Wir sichern uns trotzdem ab. Die Firma scheint Material zu beschaffen.“ Achilleas versuchte erst gar nicht, es zu beschönigen. Sein Bruder nickte ihm kaum merklich zu. Damit mussten sie nur noch entscheiden, wer sich auf den Weg machen würde.

„Elvera und Jasmina sind am Tor eingetroffen“, meldete Yvette bei einem Blick auf ihr Handy. „Sie bringen einen gewissen Philippe mit.“

Letizia horchte merklich auf, während sich Asheroths Miene verfinsterte.

„Nur ihn?“, fragte er.

„Ja.“

Mira erklärte den anderen, dass es sich um einen geborenen Werwolf und Vincents Großneffen handelte. Wer auch immer das sein mochte. Die Interpol-Agentin hörte genau zu, dann lehnte sie sich näher zu Achilleas hinüber. Nach Gestaltwandlern und Vampiren überraschten sie Werwölfe nicht mehr allzu sehr, sie wollte dennoch sicher gehen. „Worauf muss ich mich noch einstellen?“

„Hybriden, aber mehr unsterbliche Rassen gibt es nicht. Das kann ich dir garantieren, Virginie.“

„Verstehe. Und könnten wir uns vielleicht auf Gigi einigen? Virginie ist der Name meiner Großmutter. Ich fühle mich sonst nicht angesprochen.“

„Wie du meinst.“ Achilleas wirkte ein wenig überrascht. Gigi würde es schlicht helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Als sie in das Labor bei Lille eingestiegen war, hatte sie geahnt, dass sie einer absonderlichen Sache auf der Spur war. Aber das hier überstieg ihre kühnsten Vorstellungen. Wie alt und mächtig mochten die Anwesenden sein? Was war dran an den Legenden? Und inwiefern konnte sie überhaupt etwas gegen die Firma ausrichten, wenn nichts hiervon je an die Öffentlichkeit durfte? Mehr noch, nicht einmal ihre Kollegen würden etwas erfahren. Dabei würde ihr sowieso niemand glauben, was hier vor sich ging. Gigi verkniff sich ein Gähnen, während sie auf die Ankunft der angekündigten Vampire warteten. Es war bereits Morgen. Sie hatte seit dem Vortag nicht mehr geschlafen und langsam fiel es ihr schwer, ihre Müdigkeit zu verbergen. Die Türen zum Saal wurden geöffnet. Zwei fahle Frauen marschierten vorweg, die eine stahlblond und mit stechend blauen Augen, die andere mit dunklem Haar und wesentlich weicheren Zügen. Man hätte sie leicht für einen Menschen halten können. Hinter ihnen folgten zwei Männer mit einem Jungen in der Mitte, bei dem es sich um besagten Philippe handeln musste. Er schaute sich verunsichert um und winkte dem Mädchen mit den ständigen Vampiraugen, das ihren Hunger nun vergessen hatte. Sie lächelte strahlend zurück.

„Hallo, Philippe. Willkommen in meinem Haus“, begrüßte ihn Anzheru.

„Haben die Werwölfe Italien verlassen?“, fragte Asheroth ungeduldig.

„Nein, nur ich.“

„Und er hat uns beim Kampf gegen die Söldner unterstützt, als wir Lucías Clan zu Hilfe gekommen sind.“ Die stahlblonde große Vampirin fasste zusammen, was auf ihrer Mission geschehen war, und was Philippe ihr gestanden hatte.

„Unter diesen Umständen sehen wir über deinen Vertragsverstoß hinweg“, sagte Asheroth kühl. „Wenn du dich nützlich machen willst, musst du unseren Befehlen folgen, verstanden?“

Der Junge schluckte merklich, gab jedoch keine Widerworte. Unter den Unsterblichen herrschte offenbar eine sehr klare Hierarchie.

„Gut. Wer kennt sich im Hauptsitz der Gestaltwandler in Deutschland aus?“, fragte Achilleas und kehrte damit zum vorangegangenen Thema zurück. Der Panthermann und Asheroth meldeten sich sowie die Vampire, die Philippe hereinbegleitet hatten.

„Würdest du dich dem Team anschließen?“

Die Frage war an die zierliche Frau gerichtet, die Mira als Freya vorgestellt hatte. Sie konnte Gigi noch in keiner Weise einschätzen. Äußerlich wirkte sie harmlos, doch die anderen schienen großen Respekt vor ihr zu haben.

„Ich ziehe es vor, hierzubleiben“, sagte sie nach einem tiefen Atemzug.

„Dann begleite ich dich“, sagte Anzheru. Sein Vater nickte. „Wir brechen in einer Stunde auf.“

Damit war die Versammlung beendet. Die Vampire und Gestaltwandler verließen den Saal. Mira tippte Gigi auf die Schulter. „Komm mit.“

Marcus folgte dem Wolfsjungen namens Philippe in die Eingangshalle. Er war neugierig, denn während ihres letzten Besuchs bei Vincent war er ihm seltsamerweise nicht begegnet. Letizia und den Welpen schien einiges zu verbinden. Sie umarmte ihn, wobei seine Füße ein gutes Stück über dem Boden baumelten.

„Lass meine Rippen ganz“, sagte er mit einem breiten Grinsen. Nachdem sie ihn wieder abgesetzt hatte, zupfte Philippe sein Shirt zurecht. „Warst du beim letzten Mal nicht kleiner als ich?“

„Stimmt. Wie ist es dir ergangen?“

„Gut, danke. Ich habe viele Dinge von den Wölfen gelernt.“

Letizia nickte anerkennend. „Und wie kommst du mit Vincent zurecht?“

„Er ist… manchmal ein bisschen schwierig.“

„Das kommt mir bekannt vor“, merkte Marcus an. Er hatte den alten Leitwolf kennengelernt, als er noch unter seinen Wahnanfällen gelitten hatte. Vincent war unberechenbar gewesen. Mittlerweile war sein Verstand wieder klar, dennoch neigte er zu Überreaktionen, was für sein Rudel blutige Folgen haben konnte. Einem Kind musste Vincent in solchen Situationen mehr als beängstigend vorkommen.

„Ich grüße dich, Marcus.“ Philippe sah zu ihm auf. „Ich habe schon von dir gehört. Du bist Vincents Ausgleichsgeschöpf, nicht wahr?“

„Das ist korrekt. Vor ein paar Wochen waren meine Gefährtin und ich beim Rudel zu Besuch. Wie kommt es, dass wir uns nicht getroffen haben?“

„Da war ich mit einem der Wölfe in Rom. Vincent schickt mich regelmäßig mit auf die Streifzüge.“

„Verstehe.“ Auf diesen Routen ließ der Alpha die Grenzen seines Landes kontrollieren. Die anderen beiden Rudel machten ihm von Zeit zu Zeit Gebiete streitig. Das erklärte aber nicht, warum Vincent den Jungen nicht erwähnt hatte. Marcus würde ihn bei Gelegenheit danach fragen. Es hatte schließlich schon seit über zwei Jahrtausenden keine Welpen mehr gegeben. Freya stand am Fuß der Treppe, als würde sie auf ihn warten. Bevor er mit Asheroth aufbrach, wollte Marcus herausfinden, was mit seinem Freund geschehen war. Daher nickte er Philippe zur Verabschiedung zu. „Wenn ich zurück bin, unterhalten wir uns ausführlicher.“

„Sehr gern.“

Der Panthermann durchquerte eilig die Halle. Freya setzte sich in Bewegung, sobald er sie erreichte.

„Also, was ist mit Igor?“, fragte Marcus leise. Die Eulenfrau sah kurz über die Schulter. „Er befindet sich im Moment nicht bei uns.“

Er verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. Die ursprüngliche Gestaltwandlerin drückte sich offenbar gern kryptisch aus.

„Geht das etwas genauer?“

„Sieh selbst.“

Als sie das Gästezimmer betraten, beschlich Marcus ein ungutes Gefühl. Igor lag ausgestreckt auf dem Bett. Sein Herzschlag war verlangsamt, seine Atmung extrem flach. Ansonsten rührte er sich überhaupt nicht. Sein Zustand erinnerte an einen Sterblichen, der im Koma lag.

„Was ist geschehen?“, fragte eine wesentlich energischere Stimme hinter ihnen. Jasmina erschien in der Tür und blieb abrupt stehen. Freya trat ans Kopfende des Betts und berührte Igors Stirn. „Er hat mich gebeten, ihn auf die Reise in die andere Dimension zu schicken.“

„Warum das denn?“, fragte die geborene Vampirin. „Ich dachte, das habt ihr nur damals gemacht, um eure zweite Gestalt zu bekommen.“

„Seine Gründe sollte er dir selbst erklären, falls sein Geist zu uns zurückkehrt.“

Falls?“ Jasminas Tonfall wurde bedrohlich.

„Ich habe ihm gesagt, wie riskant es ist. Er wollte es trotzdem.“ Freya drückte die Fingerspitzen gegen Igors Schläfen. „Er ist uns nahe, aber…“

Die Vampirin atmete angestrengt aus. Marcus konnte ihre Ungeduld nur zu gut verstehen. „Ist er in Gefahr?“

„Igor ist an irgendeinem Punkt seiner Reise stehen geblieben. Je länger er in der anderen Dimension verbleibt, desto gefährlicher wird es.“

„Können wir etwas tun?“ Jasmina umgriff mit der Hand ihren Ellbogen und schaute ihn besorgt an. Freya schüttelte sacht den Kopf. „Noch nicht. Wache über ihn.“

„Ja.“ Mit dieser Antwort war die Vampirin wohl kaum zufrieden, aber sie ließ sich auf der Bettkante nieder.

„Er wird hungrig sein, wenn er es geschafft hat.“ Die Eulenfrau versuchte ein Lächeln, bevor sie den Raum verließ. „Zumindest war es bei mir so.“

Jasmina nickte ihr zu. Marcus schloss die Tür hinter ihr und wandte sich wieder um. Die Vampirin legte eine Hand auf Igors Brustkorb. Er hatte nicht nachvollziehen können, wie diese beiden zueinandergefunden hatten. Aber offensichtlich verband sie immer noch viel, obwohl die Vampirältesten es verboten.

„Du kennst ihn schon lange?“, flüsterte Jasmina.

„Ja.“

„Warum tut er das?“

„Ich weiß es nicht. Mein Wissen über die andere Dimension ist sehr begrenzt“, gestand Marcus. Die Vampirin seufzte schwach.

„Ich muss gehen. Denkst du, deine Ältesten erlauben, dass du bei ihm bleibst?“

„Asheroth führt dein Team nach Deutschland und Achilleas besitzt im Gegensatz zu ihm ein paar Gefühle und vielleicht sogar ein wenig Verständnis. Also lasse ich es darauf ankommen.“

Der Panthermann schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich danke dir.“

Das munterte Jasmina zwar nicht auf, aber Marcus wollte ihr zeigen, dass er sich ebenfalls sorgte. Nach einem letzten Blick in Igors regloses Gesicht begab er sich nach unten.

Gigi setzte sich zu Mira an einen Tisch, auf dem etliche Landkarten ausgebreitet waren. Darauf waren einzelne Punkte markiert, ein paar von ihnen zusätzlich durchgestrichen. Achilleas gesellte sich zu ihnen. Asheroth wollte sich offenbar am Gespräch beteiligen, blieb jedoch mit verschränkten Armen und etwas Abstand zu ihnen stehen. Anzheru lehnte sich hinter seiner Gefährtin an die Wand, um zuzuhören.

„Auf diesen Karten siehst du die Stützpunkte der Firma, von denen wir wissen“, erklärte Mira. Gigi hob erstaunt die Brauen. Mit so vielen globalen Standorten hatte sie nicht gerechnet. Achilleas zeichnete sogar noch jeweils einen in Ägypten und Marokko ein.

„Ihre Einsätze hatten bis jetzt zwei Ziele. Entweder sie nehmen uns für ihre Experimente gefangen oder sie vernichten uns direkt.“

„Letztendlich haben sie es auf uns alle abgesehen“, ergänzte Achilleas. „Die Gestaltwandler ebenso.“

„Gibt es Kriterien, wonach einzelne vorerst gefangen gehalten werden?“

„Sie behalten die Stärksten, um ihr Blut zu benutzen“, grollte Asheroth leise. Gigi erschauderte leicht, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Dieser Vampir wurde ihr immer unheimlicher. Mira und Achilleas hingegen wirkten auf ihre Art vertrauenerweckend. Noch fürchtete die Agentin nicht, von ihnen angegriffen zu werden. Wie auch immer das in Wahrheit bei Vampiren aussehen mochte.

„Wofür?“

„Sie brauchen es, um Menschen zu Hybriden zu machen. Bisher zumindest.“

„Wissen diese Söldner, worauf sie sich einlassen?“ Die Agentin hatte sich schon oft darüber gewundert, was Menschen für Geld taten, aber eine Verwandlung in einen Halbvampir nahm wohl niemand freiwillig in Kauf.

„Diejenigen, die wir rekrutiert haben, wussten es nicht. Sie glaubten, sie könnten nach dieser Mission wieder Menschen sein.“ Achilleas‘ Tonfall nach war diese Idee völliger Unsinn gewesen. Gigi nahm es erst einmal als gegeben hin. Andere Dinge hatten Vorrang.

„Warum werden die Gefangenen auf die Außenposten verteilt?“, fragte sie weiter.

„Sie werden von einem Ort zum anderen geschafft, weil die Firma weiß, dass wir sie sonst leichter finden können. Frag bitte nicht, warum.“ Mira schlug die Augen nieder. Sie blieb freundlich aber bestimmt. Vermutlich widersprachen ihr nur wenige ihrer Vampire. Die Agentin nickte. „Und bisher nutzt ihr eine Guerilla-Taktik, um eure Leute zu retten.“

„Korrekt. Für einen Großangriff auf ihr Hauptquartier sind wir noch zu wenige.“ Mira tippte auf eine Markierung in Rumänien.

„Und wie, denkst du, kann ich euch helfen?“, fragte sie schließlich. „Mein Chef erklärt mich für verrückt, wenn ich eine Ermittlung wegen der Ermordung von Vampiren beginne.“

„In dieser Richtung wohl nicht. Was würdest du brauchen, um nach dem Geld zu forschen?“

„Daten“, erwiderte Gigi unschlüssig. „Wie viel Geld von wo an die Firma geflossen ist. So finde ich vielleicht heraus, wer in dieses absurde Projekt investiert hat. Mit sehr viel Glück sogar, ob echte Informationen über euch kursieren.“

„Das wäre wichtig, zu wissen.“ Mira verschränkte die Finger und stützte den Kopf auf. „Unser Ziel ist es, die Existenz der Unsterblichen wieder vollständig zu verbergen, falls wir diesen Krieg überstehen. Kannst du diesen Eintrag bei Interpol über die Anzeige wegen Veruntreuung löschen? Und zwar so, dass er nie wieder auftaucht.“

„Schwierig. Es gibt über sämtliche Daten Sicherheitskopien auf unseren Servern. Und ganz nebenbei…“ Gigi machte eine unbeholfene Geste. „Ich würde gegen einen Haufen Vorschriften verstoßen, gefeuert und eventuell selbst verhaftet werden. Ich weiß noch nicht einmal, was ich in meinen Einsatzbericht hierüber schreiben soll, ohne Verdacht zu erregen.“

Asheroth schnaubte abfällig, woraufhin Mira ihm einen kurzen Blick zuwarf.

„Wir müssen dich bitten, für uns zu lügen. Du hast überhaupt nichts Verdächtiges gefunden, diese Firma hat nie existiert. Denkst du, du kannst das?“

Achilleas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ließ sie aber nicht für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Er schien nicht einmal zu blinzeln.

„Werde ich sonst massakriert?“, fragte Gigi, um Zeit zu gewinnen. Die Vampire baten sie, gegen all ihre Prinzipien zu verstoßen. Noch nie hatte sie einen Bericht gefälscht oder unangenehme Details zu ihrem Vorteil ausgelassen. Jetzt sollte sie die Existenz einer illegalen Einrichtung leugnen, von den Unsterblichen ganz zu schweigen. Mehr noch. Wenn sie Miras Bitte erfüllte, deckte sie zwei paramilitärische Einheiten, die ohne jede Legitimation Krieg gegeneinander führten. Dabei hatte die Agentin noch nicht herausgefunden, welche Seite gefährlicher war.

„Nein. Wie auch immer deine Antwort ausfällt, du wirst uns lebend verlassen“, versprach Mira.

„Dann muss ich leider ablehnen.“ Die Agentin versuchte ein höfliches Lächeln. Sie hätte gern noch hunderte Fragen gestellt, da sie bisher vermutlich nur einen Bruchteil der Fakten kannte. Dieser Fall interessierte sie brennend und etwas sagte ihr, dass dieser Krieg so schnell wie möglich enden musste. Aber ihre Vorschriften erlaubten ihr nicht, den Vampiren zu helfen.

„Bist du dir sicher?“, fragte Achilleas mit einem harten Unterton. Mira wusste offenbar, was dieser zu bedeuten hatte. Sie biss sich kurz auf die Lippen „Du solltest noch etwas wissen. Achilleas hört, wenn du lügst. In seiner Gegenwart hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du sagst, du willst nicht antworten, oder du sagst die Wahrheit. Nichts anderes.“

Der Nachdruck in ihrer Stimme ließ erneut keine Widerworte zu. Gigi wagte nicht einmal, zu fragen, woher der Vampir diese erstaunliche Fähigkeit hatte.

„Dann möchte ich darüber nachdenken“, sagte die Agentin und gähnte gegen ihren Willen.

„Einverstanden. Schlaf dich erst einmal aus.“ Mira stand auf. „Wir haben hoffentlich noch irgendwo ein freies Gästezimmer.“

„Du kannst mein Zimmer haben.“ Achilleas bedeutete ihr, mit ihm den Saal zu verlassen. Gigi war nicht ganz wohl dabei, sein Quartier zu bekommen. Andererseits war sie mittlerweile so müde, dass sie fast im Stehen einschlief. Sie folgte dem Vampir durch das gepflegte Herrenhaus, bis er eine der dunklen Holztüren öffnete. Sie betraten ein schlichtes Zimmer, das Bett war unberührt. Nur eine geöffnete Tasche stand auf dem Boden und an der Wand lehnte sein Speer. Achilleas hatte kein Wort mehr gesagt.

„Kannst du wirklich damit kämpfen?“, fragte Gigi, um die unangenehme Stille zu beenden.

„Es war die erste Waffe, mit der ich es lernte.“

„Wo?“

Der Vampir nahm seinen Speer und legte ihn auf seiner Schulter ab.

„Wann?“, probierte Gigi es weiter.

„Stellst du immer so viele Fragen?“

„Berufskrankheit.“

Achilleas nickte nachdenklich. „Frag Vampire in Zukunft nicht nach ihrer Vergangenheit. Ich werde in der Nähe bleiben, um die abzuhalten, die den Durst nicht im Griff haben. Schlaf jetzt.“

„Welchen Durst?“, hakte Gigi nach.

„Den Durst nach deinem Blut. Du duftest wie ein Festmahl.“

In diesem Punkt stimmten die Legenden also. Die Agentin rührte sich nicht, bis er die Zimmertür geschlossen hatte. Sie zog ihren Trenchcoat und die Schuhe aus und setzte sich auf die Bettkante. Es fühlte sich verlockend weich an, aber noch schwirrten ihr viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Dieser Fall erschien so absurd, dass Gigi zum ersten Mal in ihrem Job wirklich nicht sicher war, was richtig und falsch war. Auf der einen Seite standen echte Vampire, die Menschenblut tranken und dafür garantiert unzählige Verbrechen begangen hatten. Was die Gestaltwandler und Werwölfe normalerweise taten, war ihr noch schleierhaft. Dem Gegenüber stand ein Unternehmen, das künstliche Hybriden schuf, um die Unsterblichen zu beseitigen. Aber mit welcher Legitimation und unter wessen Kontrolle? Und was würde mit den Söldnern geschehen, wenn sie ihren Auftrag erfüllt hatten? Gigi ließ sich zur Seite sinken. Wo war sie hier bloß gelandet?

Falle

Marcus spähte durch die Blätter des dichten Gebüschs. Das Quartier der Europäischen Gestaltwandler lag vollkommen still im Licht der Nachmittagssonne vor ihm. Es gab weder Anzeichen für einen Angriff der Firma, noch hatte er einen von Darius‘ Spähern gesehen. Lautlos schlich er zurück zu Asheroth und den anderen. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt hinter einem Felsen in Deckung gegangen. Asheroth drückte konzentriert beide Hände auf den Boden.

„Es sieht aus wie verlassen“, flüsterte der Panthermann, nachdem er seine menschliche Gestalt angenommen hatte.

„Das Haus ist leer“, bestätigte der Älteste. „Sie verstecken sich in der Umgebung.“

„Wo ist Darius?“, flüsterte Anzheru. Es dauerte noch ein paar Atemzüge, bis Asheroth aufstand und ihnen die Richtung wies. Sie gingen in einem weiten Bogen um das Gebäude herum. Marcus lauschte angestrengt, hörte jedoch nichts. Sie näherten sich einem Engpass zwischen einem Felsen und einer dichten Brombeerhecke. Plötzlich hielt Asheroth inne. Anzheru und die Leibwächter gingen hinter ihm in Stellung und zogen Messer hervor. Marcus machte sich bereit zum Sprung.

„Es ist eine Falle“, sagte Asheroth deutlich vernehmbar. „Links vor uns sind die Bären. Die Hunde haben sich hinter uns formiert.“

„Rückzug“, grollte Darius in einiger Entfernung. Die Vampire hatten ihn nicht verstanden, daher übersetzte Marcus. Sie steckten ihre Waffen weg, rührten sich aber noch nicht von der Stelle. Das Oberhaupt der Gestaltwandler kam in seiner menschlichen Gestalt hinter dem Felsen hervor. Seine Schritte wirkten schwerfälliger als sonst.

„Ich grüße dich, Darius“, sagte Asheroth. Er erwiderte den Gruß des Vampirs und bedeutete ihnen, zurückzutreten. „Einen halben Meter weiter und ihr hättet unsere Sprengfalle ausgelöst. Ihr hättet mit der Windrichtung kommen sollen.“

„Beim nächsten Mal werde ich darauf achten. Hast du alle deine Späher verloren? Wir wissen nur von einem.“

„Nein, aber die beiden Übrigen sind fast noch Kinder. Ich kann ihnen diesen Krieg nicht zumuten. Sie sind fort und verstecken sich.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Darius wirkte erschöpft.

„Ihr wurdet bereits angegriffen“, stellte Marcus fest.

„Wir haben fünf Hybriden erschlagen. Sie sind dem Quartier bei der Jagd auf meine Hunde so nahe gekommen, dass wir eingreifen konnten.“ Der Bärenmann fletschte die Zähne. „Ihr Giftgas hatte im Freien keine starke Wirkung, daher waren sie nicht das größte Problem.“

„Wer dann?“, fragte Asheroth ungerührt.

„Ich kenne ihren Namen nicht, aber es war eine Löwin.“

Marcus ballte die Fäuste. „Das muss Soraya gewesen sein. Sie hat uns an die Menschen verraten.“

Darius hob erstaunt die Brauen. „Jetzt bedaure ich, dass wir sie nicht verfolgt haben.“

„Du selbst hast gegen sie gekämpft?“ Asheroths Interesse war immens gewachsen.

„Ja. Sie ist verflucht stark. Auf Leben und Tod hätte ich vermutlich verloren, aber sie ist abgehauen, als absehbar war, dass wir die Hybriden schlagen können.“

„Hat Soraya alle deine Kämpfer zu Gesicht bekommen? Dann wüsste sie, wie stark dein Clan ist“, mutmaßte Anzheru. Darius nickte. „Und sie hat zwei meiner Hunde getötet. Seit dem Angriff tun wir kein Auge mehr zu. Sprengfallen wie die vor euch haben wir rund um das Quartier aufgebaut, bis uns die Granaten ausgegangen sind. Die Hybriden hatten eine ganze Wagenladung davon bei sich.“

„Ich fürchte, sie werden euch nichts nützen. Die Hybriden sind immun gegen die Gifte, die sie gegen uns einsetzen“, merkte Asheroth an.

„Gegen diese hier nicht. Als sie eine Granate in unserem Kampf gezündet haben, haben sie selbst angefangen, zu husten.“ Darius‘ Schadenfreude war nicht zu überhören. Dabei klang seine Stimme so heiser, als wäre auch er giftigem Rauch ausgesetzt gewesen.

„Wisst ihr, was es ist?“ Marcus hob skeptisch die Brauen. „Warum sollte die Firma ihren Söldnern Waffen geben, die für sie selbst schädlich sind?“

„Wir haben keine geöffnet, um es herauszufinden. Und dass es ihren eigenen Leuten schadet, soll mir nur recht sein. Alle haben die gleiche Bezeichnung aus Zahlen und Buchstaben.“

„Präge dir diese Bezeichnung ein, Sohn. Wir werden den Hacker bei Gelegenheit darauf ansetzen.“ Asheroth wandte sich wieder an Darius. „Zeige mir bitte die Stelle, an der du gegen die Verräterin gekämpft hast.“

Der Bärenmann bedeutete ihm, in welche Richtung sie gehen mussten. „Seit dem Angriff hat es viel geregnet. Kannst du ihre Spur dann noch aufnehmen?“

„Das vielleicht nicht. Aber ich kann mir einen ersten Eindruck von ihr verschaffen.“

Marcus beschloss, Anzheru über die Schulter zu schauen, statt dem Ältesten zu folgen. Der geborene Vampir ging am Rand der Sprengfalle in die Hocke und drehte eine der Gasgranaten vorsichtig zu ihnen herum, bis sie den Schriftzug lesen konnten. Er machte sogar ein Foto, obwohl sein Gedächtnis ihn garantiert nicht im Stich lassen würde. Nachdem Anzheru sich wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, rief er seine Gefährtin an.

„Ja?“

„Ich schicke dir ein Bild von den neuesten Gasgranaten der Firma. Frag bitte die Hybriden, ob sie etwas damit anfangen können.“

„Verstanden. Wie geht es dem Clan?“

„Sie sind angeschlagen, aber ihre Not macht sie erfinderisch.“

Darauf erwiderte Mira nichts. Marcus räusperte sich, sodass Anzheru fragend die Brauen hob.

„Hat sie zufällig Igor gesehen?“, fragte der Panthermann.

„Nein“, sagte die Vampirin am anderen Ende der Leitung. Damit war das Gespräch beendet.

„Verrätst du mir, was Igor so sehr beschäftigt?“, fragte Anzheru.

„Das kann ich nicht.“

Der Geborene wunderte sich offenbar über seine Antwort, ließ es jedoch auf sich beruhen. „Gehen wir zu Vater und Darius.“

Leyth und Onur schlossen ungefragt zu ihnen auf. Den Leibwächtern der Ältesten brauchte man wohl nie sagen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Sie reagierten ganz automatisch. Marcus konnte sich nicht vorstellen, einem Gebieter so lange zu dienen, bis er jede seiner Reaktionen auswendig kannte. Zum Glück verlangte das auch niemand von ihm, solange er und seine Familie clanlos waren. Asheroth und Darius kamen in Sicht. Der Vampirälteste hockte neben einer tiefen Furche, die Pranken in den Boden gerissen hatten. Die Wiese sah aus wie zerfetzt.

„Und?“, fragte der Bär gespannt.

„Sie ist mächtiger und wesentlich älter als euer altes Oberhaupt, so viel kann ich sagen.“ Er richtete sich auf. „Marcus lag richtig. Du hast gegen Soraya gekämpft.“

„Für eine Löwin hat sie zu schnell aufgegeben“, gab Darius grimmig zurück.

„Nun, sie hat Jahrtausende im Schatten überdauert, sodass wir Vampire nichts von ihr wussten“, merkte Anzheru an. „Unter den Gestaltwandlern hat sie zuvor nie genug Aufsehen erregt, um den Jüngeren bekannt zu sein. Sie scheint genau zu wissen, wann sie das Feld räumen muss, um zu überleben.“

„Da hast du Recht.“

Marcus bemerkte, dass Darius dem geborenen Vampir nur so kurz wie möglich in die Augen sah.

„Was wollt ihr nun tun?“, fragte Asheroth. „Euer Haus ist nicht mehr sicher.“

Der Bärenmann rieb sich die Stirn. „Wir kämpfen. Wir verkriechen uns nicht.“

„Das hat niemand behauptet“, mischte Marcus sich ein. „Aber seid euch darüber im Klaren, dass die Hybriden nicht nur kommen, um euch zu töten. Diejenigen, die sie gefangen nehmen, werden in ihren Laboren für irgendwelche absurden Experimente missbraucht.“

Darius schüttelte sich angewidert. „Was ist das bloß für ein Krieg?“

„Einer, der auch uns fremd ist. Ich wäre dir dankbar, wenn du…“ Asheroth brach mitten im Satz ab und ging wieder in die Hocke, um die Handflächen auf den Boden zu drücken.

„Kommen sie?“, fragte sein Sohn. Er nickte stumm und bedeutete ihnen, sich möglichst wenig zu bewegen.

„Von Osten. Es sind mindestens zwei schwere Fahrzeuge. Und soeben haben sie sich aufgeteilt. Ich vermute, sie wollen das Haus von zwei Seiten angreifen.“

Darius wandte sich zum Gehen. „Wenn ihr uns verlassen möchtet, wäre das wohl der geeignete Zeitpunkt.“

„Wir bleiben, wenn du erlaubst.“ Der Vampirälteste zückte einen Dolch. „Lass uns sehen, ob eure Sprengfallen funktionieren.“

Darius grinste grimmig. „Gern. Stellt euch links von mir hinter den großen Eichen auf. Wir nehmen die Männer auf dieser Seite des Hauses von drei Seiten in die Zange. Dann knöpfen wir uns die anderen vor.“

Die Vampire folgten seinem Vorschlag und bezogen Position. Marcus verwandelte sich und schlich mit dem Bärenmann in Deckung. Noch war niemand zu sehen. Er überlegte, ob er Darius auf die Probleme des Clans ansprechen sollte. Blieben sie nur bei ihrem Hauptsitz, weil sie kämpfen wollten, oder hatten sie keine Verbündeten mehr? Marcus war bei der Besprechung zwischen Fjodor und den Abtrünnigen zwar nicht persönlich dabei gewesen, aber die Adlerschwestern hatten ihm das Wichtigste berichtet. Darius‘ und Dragos Spaltung hatte tiefgreifende Auswirkungen gehabt. Im Grunde ging es ihn nichts an, aber der Panther betrachtete Darius und ein paar seiner Clan-Angehörigen als Freunde.

„Wohin könnt ihr fliehen, falls es keinen anderen Ausweg mehr gibt?“, fragte er möglichst unverfänglich. Darius zuckte mit den Schultern. „Unsere Raben verstecken sich bei Magdeburg. Dorthin könnten wir gehen, aber dann gefährden wir sie.“

„Und sonst?“

„Es gibt noch eine winzige Gruppe in Südbayern, mit der wir bisher keinen Konflikt hatten. Aber sie werden wohl kaum erfreut sein, wenn wir dort auftauchen.“

Folglich traf Marcus‘ Befürchtung zu. Bei seinen letzten Besuchen hatten sie nie über diese Dinge sprechen müssen, daher hatte er nichts von Darius‘ Situation gewusst. Jetzt stand der einst so mächtige Europäische Gestaltwandler-Clan einem grässlichen, unberechenbaren Feind gegenüber und das ganz allein. Marcus erspähte die ersten Söldner.

„Kommt nur“, flüsterte Darius angriffslustig. Noch rührte sich der Bärenmann keinen Millimeter, aber wie lange würde er die Nerven bewahren?

„Ausschwärmen!“, befahl der Anführer der Söldner. „Sie sind ganz in der Nähe.“

Marcus duckte sich tiefer hinter ihre Deckung. Nur noch wenige Schritte trennten die Hybriden, die vorweg schlichen, von der ersten Sprengfalle. In einiger Entfernung krachte es und Schreie gellten durch die Stille. Die Söldner blieben wie angewurzelt stehen.

„Was ist passiert?“, brüllte ihr Befehlshaber in ein Funkgerät.

„Sie haben Fallen aus unseren Granaten gebaut! Drei Mann schwer verletzt!“

„Sollten wir nicht immun sein?“, raunte der Söldner seinem Kameraden zu, der Marcus und Darius am nächsten stand.

„Das dachte ich auch“, lautete die verunsicherte Antwort. Marcus bleckte die Zähne. Jetzt hatte er es verstanden. Die Firma schickte ihnen erneut Auslaufmodelle ihrer Söldner, statt sie selbst zu beseitigen.

„Zurück!“, zischte der Hybrid, der ihnen am nahesten gekommen war. „Hier ist bestimmt auch alles vermint!“

„Fackelt das Gebüsch ab!“, befahl ihr Kommandant. „Dann kommen sie von ganz allein heraus.“

Darius lehnte sich leicht vor. Marcus nahm wahr, dass er langsamer atmete. Der Bär konzentrierte alle seine verbliebenen Kräfte auf den bevorstehenden Angriff.

„Und brennt das Haus gleich mit ab!“, bellte der Söldner in sein Funkgerät. Damit brachte er das Fass zum Überlaufen. Darius brach aus ihrer Deckung hervor und stürzte sich auf die beiden Männer, die nicht in die Falle gegangen waren. Die verkabelten Granaten übersprang er dabei trotz seines schlechten Zustands mit fast der gleichen Leichtigkeit wie Marcus. Der Panther stieß sich mit aller Kraft ab und sprang direkt auf den Befehlshaber zu. Ein wahrer Hüne unter den Söldnern fing ihn ab. Marcus schlug die Fangzähne in seinen zum Schutz erhobenen Arm, drang jedoch nicht durch die Panzerung seines Kampfanzugs. Der Söldner nahm sich die Zeit für ein höhnisches Grinsen, das ihm sofort wieder verging. Er holte mit der freien Hand zum Schlag aus, aber Asheroth duckte sich rechtzeitig weg. Innerhalb eines Wimpernschlags wirbelte der Älteste um seinen Gegner herum und rammte einen Dolch in sein Genick. Anzheru griff von vorn an und schnitt ihm die Kehle durch. Der Hüne fiel keuchend auf die Knie und presste verzweifelt die Handflächen auf seine stark blutenden Wunden. Marcus setzte dem ein Ende, während die vier Vampire den Befehlshaber und seine Leibwächter attackierten. Mehrere Gasgranaten explodierten zu ihren Füßen. Der dichte Rauch vernebelte dem Panther die Sicht.

„Weg da!“, brüllte Darius hinter ihm. Marcus machte nur zögerlich ein paar Schritte rückwärts, bis er Asheroths Silhouette durch den Rauch erkennen konnte. Entschlossen sprang er den Gegner des Ältesten an und biss zu. Im Gesicht war die Panzerung nicht stark genug, um seine Zähne aufzuhalten. Tatsächlich war dies schon der letzte Gegner. Die Vampire flüchteten aus der Rauchwolke. Gewirkt hatte das Gift jedoch. Ihre Haut wies wachsende Brandmale auf, als hätte der Rauch sie verätzt. Marcus spürte ein unangenehmes Kratzen im Hals, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie das Gas, das er bei seiner ersten Begegnung mit Shaun eingeatmet hatte. Darius‘ übrige Hunde und Bären waren mittlerweile aufgetaucht, um ihr Oberhaupt zu unterstützen. Sie sahen ähnlich mitgenommen aus wie er. Einer sank sogar zu Boden, obwohl die Gefahr noch nicht vorüber war.

„Was ist mit den Söldnern auf der anderen Seite des Hauses?“, fragte derjenige, der sich noch am besten auf den Beinen halten konnte.

„Diejenigen, die eure Falle ausgelöst haben, sollten kampfunfähig sein. Der Rest ist auf der Flucht“, sagte Asheroth und betrachtete seine Handrücken.

„Nehmen wir die Verfolgung auf, Gebieter?“, fragte Leyth.

„Nein. Ich kann nicht einschätzen, ob wir uns hiervon schnell genug erholen.“ Der Älteste ballte die linke Hand zur Faust, wobei seine Verätzungen noch tiefer aufrissen. Marcus wollte sich nicht vorstellen, wie schmerzhaft es war.

„Verstehe. Wir werden sie auch nicht jagen.“ Darius hob seinen Kämpfer vom Boden auf, um ihn an einen sichereren Ort zu tragen.

„Wir werden sofort zu unserem Hauptquartier aufbrechen“, sagte Asheroth. „Seid wachsam. Sie werden nicht nachlassen.“

„Ja.“ Der Bärenmann neigte den Kopf. „Ich danke euch. Für das Leben meiner Männer.“

„Keine Ursache“, entgegnete Anzheru. Ihm hatte das Giftgas am wenigsten geschadet. Oder zumindest litt seine Haut weniger, als die der anderen. Marcus wollte erst später danach fragen, wenn die Gestaltwandler ihnen nicht mehr zuhörten. Er wandte sich noch einmal an Darius, während die Vampire schon in Richtung ihres Hubschraubers aufbrachen.

„Denkt vielleicht nochmal darüber nach, fortzugehen. Oder sucht euch Verbündete. Sogar der Asiatische Clan hat sich mit Abtrünnigen zusammengetan.“

Der Bärenmann pfiff durch die Zähne. „Dazu hat ihr wertes Oberhaupt sich herabgelassen?“

„Nein…“ antwortete Marcus zögerlich. „Die Entscheidung hat jemand anderes getroffen.“

„Nicht verwunderlich. Ich werde nachdenken, solange wir Ruhe haben. Du hörst von mir“, versprach Darius.

„Gut. Bis dahin.“ Er nickte den Übrigen des Clans zu. Dann lief er den Vampiren hinterher, die schon ein wenig Vorsprung hatten. Noch schwiegen sie. Erst als sie im Hubschrauber saßen und in der Luft waren, nahm Onur das Gespräch wieder auf.

„Langsam fühlt es sich an, als würde die Wirkung des Gifts nachlassen. Oder sind bloß so viele Nerven geschädigt, dass ich nicht mehr spüre, wie es meine Haut zerfrisst?“

„Nein, du liegst richtig“, antwortete Asheroth. „Ohne ein wenig Hilfe würde es wohl einige Tage brauchen, bis alles wieder abgeheilt ist.“

Marcus warf Anzheru einen Blick zu. Er konnte den Geborenen nur von schräg hinten sehen, weil er neben Leyth im Cockpit saß.

„Warum ist es bei ihm weniger schlimm?“

„Er zehrt von Miras Blut. Ihre Heilkraft ist größer als unsere“, erklärte der Älteste. Der Panthermann schluckte den Kommentar herunter, der ihm auf der Zunge lag. Er würde nie begreifen, warum Vampire sich auch von ihren Gefährten ernährten. Für ihn klang es nach einer sehr grausamen Art von Liebe.

„Was denkst du über die neuen Rüstungen der Söldner?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. Asheroth stützte nachdenklich den Kopf auf. „Sie wirken sehr stabil aber leichter als die Rüstungen, die wir früher getragen haben.“

„Ihr hattet mal Rüstungen?“, fragte Marcus verwundert. Er hatte noch keinen Unsterblichen irgendeine Form von Panzerung tragen sehen.

„Im Krieg gegen die Werwölfe waren sie durchaus nützlich“, meldete sich Anzheru aus dem Cockpit. „Zumindest haben sie uns ein wenig Zeit verschafft, bevor unsere Gegner sie geknackt haben. Aber heute sind Kettenhemden und Plattenpanzer ein wenig aus der Mode gekommen. Wir würden damit zu sehr auffallen.“

„Was du nicht sagst“, brummte der Panthermann.

„Außerdem müssen wir immer zwischen Schutz und Bewegungseinschränkung abwägen“, ergänzte Asheroth. „Gegen die Giftpfeile wäre eine Panzerung nützlich, aber wenn ich gegen extrem wendige Gegner antrete, zählt jede Millisekunde.“

„Also werdet ihr euch wohl nichts dergleichen zulegen“, folgerte Marcus.

„Nein. Wie du eben erst bewiesen hast, hat jede Rüstung einen Schwachpunkt. Wir können ihren Schutzvorteil ausgleichen, wenn wir schneller sind als sie.“

„Und in der Überzahl“, ergänzte Anzheru.

„Da hast du wohl recht, Sohn.“

„Wann sind wir endlich genug, um die Anlage in Rumänien anzugreifen?“, fragte Marcus, obwohl er die Antwort erahnen konnte. Seine Sorge um Tove und ihr Kind wuchs von Tag zu Tag. Von Stunde zu Stunde. Und sie waren immer noch wenige.

„Wir müssen uns alle gedulden“, gestand Asheroth ihm zu. Das schloss ihn selbst immerhin ein.

Blut

Während der Mittagstunden hatten Marek und Batiste sich ein wenig ausgeruht, dann waren sie auf die Jagd gegangen. Am Abend kehrten sie zu Anzherus Hauptquartier zurück. Die Wachen am Tor richteten ihnen nichts aus, folglich hatte Achilleas noch keine neuen Befehle für sie. Im Moment befand sich niemand auf dem Rasen vor dem Haus, der auf einen Übungskampf aus war. Daher gingen sie hinein und in die erste Etage hinauf.

„Was tun wir jetzt?“, fragte sein alter Freund. Manchmal neigte Batiste dazu, rastlos zu sein. In den vierzehn Jahrhunderten, die sie einander bereits kannten, hatte sich dies nie geändert.

„Suchen wir uns jemanden zum Kartenspielen“, schlug Marek ein wenig lustlos vor.

„Warum nicht.“ Der Leibwächter nickte.

„Hast du auch ständig solchen Durst?“, fragte jemand leise. Sie tauschten einen kurzen Blick aus. Der Stimme nach musste es sich um Keith handeln.

„Ja“, antwortete Hugh. „Das geht überhaupt nicht mehr weg, egal wie viel ich trinke.“

Die beiden Hybriden saßen offenbar im Aufenthaltsraum am Ende des Korridors. Marek lauschte konzentriert ihren Herzschlägen. Sie klangen verdächtig nach ausgezehrten Vampiren. Batiste ging kopfschüttelnd in die Küche und kam kurz darauf mit zwei gefüllten Gläsern zurück.

„Das war die letzte Blutkonserve. Wir sollten die Vorräte auffüllen“, sagte er beiläufig. Marek folgte ihm in den Aufenthaltsraum. Keith und Hugh beäugten die Gläser in Batistes Händen argwöhnisch. Dennoch steigerte der Geruch von Blut ihren Durst noch weiter, Marek konnte es an ihren Augen ablesen. Die beiden Leibwächter wunderte das nicht im Geringsten, die Hybriden hatten offenbar ein Problem damit. Keith weigerte sich sogar, als Batiste ihm eines der Gläser reichen wollte.

„Geh bloß weg mit dem Zeug!“

„Willst du das Offensichtliche wirklich leugnen?“

Sein herablassender Tonfall besserte die Laune der Hybriden nicht sonderlich. Dadurch ließ Batiste sich natürlich nicht beirren. „Akzeptiert, was ihr seid. Je länger ihr es hinausschiebt, desto schlimmer wird es werden, wenn der Durst die Überhand gewinnt.“

„Sagt wer?“, grollte Keith.

„Die Erfahrung“, gab Marek zurück. „Du sprichst mit echten Vampiren.“

„Wir werden wie ihr, oder?“, knurrte Hugh missmutig.

„Nicht ganz.“ Batiste reichte ihm sein Glas. „Miras Licht kann euch nicht verbrennen. Ich empfinde das als unfairen Vorteil.“

„Für irgendwas muss der Gestaltwandler-Anteil ja gut sein.“ Hugh schnaubte, dann trank er sein Glas in einem Zug leer. Dass sich sein linkes Auge eisblau färbte, bemerkte der Hybrid offenbar nicht. Bei Keith war es nicht anders.

„Wollen wir es ihnen sofort zeigen?“, fragte Batiste belustigt.

„Was?“ Der Scharfschütze würde ihm bald den Hals umdrehen.

„Guck mal in den Spiegel!“

Stattdessen zog Keith sein Messer hervor. Die Spiegelung in der blanken Klinge genügte schon, um sein glühendes Auge zu sehen. Einen Atemzug schien er zu überlegen, ob er Batiste aufschlitzen sollte. Marek stellte sich geistig bereits auf eine Schlägerei ein, doch Keith steckte sein Messer wieder weg.

„Na großartig“, brummte er. „Warum ist es bei uns wieder anders als bei Shaun?“

„Was spielt das schon für eine Rolle. Asheroth sagte doch, es gibt immer Unregelmäßigkeiten“, meinte Hugh und zog seinen Tabak hervor. Marek nickte zustimmend. In Keith und Hugh hatte der Vampir die Oberhand gewonnen, in Shaun eben nicht. Ihm genügte dieses Wissen ebenfalls. Der Scharfschütze trank sein Glas Blut aus und erhob sich. „Wenn es gleich völlig dunkel ist, geht doch bestimmt wieder jemand auf die Jagd?“

„Mit Sicherheit.“ Batiste grinste. „Zuerst willst du kein Blut und jetzt kannst du nicht genug bekommen?“

Keith brummte die Antwort in sich hinein und verließ den Raum. Marek schob die Hände in die Hosentaschen. Das war noch einmal glimpflich verlaufen, aber irgendwann würde Batiste den Hybriden lange genug provoziert haben. Da bestand für ihn überhaupt kein Zweifel. Mittlerweile hatte Hugh seine Zigarette fertig gedreht. Batiste nahm sie ihm sofort ab. „Hier drin wird nicht mehr geraucht. Der Gestank hält sich ewig.“

„Ist ja gut.“ Der Hybrid bedeutete ihm mit einer unmissverständlichen Geste, dass er seine Zigarette zurückwollte. „Ich gehe raus.“

„Ich auch.“ Der Leibwächter spazierte mit der Zigarette davon. Hugh sah ihm ungläubig nach, dann verdrehte er die Augen. „Ist der immer so?“

„Ich kenne ihn nicht anders.“ Marek zuckte mit den Schultern. „Trag es mit Fassung. Es bedeutet, dass Batiste euch soweit akzeptiert hat.“

Akzeptiert“, wiederholte der Hybrid mit einem seltsamen Unterton. „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass er es irgendwie auf mich abgesehen hat?“

Darauf hatte der Leibwächter keine Antwort parat. „Frag ihn doch. Batiste fehlen nie die Worte.“

Hugh schnaubte entnervt und stand erst jetzt auf, obwohl seine Zigarette schon einen beträchtlichen Vorsprung haben musste. Marek senkte die Stimme. „Ach und falls du an ihm interessiert bist, ist er bestimmt nicht beleidigt. Ob Mann oder Frau spielt für ihn keine Rolle.“

Hugh hob die Brauen. „Das dachte ich mir schon.“

Shaun gähnte, wobei seine Raubtierzähne deutlich hervortraten. Schon die zweite Nacht steckte er in seiner Pumagestalt fest und wartete darauf, sich wieder in einen Menschen zu verwandeln. Aber damit ließ sein Körper sich reichlich Zeit. Lustlos trottete er durch die erste Etage des Hauptquartiers, bis er ein bodentiefes Fenster fand. Hier konnte er hoffentlich eine Weile ungestört sitzen bleiben. Zuvor hatten ihn die Clan-Vampire nicht besonders beachtet oder waren ihm vor allem mit Misstrauen begegnet. Jetzt starrten ihn alle ungläubig an, sobald er nur in Sichtweite kam. Er war ein Puma und dazu hatte er auch noch die eisblauen Augen eines Vampirs. Zu der Versammlung, zu der Mira eine Interpol-Agentin mitgebracht hatte, war er lieber nicht erschienen. Missmutig betrachtete Shaun sein unscharfes Spiegelbild im Fenster. Während er darüber nachdachte, wie er das alles jemals seinem kleinen Bruder erklären sollte, näherten sich Schritte auf dem Korridor.

„Hallo Shaun“, sagte Yvette leise und blieb stehen, als er den Kopf wandte. Bisher war es ihm tatsächlich gelungen, ihr aus dem Weg zu gehen. Daher sah sie ihn nun zum ersten Mal in dieser Gestalt.

„Und ich dachte, die anderen übertreiben.“ Die Vampirin hob verblüfft die Brauen. „Das ist wirklich ein bisschen unheimlich.“

Shaun wandte den Kopf wieder zum Fenster. „Ach was?“

„Hast du etwas gesagt?“, fragte Yvette amüsiert und setzte sich wieder in Bewegung. Dem Hybriden wurde erst jetzt bewusst, dass sie ihn in dieser Gestalt nicht verstehen konnte. Mit einem Schnauben ließ er sich auf dem Boden nieder und legte den Kopf auf den Vorderpfoten ab.

„Dir gefällt das ganz und gar nicht, hm?“, fragte sie mitfühlend und nahm neben ihm Platz. Ein paar andere Vampire tauchten am Ende des schmalen Korridors auf. Yvette winkte ihnen, dann verschwanden sie wieder. Die Vampirin schien bewusst abzuwarten, bis sie keiner mehr sehen konnte. Erst dann streckte sie die Hand nach Shauns Kopf aus. Er schaute sie ungläubig an, das musste sie doch erkennen. Dennoch begann Yvette, das Fell hinter seinen Ohren zu streicheln.

„Nicht übel“, gestand sie ihm zu. „Zeig mir deine Zähne.“

Shaun entblößte seine Reißzähne. Was interessierte sie daran so sehr?

„Beeindruckend“, sagte sie anerkennend und hob seinen Kopf von seinen Pfoten. „Sieh es positiv. Du hättest auch ein hässlicher Rabe werden können.“

Ihre Gegenwart tröstete ihn wesentlich mehr als das. Plötzlich spürte er ein heftiges Kribbeln in seinen Gliedmaßen, das sich bis in seinen Brustkorb zog. Als Shaun die Augen öffnete, hatte Yvette beschwichtigend die Hände erhoben und musterte ihn eindringlich. „Alles in Ordnung?“

„Ich glaube, ja.“

Er streckte seine seltsam angewinkelten Beine aus und blieb benommen sitzen. Seine Hände sahen wieder genauso aus wie vor seiner unfreiwilligen Verwandlung. Ein Blick in die Spiegelung in der Fensterscheibe bestätigte ihm, dass auch sonst alles wieder normal war.

„Hattest du Angst, deine menschliche Gestalt verändert sich?“, fragte Yvette. „Gestaltwandler sind die einzigen, bei denen das nie passiert.“

„Ich bin kein Gestaltwandler“, murmelte Shaun.

„Aber nah dran.“

„Ja…“ Er stand auf und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. Yvette ergriff sie, ohne zu zögern. Es tat einfach gut, diese Vampirin um sich zu haben. Sie hatte sich von Anfang an offener verhalten als alle anderen und sie distanzierte sich auch jetzt nicht. Er verabschiedete sich mit einem dankbaren Lächeln. Hoffentlich konnte er sich irgendwann revanchieren. Shaun verließ das Gebäude, um an der frischen Luft ein wenig nachzudenken. Commodus‘ seltsame Worte kamen ihm in den Sinn. Der Hybrid sollte einen wahren Gestaltwandler nach der Bedeutung fragen, wenn es soweit war. War damit etwa seine Verwandlung gemeint gewesen? Das war unlogisch, denn damals hatte Shaun noch nicht das geringste Anzeichen für seine Pumagestalt gezeigt. Oder etwa doch? Marcus war unterwegs und ihn hätte er sowieso nicht fragen können. Zufällig hatte Shaun Jasmina und Mira belauscht und dabei erfahren, dass Igor komaartig schlief. Dann blieben wohl nur noch Freya oder die Adlerschwestern. Als der Hybrid wieder auf die Eingangstüren des Hauptquartiers zuging, entdeckte er Batiste und Hugh, die gemeinsam rauchten. Der Hacker wandte sich zu ihm um. Sein linkes Auge war eisblau.

„In Keith und mir ist offensichtlich der Vampir vorherrschend“, sagte er tonlos. Es zu akzeptieren, wie es war, fiel Hugh wohl genauso schwer wie Shaun. Er nickte ihm zu, dann betrat er die Eingangshalle. Er brauchte nicht lange, um die Eulenfrau zu finden. Sie saß mit einem Buch vor einem Fenster gegenüber den Gästezimmern der Gestaltwandler.

„Wie fühlst du dich?“, fragte sie freundlich.

„Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich durcheinander.“

„Verständlich.“ Sie schloss das Buch behutsam, als könnte es sonst zu Staub zerfallen. Shaun kratzte sich am Kinn, als wäre sein Fell noch da. „Denkst du, meine Pumagestalt ist ein Zufall?“

Freya schlug die Augen nieder. „Die andere Dimension kann unberechenbar sein. Aber die zweite Gestalt ist niemals ein Zufall.“

„Und was bedeutet sie dann?“

„Die Clans würden dich wie Marcus und Igor als Herausforderer der Leitlöwen betrachten.“ Sie machte eine vage Geste. „Katzen waren in ihren Augen stets Einzelgänger oder Anführer.“

„Interessant.“ Weder die eine noch die andere Vorstellung gefiel ihm besonders gut.

„Gib nichts darauf. Du musst deinen Weg selbst finden wie wir alle.“

„Ich verstehe. Danke.“

Shaun hatte sich schon fast abgewandt, hielt jedoch noch einmal inne. So absurd die Frage auch war, er wollte es wissen. „Konntest du den Puma schon sehen, als Commodus gesagt hat, ich solle nach der Bedeutung fragen?“

Freya neigte den Kopf. „Deine endgültige Gestalt noch nicht, aber da war eine erste Verbindung zur anderen Dimension, die von dir ausging. Commodus hat so etwas offenbar schon einmal gesehen und wusste es zu interpretieren.“

„Darf ich noch etwas über deinen Sinn fragen?“ Shaun wollte nicht unhöflich sein. Sie erlaubte es ihm.

„Ist es nicht anstrengend, das alles zu sehen?“

„Ich gebe zu, ich musste mich nach meiner Reise erst daran gewöhnen.“ Die Eulenfrau lächelte. „Zum Glück kann ich meine Augen auch schließen.“

Der Hybrid verabschiedete sich nachdenklich. Seine Pumagestalt war ihm schon zu viel. Er war froh, sich nicht auch noch auf einen dieser seltsamen Sinne einstellen zu müssen. Asheroths Tastsinn ließ sich vermutlich nicht einfach abschalten.

Fremde Stimmen drangen wie durch dicken Nebel zu ihm durch. Wo befand er sich? Eben noch war er ins Licht getreten, leicht wie eine Feder im Wind. Jetzt fühlte sich alles bleiern schwer an, seine Glieder, sein Kopf, selbst die Luft in seinen Lungen war schwer. Igor hob mühsam die Lider und erblickte eine hell gestrichene Zimmerdecke. Er lag auf einem Bett. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die andere Dimension unbeschadet verlassen hatte. Sein gesamter Körper zuckte reflexartig, weshalb er fast vom Bett fiel. Im letzten Moment klammerte Igor sich fest. Seine Hände und Füße kribbelten plötzlich heftig, sein Atem ging flach. Nur langsam gelang es ihm, sich auf die Bettkante zu setzen. Er atmete tief durch, damit sich seine Lungen wieder an die reale Welt gewöhnten. Er befand sich immer noch in dem Gästezimmer in Anzherus Hauptquartier. Durch das Fenster konnte er den Mond sehen, offenbar hatte seine Reise zwei Nächte gedauert. Jetzt musste es kurz nach Mitternacht sein. Igor rieb sich über Nacken und Wangen. Alles schien wieder normal zu sein. Sein Gehör nahm die Stimmen der Vampire in der Nähe wahr, sein Geruchssinn verriet ihm die Gegenwart von Gestaltwandlern und Hybriden. Schritte näherten sich auf dem Korridor. Igor wusste sofort, dass es Jasmina war. Als sie die Tür öffnete, trat ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. In der Hand hielt sie einen Teller, auf dem ein paar Sandwiches lagen. Die Vampirin schloss die Tür hinter sich. Für einen Augenblick schauten sie einander einfach nur stumm an.

„Endlich bist du wach“, sagte sie zögerlich. „Freya hat sich Sorgen gemacht. Vor einigen Stunden sagte sie, du wärst uns schon nah, aber stehengeblieben.“

Igor erwiderte nichts.

„Was auch immer das in dieser seltsamen Parallelwelt bedeutet.“ Jasmina zuckte leicht mit den Schultern, dann hielt sie ihm den Teller hin. „Sie meinte, du würdest hungrig sein, wenn du aufwachst.“

Er nahm die Sandwiches mit einem Nicken entgegen und stellte sie auf dem kleinen Nachtschrank ab. Er hatte wirklich Hunger, aber sein Magen würde noch nichts aufnehmen können.

„Hast du das Sprechen verlernt?“, fragte die Vampirin ungeduldig. „Was hast du da drin bloß gesehen?“

Igor packte ihr Handgelenk und zog sie auf seinen Schoß. Mit jeder Faser seines Körpers wollte er ihre Gegenwart spüren. Dank Miras Heilkraft war Jasmina im Moment so warm wie ein Mensch und damit fast so warm wie er selbst. Ihr Herz schlug und sie atmete. Erleichtert strich er über ihr Haar. Sie war wirklich da. Sie küsste ihn sogar auf die Stirn.

„War es so schlimm?“, fragte die Vampirin leise.

„Wie soll ich das erklären…“ Igor entließ sie aus seinem Klammergriff. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Noch störte sie zum Glück niemand.

„Es war wie eine Reihe von Prüfungen. Zuerst musste ich mich erinnern, dass ich mich als Kind für meine Hyänengestalt geschämt habe“, begann er zu erzählen. Jasmina nickte nur verwundert.

„Dann kamen Angst und Schmerz, beziehungsweise Vergebung, aber… das war noch gar nichts gegen die letzte Prüfung.“

„Musstest du ganz allein gegen Werwölfe antreten?“

Igor schüttelte den Kopf. „Sie standen an zweiter Stelle für meine Ängste. Nein, am Ende habe ich dich gesehen.“

Die Vampirin hob verständnislos die Brauen.

„Dich und unsere zwei Kinder.“

Jasmina entglitt jegliche Kontrolle über ihre Mimik. „Zwei?“

„Ja, sie waren genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das Mädchen war so schön wie du, der Junge kam etwas mehr nach mir.“ Igor nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Ihr habt gespielt und wart glücklich. Ich habe mir gewünscht, ich müsste nie wieder etwas anderes sehen.“

Ihm war bewusst, wie schmerzhaft diese Vorstellung für Jasmina war. Sie biss die Zähne fest aufeinander, daher fuhr er lieber schnell fort.

„Das muss der Moment gewesen sein, in dem Freya gespürt hat, dass ich nicht mehr auf dem Weg zurück bin.“

„Das kann ich verstehen“, gab sie tonlos zurück. „Von diesem Bild hätte ich mich auch nicht lösen können.“

„Es tut mir so leid“, sagte Igor und strich sanft über ihre Wangen. Diese Sache zwischen ihnen mussten sie endlich klären. Hier und jetzt. „Aber es wird niemals wahr werden.“

„Nicht einmal dann, wenn wir uns vor den Ältesten und allen anderen Unsterblichen verstecken?“

Der Gestaltwandler schüttelte entschieden den Kopf. „Irgendwann habe ich mich gefragt, wie unsere Kinder in der realen Welt wären, und tatsächlich hat die andere Dimension es mir gezeigt. Sie wären entsetzlich brutal, ihr Blutdurst und ihre Zerstörungswut würden keine Grenzen kennen. Genau wie bei den Mischlingen, die Asheroth vor Jahrhunderten beseitigen musste. Es spielt keine Rolle, welcher Elternteil der Gestaltwandler ist.“

„Bist du sicher, dass das keine Einbildung war?“, fragte Jasmina skeptisch. „Commodus hat damals gesagt, es könnte anders sein.“

„Einbildung gibt es in der anderen Dimension nicht.“ Woher er das wusste, war Igor selbst nicht ganz klar. Dennoch war er sich absolut sicher.

„Commodus hat sich damals wie wir alle einer letzten Hoffnung hingegeben, aber geborenen Mischlingen fehlt etwas Entscheidendes.“

Da er nicht weitersprach, sah die Vampirin ihn erneut ungeduldig an. „Was fehlt ihnen denn?“

„Die Fähigkeit Mitgefühl zu empfinden.“ Igor ließ die Haarsträhnen, die ihr perfektes Gesicht einrahmten, durch die Finger gleiten. „Das bedeutet auch, sie sind nicht in der Lage zu lieben.“

„Leandros konnte das bis zu seinem Ausgleich mit Konstantin auch nicht und trotzdem war er kein Monster!“, hielt Jasmina dagegen.

„Leandros war einmal ein Mensch. Das macht den Unterschied.“

„Ich war das nicht!“ Langsam schienen ihr die Argumente auszugehen. Jasmina war den Tränen nahe. Mit dieser Diskussion hatte sie nicht gerechnet, trotzdem mussten sie sie zu Ende führen. Igor bedauerte im Stillen, dass zwischen dem Verlust ihrer ungeborenen Tochter und diesem Moment erst Jahre hatten vergehen müssen.

„Ja, du bist eine geborene Vampirin. Ein anderes Leben wurde für deines geopfert, nicht wahr?“

„Ja!“

„Streng genommen bin ich ein geborener Gestaltwandler. Wir sind fähig zu lieben und uns um andere zu kümmern, dafür haben wir Schwächen.“ Er rückte näher an sie heran, obwohl sie seine Hände von sich schob. „Geborene Mischlinge haben diese Schwächen nicht, aber dafür zahlen sie einen hohen Preis.“

Jasmina wandte das Gesicht ab und schluchzte leise.

„Verstehst du das?“, hakte Igor nach, obwohl er sie viel lieber getröstet hätte.

„Ja…“

„Diese Kinder würden nicht einmal uns lieben. Ich wünschte wirklich, ich hätte dir das damals schon erklären können.“

„Das hätte auch nichts daran geändert, dass die Kleine in mir gestorben ist.“

Igor seufzte leise. „Ich weiß. Du besitzt die Gabe, Leben zu schenken. Aber nicht gemeinsam mit mir. Und nach all dem Schmerz und der Trauer kann ich nachvollziehen, wenn du mich deshalb nicht mehr willst.“

Jasmina schaute ihn wieder direkt an. „Was?“

„Ich weiß, das ist ein wenig zu viel auf einmal. Denk in Ruhe darüber nach. Und wie auch immer du dich entscheidest, ich werde dich lieben. Bis zu meinem letzten Atemzug.“ Er küsste sie auf die Wange. „Nur dank dir habe ich aus der anderen Dimension zurückgefunden. Ich wusste, auch wenn ich meine Sehnsucht nach unserer Familie aufgeben muss, dich würde ich auf der anderen Seite wiedersehen.“

Die geborene Vampirin griff in seinen Kragen und lehnte ihre Stirn gegen seine. Igor schloss die Augen. Es war anders als damals, als er noch das Urteil der Ältesten gefürchtet hatte. Niemand würde ihm dieses Gefühl jemals nehmen können. Sagen wollte Jasmina offenbar noch nichts zu all dem. Der Gestaltwandler löste sich von ihr und griff nach dem Teller mit den Sandwiches. Sie rochen ein wenig nach angebranntem Fleisch. Nach ein paar Bissen verzog er unwillkürlich das Gesicht.

„Schmeckt es dir nicht?“, fragte Jasmina enttäuscht. „Ich habe sie selbst gemacht.“

„Man merkt, dass du selbst nicht isst“, gab er ausweichend zur Antwort. Trotzdem aß er auf, so hungrig war er lange nicht mehr gewesen. Anschließend stand Igor auf und streckte sich in die Höhe. „Du entschuldigst mich jetzt? Ich brauche Bewegung, nachdem ich hier so lange gelegen habe.“

„Natürlich.“ Die Geborene schenkte ihm zum Abschied ein kleines Lächeln. Sie würde ihm antworten, wenn sie so weit war, da bestand für Igor überhaupt kein Zweifel.

„Eins ist offensichtlich“, sagte Jasmina, als er schon die Türklinke in der Hand hatte. „Deinem Selbstbewusstsein hat diese seltsame Reise nicht geschadet.“

Mira schaute in die letzte Weinkiste, die hinter der Theke im alten Saal stand. Darin befanden sich noch vier ungeöffnete Flaschen. Gwen nahm eine angebrochene mit hinaus. Ihr Clan und die vielen Gäste zehrten den Vorrat an Alkohol langsam aber sicher auf. Batiste hatte ihr berichtet, dass Keith und Hugh die letzte Blutkonserve benötigt hatten. Am kommenden Tag würde sie jemanden zum Einkaufen schicken. Vor allem Blut war unverzichtbar, wenn sie verwundete oder ausgezehrte Vampire aus den Laboren befreiten.

„Alles in Ordnung?“, fragte Shaun, der gerade zur Theke gekommen war.

„Wir müssen unsere Vorräte auffüllen.“ Sie schob eine leere Kiste mit dem Fuß beiseite.

„Woher bekommt ihr eigentlich das Blut?“

„Aus der Uniklinik von Oslo. Wir haben da Kontakte, die keine Fragen stellen.“

Der Hybrid nickte geistesabwesend, als hätte er schon gar nicht mehr zugehört.

„Deine Pumagestalt beschäftigt dich sehr?“, riet Mira. Shauns Blick zuckte wieder zu ihr. „Entschuldige. Ja, ich dachte…“

Er ließ die Schultern sinken, statt seinen Satz zu Ende zu bringen.

„Du hast gedacht, dass du dich nach dem Eintritt deiner Unsterblichkeit nicht mehr weiter entwickelst.“ Die Tageswandlerin dachte an die ersten Situationen zurück, in denen das Licht aus ihrem Körper hervorgetreten war. Sie war in Aberdeen gefangen gewesen und hatte noch nichts vom Lichtwesen geahnt. Shaun nickte schwach.

„Mir ging es auch einmal so und um ehrlich zu sein, habe ich mich halb zu Tode gefürchtet.“

Er hob überrascht die Brauen. „Schwer vorstellbar.“

„Denkst du? Du kannst Leyth fragen, er war Zeuge.“ Erst der Ausgleich mit Anzherus Schattenwesen hatte ihr die Angst genommen und sie vor dem Tod bewahrt.

„Immerhin hast du die Wahl, ob du deine Gestalt nutzen willst“, fuhr Mira fort, als er nichts erwiderte. „Kannst du die Verwandlung schon kontrollieren?“

„Ich habe es noch nicht ausprobiert.“ Der Hybrid verzog das Gesicht. „Im Moment bin ich froh, auf zwei Füßen zu stehen.“

„Ich muss dich trotzdem bitten, es herauszufinden. Wenn du wieder kämpfen willst, muss ich mich darauf verlassen können, dass du nicht plötzlich ungewollt über deine Pfoten stolperst.“

„Wenn ich bloß wüsste, wie das geht“, brummte Shaun. Mira lächelte ihn aufmunternd an. „Versuch es einfach.“

„Ja, versprochen.“

„Gut.“ Sie zog ihr Handy hervor und zeigte ihm ein Foto, das Anzheru ihr geschickt hatte. „Hast du so eine Granate vielleicht schon einmal gesehen?“

„Sieht nach der Standardgröße der Firma aus, aber die Bezeichnung ist neu. Was ist da drin?“, fragte Shaun interessiert.

„Das neue Giftgas, wie es aussieht.“

„Wie gefährlich ist es?“

„Gute Frage“, gestand sie ihm zu. „Ich weiß nicht einmal, ob es dasselbe ist, dem Achilleas und seine Leibwächter neulich ausgesetzt waren. Langsam brauchen wir neue Informationen über die Waffenentwicklung der Firma, wenn wir bei unserem nächsten Angriff auf einen Stützpunkt nicht in eine Falle geraten wollen.“

„Da hast du recht. Wie willst du es anstellen?“

Mira hob sacht die Schultern. „Uns wird etwas einfallen. Bekomm bis dahin deine Gestalt in den Griff.“

„Ich suche nach den Adlerschwestern. Vielleicht können sie mir einen Tipp geben.“ Shaun schob die Hände in die Jackentaschen und verließ den Saal. Die Vampirin beschloss, zu den Gästequartieren der Gestaltwandler hinaufzugehen. Vielleicht wollten auch sie ein paar Dinge auf die Einkaufsliste setzen. Sie traf Freya auf dem Korridor. Die Eulenfrau legte ein Buch neben sich auf die Fensterbank und schaute gespannt zu den Gästezimmern hinüber. Neugierig gesellte die Vampirin sich zu ihr. „Was ist geschehen?“

„Igor ist aus der anderen Dimension zurückgekehrt. Jasmina ist im Moment noch bei ihm.“ Freya strich sich durchs Haar. „Es ist sehr lange her, dass einer von uns die Reise gewagt hat. Ich bin gespannt, wie er es verkraftet.“

Mira biss sich auf die Unterlippe. Deshalb hatte sie den Hyänenmann bei der letzten Versammlung nicht gesehen. Was es mit diesen Reisen wohl genau auf sich hatte? Wenige Atemzüge später erschien er auf dem Korridor. Äußerlich hatte Igor sich in keiner Weise verändert, Mira hatte nur den Eindruck, dass er sich beim Gehen gerader hielt.

„Willkommen zurück“, sagte Freya. „Wie fühlst du dich?“

„Etwas ungelenk“, antwortete Igor fröhlich. „Ich muss mich dringend richtig bewegen.“

Die Eulenfrau hob die Brauen. „Dann tu das.“

Trotzdem blieb er vor ihr und Mira stehen. „Ich danke dir. Ich habe viel auf meiner Reise gelernt.“

„Hast du verstanden, was du gesehen hast?“, fragte Freya, als wäre das nicht unbedingt selbstverständlich. Der Gestaltwandler nickte. „Ja, ich denke schon.“

„Überhaupt keine Fragen?“ Die Ursprüngliche war sichtlich irritiert. Er überlegte kurz. „Nein… Aber wenn mir etwas einfällt, komme ich sehr gern auf dein Angebot zurück.“

„Shaun übt, sich zu verwandeln. Vielleicht lauft ihr noch ein paar Runden um das Gelände, wenn er es geschafft hat“, schlug Mira vor.

„Ich sehe nach ihm.“ Igor ging beschwingt nach unten. Als sie das Eingangsportal knarren hörte, sprach Mira Freya wieder an. „Ist sein Verhalten ungewöhnlich?“

„Ja, alle brauchten etwas Hilfe, wenn sie zurück waren. Das habe ich damals auch.“ Sie setzte sich in Bewegung. „Sieh an. Dieser Junge ist wirklich interessant.“

Mira wägte kurz ab, ob sie danach fragen sollte. Freya hatte nicht mehr über die andere Dimension gesprochen als unbedingt notwendig und weitestgehend verheimlicht, was Igor getan hatte. Einen Versuch war es dennoch wert. Die Vampirin schloss mit ein paar langen Schritten zu ihr auf. „Und das heißt?“

„Das heißt, dass ich Igor unterschätzt habe und ihn unbedingt noch eine Weile im Auge behalten möchte.“

Mira verkniff sich einen Kommentar darüber, wie wenig sie mit dieser Aussage anfangen konnte. „Besitzt er jetzt Fähigkeiten wie du?“

„Das kann ich tatsächlich noch nicht beantworten. Bei ihm dauert es eine Weile, bis sich seine Gabe zeigt“, gab Freya nachdenklich zurück. „Aber das sollte mich nicht wundern. Eine Hyäne hat es vor ihm nie gegeben.“

Feiner Nieselregen hatte eingesetzt. Er sammelte sich auf der Fensterscheibe nach und nach zu größeren Tropfen, bis er schließlich hinab rann. Der Boden musste entsprechend nass und rutschig sein. Außerdem war es kühl und stockfinster, aber all das schien die Vampire nicht zu stören. Gigi beobachtete sie seit einer Weile im schwachen Licht, das durch die Fenster auf die Wiese vor dem Herrenhaus drang. Sie trainierten den Nahkampf mit Messern oder sogar bloßen Händen. Leider bewegten sie sich dabei so schnell, dass die Agentin ihnen kaum folgen konnte. Nur gelegentlich sah sie die Klingen aufblitzen und wie einer der Kontrahenten auf der Erde aufschlug oder einen gewaltigen Satz nach hinten machte. Menschen wären ihnen hoffnungslos unterlegen, so viel stand fest.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Achilleas. Gigi wandte sich um. Er kam mit einem Teller auf sie zu. Darauf lag ein kaltes Sandwich.

„Ja, danke.“ Das hatte sie überraschenderweise den ganzen Tag über. Sie nahm den Teller entgegen und beäugte das Weißbrot, das entsetzlich trocken aussah.

„Etwas anderes haben wir leider nicht.“ Der Vampir lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. „Unsere übrigen Gäste sind sehr genügsam.“

„Verstehe.“ Da ihr Magen knurrte, probierte sie wenigstens einen Bissen. Es war wie erwartet fad, aber besser als nichts.

„Wie geht es dem Bein?“, fragte sie in einem möglichst beiläufigen Ton.

„Die Wunde ist schon verheilt.“

Die Agentin hielt erstaunt inne. Die Kugel hatte ihn nur gestreift, bei einem Menschen würde dies trotzdem mindestens Tage dauern und eine Narbe hinterlassen.

„Ich habe schon Schlimmeres überlebt.“ Achilleas warf einen Blick hinunter auf den Rasen.

„Das überrascht mich nicht mehr“, gab die Agentin zu. Eisblaue Augen glühten in der Dunkelheit auf. Sie glaubte, sogar gefletschte Zähne zu sehen.

„Ihr seid nicht alle gleich stark, nicht wahr?“

„Das hast du gut beobachtet.“

Sie hob gespannt die Brauen, doch der Vampir sagte nichts weiter.

„Warum?“, hakte sie nach.

„Stell lieber nicht zu viele Fragen.“

„Doch werde ich“, hielt sie unbeirrt dagegen. „Du entscheidest ja sowieso, was du beantwortest und was nicht.“

Achilleas wirkte im ersten Moment verblüfft, fing sich jedoch sofort wieder. „Einverstanden. Hast du über Miras Bitte nachgedacht?“

„Ja.“ Gigi nickte. Sie dachte an nichts anderes.

„Und?“

„Es ist schwierig für mich. Ich habe geschworen, dem Gesetz zu dienen.“

„Was sagt das Gesetz?“, fragte der Vampir. Die Agentin zuckte unbeholfen mit den Schultern. „Natürlich gibt es kein Gesetz, das den Umgang mit Vampiren regelt. Für nichts, was ich seit letzter Nacht erfahren habe, gibt es ein Gesetz.“

„Du hast erwähnt, dass Experimente an Menschen illegal seien.“

„Das ist richtig.“ Gigi seufzte und stellte den Teller auf der Fensterbank ab. Seine Bemerkung war wohl als Entscheidungshilfe gedacht, machte es aber keineswegs einfacher. Durch diesen einen Verdacht gegen die Firma war die Agentin erst in die jetzige Situation geraten.

„Möchtest du dem Gerichtshof für Menschenrechte erklären, was in diesen Laboren passiert?“, fragte sie, wobei sie sich einen sarkastischen Unterton nicht ganz verkneifen konnte.

„Nein, es gibt da jemanden, der besser redet als ich“, sagte Achilleas prompt. Immerhin besaß er Sinn für Humor.

„Der Mann, der Menschen als Kriegsbeute betrachtet?“, schlug Gigi vor.

„Asheroths Ansichten über Sterbliche sind ein wenig aus der Mode gekommen. Zum Glück haben wir noch einen dritten Bruder. Sein Name ist Commodus.“

„Ich muss ihn unbedingt kennenlernen.“ Die Agentin lächelte, froh darüber, dass er sich auf den kleinen Spaß einließ. Ansonsten schien in diesem Haus niemand zu lachen.

„Sobald wir ihn befreit haben, stelle ich euch gern einander vor.“

Ihr Lächeln erstarb und sie wandte sich kurz ab.

„Das war geschmacklos, das gebe ich zu. Leider ist genau das unsere Realität. Die Firma verschleppt und tötet unsere Angehörigen. Natürlich wehren wir uns.“

Gigi wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Jeder würde wohl so reagieren, wenn man seinesgleichen angriff.

„Aber das ist meine Sicht der Dinge. Was siehst du in uns?“ Er lehnte sich gespannt vor.

„Wie viele Menschen habt ihr verletzt, um euch zu ernähren?“, setzte sie unschlüssig an.

„Zahllose.“

„Was haben Gestaltwandler mit Menschen zu tun?“

„Sie entführen Mädchen, die ihnen unsterbliche Kinder gebären können, und lassen sie nie wieder gehen.“

Gigi erschauderte. Nach den Werwölfen fragte sie lieber erst gar nicht. „Wie viele seid ihr?“

„Schwer zu sagen, da nicht alle in Clans leben. Hunderte. Tausende vielleicht.“

„Also habe ich auf der einen Seite eine unberechenbar große Bedrohung durch Monster und die Firma erschafft neue Monster, um euch zu bekämpfen. Weiß der Himmel, was sie später aus diesen Hybriden machen wollen. Wie soll ich entscheiden, was schlimmer ist?“

Er verschränkte die Arme und schwieg einen Augenblick. Zum ersten Mal betrachtete sie die Feinheiten seines Gesichts. Für einen Menschen war Achilleas ein wenig zu bleich und dennoch eine imposante Erscheinung. Im Stillen vermutete Gigi, dass er leicht an Beute kam, wenn er es darauf anlegte.

„Ich weiß es nicht“, gab er schließlich zu. „Hast du je mit einem Söldner gesprochen oder einem der Laborassistenten?“

„Nein“, gab sie zu. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ihr wohl kein Mitarbeiter der Firma jemals die Wahrheit gesagt hätte. Aber das genügte nicht.

„Außerdem führt ihr auch noch Krieg gegeneinander, ohne jegliche Legitimation.“

„Wir verteidigen uns. Ist das nicht legitim?“

„Schon, aber…“ Gigi geriet ins Stocken. „Es ist zwecklos, darüber zu diskutieren. UN-Konventionen spielen hier überhaupt keine Rolle.“

Der Vampir stimmte ihr zu. „Allerdings wollten wir nie Krieg mit den Menschen. Bedenk das bitte.“

„Warum eigentlich nicht?“, fragte sie. „Ihr seid die weit überlegene Rasse.“

„Aus Erfahrung.“

Gigi hob erneut gespannt die Brauen. Die Neugier dieser Sterblichen kannte wirklich keine Grenzen. Ihre direkte Art gefiel Achilleas, aber wieder einmal erklärte er ihr keine Einzelheiten. Diese Geschichte lag beinahe so weit zurück wie ihre erste Auseinandersetzung mit den Werwölfen. Sie schien ein wenig enttäuscht.

„Meine Kollegen vermissen mich bestimmt schon“, merkte sie an, auch wenn sie nicht ganz freiwillig das Thema wechselte. „Ich muss mich im Büro melden.“

Er zog sein Handy aus der Jackentasche. „Hast du die Nummer im Kopf?“

„Ja, habe ich. Aber du könntest mir auch mein eigenes Telefon zurückgeben.“

„Das und deine Waffen bekommst du, sobald du uns verlässt“, versprach Achilleas und hielt ihr sein Handy hin. „Die Nummer ist unterdrückt.“

„Was soll ich antworten, wenn mein Chef fragt, wo ich bin?“

„Sag, du bist auf dem Rückweg, aber dein Flug hat Verspätung und du kannst nicht absehen, wie lange es dauern wird.“

Sie wählte die Nummer und wartete einen Augenblick. Eine männliche Stimme meldete sich nach dem vierten Freizeichen mit einem leicht entnervten Unterton. Nachdem Gigi ihrem Chef erklärt hatte, wo sie war, wollte er wissen, ob bei ihrem letzten Einsatz etwas herausgekommen war.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete die Agentin. „Vielleicht habe ich mich geirrt.“

„Welche Überraschung“, brummte ihr Vorgesetzter. „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie diese Ermittlung besser einstellen. Melden Sie sich bei mir im Büro, sobald Sie wieder hier sind.“

Damit war das Gespräch beendet.

„Ist dieser Mann immer so… überzeugt von dir?“, fragte Achilleas, als er sein Telefon entgegennahm.

„Er sagt, ich sei eine hervorragende Agentin, ich verbeiße mich bloß manchmal in die falschen Dinge.“

„Ist das so?“

Gigi verschränkte die Arme. „Ich denke, ich bin nur gründlich. Und jetzt stehe ich hier und weiß nicht, was ich tun soll.“

Auf diese Art war wohl noch kein Mensch mit den Unsterblichen in Berührung gekommen. Achilleas fasste einen Entschluss, um ihre Entscheidung voranzubringen. „Ich werde den nächsten Flug nach Ägypten nehmen und den Stützpunkt der Firma angreifen. Begleite mich.“

Gigi schaute ihn überrascht an. „Was versprichst du dir davon?“

„Sie werden Söldner als Wachen aufgestellt haben. Wenn du das Risiko eingehen willst, kannst du mit ihnen reden und dir ein Bild machen.“

Ihm war bewusst, dass Asheroth diese Idee missbilligen würde, aber er würde sich nicht davon abbringen lassen. Diese Sterbliche würde den Vampiren nie blind vertrauen, also musste Achilleas sie davon überzeugen, dass sie das Richtige taten. Sie überlegte einen Moment, wobei sie Hugh und Batiste auf dem Rasen beobachtete. Der Hybrid war ein miserabler Nahkämpfer, aber er hielt sich verbissen auf den Beinen.

„Einverstanden“, sagte Gigi schließlich. „Aber ich will allein mit ihnen reden.“

„Das richten wir ein.“

Zufrieden ging der Älteste nach unten, um ein Team zusammenzustellen. Mira fand er bei ihren Vampiren im Saal. Außerdem saßen Elvera und Jasmina mit ihr am Tisch.

„Ich werde als nächstes den Außenposten in Ägypten angreifen. Wer von euch erweist mir die Ehre und bewacht dort Gigi?“, fragte Achilleas.

„Du willst sie mitnehmen?“, gab Mira skeptisch zurück. „Damit bringst du sie in Gefahr.“

„Das ist ihr bewusst, aber wir verfolgen einen Zweck. Sie will mit den Söldnern reden, bevor wir angreifen.“

Elvera neigte den Kopf. „Du willst sie eine Seite wählen lassen?“

„Exakt.“

„Und wenn sie sich gegen uns entscheidet?“ Jasminas Augen wurden schmal.

„Wäre das sehr bitter, aber Mira hat ihr versprochen, sie gehen zu lassen, wie auch immer ihre Wahl ausfällt.“ Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht, weil Gigi ihm sympathisch war, aber das Risiko nahm Achilleas in Kauf. Mira rückte auf ihrem Stuhl nach vorn, als wollte sie sich direkt mit ihm auf den Weg machen, zögerte jedoch.

„Du kannst gehen, wenn du mir deinen Clan anvertraust, bis Anzheru zurück ist“, bot Elvera an.

„Wir lassen sie auf keinen Fall allein“, versprach Jasmina.

„Danke, ich sage Yvette Bescheid“, sagte Mira erleichtert. Achilleas verließ an ihrer Seite den Saal. Letizia stand in der Eingangshalle und wippte von ihren Fersen auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Sie sah Mira direkt an, als hätte sie mitgehört.

„Darf ich mitkommen?“, fragte die Geborene.

„Auf keinen Fall. Das ist viel zu gefährlich.“

„Lass mich irgendwas tun!“, erwiderte Letizia ungeduldig. „Ich darf ja nicht mal mit auf die Jagd gehen. Immer ist alles zu gefährlich.“

„Wir befinden uns im Krieg! Verstehst du das nicht?“ Mira blieb ihr gegenüber stehen. Ihre Tochter reichte ihr gerade einmal bis zur Schulter. Trotzig reckte sie ihr Kinn vor. „Natürlich weiß ich das! Sonst hätte Leyth mich nicht in dieses Loch gesteckt. Aber ich will auch irgendwas tun, wenn alle anderen kämpfen.“

Mira hob hilflos die Arme. „Ich muss mit Yvette sprechen. Such du Flüge nach Kairo für uns heraus.“

„Für wie viele?“

„Fünf Personen“, antwortete Achilleas.

„Und dann?“, fragte Letizia enttäuscht.

„Überwache die Nachrichten im Fernsehen und im Internet. Recherchiere, ob es irgendwo konkrete Daten über Unsterbliche gibt“, sagte Mira nachdenklich.

„Inklusive Verschwörungstheorien?“, hakte die Geborene nach.

„Tatsächlich ja. Wenn wir davon ausgehen, dass sich noch mehr Söldner aus dem Staub machen, bevor die Firma sie liquidiert, landen vielleicht irgendwann Informationen im Netz.“

„Verstehe.“ Damit gab sie sich fürs Erste zufrieden. Achilleas hatte keine genaue Vorstellung davon, wie lange es Letizia beschäftigen würde, nach diesen Dingen zu suchen, aber immerhin war es Mira gelungen, ihr Kind sinnvoll einzubinden.

„Yvette ist mit Gwen auf dem Dach. Sie testen mit den Adlerschwestern, ob sie sie im freien Fall auffangen können.“ Die Geborene verzog das Gesicht. „Wo ich übrigens auch nicht mitmachen durfte.“

Mira kommentierte diese Aussage nicht, bevor sie sich auf den Weg machte. Achilleas hütete sich lieber, ihr Kind auf irgendwelche waghalsigen Gedanken zu bringen. Stattdessen verließ auch er das Gebäude, um sein Team zu erweitern. Als er den Rasen betrat, rammte Batiste Hugh so hart, dass er zu Boden ging und dem Ältesten bis vor die Füße rutschte. Beim Versuch, sich aufzurichten, stöhnte er leise und sank zurück ins nasse Gras.

„War das schon alles?“, fragte Batiste belustigt.

„Ich hasse dich“, knurrte der Hybrid, was allerdings nicht der Wahrheit entsprach.

„Wenn du wieder aufstehen kannst, kommst du mit Mira und mir zum Flughafen“, sagte Achilleas. „Wir reisen nach Ägypten.“

Hugh sah überrascht auf. „Und was wird meine Aufgabe sein?“

„Du beschaffst uns die neuesten Waffendaten und alles über die Finanzen der Firma. Denkst du, du kannst das?“

„Kommt darauf an, ob ich von der Außenstelle auf die Hauptserver zugreifen kann.“ Er stemmte sich mühsam auf die Knie. „Einen Versuch ist es wert.“

„Gut.“ Der Älteste warf Batiste einen kurzen Blick zu, worauf sein zweiter Leibwächter nickte. Ihm brauchte er nichts zu erklären. Wie sich herausstellte, ging der nächste Linienflug erst mitten am Tag, sodass sie sich am Morgen in der Eingangshalle des Hauptquartiers versammelten. Letizia überreichte Mira die Flugunterlagen. Gigi hatte noch ein wenig geschlafen. Jetzt blieb sie neben Achilleas stehen und musterte Hugh, der noch mit Keith und Batiste an den Türen zum Saal stand.

„Dieser Mann kommt mir schon die ganze Zeit bekannt vor“, sagte sie leise.

„Woher?“

„Ich glaube, ich habe ihn schon einmal auf einem Fahndungsfoto gesehen.“

Mittlerweile wurde der Hybrid auf sie aufmerksam. Er verzog das Gesicht, als er auf die Agentin zuging. Achilleas sah gespannt zu.

„Ich brauche mich wohl nicht mehr vorzustellen?“, begann sie das Gespräch.

„Nein, du bist das Tagesgespräch Nummer eins.“

Gigi schlug die Augen nieder. „Gegen dich liegt ein Haftbefehl vor.“

„Nur einer?“, fragte Hugh scherzhaft, dann wurde seine Miene wieder ernster. „Ich vermute, der Haftbefehl stammt aus Großbritannien.“

„Ja, angeblich sogar auf Veranlassung des Geheimdienstes. Was hast du angestellt?“

Der Hybrid grinste gezwungen und schob die Hand in die Jackentasche, in der sich üblicherweise sein Tabak befand. Erst dann warf er Achilleas einen fragenden Blick zu.

„Antworte ihr“, befahl der Älteste interessiert.

„Nun, ich… war mal für ein paar Monate beim MI6 angestellt. Ich habe den IT-Chef mehrmals darauf hingewiesen, dass sein System massive Sicherheitslücken hat, aber er hörte nicht zu. Als ich ihm gezeigt habe, wie leicht man an sensible Daten rankam, war er auch nicht begeistert.“

„Das reicht nicht ganz, um seit Jahren auf der schwarzen Liste zu stehen.“ Gigi neigte den Kopf etwas zur Seite. Hugh rieb sich das Kinn. Als sein Auge eisblau aufflackerte, stellte Achilleas sich vor die Agentin. Natürlich weckte ihr Duft seinen Durst.

„Ich habe es im Griff“, sagte er gereizt.

„Nein, hast du nicht“, widersprach Batiste und zog ihn von hinten einen halben Schritt zurück. „Nach so kurzer Zeit erwartet das auch keiner von dir, also sind wir vorsichtig.“

„Wie lange wird es dauern, bis der Durst endlich weggeht?“, fragte Hugh, wobei sein linkes Auge erneut aufglühte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739496443
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Agentin Überlebenskampf Aurawesen Dimension Hybriden Fantasy düster dark

Autor

  • Al Rey (Autor:in)

Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.
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Titel: Tageswandler 5: Gigi