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Wolfsblues

Eine Geschichte zum aus der Haut fahren

von Vanessa Carduie (Autor:in)
380 Seiten
Reihe: Schattenseiten-Trilogie, Band 3

Zusammenfassung

Der Feind ist aus dem Schatten getreten ... Nachdem die Machenschaften der Schwarzmagier entdeckt wurden, liegt die Zukunft der übernatürlichen Wesen in der Hand einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Werwölfen, Vampiren und einer Hexe. Die Werwölfin Tamara hat eigentlich mehr als genug um die Ohren. Trotzdem stellt sie sich auf die Seite ihrer besten Freundin Erika. Damit macht sie sich nicht nur Freunde bei den Werwölfen. Dazu kommt noch eine neue Mitbewohnerin, die ihre Aufmerksamkeit fordert. Was sie überhaupt nicht gebrauchen kann, sind weitere Komplikationen, aber natürlich hat das Schicksal eigene Pläne. So kommt es, dass sie sich in einen ungewöhnlichen Mann verliebt, und dadurch zwischen die Fronten gerät. Egal, wofür sie sich entscheidet, hinterher wird nichts mehr so sein wie es war ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DAS BUCH

Der Feind ist aus dem Schatten getreten ...

Nachdem die Machenschaften der Schwarzmagier entdeckt wurden, liegt die Zukunft der übernatürlichen Wesen in der Hand einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Werwölfen, Vampiren und einer Hexe.

Die Werwölfin Tamara hat eigentlich mehr als genug um die Ohren. Trotzdem stellt sie sich auf die Seite ihrer besten Freundin Erika. Damit macht sie sich nicht nur Freunde bei den Werwölfen. Dazu kommt noch eine neue Mitbewohnerin, die ihre Aufmerksamkeit fordert.

Was sie überhaupt nicht gebrauchen kann, sind weitere Komplikationen, aber natürlich hat das Schicksal eigene Pläne. So kommt es, dass sie sich in einen ungewöhnlichen Mann verliebt, und dadurch zwischen die Fronten gerät.

Egal, wofür sie sich entscheidet, hinterher wird nichts mehr so sein wie es war ... 

DIE AUTORIN

Vanessa Carduie erblickte an einem grauen Herbstmorgen 1988 in Dresden das Licht der Welt. Geschichten faszinierten sie von klein auf und bald folgten die ersten eigenen Erzählungen. Sie hat s einen Masterabschluss in Biologie und veröffentlicht seit 2016 Bücher im Selfpublishing.

Ihre Geschichten sind eine Mischung aus Liebesroman, Krimi und Fantasy, je nachdem, an welchem Projekt sie gerade arbeitet. Mit ihren Büchern möchte sie ihre Leserinnen und Leser zum Lachen, Weinen und manchmal auch zum Nachdenken bringen. Dafür beschreitet sie auch gern ungewöhnliche Wege.

 

https://www.vanessa-carduie.com/

https://www.facebook.com/VanessaCarduieAutorin


Impressum

Dieses Buch unterliegt dem deutschen Urheberrecht. Das Vervielfältigen oder Veröffentlichen dieses Buches oder Teilen davon, ohne Zustimmung der Autorin, ist in jeglicher Form verboten.

Übereinstimmungen mit tatsächlich existierenden Personen, Orten oder Geschehnissen sind rein zufällig. Dieses Buch ist ein fiktives Werk, auch wenn es sich an realen Umständen orientiert und versucht, mit Fakten zu arbeiten.

Copyright © 2017 Vanessa Carduie

All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten.

Cover: Thiemo Schulz

Lektorat: Karin Kaiser

Korrektorat: Sandra Grüter

Vanessa Carduie

Bärwalder Str. 3

01127 Dresden

Ausgabe 1.2 (14.02.2021)

Wolfsblues

- Eine Geschichte zum aus der Haut fahren -

Teil 3 der Schattenseiten-Trilogie

Vanessa Carduie

Einen guten Menschen

erkennt man nicht an seiner Hautfarbe, sondern anhand seines Verhaltens Schwächeren gegenüber.

Was auf den ersten Blick fremd wirkt,

hat bei genauerer Betrachtung plötzlich Ähnlichkeit mit uns selbst.

Das Fremde kann Angst machen, doch wir sollten uns niemals von Furcht oder alten Vorurteilen lenken lassen.

Am Ende sind wir doch alle gleich: Wir lieben, leiden, lachen und weinen – und wir bluten.

Jeder Mensch strebt nach Glück und einem Leben ohne Angst oder Hunger.

Wer bin ich, dass ich denke, über dich richten zu können?

Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung sollten niemals darüber entscheiden, ob ich als guter oder schlechter Mensch gesehen werde.

Veränderungen sind nicht immer angenehm,

aber wichtig.

Wer immer nur in seinem Suppenteller paddelt,

vergisst viel zu schnell, dass wir alle aus einem großen Topf stammen. Erst die verschiedenen Komponenten geben dem Ganzen seinen Geschmack.


Nicht noch ein Teenie

Stimmen reißen mich aus meinem wohlverdienten Schlaf. Im ersten Augenblick glaube ich, dass es eines meiner jüngeren Geschwister ist, das diesen Lärm veranstaltet, aber bei genauerem Hinhören, erkenne ich meine Eltern.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Sabine. Wir haben drei eigene Kinder und wer weiß, was für Probleme uns die Kleine ins Haus schleppt?“, fragt mein Vater aufgebracht.

„Jetzt halt doch mal die Luft an! Das Mädchen ist ein halber Werwolf und wurde von ihrer Pflegefamilie ausgenutzt.“ Meine Mutter stockt. „Hast du nicht gehört, dass ihr eigener Pflegevater sie brutal zusammengeschlagen hat?! Du kannst doch nicht wollen, dass sie zu diesen Verbrechern zurückmuss!“

Wie bitte?! Ich verstehe nur Bahnhof. Ich schlüpfe aus dem Bett und tapse auf leisen Sohlen nach unten in die Küche. Es ist Segen und Fluch zugleich, dass meine Ohren so empfindlich sind. Allerdings hoffe ich, dass meine Geschwister noch tief und fest schlafen. Diese Diskussion ist anscheinend nicht für unsere Ohren bestimmt.

„Natürlich will ich nicht, dass sie bei diesen Verbrechern bleibt, aber warum muss sie denn ausgerechnet bei uns unterkommen?“, wehrt mein Vater ab.

„Weil wir die einzige Familie im Rudel sind, die Kinder im passenden Alter hat.“

Vorsichtig schleiche ich in die Küche und luge um die Ecke, um einen Blick auf meine Eltern zu erhaschen. Sie stehen am Küchentisch und funkeln sich gereizt an. Meine Mutter hat ihre Arme vor der Brust verschränkt und wirkt unnachgiebig. Mein sonst so ausgeglichener Vater hat einen roten Kopf und ringt sichtlich um seine Beherrschung.

„Warum kümmert sich Erika denn nicht um sie? Schließlich hat sie die Kleine aufgelesen“, versucht es mein Vater noch einmal. Allerdings beißt er auf Granit.

„Erika? Willst du mir mal erklären, wie sie sich um die Erziehung einer jungen Werwölfin kümmern soll, wenn sie studiert und mit einem Vampir zusammenlebt?“

Mein Interesse hat sich seit der Erwähnung meiner besten Freundin ins Unermessliche gesteigert. Was hast du jetzt wieder angestellt, Erika?, frage ich mich. In letzter Zeit scheint sie ein regelrechter Magnet für Ärger zu sein. Mich freut es, dass sie endlich ihrem Herz gefolgt ist und ihren Vampir für sich gewonnen hat. Es war schon fast lächerlich, wie die beiden umeinander herumgeschlichen sind, ohne zu bemerken, was Tatsache ist. Aber natürlich habe ich, als Außenstehende, gut reden und die beiden sind echt süß miteinander. Leider freuen sich nicht alle im Rudel über das Glück der beiden. Besonders ein paar aufmüpfige Halbstarke fordern, dass Karl ihr den Umgang mit Fabian verbietet. ‚Wir hätten zu wenige Frauen, da sollten wir sie nicht auch noch an unsere Erzfeinde, die Vampire, verlieren. Was würde denn aus dem Rudelleben werden, wenn plötzlich jeder mitmachen kann?‘

So ein Schwachsinn! Wenn Erika Interesse an einem der Wölfe gehabt hätte, könnte auch Fabian nichts daran ändern.

Es stimmt, dass wir in den meisten Rudeln weniger Frauen als Männer haben, doch das wird sich nicht ändern, wenn wir Wölfe untereinander bleiben. Es sollte jedem klar sein, dass eine Durchmischung wichtig ist. Sonst kommt es irgendwann zur Inzucht und die Geburtenraten sinken in den Keller oder versiegen ganz. Selbst wenn sich die Rudel untereinander mehr vermischten, reicht es wahrscheinlich nicht aus. Irgendjemand wird keinen Partner unter Seinesgleichen finden und muss dann auf einen Menschen oder Vampir ausweichen.

Meine Gedanken werden unterbrochen, als meine Eltern weiter diskutieren.

„Was hast du für ein Problem, Thomas? Tamara ist erwachsen, Phil und Saskia stecken nicht mehr in den Kinderschuhen. Du weißt, wie schwierig diese Phase für einen jungen Werwolf ist. Die erste Verwandlung ist niemals einfach. Die Kleine braucht stabile Verhältnisse und jemanden, der sie unterstützt.“

Mein Vater seufzt ergeben. „Okay, okay. Ich hab‘s kapiert. Nur wo sollen wir sie unterbringen?“

„Sie kann in meinem Zimmer schlafen“, melde ich mich zu Wort und erschrecke meine Eltern mit meiner Anwesenheit.

„Tamara! Was machst du denn hier?“, fragt mein Vater überrascht.

Ich sehe ihn mit erhobenen Augenbrauen an. „Ihr wart ein bisschen zu laut, um ein heimliches Gespräch zu führen.“

„Du hörst wirklich alles.“ Mein Vater schüttelt den Kopf. „Wie stellst du dir das vor? Soweit ich mich erinnern kann, warst du froh, als du endlich dein eigenes Zimmer hattest.“

„Saskia und Phil werden wohl kaum etwas von ihrem Reich abgeben wollen.“ Ich sehe meine Eltern an. „Seien wir doch mal ehrlich. Es ist reine Bequemlichkeit, dass ich noch hier wohne. In sehr naher Zukunft werde ich meine eigene Wohnung haben und damit wäre mein Zimmer sowieso frei. Wo liegt das Problem, wenn ich diesen Zeitpunkt schon etwas vorverlege?“

Meine Eltern sehen mich entsetzt an. „Warum willst du ausziehen?“, fragt meine Mutter.

„Wie du gerade so schön festgestellt hast, bin ich erwachsen. Ich werde in wenigen Wochen sechsundzwanzig. Es ist höchste Zeit, dass ich endlich ausziehe und mein eigenes Leben beginne!“

Mein Vater funkelt meine Mutter wütend an. „Siehst du, was du angerichtet hast?“

„Jetzt mach mal halblang, Papa!“, gehe ich dazwischen, bevor meine Mutter antworten kann. „Ihr müsst euch beide mit der Tatsache abfinden, dass ich demnächst ausziehen werde. Menschliche Kinder wohnen selten so lange bei ihren Eltern und ich möchte endlich mein eigenes Leben haben.“

„Diese Flausen hast du bestimmt von Erika, oder?“

Ich verschränke meine Arme vor der Brust und schicke meinem Vater einen bösen Blick. „Ist Erika dein ultimativer Sündenbock, nur weil sie endlich mit Fabian zusammengekommen ist?“

Bei dem Wort ‚endlich‘ steigert sich die Röte seines Gesichtes noch. „Wie kannst du es wagen, so zu reden?!“

„Wie kannst du es wagen, über sie zu urteilen?“, kontere ich. „Die beiden gehören einfach zusammen! Das wird auch kein engstirniger Wolf ändern! Selbst Karl hat erkannt, dass sie eine ganz besondere Verbindung zueinander haben. Denkst du nicht, dass es etwas zu bedeuten hat, dass ausgerechnet dieses ungewöhnliche Paar eine echte Gefährtenbindung hat, von der die Wölfe seit Jahrzehnten träumen?“

Sprachlos sieht mich mein Vater an, während meine Mutter still lächelt.

„Die Zeiten haben sich geändert, Papa. Damit müsst ihr langsam klarkommen. Außerdem ist Fabian ein cooler Typ - für einen Blutsauger“, meine ich mit einem Augenzwinkern. „Ich habe schon mehr als einen Abend in seiner Gesellschaft verbracht und geschadet hat es mir nie. Hast du nicht gesagt, dass man sich immer sein eigenes Urteil über eine Person oder Situation bilden und nicht das nachplappern soll, was andere sagen? Ich habe das getan und bin zu dem Schluss gekommen, dass Fabian mehr als okay und einfach nur perfekt für Erika ist. Von ihm könnten sich manche Wölfe eine Scheibe abschneiden.“

Während mein Vater wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappt und nach einer passenden Antwort sucht, umarmt meine Mutter mich lächelnd.

„Ich bin stolz auf dich, Tamara. Zwar wäre es mir lieber, wenn du bei uns bleiben würdest, aber du hast das Recht auf dein eigenes Leben. Versprich mir nur, es nicht zu überstürzen, ja?“

„Ja, Mama. Es wird eine Weile dauern, bis ich eine passende Wohnung oder WG finde.“ Wir lösen uns voneinander. „Außerdem hat es definitiv Vorteile, wenn man alleine in einer Wohnung lebt“, meine ich grinsend.

„Wehe, du schleppst einen Blutsauger an, Fräulein“, droht mein Vater.

Ich bin versucht, ihm die Zunge herauszustrecken, doch das ist mir zu kindisch. „Wenn ich mich zufällig in einen Vampir oder einen Menschen verlieben sollte, wirst du damit leben müssen. Es ist mein Herz, mein Körper und damit meine Entscheidung.“

Schwungvoll drehe ich mich um und lasse meinen verdatterten Vater in der Küche stehen. Meine Mutter folgt mir bis zum Zimmer.

„Dein Vater wird sich wieder beruhigen. Er macht sich nur Sorgen um euch. Seitdem bekannt ist, dass es Werwolfjäger gibt, ist er ein bisschen übervorsichtig und misstrauisch.“

„Ich weiß, Mama. Aber ich werde mich bestimmt nicht von ihm bevormunden oder meine beste Freundin beschimpfen lassen. Erika und Fabian sowie ihren Verbündeten ist es zu verdanken, dass wir die Jäger vorerst los sind.“

Sabine seufzt. „Mir musst du das nicht erklären. Ich habe keine Ahnung, was mit den Männern los ist. Wahrscheinlich fühlen sie sich in ihrer Ehre gekränkt, weil sie die Bedrohung nicht rechtzeitig erkannten und ein Fremder die Situation gerettet hat.“

„Sie sollen froh sein, dass es so glimpflich abgelaufen ist. Ich will mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können, wenn Fabian Erika nicht aus dieser brenzligen Lage befreit hätte.“ Genervt schüttele ich den Kopf. „Wovor haben sie Angst? Dass alle jungen Wölfinnen jetzt Vampirgroupies werden? Das ist mehr als nur lächerlich! Je älter ich werde, desto weniger möchte ich einen Wolf als Partner haben“, vertraue ich meiner Mutter an und versetze ihr einen leichten Schock.

„Tamara!“

Gelassen zucke ich mit den Schultern. „Es stimmt doch. Schau dir die Werwölfe in unserem Rudel an. Die Mehrzahl würde ich liebend gern auf den Mond schießen. Ihre blöden Forderungen und mittelalterlichen Ansichten lassen jede halbwegs vernünftige Wölfin die Flucht ergreifen. Das beste Beispiel ist Gregor. Keine Ahnung, seit wie vielen Jahren er um Erika und mich herumschleicht. Meiner Meinung nach ist jede Sekunde in seiner Gegenwart eine Strafe.“

Meine Mutter nickt. „Dieser Jungwolf ist wirklich eine Nervensäge. Sein Benehmen auf der letzten Rudelversammlung war jenseits von Gut und Böse.“

„Er hat sich die Abreibung durch Fabian mehr als verdient.“

Mama streicht sich über ihre Oberarme. „Die Verwandlung war ziemlich beängstigend. Da zeigt sich, wie gut sie ihre wahre Natur verbergen können.“

„Du meinst wohl ihre dämonische Seite“, korrigiere ich sie. „Fabian ist und bleibt eine liebenswerte Person, ob Vampir oder nicht. Man sollte nur nie den Fehler machen und ihn unterschätzen – oder Erika angreifen.“

„Wahrscheinlich hast du Recht.“ Sie wirft einen Blick über ihre Schulter, bevor sie mir ins Ohr flüstert: „Karl hält heute Nacht eine Versammlung ab. Wenn ich es richtig verstanden habe, sucht er Freiwillige, die mit den Vampiren zusammenarbeiten. Ich weiß nur nicht, worum es geht.“

Mit großen Augen sehe ich sie an. „Wow. Das klingt, als ob die Sache mit den Jägern noch nicht ausgestanden ist. Ich werde vorbeischauen.“

„Das vermutete ich schon.“ Meine Mutter betrachtet mich liebevoll und ein wenig wehmütig. „Du bist wirklich erwachsen geworden. Es ist an der Zeit, dass du deinen eigenen Weg gehst.“

„Danke, Mama.“ Wir umarmen uns.

„Hast du Lust, deine neue Mitbewohnerin mit abzuholen?“, wechselt sie das Thema.

„Gern. Kannst du mir erzählen, was passiert ist?“

Meine Mutter zuckt mit den Schultern. „Tja, wenn ich das so genau wüsste. Deine Freundin ist gestern zusammen mit ihren vampirischen Verbündeten über das verletzte Mädchen gestolpert. Anscheinend wurde sie regelmäßig von ihrem Pflegevater geschlagen. Er muss auch mehrmals versucht haben, sich an ihr zu vergehen.“

Ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinunter. „Oh Gott! Das ist schrecklich. Wo ist sie jetzt?“

„Bei der Großmutter einer Freundin von Erika. Sie soll eine Hexe sein.“

Nachdenklich runzele ich meine Stirn. Es gibt kaum noch Hexen, wenn man an die alten Geschichten glaubt. Bisher hatten Werwölfe keinen Kontakt zu ihnen. Allerdings klingelt es in meinem Hinterkopf. Ich habe erst vor kurzem mit Erika über eine Hexe gesprochen …

„Ah, natürlich! Valeria“, rufe ich, als der Groschen endlich fällt.

„Wie bitte?“, erkundigt sich meine Mutter irritiert.

„Tut mir leid. Valeria ist die Hexe, die Erika bei der Beseitigung des Pentagramms geholfen hat. Gleichzeitig ist sie das einzige Opfer der abtrünnigen Vampire, das den Angriff überlebte. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie einen wesentlichen Beitrag zu deren Ergreifung geleistet.“

„Mhm. Es ist schon eigenartig, dass sich plötzlich so viele übernatürliche Wesen begegnen, die Jahrhunderte lang nichts miteinander zutun hatten“, grübelt meine Mutter.

„Vielleicht ist es einfach an der Zeit“, sage ich schulterzuckend. „Wir haben uns in der Vergangenheit immer mehr voneinander abgeschottet. Erika ist die einzige Wölfin im Rudel, die Kontakt zu einem Vampir hatte. Dabei ist Fabian definitiv nicht das einzige Exemplar seiner Spezies in der Stadt.“

„Ich bin auch nicht böse, dass ich bisher keinem begegnet bin“, meint meine Mutter nur.

„Die Schauermärchen, die seit Generationen über die Vampire erzählt werden, sind genauso falsch, wie die der Menschen über Werwölfe. Trotzdem werden sie nicht hinterfragt und halten uns effektiv voneinander fern. Allerdings werden wir uns in Zukunft annähern müssen, wenn wir überleben wollen. Die Menschen sind auf dem Vormarsch und für sich alleine wird keine der übernatürlichen Subspezies überleben können. Die Zahl der Wölfe schrumpft beständig. Die Hexen wurden über die Jahrhunderte fast vollständig ausgerottet und die Vampire verstecken sich in den Schatten und spielen die stillen Beobachter.“

„Du malst ein düsteres Bild“, sagt sie erstaunt.

„Eher realistisch. Wenn wir weiterhin unter uns bleiben, dann werden wir irgendwann aussterben. Ich bin mit vielen im Rudel verwandt und das wird nicht besser werden.“

„Das stimmt leider. Aber sind Vampire nicht die falschen Partner? Es heißt doch, dass sie sich nicht fortpflanzen können.“

Meine linke Augenbraue wandert nach oben. „Bisher dachte man ebenfalls, dass eine Bindung zwischen Wölfen und Vampiren unmöglich ist. Meines Erachtens sollten wir uns auf einige Überraschungen gefasst machen. Selbst wenn die Vampire ausscheiden, dann bleiben uns noch die Menschen. Es gibt mehr als nur einen Mischling, der einen rein menschlichen Elternteil hat. Bisher sind uns daraus keine Nachteile entstanden.“

Nachdenklich sieht sie mich an. „Vielleicht hast du Recht. Das kleine Mädchen, Miriam heißt sie übrigens, ist auch eine halbe Werwölfin. Deine Freunde und Karl versuchen herauszufinden, wer genau ihre Eltern waren.“

„Was wird eigentlich mit ihren Pflegeeltern?“, erkundige ich mich.

Der Gesichtsausdruck, den Mama jetzt bekommt, würde jeden das Fürchten lehren. „Ich hoffe, dass sie ihre verdiente Strafe bekommen und nie wieder ein Kind unter ihnen leiden muss!“

„Wahrscheinlich wird Fabian deinen Wunsch unterstützen. Ich werde Erika später fragen. Sie wird beim Treffen dabei sein, oder?“

„Ich denke schon.“

Ich gähne und schaue auf meine Uhr. Es ist erst gegen acht. So früh wird nichts passieren. „Na gut. Ich lege mich wieder hin. Ihr werdet Miriam nicht vor dem Nachmittag abholen, oder? Bis dahin kann ich mein Zimmer so umräumen, dass ein Mädchen Platz darin findet.“

Meine Mutter legt mir eine Hand auf den Arm. „Du musst das nicht tun, Tamara. Wir finden auch eine andere Lösung. Saskias Zimmer wäre groß genug oder deine Schwester muss mit Philipp zusammenziehen.“

Ich schüttele den Kopf. „Nein, lass mal. Ich bezweifle, dass du die drei damit glücklich machen würdest. Phil und Saskia in einem Zimmer würde nur zu Mord und Totschlag führen. Saskia ist sehr auf ihre Privatsphäre bedacht. Wir können erstmal ein Klappbett in mein Zimmer stellen. Ich schiebe mein Bett an die Wand und dann sollte genug Platz sein. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie am Anfang nicht alleine ist.“

„Wenn du meinst“, seufzt Sabine. „Wir werden sehen, wie Miriam sich entscheidet. Nach dem, was sie durchgemacht hat, wird sie eine Weile brauchen, um es zu verarbeiten und sich an uns zu gewöhnen.“

„Alles wird gut, Mama“, ermutige ich sie. „Ihr seid die besten Eltern der Welt. Gemeinsam schaffen wir das schon.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, murmelt sie, bevor sie mir einen Kuss auf die Stirn gibt und ich meinen unterbrochenen Schlaf wieder aufnehme.

Müde krieche ich in mein gemütliches Bett und wickele mich in die Decke ein. Das Schicksal des unbekannten Mädchens rührt mich. Ich hoffe, dass sie bei uns ein neues Leben beginnen kann. Meine Augen fallen zu und gleich darauf bin ich im Land der Träume.

Stunden später werde ich unsanft geweckt. Krachend fliegt meine Zimmertür auf und meine zwei jüngeren Geschwister stürmen den Raum. Das ist etwas, was ich definitiv nicht vermissen werde.

„Tamara! Unsere Eltern haben beschlossen, eine fremde Werwölfin aufzunehmen!“, ruft meine Schwester aufgeregt. Sie scheint noch unsicher zu sein, ob das eine gute oder eine schlechte Sache ist. „Ich hoffe, dieses Mädchen ist nicht eingebildet oder sonst wie doof“, quasselt sie weiter. „Ich will keine Nervensäge in meiner Nähe haben.“

Das sagt die Richtige, denke ich nur und tausche einen kurzen Blick mit meinem Bruder aus. Philipp ist sieben Jahre jünger als ich. Von Saskia trennen mich ganze zehn Jahre. Durch den Altersunterschied musste ich oftmals Babysitter spielen. Trotzdem haben wir ein gutes Verhältnis zueinander. Früher hat es mich schon genervt, dass ich mich mit den Babys rumschlagen musste, doch mittlerweile sind wir alt genug, um vernünftig miteinander umzugehen. Meine Eltern wollten schon immer drei Kinder, nur der große Abstand zwischen uns war nicht geplant oder besser: meine vorzeitige Ankunft. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, war sie keine Zwanzig. Die Begeisterung der Familien hielt sich in Grenzen und es gab einige Querelen. Doch meine Eltern haben sich zusammengerauft, und sind glücklich miteinander geworden. Als dann alles in trocknen Tüchern war, sprich beide einen Job hatten, sich eine größere Wohnung und die Hochzeit leisten konnten, kamen meine Geschwister angekleckert. Ich muss es meinen Eltern hoch anrechnen, dass sie ihren Frust - den sie zweifellos gehabt hatten - nicht an mir ausließen. Vielleicht fällt es ihnen gerade deswegen schwer, mich gehenzulassen.

Ich gähne herzhaft und fahre mir durch meine kurzen Haare. „Ich weiß. Du brauchst aber keine Angst zu haben, Miriam schläft erstmal bei mir.“

Meine Geschwister sehen mit verdattert an.

„Wieso weißt du das denn schon?“, fragt Phil mich und verschränkt seine Arme vor der Brust. Mein Brüderchen hat sich in den letzten Jahren zu einem ansehnlichen Kerl gemausert. Mit den modisch frisierten dunklen Haaren und der muskulösen Erscheinung dürfte er Gegenstand vieler Mädchenträume sein. Sein Gesicht kann man sich auch ansehen, ohne dass einem schlecht wird, und schon jetzt hat er das Killerlächeln perfektioniert.

„Gute Ohren“, antworte ich nur.

Philipp grinst mich an. „Hast du etwa gelauscht?“

Ich werfe ihm einen strengen Blick zu. „Ich lausche nie! Was kann ich dafür, dass unsere Eltern sich laut genug unterhalten, um mich aus dem Schlaf zu reißen?“

„Natürlich“, schnaubt Phil.

„Halt die Luft an, Kleiner“, ärgere ich ihn.

„Hey, ich bin fast zwanzig!“, springt er prompt darauf an.

„Du bist neunzehn!“, mischt sich unsere Schwester besserwisserisch ein.

„Eben, fast zwanzig!“

Während sich meine Geschwister streiten, krieche ich aus dem Bett. Ich fühle mich noch lange nicht erholt. Das Gezeter der beiden macht es nicht besser.

„Ruhe!“, sage ich laut genug, um sie innehalten zu lassen.

„Falls ihr euch nur wegen Phils Alter streiten wollt, dann tut das in euren Zimmern.“ Ich sehe sie streng an. „Miriam ist so alt wie du, Saskia. Sie hat Schlimmes durchgemacht und könnte eine Freundin gebrauchen. Du wirst deinen Charme stecken lassen, Phil. Ihr Pflegevater hat anscheinend mehrfach versucht, sie zu missbrauchen.“

Meine Geschwister schauen mich schockiert an. „Ihr habt unseren Eltern gar nicht zugehört, richtig?“, stelle ich fest.

„Na ja, wir waren so überrumpelt, dass hier ein fremdes Mädchen einziehen soll …“, gibt Saskia betreten zu.

„Es war schlimm, oder?“, fragt mein Bruder.

Ich zucke mit den Schultern. „Davon gehe ich aus. Erika hat die Kleine aufgesammelt, nachdem Miriam von ihrem Pflegevater zusammengeschlagen wurde. Im Moment ist sie bei der Großmutter einer Freundin, aber wir werden sie heute Nachmittag abholen und herbringen.“

„Warum bleibt sie nicht dort?“, quengelt Saskia.

Ich stemme meine Hände in die Hüften. „Weil wir schlecht einer alten Dame die Erziehung einer jungen Werwölfin überlassen können. Miriam ist bisher bei den Menschen aufgewachsen und hat keine Ahnung, was es heißt, ein Werwolf zu sein. Ihre erste Verwandlung steht kurz bevor. Würdest du das ohne Unterstützung durchmachen wollen?“

„Nein.“ Saskia schaut betreten zu Boden.

„Gut. Da das geklärt ist, werde ich mich jetzt anziehen. Wir sehen uns beim Frühstück“, werfe ich meine Geschwister galant raus.

Saskia folgt sofort - was einem kleinen Wunder gleichkommt - doch Phil wartet, bis wir alleine im Zimmer sind.

„Du wirst uns bald verlassen, oder?“

Obwohl mein Bruder manchmal tierisch nervt, stehen wir uns sehr nahe. Er ist alles andere als dumm und kennt mich gut.

„Ja, es ist Zeit, dass ich aus dem Hotel Mutti ausziehe. Andere Leute in meinem Alter haben schon lange ihre eigenen vier Wände.“

Phil grinst mich an. „Dann kannst du auch endlich ein paar Typen abschleppen.“

Schneller als er gucken kann, habe ich ein Kissen gepackt und ihm über den Kopf gezogen. „Wage es nicht, dich über mich lustig zu machen! Sag mir mal bitte, wann ich in den letzten Jahren Zeit hatte, mich überhaupt mit dem anderen Geschlecht zu beschäftigen? Ich hatte nie die Freiheiten, die ihr genießen könnt.“

Frustriert und deprimiert lasse ich mich auf mein Bett sinken. „Glaubst du, es macht mir Spaß, wenn alle meine Freundinnen von ihrem Liebesglück erzählen und ich noch nicht einmal einen echten Freund vorweisen kann?“

Philipp setzt sich zu mir und legt mir einen Arm um die Schultern. „Tut mir leid, Schwesterherz. Ich wollte nicht in dieser Wunde bohren.“

Ich seufze und lehne mich an ihn. „Ich weiß. Es wurmt mich nur. Bisher habe ich weder bei den Wölfen noch bei den Menschen jemanden gefunden, der mein Interesse weckt. Ich will ja keine große Liebe mit Traumhochzeit, aber ein bisschen Geborgenheit und zwischenmenschliche Nähe wären schön.“

„Kopf hoch! Du hast ein langes Leben vor dir und wirst selbst in zehn Jahren noch wie Anfang zwanzig aussehen. Irgendwann kommt der Richtige.“

Ich lächle meinen kleinen Bruder an. „Danke für die Aufmunterung. Wer weiß, vielleicht ergibt sich tatsächlich in nächster Zeit etwas. Es könnte immerhin sein, dass Fabian ein paar nette Freunde hat“, scherze ich.

„Du würdest eine Beziehung mit einem Vampir beginnen?“, fragt Phil verblüfft.

„Warum nicht?“, gebe ich schulterzuckend zurück. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust, mich an einen dieser hinterwäldlerischen Wölfe aus dem Rudel zu binden. Wenn die spitz kriegen, dass ich unberührt bin, habe ich ein Problem.“

Philipp macht ein nachdenkliches Gesicht.

„Wahrscheinlich hast du Recht. Es gibt echt ein paar Idioten unter den Jungwölfen. Da kann ich es dir wirklich nicht übelnehmen, wenn du dich auf ein Abenteuer mit einem Vampir oder einem Menschen einlässt.“

„Na wenigstens ein Mann in der Familie kann mich verstehen“, meine ich lachend.

„Paps solltest du lieber nicht mit solchen Äußerungen kommen. Der ist im Moment eh schräg drauf“, gibt mein Bruder zu bedenken.

„Schräg drauf ist nett formuliert. Ich habe mich heute früh schon mit ihm gestritten, weil er Erika für alle Probleme verantwortlich machen wollte.“

Phil macht große Augen. „Oh, oh. Sie hat sich mit ihrem letzten Auftritt nicht nur Freunde gemacht.“

Verärgert runzle ich die Stirn. „Ach, die sollen doch alle die Klappe halten! Ich kenne Fabian seit einigen Jahren und er passt perfekt zu Erika. Wen interessiert es schon, ob er ein Vampir, ein Wolf oder ein Mensch ist? Schließlich muss sie mit ihm leben und nicht wir. Er wird sie sicherlich besser behandeln als einer unserer Rudelgefährten. Immerhin weiß Fabian, was für einen Schatz er hat.“

Abwehrend hebt mein Brüderchen die Hände. „Ist ja gut. Ich wollte damit auch nicht andeuten, dass ich ihrer Meinung bin. Insgeheim werden dir viele Wölfe Recht geben, vor allem die Frauen. Es sind hauptsächlich die Männer, die ihre Felle davon schwimmen sehen.“

Ich kann mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen. „Wenn sie eine Wölfin für sich gewinnen wollen, sollten sie mal in der modernen Welt ankommen und ihr Steinzeit-Gebaren ablegen!“

Bevor unsere kleine Schwester wieder in den Raum platzt, beenden wir diese Diskussion und ich ziehe mich an.


Beunruhigende Neuigkeiten

Das Frühstück bringe ich ohne Streit hinter mich und stehe kurze Zeit später wieder in meinem Zimmer. Nachdenklich lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Viel gibt es nicht zu sehen. Ein Doppelbett, daneben steht mein Kleiderschrank, an den sich mein Schreibtisch anschließt. Meine Eltern besitzen ein Einfamilienhaus in Pieschen. Für uns fünf reicht es vollkommen und ist gemütlich. Mein Zimmer gehört zu den größeren und sollte ausreichend Platz für eine Mitbewohnerin bieten. Falls ich in eine WG ziehe, werde ich mit einer geringeren Grundfläche zurechtkommen müssen. Das bringt mich auf die Idee, endlich bei Erika anzurufen. Wahrscheinlich schläft sie noch, aber meine Neugier lässt mir definitiv keine Ruhe. Ich wähle Erikas Nummer und lausche eine ganze Weile dem monotonen Tuten. Schließlich wird doch abgenommen.

„Hallo?“, brummt es verschlafen aus meinem Telefon.

„Guten Morgen, Schlafmütze!“, flöte ich.

„Tamara?“, fragt meine Freundin.

Ich höre Geraschel und Flüstern. Es ist eindeutig, dass die beiden Turteltauben noch im Bett liegen. Bestimmt schlafen sie erst seit wenigen Stunden. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie toll es sein muss, neben dem geliebten Partner aufzuwachen und mit ihm kuscheln zu dürfen.

„Bist du noch dran?“, reißt mich Erikas Stimme aus meinen Gedanken.

Ich bin froh darüber, sonst versinke ich in Depressionen. „Ja, bin ich. Tut mir leid, dass ich euch wecke, aber ich wollte ein paar Sachen wissen.“

„Ist alles gut mit dir? Du klingst ein bisschen komisch?“, erkundigt sich meine beste Freundin.

„Ja, mir geht es gut“, lüge ich und bin froh, dass sie nicht durchs Smartphone gucken kann.

„Das glaube ich dir nicht. Rück raus mit der Sprache!“

Seufzend lasse ich mich aufs Bett fallen - mein großes, leeres Bett. „Nichts Wichtiges. Ich wünsche mir nur, auch endlich jemanden zu haben. Deswegen rufe ich allerdings nicht an. Karl hat meine Eltern wegen des Mädchens kontaktiert, das du aufgelesen hast. Ich dachte nur, ich hole mir die Informationen über meine zukünftige Mitbewohnerin direkt von dir.“

„Ach Tamara, das wird schon! Manchmal dauert es eben länger, bis man den Richtigen findet.“ Erika macht eine kleine Pause. „Hab ich richtig verstanden, dass ihr Miriam aufnehmt?“

„Ja, mein Vater war zwar nicht so begeistert, aber selbst er musste einsehen, dass wir die einzige Familie sind, bei der das Mädchen Kinder in ihrem Alter um sich hat.“

„Ich bin froh, dass sie zu euch kommt. Deine Eltern sind toll und mit deinen Geschwistern sollte sie auch klarkommen. Miriam hat ein bisschen Glück verdient.“

Das klingt wirklich nicht gut, denke ich. „Kannst du mir bitte mehr erzählen?“

„Klar. Wir waren gestern bei Valerias Großmutter zu Besuch. Konstantin, das ist der Vollstrecker des Vampirrates, hat den Pflegevater von Miriam entdeckt, als dieser betrunken im Auto saß. Neben einer beachtlichen Fahne konnte er frisches Blut riechen und hat den Mistkerl verhört. Im Hinterhof haben Valeria und Fabian Miriam bewusstlos aufgefunden. Es war echt schrecklich. Miriam hatte mehrere schlimme Prellungen und Blutergüsse. Eine Rippe war angebrochen.“

Bei dieser Aufzählung wird mir ganz übel. „Oh Gott, das ist furchtbar!“

„Das kannst du laut sagen. Ich habe Fabian noch nie so wütend gesehen. Von Konstantin rede ich lieber nicht, der kann einem schon im normalen Zustand Angst einjagen.“

„Was habt ihr dann gemacht? Die Kleine musste doch bestimmt ins Krankenhaus, oder?“

„Wir haben einen Krankenwagen gerufen und mit etwas vampirischer Hilfe wurde sie ambulant behandelt. Konstantin ‚überzeugte‘ den Arzt davon, dass ein stationärer Aufenthalt nicht notwendig ist. Er wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Miriam zum Teil ein Werwolf ist. Das wäre in der Klinik unangenehm aufgefallen. Valerias Großmutter hat ihr einen Heiltrank eingeflößt, so dass Miriam heute halbwegs fit sein sollte.“

Das zu hören, erleichtert mich ungemein. „Ich hoffe es. Was ist aus dem Pflegevater geworden?“

„Konstantin hat seine Personalien aufgenommen und die Polizei informiert. Der Scheißkerl dürfte die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht haben. Die Männer haben gestern schon erste Schritte eingeleitet, um dafür zu sorgen, dass diese Leute nie wieder ein Kind in ihre Finger bekommen. Ich weiß nicht, ob man die Pflegefamilie in den Knast schicken kann. Konstantin wird heute Abend mehr wissen und Valeria bereitet noch eine böse Überraschung für sie vor.“

„Das klingt nach einer anstrengenden Nacht. Was ist denn bei euch los? Meine Mutter hat mir vorhin erzählt, dass Karl vertrauenswürdige Wölfe sucht, die mit Vampiren zusammenarbeiten wollen.“

„Ach, wenn ich das so genau wüsste“, seufzt Erika. „Wir sind an einer großen Sache dran. Die Morde durch die drei Abtrünnigen und die Werwolfjäger sind nur ein Teil einer großangelegten Intrige. Dank Valeria und Konstantin wissen wir jetzt zumindest, wer dahinter steckt.“

Auf glühenden Kohlen sitzend warte ich auf die Auflösung des Rätsels. Doch es kommt nichts. „Wer steckt denn nun dahinter?“

Statt einer Antwort höre ich ein Klatschen und seinen gedämpften Fluch. „Entschuldige“, antwortet meine Freundin atemlos. „Ich musste Fabian gerade deutlich machen, dass ich nicht gestört werden will.“

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, obwohl die Eifersucht ein bisschen an mir nagt. „Ich dachte, die Lüsternheit nimmt irgendwann wieder ab“, ärgere ich sie.

„Na ja, sagen wir mal so: Wir können uns für ein paar Stunden zurückhalten. Es reicht zumindest so weit, dass wir zusammen mit Valeria und Konstantin eine Leiche bergen und gegen einige Schwarzmagier kämpfen konnten.“

„Eine Leiche? Schwarzmagier?“, frage ich verwirrt und alarmiert zugleich.

„Kein Scherz. Die Schwarzmagier dienen einem Dämon, der diesen ‚hübschen‘ Masterplan mit den Morden und Werwolfjägern ins Leben gerufen hat. Deswegen auch das Pentagramm in Ralfs Zimmer. Er war ein einfach zu manipulierendes Bauernopfer.“

Ich ziehe meine Knie an die Brust und beginne, mir ernsthafte Sorgen zu machen. „Was war das für eine Leiche?“, erkundige ich mich vorsichtig.

„Die sterblichen Überreste eines Freundes von Valeria. Harry war eine Art Bibliothekar der besonderen Art. In seiner Wohnung haben wir extrem viele Bücher über mystische Wesen gefunden. Er hatte das Pech, als Hülle für den Dämon zu dienen. Konstantin war nicht gerade zimperlich mit ihm.“

Eine unangenehme Gänsehaut zieht sich über meinen Körper. Vor meinem geistigen Auge tauchen ungefragt Bilder von schrecklich verstümmelten Leichen auf. Ich bin kein Freund von Horrorfilmen. Meine Fantasie ist brutal genug. Dazu kommen noch die Schauermärchen, die man sich als junger Wolf über die ‚ach so bösen‘ Vampire anhören muss.

„Wie dem auch sei. Valeria hat die Leiche an Ort und Stelle eingeäschert, dann haben wir die Bücher gegen neugierige Besucher geschützt. Natürlich blieb die Sache nicht unbemerkt und so hatten wir ein paar Lakaien am Hals. Den Großteil hat Konstantin ausgeschaltet, bevor sie zu uns gelangen konnten.“ Erika macht eine Pause.

Ich spüre deutlich, dass sie diese Geschichte mitnimmt.

„Ich muss sagen, dass ich ganz gut auf den gestrigen Abend verzichten könnte. Es war gruselig genug, die brennenden Vampire zu sehen, doch tote Menschen hinterlassen mehr als ein bisschen Asche …“

Das Grauen packt mich und ich verziehe angeekelt das Gesicht. Ich möchte weder das eine noch das andere sehen. Klar, als Biologie-Studentin habe ich schon einige Tiere seziert. In diesem Sinne sind Kadaver nichts Neues für mich, aber Menschen sind eine andere Liga. Zumal Erika dabei war, als sie starben. Gruselig.

„Sag nicht, dass uns noch mehr davon bevorsteht“, bitte ich meine Freundin, obwohl ich tief in mir drin weiß, welche Antwort kommt. Leider täuscht mich meine Vorahnung nicht.

„Ich wünschte, es wäre so. Allerdings sieht es so aus, als stünde uns ein Kleinkrieg bevor. Die Schwarzmagier scheinen überall Anhänger zu rekrutieren und die Menschen auf schmerzliche Weise mit der Wahrheit über unsere Existenz konfrontieren zu wollen.“

Entsetzt schnappe ich nach Luft. „Ist das dein Ernst?!“

„Ja, leider. Die Lakaien haben gestern keinen Versuch unternommen, sich unauffällig zu verhalten. Vor ein paar Nächte lauerten sie Valeria vor ihrem Haus auf und griffen sie an.“

„Die verkohlte Leiche …“, murmle ich tonlos. Der Fund hatte für Aufsehen gesorgt. Seltsamerweise verschwand dieser Vorfall so schnell aus den Medien, wie er aufgetaucht war. Wenn die Hexe und diese Schwarzmagier beteiligt waren, ist mir auch klar, warum.

„Valeria hatte verdammtes Glück, dass Konstantin rechtzeitig bei ihr war. Sonst hätte sie den Kampf gegen die drei Magier verloren.“

„Das heißt, wir stehen tatsächlich vor einem Kleinkrieg?“

Erika seufzt. „So sieht es im Moment aus. Konstantin hat zwei Kollegen angefordert, die uns unterstützen. Zusammen mit ein paar verlässlichen Wölfen sollten wir den Schwarzmagiern das Handwerk legen können, bevor die Menschen erfahren, dass es uns wirklich gibt.“

Ich bin eine Frohnatur, aber mir ist bewusst, dass wir noch meilenweit davon entfernt sind, unsere Existenz publik zu machen. Selbst wenn ich diese ‚besorgten Bürger‘ weglasse, die seit neuestem Montagabends durch die Straßen ziehen, dann gibt es genug andere Gründe, um weiter im Verborgenen zu leben. Bei der aktuellen Stimmung unter den Menschen will ich mir nicht ausmalen, was mit uns passieren würde. Die Sache mit den Werwolfjägern hat uns einen guten Vorgeschmack geliefert. Ich kann sehr gut darauf verzichten als Versuchskaninchen im Labor eines verrückten Wissenschaftlers zu landen oder von einem wütenden Mob verfolgt zu werden.

„Das heißt, es ist umso wichtiger, Miriam bei uns unterzubringen. Ich hoffe, es gibt nicht noch mehr Wölfe, die unter den Menschen leben und keine Ahnung haben, was sie sind. Wenn die Schwarzmagier hinter uns her sind, dann dürfte das böse für die Betreffenden enden.“

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber du hast natürlich Recht. Wir sollten Karl und Konstantin auf diese Möglichkeit aufmerksam machen. In manchen Rudeln wird die Vermischung mit Menschen bestraft. Vielleicht hatte Miriams Mutter dieses Problem und floh mit Mann und Kind.“

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. „Irgendwie benehmen wir uns genauso bescheuert wie die Menschen. Wen interessiert es, ob meine Eltern Menschen, Wölfe, Vampire oder Hexen sind? Aus biologischer Sicht würde ich sagen, je mehr Vermischung, desto besser.“

Ich höre Erikas leises Kichern. „Ich glaube nicht, dass wir uns damit beliebt machen. Obwohl ich sowieso schon von einigen Wölfen als Verräterin abgestempelt wurde.“ Im letzten Teil des Satzes schwingt eine gehörige Portion Wut und Enttäuschung mit.

„Lass die Idioten reden. Sie sind am Ende diejenigen, die ihren eigenen Untergang herbeiführen.“

„Du hast Recht, aber es wurmt mich trotzdem. Ich bin immer noch Erika, ob ich nun mit Fabian zusammen bin oder nicht.“

„Ich weiß. Gib den Männern ein bisschen Zeit. Wenn das nicht hilft, dann rücken wir ihnen eben den Kopf zurecht“, versuche ich, sie aufzumuntern.

„Danke. Sehen wir uns heute Nachmittag? Valerias Großmutter wird große Augen machen, wenn ihre Wohnung plötzlich voller Werwölfe ist.“

„Ja, ich komme mit. Meine Mam hat mich vorhin gefragt. Miriam wird erstmal bei mir im Zimmer schlafen. Es ist die beste Lösung, um die Konflikte zwischen den Teenies zu unterbinden. Ich wollte eh irgendwann ausziehen.“

„Ich kann dich vollkommen verstehen. Allerdings weiß ich nicht, ob es so klug wäre, ausgerechnet jetzt in eine Wohnung zu ziehen. Alleine sind wir leichte Beute. Da helfen uns die verbesserten Reflexe nicht“, gibt Erika zu bedenken.

„Stimmt“, seufze ich unglücklich. „Aber ich muss hier langsam raus, sonst ende ich als einsame alte Jungfer mit zwanzig Katzen.“

Erika lacht herzlich. „Dramatisier das Ganze nicht so! Du bist noch jung, vor allem für eine Werwölfin. Irgendein Mann wird sich auch für dich finden! Vielleicht ist ja einer der Vollstrecker dein Typ. Wenn es sogar Konstantin geschafft hat, Valeria von sich zu überzeugen, dann solltest du mit seinen Kollegen weniger Probleme haben.“

„Du magst diesen Konstantin nicht, oder?“, hake ich nach.

„Na ja, mit mögen hat das nicht so viel zu tun. Er hat sich bei unserer ersten Begegnung nicht gerade beliebt bei mir gemacht. Konstantin kann einen wirklich in Angst und Schrecken versetzen. Allerdings scheint er mit Valeria anders umzugehen und sie glücklich zu machen …“

„Aber?“

„Ich mache mir nur Sorgen um Valeria. Sie wurde von ihrem Ex-Freund aufs Übelste missbraucht und hat die letzte Begegnung mit ihm nur knapp überlebt. Als Hexe ist sie menschlich genug, um von einem Vampir kontrolliert zu werden.“

Verwundert ist kein Ausdruck für das, was ich bin. „Die Hexe, die Fabian kurzerhand gegen die Wand schleuderte, als er sie ungefragt berührt hat, ist mit einem Vampir zusammen?“

„Ja, so unglaublich es scheinen mag. Wenn ich meine Vorurteile beiseiteschiebe, dann sehe ich, dass sie gut zusammenpassen. Valeria ist glücklich und der düstere Vollstrecker ist aufgetaut. Solange er sie gut behandelt, ist es mir Recht. Fabian schimpft sowieso dauernd mit mir, weil ich Konstantin misstraue.“

„Du hast auch keinen Grund dazu“, mischt sich der eben Genannte ein. „Wenn Konstantin Valeria oder uns etwas Böses wollte, hätte er viele Chancen ungenutzt verstreichen lassen. Die beiden sind verliebt. Das sieht ein Blinder mit Krückstock. Du zankst dich einfach nur gern mit ihm.“

Als Erika nur ein Knurren von sich gibt, muss ich lachen. „Hallo Fabian. Ich lasse euch jetzt in Ruhe. Wir sehen uns heute Nachmittag oder später beim Rudeltreffen. Ich bin wirklich gespannt auf die ganzen Leute, von denen ihr erzählt.“

„Hi Tamara. Danke und bis später. Gib auf dich Acht, wenn du alleine kommst.“

„Das mache ich, versprochen. Tschüss.“

„Tschüss.“

Ich starre an die Zimmerdecke und versuche, alle Informationen zu verarbeiten. Irgendwie erscheinen mir meine eigenen Probleme plötzlich winzig und unwichtig. Natürlich kann ich meine Sehnsüchte nicht verschwinden lassen, doch ich habe in nächster Zeit einiges zur Ablenkung. Beim Gedanken an das Mädchen, das demnächst mein Zimmer mit mir bewohnt, zieht sich alles in mir zusammen. Ohne seine Eltern aufzuwachsen, ist schrecklich genug, aber von seinen Pflegeeltern missbraucht zu werden, dürfte die Krönung der Grausamkeit sein.

Warum nur ist man erst dann dankbar, wenn man mit dem Elend anderer konfrontiert wird?, frage ich mich. Ich habe jedoch keine Zeit, stundenlang im Bett zu liegen und über die Abgründe der menschlichen Wesen zu philosophieren. Entschlossen stehe ich auf und schiebe das Bett gegen die Wand, um Platz für das Klappbett zu machen. Als Nächstes widme ich mich meinem Kleiderschrank. Mit Geduld und Geschick beim Stapeln schaffe ich es, ein Fach freizumachen. Bis die Sache mit dem Sorgerecht geklärt ist, bewegen wir uns auf dünnem Eis. Allerdings vertraue ich darauf, dass Karl und Konstantin Ahnung von dem haben, was sie tun. Wenn Miriam von ihren Pflegeltern schlecht behandelt wurde, hat sie wahrscheinlich kaum eigenen Besitz. Vielleicht könnte man das Wenige mit Hilfe der Vampire aus der Wohnung holen, überlege ich. Erika wird wissen, ob das geht oder nicht.

Als es an der Tür klopft, drehe ich mich verwundert um. „Herein“, rufe ich und bin gespannt, wer der Besucher ist.

Mein Vater streckt den Kopf zur Tür herein. Automatisch verschränke ich die Arme vor der Brust.

„Tamara, ich wollte mich für heute Morgen entschuldigen“, sagt er und schaut niedergeschlagen.

Ich nicke. „Komm rein und mach die Tür zu.“

Er atmet erleichtert auf und tut wie geheißen. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Du hast jedes Recht, böse auf mich zu sein.“ Unsicher fährt er sich durch die Haare. „Deine Mutter hat mir vorhin ordentlich den Kopf gewaschen. Es tut mir leid, dass ich Erika beschuldigt habe, für das Chaos verantwortlich zu sein. Ich habe einfach nur Angst um euch. Die letzten Jahrzehnte hatten wir unsere Ruhe und nun steht plötzlich alles auf Messers Schneide.“

„Die Vampire sind weder besser noch schlechter als wir, Papa. Idioten und Verbrecher gibt es überall. Fabian und seine Verbündeten gehören zu den Guten. Unsere Feinde haben offenbar keine Bedenken, sich zu vermischen. Vampire, Menschen und Dämonen arbeiten bereits zusammen und ich würde vermuten, dass es auch Wölfe gibt, die sich ihrer Sache angeschlossen haben.“

Mein Vater sieht mich erschrocken an. „Woher weißt du das?“

Ich zucke mit den Schultern. „Von Erika. Sie steckt mitten drin und hat tatsächlich gekämpft.“

„Ich weiß.“ Mein Vater setzt sich niedergeschlagen aufs Bett. „Wahrscheinlich reagieren wir deswegen so empfindlich auf das Thema. Wenn deine Freundin und ihr Vampir nicht gewesen wären, hätten wir große Schwierigkeiten.“

„Wenn wir den Hintern nicht hochbekommen und mit den Vampiren zusammenarbeiten, dann stecken wir bis zum Hals in der Scheiße“, sage ich unverblümt.

Erst will mein Vater mir widersprechen, doch dann lässt er den Kopf sinken. „Möglicherweise hast du Recht. Es ist nur so gegensätzlich zu dem, was mir ein Leben lang beigebracht wurde.“

Seufzend lasse ich mich neben ihm nieder. „Die Welt verändert sich. Wenn wir uns nicht anpassen, gehen wir irgendwann unter. Erika und Fabian gehören zusammen, ob es uns gefällt oder nicht. Wenn ich mir die Wölfe in meinem Alter ansehe, kann ich ihr zu dieser Entscheidung nur gratulieren …“

„Hast du deswegen nie jemanden mitgebracht?“

„Ich will mich nicht an einen hirnlosen Idioten binden.“

„Sei einfach nur vorsichtig und lasse dich nicht ausnutzen, ja?“, bittet mich mein Vater.

„Das bin ich“, meine ich und drücke seine Hand.

„Damit muss ich wohl zufrieden sein.“ Mein Vater steht auf. „Wir haben das Klappbett aus dem Keller geholt und deine Mutter hat eben frisches Bettzeug heraufgebracht.“

„Gut, dann lass uns die Sachen ins Zimmer bringen. Unsere neue Mitbewohnerin wird in wenigen Stunden eintreffen.“

Zusammen richten wir alles her. Ich bin erleichtert, dass wir unsere Differenzen beiseitelegen konnten. Mir ist jedoch bewusst, dass das erst der Anfang ist.


Das erste Aufeinandertreffen

Angespannt steige ich Stunden später mit meiner Mutter aus dem Auto. Wir haben beide Angst vor dem, was uns erwartet. Es ist nicht so, als wüssten wir nicht, dass es Missbrauch gibt, doch es ist etwas völlig anderes, wenn man die Ergebnisse mit den eigenen Augen zu sehen bekommt. Aufmerksam betrachten wir den Häuserblock im Hechtviertel und sind angenehm überrascht über die freundliche Person, die uns in die Wohnung lässt.

„Guten Tag! Sie müssen die Richters sein. Ich bin Sylvia Treue“, begrüßt sie uns.

„Guten Tag, Frau Treue. Vielen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, Miriam so kurzfristig aufzunehmen! Ich heiße Sabine und das ist meine älteste Tochter, Tamara“, stellt uns meine Mutter vor.

„Hallo, es freut mich, Sie kennenzulernen. Wie geht es Miriam?“, erkundige ich mich.

Sylvias herzliches Lächeln verliert etwas von seinem Glanz. „Körperlich besser, aber es wird eine Weile dauern, bis sie alles verarbeitet hat. Sie erfuhr erst gestern, dass sie ein Werwolf ist.“ Traurig sieht sie uns an. „Ich bin wirklich die falsche Adresse, wenn es darum geht, ihr zu erklären, was das bedeutet. Bis gestern hatte ich auch keine Ahnung.“

Valerias Großmutter ist ein Schatz. Dafür, dass sie letzte Nacht ihre Premiere mit Vampiren und Wölfen hatte, ist sie erstaunlich entspannt.

„Dafür sind wir ja hier“, tröstet meine Mutter sie. „Meine zwei Jüngsten sind ungefähr in Miriams Alter. Ich denke, die Kinder werden sich gegenseitig unterstützen.“

„Ich hoffe es. Soweit ich das beurteilen kann, ist Miriam ein liebes Mädchen. Sie reagiert noch recht sensibel auf das Thema. Irgendjemand muss ihr eingeredet haben, dass sie ein Monster ist“, erklärt Sylvia.

Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. Wenn ich diese schrecklichen Pflegeeltern in die Finger bekomme, erleben sie ihr blaues Wunder! Doch erst einmal hat das Kind Vorrang.

„Wo ist Miriam?“, erkundige ich mich.

„Im Gästezimmer. Sie ist ein bisschen schüchtern.“ Valerias Großmutter lehnt sich zu uns. „Und ich denke, sie hat Angst, weil sie nicht weiß, was sie erwartet.“

„Das ist nur zu verständlich“, meint meine Mutter und ringt um Fassung.

„Ich werde mal vorsichtig klopfen. Meine Freundin Erika hat sie gestern gefunden.“

Sylvia nickt. „Gern. Miriam hat sich gut mit Erika verstanden. Sie wäre gern mit ihr gegangen, aber das ist nicht möglich.“

„Erika kann gut mit Kindern umgehen, ich denke jedoch, dass Miriam eine richtige Familie besser tun würde. Sie hat so oder so eine ereignisreiche Zeit vor sich“, sage ich.

„Wahrscheinlich. Das Gästezimmer ist das zweite auf der linken Seite“, erklärt mir unsere Gastgeberin.

Ich bedanke mich und folge der Beschreibung. Vor einer unscheinbaren Holztür bleibe ich stehen und klopfe. „Miriam? Ich heiße Tamara, darf ich reinkommen?“

Auf der anderen Seite der Tür herrscht Stille. Dann höre ich dank meiner erhöhten Sinne ihre leise Antwort.

„Ja.“

Vorsichtig öffne ich die Tür und betrete den Raum. Ich will das Mädchen keines Falls verängstigen. Entsetzt schnappe ich nach Luft, als sie sich zu mir umdreht und ich die Ausmaße ihrer Verletzungen erkenne. Auf ihrem zarten Gesicht befinden sich mehrere grünlich blaue Hämatome und ein Grind deutet auf eine geplatzte Unterlippe hin. Die braunen, schulterlangen Haare können nur einen Teil der Blessuren verdecken. Das Mädchen ist schlank, fast mager, und schaut mich ängstlich aus großen, braunen Augen an. Ihre schmalen Ärmchen hat sie um sich geschlungen, als würde ihr der Brustkorb wehtun.

„Hast du starke Schmerzen?“, erkundige ich mich.

Das Mädchen senkt den Kopf. „Es tut viel weniger weh als gestern und mein Gesicht sieht auch besser aus. Frau Treue hat mir heute wieder einen Heiltrank gegeben.“

Ich muss arg an mich halten, um nicht lautstark zu fluchen. Das wäre zwar befreiend für mich, würde das geschundene Wesen vor mir bestimmt verängstigen. Stattdessen versuche ich mich an einem Lächeln.

„Das freut mich. Vielleicht ist sie so lieb und gibt dir ein paar mit. Ich bin Tamara.“

„Miriam“, murmelt sie und betrachtet mich vorsichtig. „Sie sind gekommen, um mich mitzunehmen, oder?“

„Du kannst mich ruhig duzen. Ja, du wirst ab heute bei uns wohnen. Meine Mutter ist zusammen mit Frau Treue im Wohnzimmer. Erika sollte gleich kommen.“

Die Jugendliche horcht beim Namen meiner Freundin auf. „Sie, äh, du kennst Erika?“

Ich nicke. „Klar, wir sind seit vielen Jahren die besten Freundinnen! Du hast sie gestern getroffen, richtig?“

„Ja. Sie und die anderen haben mir geholfen.“

„Hattest du Angst vor den Männern?“, frage ich sie leise.

Miriam sieht mich unsicher an. „Ein bisschen. Fabian wirkt nett und Konstantin …“ Sie zuckt mit den Schultern. „Er könnte mir wehtun, doch er wird es nicht.“

Ich bin mir sicher, dass der Vollstrecker vielen Leuten mehr als nur ‚wehtun‘ könnte, verschweige das jedoch. Es bringt nichts, wenn ich dem Mädchen Angst mache. „Niemand von uns will dir schaden, versprochen.“

„Vielleicht …“ Miriam wirkt alles andere als überzeugt.

Ich lächle ihr aufmunternd zu. „Du bist bei uns in Sicherheit und wir helfen dir, dich in dein neues Leben einzugewöhnen.“

„Bin ich … Bin ich wirklich ein Werwolf?“, flüstert sie.

„Ja“, antworte ich ohne Zögern. „Wir können einander erkennen. Da du einen menschlichen Elternteil hast, ist dein ‚Wolfsgeruch‘ schwächer, aber trotzdem deutlich wahrnehmbar. Nach der ersten Verwandlung wird es keinen Unterschied mehr geben.“

„Aber ich muss jetzt niemanden beißen oder rohes Fleisch essen?“

„Nein, hier wird keiner gebissen und außer Hackepeter essen wir unser Fleisch lieber gekocht oder gebraten. Außerdem kann man Werwölfe nicht erschaffen. Wir werden so geboren. Der Wolf ist ein Teil von uns.“

Miriam ist sichtlich erleichtert. „Wie funktioniert das mit dem Wolf?“

Nachdenklich lehne ich mich an die Tür. „Tja, das ist schwer zu erklären. Wenn wir jung sind, träumen wir von unseren Wölfen. Je näher die erste Verwandlung rückt, desto intensiver werden die Träume. Es ist wichtig, dass du vorher eine Verbindung zu deiner inneren Wölfin hergestellt hast.“

„Was passiert, wenn ich das nicht schaffe?“

„Du wirst das hinbekommen. Die Verbindung ist essentiell, damit du während der Verwandlung die Kontrolle behältst. Es muss immer ein Gleichgewicht zwischen deiner wölfischen und deiner menschlichen Seite geben. Wenn das nicht der Fall ist, dann verlieren wir den Zugang zu einer der Seiten und das kann durchaus gefährlich für uns werden.“

Das Mädchen hört mir aufmerksam zu. Anscheinend überwiegt die Neugier gerade die Angst vor dem Unbekannten. „Wir können uns beliebig in unsere Wolfsgestalt verwandeln. Zu Vollmond müssen wir es tun und bei Neumond ist es am schwierigsten. Dann ist unsere menschliche Seite am stärksten.“

„Kann man sich mit seinem Wolf unterhalten?“

Ich überlege einen Moment. „Na ja, es ist nicht so wie unsere Unterhaltung gerade eben, aber man merkt deutlich, was der Wolf möchte. Meine Wölfin ist ich und ich bin sie. Prinzipiell sind wir einer Meinung. Es ist eher so, dass sie unsere wildere Seite repräsentieren. Dem Wolf sind viele moralische Gepflogenheiten egal. Sie wollen ihre Bedürfnisse stillen und denken nicht an die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Taten. Wo unsere menschliche Seite zögern würde, handelt der Wolf lieber.“

Ich erkläre ihr noch ein paar andere Dinge und was sie demnächst erwartet. Während unseres Gespräches nähern wir uns räumlich immer weiter an. Als es plötzlich an der Tür klopft, sitzen wir zusammen auf dem Bett.

„Hallo, ich bin’s, Erika“, klingt es gedämpft durch die Tür.

Ich sehe zu Miriam, die freudig nickt.

„Kommen Sie herein, junge Dame!“, fordere ich sie auf.

Meine beste Freundin schlüpft ins Zimmer. Ich erhebe mich vom Bett, um sie zu begrüßen. Allerdings ist jemand anderes schneller.

„Erika!“, ruft Miriam und stürzt sich auf sie.

Überrascht wechseln meine Freundin und ich einen Blick. So viel Begeisterung hatten wir nicht erwartet. Das Mädchen hat die Arme um Erikas Mitte geschlungen und strahlt sie von unten an. Noch ist Miriam gut einen Kopf kleiner, aber das wird sich bald ändern. Durch die Wandlung und die bessere Ernährung in der Zukunft wird sie einen Wachstumsschub bekommen.

„Hallo Miriam, wie geht es dir?“ Erika betrachtet das Gesicht des Mädchens aufmerksam.

Diese zuckt mit den Schultern. „Ganz okay. Es tut zwar alles weh, aber es ist viel besser als gestern.“

Vorsichtig streicht Erika über Miriams lädierte Wange. „Es sieht gut aus, obwohl erst wenig Zeit vergangen ist. Hast du gut geschlafen?“

„Es ging. Ich kann noch nicht glauben, dass mein Pflegevater mich nicht findet“, flüstert das Mädchen.

Unbändige Wut auf diesen Menschen steigt in mir auf. „Wir passen auf dich auf und werden dafür sorgen, dass seine dreckigen Finger dich nie wieder anfassen!“, knurre ich und spreche damit meiner besten Freundin aus der Seele. Ihre Augen haben einen goldenen Schimmer und ich habe keinen Zweifel, dass es bei mir ähnlich ist.

„Warum sehen eure Augen so komisch aus?“

Erika seufzt. „Das ist ein Zeichen dafür, dass unsere innere Wölfin nach außen dringt. Bei uns werden Kinder geschätzt und deswegen ist Missbrauch ein heikles Thema. Wenn du deine erste Verwandlung hinter dir hast, wird es bei dir ähnlich sein. Es ist eins der Dinge, die du so schnell wie möglich kontrollieren musst. Solche Kleinigkeiten können uns verraten und das müssen wir unbedingt vermeiden. Sehr starke Gefühle, ob positiv oder negativ, bringen die animalische Seite in uns zum Vorschein. Besonders in der Pubertät ist es daher wichtig, dass du jemanden hast, der dich unterstützt und dir zeigt, wie du dich unauffällig zwischen den Menschen bewegst.“

Miriam zieht eine Schnute und schenkt Erika einen Hundeblick. „Warum kannst du das nicht sein?“

„Ach Mäuschen! Das geht leider nicht. Meine Situation ist … speziell. Ich studiere noch und bin kürzlich mit einem Vampir zusammengezogen. Es ist essentiell, dass du erst einmal das normale Leben als Werwolf in einer lieben Familie kennenlernst. Außerdem kann ich mich schlecht allein um dich kümmern. Junge Wölfe werden ab einer bestimmten Zeit schwierig, um es nett zu formulieren. Die Pubertät ist bei uns anders als bei den Menschen. Tamaras Eltern sind wunderbar und haben deutlich mehr Erfahrung mit Kindern. Sie wissen, wie sie dir diese Zeit so leicht wie möglich machen werden. Du hast gleich zwei Jungwölfe, die dir von ihren Erfahrungen berichten oder mit dir üben können.“

Miriam löst sich von Erika. „Was ist, wenn sie mich nicht leiden können?“

„Philipp und Saskia sind okay“, werfe ich ein. „Ich bin auch noch da. Wenn sie gemein zu dir sind, bekommen sie Ärger mit mir.“

Erika lacht. „Deine Geschwister sind vollkommen in Ordnung. Obwohl Saskia einem das Ohr abkauen kann.“

Ich grinse zurück. „Sie ist ein kleines Plappermaul, aber ganz lieb. Phil hat seine schwierige Phase so gut wie überstanden. Als große Schwester ist es einfacher für mich. Meine Eltern haben wesentlich mehr Arbeit mit den beiden.“

Miriam weiß noch nicht, was sie davon halten soll. Das ist nur zu verständlich.

„Du wirst erst einmal bei mir im Zimmer schlafen, wenn das in Ordnung für dich ist? Dann kommt ihr einander nicht in die Quere. Ich bin zwar der Meinung, dass ihr euch gut verstehen werdet, es schadet jedoch nicht, wenn ihr nicht gezwungen seid, aufeinander zu hocken. Gerade am Anfang werden wir uns alle ein bisschen umgewöhnen müssen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Da ich die Älteste bin und sowieso bald ausziehe, habt ihr alle genug Freiraum, um euch notfalls aus dem Weg gehen zu können.“

„Bitte lass mich nicht alleine!“, fleht das Mädchen.

Seufzend stehe ich auf und schließe sie in meine Arme. „Wir lassen dich nicht alleine. Erika kann dich jeder Zeit besuchen kommen und ich bin noch einige Monate da, bevor ich tatsächlich ausziehe.“

„Wie wäre es, wenn wir uns ins Wohnzimmer zu Sylvia und Tamaras Mutter gesellen? Dort kannst du alles fragen, was du wissen willst, und lernst Sabine kennen“, schlägt Erika vor.

Unsicher sieht Miriam uns an. „Ich muss heute schon mitkommen?“

Ich lächle ihr aufmunternd zu. Mir ist klar, dass es eine große Umstellung für sie ist und ihr der Schock noch in den Knochen sitzt.

„Ja. Frau Treue war so lieb, auf dich aufzupassen, während wir ein paar wichtige Sachen zu erledigen hatten“, erklärt meine Freundin dem Mädchen.

Miriam lässt den Kopf sinken. „Kann sie mich auch besuchen kommen?“

„Natürlich“, versichere ich ihr. „Oder wir besuchen sie zusammen. Jetzt lass uns zu ihnen gehen.“

Zu dritt betreten wir das gemütliche Wohnzimmer von Valerias Großmutter. Sie sitzt zusammen mit meiner Mama bei einer Tasse Tee auf dem Sofa. Beide sind in ein Gespräch vertieft und bemerken uns erst, als wir vor ihnen stehen.

„Miriam! Schön, dass du zu uns kommst“, begrüßt Sylvia sie mit einem Lächeln.

Schüchtern sieht das Mädchen zu meiner Mutter. Diese wirkt geschockt über die deutlich sichtbaren Hämatome, aber sie fängt sich schnell.

„Hallo Miriam, ich bin Sabine Richter, die Mutter von Tamara.“

„Hallo, Frau Richter.“

Lächelnd meint sie nur: „Nenn mich einfach Sabine, wenn du möchtest. Du brauchst mich nicht zu siezen. Möchtest du dich zu uns setzen? Sylvia hat Tee gekocht und leckere Kekse für uns alle bereitgestellt.“

Zögerlich nimmt das Mädchen neben meiner Mutter Platz. Es ist offensichtlich, dass sie nicht weiß, was sie tun soll. Die ganze Situation ist schwierig für sie. Glücklicherweise haben sowohl Sylvia als auch meine Mutter ein gutes Gespür, was den richtigen Umgang mit Kindern angeht.

„Kommt, setz euch!“, fordert Valerias Großmutter uns auf. „Ich möchte unbedingt eure Meinung zu den Keksen wissen. Das Rezept habe ich das erste Mal ausprobiert.“

Natürlich lässt sich das keiner zweimal sagen. Die Kekse sehen lecker aus und verströmen einen wunderbaren Duft. Ich greife mir einen und beiße sofort hinein. Genüsslich schließe ich die Augen und lasse mir das Aroma auf der Zunge zergehen. Ich kann Butter, Schokolade und einen Hauch Zimt wahrnehmen.

„Die sind ausgezeichnet!“, lobe ich die Backkünste unserer Gastgeberin.

„Genau!“, stimmt mir Erika zu. „Kann Valeria auch so gut backen?“

Sylvia lacht gutmütig. „Danke! Ich glaube, meine Enkelin hat zu wenig Zeit dafür. Aber als Kind hat sie unheimlich gern mit mir zusammen in der Küche gestanden.“

„Oh ja! Das habe ich als Kind geliebt. Bei uns gleicht das Haus in der Weihnachtszeit noch immer einer kleinen Backstube. Mama hat alle Hände voll zu tun, genug Plätzchen zu backen, um unseren unstillbaren Hunger zu bekämpfen.“

Sabine lacht. „Das stimmt. Früher habt ihr mir mehr beim Backen der Kekse geholfen. Heute futtert ihr sie lieber weg. Vielleicht sollte ich mir andere Gehilfen suchen.“ Ihr Blick fällt auf Miriam. „Hättest du Lust dazu?“

Schüchtern schaut das Mädchen sie an. „Sehr gern. Allerdings habe ich das noch nie gemacht.“

Für einen Moment herrscht Stille im Raum. Wir sind geschockt. Obwohl uns diese Enthüllung eigentlich nicht überraschen sollte. Wer seine Pflegekinder schlägt und abmagern lässt, wird sich wohl kaum die Mühe machen und mit ihnen backen.

„Na dann wird es Zeit, dass du es lernst“, meint meine Mutter entschlossen. „Es ist nicht schwer und macht wirklich Spaß. Eventuell lassen sich die anderen ja überreden, mitzumachen.“

„Ich bin dabei“, antworte ich prompt. „Auf Philipp sollten wir lieber verzichten, sonst isst er uns den Teig weg, bevor wir ihn ausrollen oder in Form bringen können.“

Alle lachen und sogar Miriam lächelt. Langsam bricht das Eis. Als die Zeit zum Abschied gekommen ist, wirkt das Mädchen zuversichtlicher. Sie weiß ungefähr, was auf sie zukommt und meine Mutter hat sie sofort ins Herz geschlossen.

Jetzt muss nur noch der Rest meiner Familie mitspielen und dann wird alles gut, denke ich.

Da Miriam kein Gepäck hat, sind wir schnell zum Aufbruch bereit. Kurz bevor ich mit ihr und meiner Mutter gehe, nehme ich meine Freundin zur Seite.

„Denkst du, dass wir irgendwie an Miriams Sachen herankommen? Es gibt bestimmt ein paar Dinge, die sie vermisst. Außerdem brauchen wir ihre Schulsachen, Ausweise und so weiter.“

„Ich denke, dass wir das hinbekommen. Wir können heute Nacht mit Konstantin darüber reden. Er wollte sowieso dafür sorgen, dass den aktuellen Pflegeeltern das Sorgerecht entzogen und auf die wölfische Familie übertragen wird.“

Erstaunt sehe ich sie an. „Dieser Konstantin hat interessante Vorstellungen. So ein Prozess dauert Jahre!“

„Normalerweise schon, doch er hat Mittel und Wege, um das zu beschleunigen. Lass die Vampire diesen schrecklichen Menschen einen Besuch abstatten und du wirst sehen, was passiert.“

Meine Augen werden immer größer. „Sie werden sie aber nicht umbringen, oder?“

Erika lacht. „Nein, natürlich nicht. Obwohl es bei den schrecklichen Pflegeeltern fast kein Verbrechen wäre. Miriam ist nicht das einzige Kind in deren Obhut. Wir werden sehen, was der Vollstrecker herausfinden und dann auch tun kann. Er hat zwei Kollegen angefordert, damit wir das Problem mit den Schwarzmagiern so schnell wie möglich lösen können.“ Sie reibt sich über die Arme. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die drei sie innerhalb kürzester Zeit ausfindig machen und in die Hölle schicken.“

Ihre Worte verursachen mir eine Gänsehaut. „Ich bin mehr als froh, dass sie auf unserer Seite stehen. Miriam meinte vorhin, dass Konstantin ihr wehtun könnte, es aber nicht tun wird.“

„Eine erstaunliche Erkenntnis, doch sie hat Recht. Konstantin war umsichtig und nett zu ihr. Ziemlich ungewohnt, wenn man ihn anders erlebt hat, aber scheinbar hat er mehrere Facetten.“

Ich stoße Erika leicht an. „Jeder hat mehrere Facetten. Wenn er gut zu Miriam und Valeria ist, kann er nicht so verkehrt sein. Ich bin wirklich gespannt auf das Treffen heute Nacht. Ich möchte die Leute sehen, von denen ich bisher nur gehört habe.“

„Glaub mir, du wirst in den nächsten Tagen und Wochen wahrscheinlich mehr Zeit mit ihnen verbringen als dir lieb ist.“ Meine beste Freundin sieht mich aufmerksam an. „Dir ist es ernst mit dem Auszug, oder?“

„Ja“, seufze ich. „Es ist Zeit, dass ich mein eigenes Leben beginne. Ich liebe meine Familie und werde sie vermissen. Doch wenn ich nicht endlich ausziehe, finde ich nie einen Mann.“ Ich schaue Erika wehmütig an. „Alle meine Freunde sind mittlerweile vergeben oder hatten zumindest schon eine Beziehung. Nur ich habe es noch nicht hinbekommen und langsam wird es schwer, dieses prekäre Geheimnis zu wahren. Wenn ich nicht bald einen Freund vorweisen kann, den die anderen mit ihren eigenen Augen sehen, wird es eng für mich.“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, versucht sie, mich zu besänftigen. „Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Wolf eine Wölfin besitzt, wenn er sie entjungfert.“

Schnaubend betrachte ich den Fußboden. „Netter Versuch. Du weißt so gut wie ich, dass derlei Bräuche inoffiziell sehr wohl noch Anklang finden. Gerade einige Wölfe in unserem Alter sind alles andere als fortschrittlich.“

„Ich weiß“, gibt Erika betreten zu. „Gregor hat das zur Rudelversammlung anschaulich demonstriert. Warum suchst du dir nicht einen netten Menschen?“

„Ich traue mich nicht“, gebe ich zu. „Noch habe ich keinen gefunden, den ich toll fände, und ich habe Angst, mich zu verraten.“

„Mhm“, brummt Erika. „Das ist eine verzwickte Situation.“

Ein absurder Gedanke entsteht in meinem Kopf. „Was wäre, wenn ich mir einen Vampir suche? Sie interessiert es bestimmt nicht, welche veralteten Regeln es bei uns Wölfen gibt.“

Erikas Augen werden groß wie Untertassen. „Sag mal, spinnst du?“.

Überrascht und gekränkt sehe ich sie an. „Von dir hätte ich eigentlich eine andere Reaktion erwartet.“

„Verzeihung. Ich mache mir nur Sorgen. Von mir aus könntest du dir einen Harem voller Vampire zulegen, aber du hast doch gesehen, auf wie viel Begeisterung meine Beziehung zu Fabian gestoßen ist.“

Ich recke mein Kinn in die Höhe. „Mir ist egal, was die anderen über mich denken oder sagen. Ob und mit wem ich eine Beziehung eingehe - oder nur eine Nacht verbringe - ist meine Entscheidung!“

„Tu, was du tun musst“, meint Erika. „Pass nur auf dich auf. Meine Beziehung zu Fabian wird nur toleriert, weil wir Gefährten sind. Selbst das hat Gregor nicht davon abgehalten, ihn anzugreifen.“

„Ich bin vorsichtig“, verspreche ich ihr.

Bevor uns jemand holen kommt, gehen wir zu den anderen. Wir verabschieden uns von Sylvia und Erika. Zusammen mit Miriam fahren wir nach Hause. Als wir vor unserem Haus halten, ist das Mädchen nervös.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut“, redet meine Mutter ihr gut zu.

Miriam holt noch einmal tief Luft und steigt dann zusammen mit uns aus. Als ich neben sie trete, ergreift sie meine Hand. Meine Mutter schließt die Haustür auf und schon steht der Rest meiner Familie vor uns. Es folgt eine kurze Vorstellungsrunde. Alle sind sichtlich schockiert über Miriams Verletzungen, aber sie verhalten sich höflich und fragen nicht nach der Ursache. Ich spüre Miriams Zittern deutlich. Vor allem mein Vater macht ihr Angst, obwohl er ihr nie wehtun würde. Das ist kein Wunder, schließlich ist der Mann nach Miriams leidvoller Erfahrung immer der Aggressor. Wölfe sind zudem noch muskulöser gebaut als Menschen. Durch ihre Wolfsgene konnte sie sich gegen einen menschlichen Angreifer zur Wehr setzen, jetzt würde sie unterliegen.

Um ihr ein wenig Ruhe zu gönnen, meine ich: „Komm! Ich zeige dir mein Zimmer.“

Mama ist so geistesgegenwärtig und hält meine neugierigen Geschwister zurück. Zu zweit gehen wir die Treppe hoch zu unserem Zimmer.

„Du wirst vorerst mit mir zusammenwohnen. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich?“

„Das macht mir nichts aus. Ich hatte noch nie einen Raum für mich alleine.“

Miriam sieht sich interessiert um. „Du hast ein schönes Zimmer und so viel Platz.“

Ich zwinkere ihr zu. „Als älteste Tochter habe ich mir ein paar Annehmlichkeiten verdient. Phil und Saskia sind einige Jahre jünger und ich war die Hälfte meines Lebens ihr Babysitter. Es war ungünstig, wenn ich spät abends lernen musste, obwohl meine Geschwister schon lange schlafen sollten.“

„Und dich stört es nicht, dass du dein Zimmer mit mir teilen musst?“, erkundigt sie sich vorsichtig.

Ich zucke mit den Schultern. „Nö. Du bist kein Baby mehr und ich kann zur Not mit Erika in der Bibo lernen. Gerade für den Anfang dürfte es besser sein, wenn ich als Puffer zwischen euch fungiere. Sie können manchmal anstrengend sein.“

Miriam lässt sich auf das Klappbett sinken. „Ich bin froh, dass ich nicht alleine schlafen muss …“

Normalerweise würde mich diese Aussage nicht erschrecken, aber bei Miriams Vorgeschichte lässt das tief blicken. Ich setze mich zu ihr und lege ihr einen Arm um die Schultern.

„Hier will dir keiner wehtun. Mir ist klar, dass du eine Weile brauchen wirst, um das zu verstehen, aber du bist sicher. Dein Pflegevater wird nie erfahren, wo du jetzt bist.“

„Aber wie denn? Er braucht nur an der Schule auf mich zu warten“, meint sie verzweifelt.

„Wir regeln das, versprochen. Vielleicht kannst du mit Saskia zusammen in die Schule gehen. Wenn du jetzt hier wohnst, wäre es Quatsch, wenn du einmal quer durch die Stadt fährst. Ich werde später mit Konstantin und Erika darüber reden. Solange das Sorgerecht noch nicht auf uns übertragen ist, müssen wir vorsichtig sein. Zum Glück sind jetzt erstmal Sommerferien.“

Miriam wirkt erleichtert. „Das wäre schön. Freunde hatte ich in meiner alten Schule kaum. Ich mache mir nur Sorgen um die anderen Kinder, die noch bei meinen Pflegeeltern sind …“

„Wir sehen zu, dass wir ihnen ebenfalls helfen. Was brauchst du aus der alten Wohnung?“ Ich vermeide bewusst das Wort ‚Zuhause‘, weil es für mich eine positive Bedeutung hat.

„Ich habe nicht viel. Aber meinen Plüschwolf hätte ich gern. Den haben mir meine Eltern gekauft, kurz bevor sie starben.“

Ich versuche, den dicken Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, der sich bei ihren Worten gebildet hat. „Wir holen ihn sowie die anderen Sachen, die du brauchst.“

„Das wäre echt toll! Ohne Wolfi kann ich so schlecht schlafen. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich beschützt.“ Miriam wird rot und schaut verlegen zu Boden. „Das klingt bestimmt albern und kindisch.“

„Nein, das stimmt nicht. Vielleicht hat er tatsächlich auf dich aufgepasst. So macht man das in einem Rudel.“ Ich streiche ihr mit einer Hand über den Kopf. „Am Besten machen wir mal eine Liste, was du alles benötigst und auch, was wir aus der alten Wohnung holen müssen.“

Gesagt, getan. Wir brauchen ungefähr eine Stunde, um die Listen zu erstellen, doch am Ende sind wir beide zufrieden. Wieder wurde deutlich, dass Miriams bisheriges Leben kein Zuckerschlecken war. Ich musste ihr erst einmal klar machen, dass sie mehr als zwei Hosen und drei T-Shirts sowie diverse andere Dinge braucht. Für ihre Größe ist sie viel zu dünn, aber das wird sich bald ändern. Nachdenklich studiere ich die Liste, auf der die Gegenstände stehen, die sich derzeit im Besitz der schrecklichen Pflegeeltern befinden. Mir juckt es in den Fingern, diesen Leuten eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Wer so mit Kindern umgeht, muss bestraft werden.

Vielleicht könnte ich ihnen mit ein paar Vampiren einen Besuch abstatten, überlege ich. So könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Miriams Sachen holen und gleichzeitig dafür sorgen, dass diese furchtbaren Menschen weder ihr noch einem anderen Kind schaden können. Je mehr ich darüber nachdenke, desto dringender ersehne ich das Treffen mit Erika und ihren Verbündeten. Dabei ist Miriams Problem nur ein Nebeneffekt. Die Schwarzmagier sind definitiv eine andere Liga als ein paar verkommene Menschen, die sich auf Kosten der wehrlosesten Wesen ein schönes Leben machen.


Eine ungewöhnliche Mischung

Nervös fahre ich die altbekannte Strecke zu unserem Versammlungsort. Das letzte Mal, als ich hier war, griff Gregor Fabian an und steckte eine haushohe Niederlage ein. Diese Abreibung hatte sich der nervtötende Jungwolf redlich verdient, hübsch war es trotzdem nicht. Ich kenne Fabian seit mehreren Jahren und habe noch nie Bekanntschaft mit seiner dämonischen Seite gemacht. Es war beeindruckend und beängstigend zugleich. Oh, ich habe keine Angst vor Fabian. Für mich bleibt er immer der liebenswerte Vampir, der meiner besten Freundin den Kopf verdreht hat. Die beiden sind ein schönes Paar. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wie ein Vampir in Aktion aussieht. Im Gegensatz zu Gregor ist mir auch bewusst, dass ein unscheinbares Äußeres so einige Überraschungen bieten kann. Mir wäre es aber ganz lieb, wenn heute niemand einen Teil seines Körpers verlieren würde. Die große Fleischwunde in Fabians Schulter war nichts für empfindliche Mägen.

Karl wird hoffentlich nur ausgewählten Wölfen gesagt haben, dass heute eine Versammlung ist. Gegen eine organisierte Gruppe von Schwarzmagiern und ihre Verbündeten haben wir nur eine Chance, wenn wir mit Konstantin zusammenarbeiten.

Langsam fahre ich an das Tor heran, das mich von dem Treffpunkt trennt. Einer der älteren Werwölfe aus dem Rudel steht dort Wache und begutachtet die ankommenden Fahrzeuge. Er ist gelinde gesagt überrascht, mich hier zu sehen.

„Tamara, was machst du denn hier?!“

Ich ziehe eine Braue in die Höhe. „Wonach sieht es aus, Heinz? Ich erscheine zum Treffen.“

Seine Begeisterung kennt keine Grenzen. „Ihr jungen Wölfinnen wisst einfach nicht, was gut für euch ist“, schimpft er.

„Ich weiß mehr als du, alter Mann. Es ist Zeit für Veränderungen und ohne die Vampire dürften wir ein ziemliches Problem haben.“

„Pah“, schnaubt der Wolf. „Du hattest schon immer ein loses Mundwerk. Dein Vater hätte dich öfter züchtigen sollen.“

Bevor ich weiß, was ich da tue, schnellt meine Hand aus dem geöffneten Autofenster und ich packe den Idioten am Hals. „Wage es ja nicht, so über meine Eltern zu reden“, knurre ich gefährlich. „Ich habe gerade erst das Ergebnis sinnloser Gewalt gegen Minderjährige gesehen. Wenn du ein Befürworter dieser ‚Erziehungsmethode‘ bist, werde ich Konstantin bitten, einen Plausch mit dir abzuhalten. Er war von dem Mistkerl besonders angetan.“

Wahrscheinlich ist es eher die Überraschung und die Angst vor dem berüchtigten Vollstrecker, die Heinz blass werden lässt. Er vergisst vollkommen, sich aus meinem Griff zu befreien, was eigentlich eine Leichtigkeit wäre. Normalerweise neige ich nicht zur Gewalttätigkeit, doch diesem engstirnigen Wolf würde ich wahnsinnig gern die Ohren langziehen. Kopfschüttelnd lasse ich ihn los.

„Ich verstehe nicht, warum Karl deine Anwesenheit hier duldet, wenn du nicht erkennst, worum es hier wirklich geht.“

Bevor Heinz antworten kann, gebe ich Gas und fahre durch das geöffnete Tor. Ich parke mein Auto neben den anderen und atme einmal tief durch. Diese Diskussion dürfte nur ein kleiner Vorgeschmack sein. Als Werwölfin bin ich hier eindeutig in der Unterzahl, aber ich werde mich nicht aussperren lassen!

Entschlossen steige ich aus dem Auto und betrete erhobenen Hauptes die alte Baracke, die uns als Treffpunkt dient. Einige Werwölfe aus dem Rudel stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich leise. Die Stimmung ist angespannt. Allen hier ist klar, dass es kein Spaß ist. Nur scheinen sie noch unschlüssig zu sein, was sie von einer Zusammenarbeit mit Vampiren halten sollen. Ich spüre viele verwunderte Blicke auf mir. Einige sind nicht gerade freundlich. Viele der älteren Wölfe scheinen derselben Meinung zu sein wie Heinz, nämlich, dass so junge Werwölfe und vor allem weibliche wie ich hier nichts zu suchen haben. Doch ich bin volljährig und kann tun und lassen, was ich möchte.

„Tamara!“, ruft eine mir wohlbekannte Stimme.

Sofort stielt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Mit wenigen Schritten bin ich bei meiner besten Freundin, die mit zwei jüngeren Wölfen und ihrem Vampir in einer Ecke steht.

„Erika!“

Wir umarmen uns. Dann begrüße ich die anderen. Martin und Ariane gehören auch zu unserem Freundeskreis. Natürlich ist Fabian an Erikas Seite. Sobald sie sich aus unserer Umarmung gelöst hat, zieht er sie zu sich. Nach dem Theater beim letzten Rudeltreffen kann ich nur zu gut verstehen, dass er sie nicht aus den Augen lassen will.

„Fabian, schön, dich zu sehen.“

„Gleichfalls, meine Liebe. Wie geht es Miriam?“

„Ganz gut, denke ich. Sylvias Tränke wirken wahre Wunder und ihre Wolfsgene beschleunigen die Heilung. Der Rest wird länger dauern, aber ich bin guter Hoffnung.“

Es blitzt gefährlich in seinen Augen. „Ich hoffe, Konstantin und Valeria machen diesem Dreckskerl das Leben zur Hölle!“

„Das hoffe ich auch“, gebe ich zurück. „Da ich sie nur aus euren Erzählungen kenne, bin ich wirklich gespannt, wie sie in echt sind.“

„Valeria ist eine ganz Liebe. Du wirst sie mögen“, meint Erika.

„Und Konstantin ist ebenfalls okay“, fügt Fabian mit einem Augenzwinkern hinzu.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich Erikas leicht säuerlichen Gesichtsausdruck sehe. Meine Freundin hat definitiv eine andere Meinung zum Thema. Allerdings bleibt uns keine Zeit zum Diskutieren, denn der Gegenstand unserer Unterhaltung erreicht den Versammlungsort. Zusammen mit einer kurvigen, dunkelhaarigen Schönheit betritt ein Mann den Raum, der alle Gespräche verstummen lässt. Ich habe keinen Zweifel, dass der großgewachsene, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Mann der berüchtigte Vollstrecker ist. Im Gegensatz zu Fabian strahlt dieser Vampir eine kalte Macht aus. Betont wird das noch durch die stahlgrauen Augen, die analytisch durch den Raum schweifen. Jeder kann deutlich spüren, dass man sich besser nicht mit ihm anlegen sollte. Meine Nackenhaare stellen sich auf und meine innere Wölfin ist unruhig. Die Gegenwart von so viel roher Kraft macht sie nervös. Meine Anspannung lässt jedoch schlagartig nach, als ich beobachte, wie der Vampir mit seiner Begleiterin umgeht. Ihr ist deutlich anzusehen, dass sie die Gegenwart von so vielen Wölfen verunsichert. Schutzsuchend lehnt sie sich an den Vollstrecker, der sie eng an sich zieht. Sie führen eine leise Unterhaltung. Dank meiner besonders guten Ohren, kann ich hören, wie er ihr Mut zuspricht und gleichzeitig den anwesenden Männern eine deutliche Warnung schickt: ‚Fasst meine Frau an und ihr werdet es bitter bereuen.‘

Erika ruft den Namen der Hexe und kurz drauf stehen sie vor uns. Konstantin ist aus der Nähe betrachtet nicht minder eindrucksvoll. Ich bin wirklich froh, dass er auf unserer Seite steht.

Fabian und Erika begrüßen das andere Paar und stellen uns einander vor.

Valeria ist mir auf Anhieb sympathisch. Obwohl sie schlimme Dinge durchstehen musste, ist sie eine liebenswerte und offene Person. Dass sie ausgerechnet mit dem düsteren Vollstrecker liiert ist - und daran besteht kein Zweifel - ist echt bemerkenswert. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt sie uns.

„Hallo. Schön, euch kennenzulernen.“

Automatisch lächle ich zurück. „Gleichfalls. Bisher habe ich eure Namen nur in heimlich belauschten Gesprächen gehört.“ Abschätzend betrachte ich Konstantin. „Ich bin glücklich, dass ich zuerst Fabian kennengelernt habe. Ihnen möchte ich nicht allein im Dunkeln begegnen.“

Der Vollstrecker lacht leise. „Wir können uns ruhig duzen. Bei euch Jungspunden komme ich mir sonst so alt vor.“

„Das bist du doch auch“, stichelt die Hexe und zeigt absolut keine Angst.

Konstantin flüstert ihr etwas ins Ohr, was sie augenblicklich erröten lässt. Sofort mischt sich Erika ein. Ihr Beschützerinstinkt scheint bei Valeria besonders ausgeprägt zu sein. Streng weist sie den Vollstrecker zurecht und die beiden tauschen ein paar Sticheleien aus. Ich kann den Eindruck nicht abschütteln, dass sie Spaß daran haben.

„Erika kann manchmal eine richtige Kratzbürste sein, aber bei ihr ist das eine Form der Zuneigung“, behaupte ich breit grinsend.

„Das glaube ich dir aufs Wort“, stimmt Konstantin mir zu.

Erikas Antwort ist ein Knurren, das unsere kleine Gruppe zum Lachen bringt.

„Was ist heute bei Miriam herausgekommen?“, erkundigt sich die Hexe und wechselt geschickt das Thema.

„Sie ist bei uns eingezogen“, antworte ich.

Erstaunt und erfreut zugleich sieht Valeria mich an. „Das ging schnell.“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe noch zwei jüngere Geschwister, die ungefähr in ihrem Alter sind. Der Rest des Rudels ist entweder um einiges jünger oder älter als sie. Ob wir nun zwei oder drei durchgeknallte Teenie-Wölfe im Haus haben, macht keinen großen Unterschied mehr.“

„Oh.“

„Also euch beneide ich definitiv nicht“, wirft Fabian ein. „Mir reicht eine Wölfin vollkommen aus.“ Dafür erntet er einen kräftigen Stoß von Erikas Ellenbogen.

„Jetzt werde mal nicht frech, Herr Fangzahn. Schließlich wohnst du in meiner Wohnung!“

„Willst du mir drohen, Wölfchen?“ Fabian fängt Erika ein und zieht sie an sich.

Die beiden liefern sich ein kleines Blickduell, doch plötzlich ändert sich die Stimmung im Raum. Leises Gemurmel breitet sich unter den Wölfen aus und die Anspannung der Anwesenden steigt. Fabian und Konstantin tauschen einen Blick, dann wendet sich letzterer ab.

„Passt auf Valeria auf. Ich schaue nach, was los ist.“

Automatisch gehorchen wir seiner Aufforderung und nehmen die Hexe in unsere Mitte. Valeria sieht uns erstaunt an. „Was ist denn los?“

Ich konzentriere mich und spüre, dass sich irgendwas unserem Aufenthaltsort nähert. Dieser Verdacht wird durch Fabians Worte bestätigt.

„Jemand nähert sich dieser Baracke“, informiert er uns. „Wahrscheinlich ein Vampir.“

Valeria ist deutlich anzusehen, dass ihr diese Aussicht nicht sonderlich gefällt. Erstaunlicherweise entspannt sie sich, als sich Fabian korrigiert. „Es sind zwei und sie sind keine normalen Vampire.“

„David und Christoph“, murmelt sie.

Fabian öffnet die Augen – Seine Iriden sind blutrot. Nicht nur ich sehe ihn erschrocken an, Ariane, Martin und ein paar Wölfe in der näheren Umgebung haben seine Transformation ebenfalls mitbekommen. Irgendwie habe ich mich noch nicht an seine andere Seite gewöhnt.

„Woher weißt du das?“, fragt er die Hexe.

„Konstantin hat mir vorhin von den zwei Vollstreckern erzählt. Er hoffte, dass wenigstens einer von ihnen heute ankommt.“

„Anscheinend wurden Konstantins Anfragen sofort beantwortet.“ Fabian blinzelt und ist wieder der unscheinbare junge Mann mit den grünen Augen.

„Wir werden es gleich erfahren“, meint Erika und deutet auf unseren Alpha. „Karl ist gerade mit nach draußen gegangen.“

Einige Momente vergehen in angespanntem Schweigen. Schließlich geht ein Raunen durch die versammelten Wölfe. Zusammen mit Karl betritt Konstantin den Raum. Der Vollstrecker wird von zwei Männern flankiert, die definitiv mächtige Vampire sind. Mein Herz schlägt aufgeregt, als mein Blick auf den Mann an Konstantins linker Seite fällt. Seine Erscheinung ist eine Überraschung für mich. Wahrscheinlich ist es mehr als nur dumm und naiv, aber ich wusste nicht, dass es dunkelhäutige Vampire gibt. Offensichtlich ist es der Fall, und meine Faszination kennt keine Grenzen. Den nordischen Riesen daneben, bekomme ich nur halb mit. Es gelingt mir einfach nicht, den Blick von dem schwarzen Vollstrecker zu nehmen. Neben seinen zwei Kollegen wirkt er schmal und auch seine Gesichtszüge sind feingeschnitten, obwohl er die typische breite Nase und die vollen Lippen seiner vermutlich afrikanischen Vorfahren hat. Das schwarze Haar ist so kurz geschnitten, dass es nur zu erahnen ist. Dunkelbraune Augen wandern durch den Raum. Sie sind aufmerksam und scheinen nach etwas oder jemandem zu suchen. Ich halte den Atem an, als sein Blick auf mir verweilt. Obwohl dieser Moment kurz ist, spüre ich ihn umso intensiver. Schnell wendet er den Blick ab, der nun stattdessen auf Valeria ruht. Diese spannt sich an. Ihr scheint diese Aufmerksamkeit unangenehm zu sein. Aus irgendeinem Grund passt es mir nicht, obwohl die dunklen Augen sie nur freundlich ansehen und er sich ausschließlich auf ihr Gesicht beschränkt. Er wechselt ein paar Worte mit Konstantin und ich verstehe, was los ist.

Er hat nach Konstantins Partnerin gesucht, denke ich.

„Warum zum Teufel tuscheln sie?“, empört Erika sich.

„Also ich würde sagen, dass sie Konstantins ausgezeichneten Geschmack loben“, meint Fabian gut gelaunt.

Valeria läuft rot an. Sie wird mir immer sympathischer. So wie Konstantin sie gerade anguckt, dürfte allen Anwesenden klar sein, was Sache ist. Meine empfindliche Nase hat mir schon längst verraten, dass die beiden ein Liebespaar sind. Sein Verhalten deutet darauf hin, dass es eine ernste Geschichte ist. Nach einer anfänglichen Unsicherheit strafft Valeria die Schultern.

„Ihr beiden passt wirklich gut zusammen“, flüstere ich ihr zu.

„Danke“, antwortet sie genauso leise.

Plötzlich tritt Karl vor. Mein Alpha ist eine beeindruckende Erscheinung, aber mit den drei Vollstreckern kann er es nicht aufnehmen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich seine Autorität von klein auf kenne und Vampire etwas Neues sind. Die Drei sind komplett in schwarz gekleidet und könnten wahrscheinlich jeden von uns mit Leichtigkeit in die Tasche stecken. Sie sind ein ebenso beängstigender wie faszinierender Anblick. Konstantin hat bei Weitem die düsterste Ausstrahlung. Er scheint unterkühlt und gefährlich. Der Mann zu seiner Rechten ist ein richtiger Hüne. Kurze, rotblonde Locken umrahmen ein kantiges Gesicht und bilden einen starken Kontrast zu seinen stechend blauen Augen. Er wäre die perfekte Besetzung für einen Wikingerkrieger. Bevor meine Aufmerksamkeit wieder zu dem mysteriösen, dunklen Vollstrecker wandern kann, ergreift Karl das Wort.

Er erklärt in Kurzform, was geschehen ist und löst mit seinem abschließenden Plädoyer Entsetzen aus.

„Es wird Zeit, dass wir die alte Feindschaft zwischen Vampiren und Werwölfen begraben. Unsere wahren Feinde zählen darauf, dass wir einander an die Gurgel gehen, statt uns gegenseitig zu unterstützen. Ich denke, die besondere Verbindung zwischen Erika und Fabian zeigt sehr gut, dass wir miteinander harmonieren können. Ohne ihren Einsatz würde Paul noch heute in einem Käfig sitzen und zweifellos wären ihm bald weitere Wölfe gefolgt.“

Aufgeregtes Gemurmel setzt unter den Wölfen ein. Viele sehen Karl ungläubig an. Mit so einer Ansprache unseres Alphas hätten sie nicht gerechnet. Immerhin bricht er mit einem jahrhundertealten Tabu.

„Habe ich gerade meinen Namen gehört?“, mischt sich eine neue Stimme ein.

Überrascht blicken wir alle auf den Eingang des Raumes, in dem ein gutaussehender Wolf mit verwuschelten, kurzen blonden Haaren steht.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme, aber mich hat die Nachricht erst in letzter Sekunde erreicht“, meint er an Karl gerichtet.

„Paul! Schön, dass du es noch geschafft hast“, begrüßt der Alpha ihn.

„Das ist Paul?“, fragt Valeria und spricht mir damit aus der Seele.

„Anscheinend“, antwortet Fabian leise. „Er hat sich in den letzten zwei Wochen gut erholt.“

Der junge Werwolf ist in erstaunlich guter Verfassung, wenn man bedenkt, dass er erst vor zwei Wochen befreit wurde. Nur in seinem Gesicht finde ich noch ein paar Spuren seiner Gefangenschaft. Es wirkt zu schmal, zu ernst und erwachsen für sein Alter.

Paul nickt Konstantin zu und bewegt sich in unsere Richtung.

„Vielen Dank für alles“, sagt er zu Fabian und drückt ihm ein T-Shirt in die Hand.

„Kein Problem. Wie geht es dir?“, erkundigt sich der Vampir.

„Ganz gut“, meint Paul schulterzuckend. „Glücklicherweise heilen wir Wölfe schnell. Nach einem langen Bad und einer ordentlichen Mahlzeit fühlte ich mich schon wesentlich besser.“

Er braucht nicht zu erwähnen, dass er um einiges länger mit den psychischen Folgen seiner Gefangenschaft zu kämpfen haben wird.

„Das freut mich zu hören. Es ist schön, dich wiederzusehen“, sagt Erika.

„Ist doch Ehrensache, dass ich hier mitmache. Schließlich habe ich es nur euch zu verdanken, dass ich nicht in diesem Loch verrottet bin.“ Sein Blick wandert zur Valeria. „Sie sind die Hexe, die die drei mörderischen Vampire überlebt und gestellt hat, oder?“

„Ja. Doch ohne Erika, Fabian und Konstantin oder die Wölfe hätte ich nichts erreicht. Wir können das nur gemeinsam beenden“, antwortet Valeria.

Paul lächelt sie charmant an und will etwas sagen, aber Erika stößt ihn leicht in die Seite. „Valeria ist vergeben. Du kannst dir deinen Charme sparen.“

Irritiert sieht er sie an. „An wen denn?“

„Mich“, ertönt Konstantins Stimme hinter ihm und lässt uns alle zusammenzucken.

„Noch ein Vampir, der sich an eine Sterbliche bindet?“ Nicht nur Paul schaut ihn ungläubig an.

Der Vollstrecker zuckt mit den Schultern. „Es ist nicht offiziell verboten.“

„Außerdem hast du gute Verbindungen zu den Gesetzeshütern“, kommentiert sein schwarzer Kollege sichtlich amüsiert. Mein Herz flattert, weil er mir plötzlich so nah ist.

„Nur zu den Besten“, gibt Konstantin zurück. „Auch wenn sie manchmal nerven und ihre Nase in alles hineinstecken müssen.“

Die beiden neuen Vollstrecker lachen. Der Wikinger-Typ grinst ihn an. „Lass uns ein bisschen Spaß, alter Knabe.“

Konstantin seufzt gespielt. „Na gut. Wenn es sein muss.“ Er deutet auf seine beiden Kollegen. „Das sind David und Christoph.“ Dann auf uns. „Valeria, Erika, Fabian, Paul und Tamara. Die anderen beiden sind Martin und Ariane.“

„Freut uns, euch kennenzulernen“, erwidert David mit einem breiten Lächeln. Ich weiß nicht warum, doch seine Nähe löst einen wahren Sturm widersprüchlicher Gefühle in mir aus. Als sich unsere Blicke treffen, fühlt es sich an, als würde ich einen elektrischen Weidezaun anfassen. Ganz automatisch mache ich einen Schritt zurück. Aus Versehen stoße ich dabei gegen Paul, der mich verwirrt anschaut. Zu meinem Entsetzen spüre ich ein ähnliches Kribbeln wie bei David.

Oh verdammt! Das muss ein schlechter Witz sein!, fluche ich gedanklich. Mein Interesse an David ist ungewöhnlich genug, aber ich will um keinen Preis an einen Werwolf gebunden sein, der monatelang von Fanatikern misshandelt wurde. Traumabewältigung habe ich mit Miriam noch vor mir. Darauf kann ich bei einem potentiellen Partner wirklich verzichten.

Ich bin so abgelenkt von meinen Gefühlen und Vermutungen, dass das restliche Gespräch an mir vorbeigeht. Erst als Konstantin seine Kollegen wieder zurück zu Karl scheucht, wache ich auf. Dadurch sehe ich gerade noch Davids neugierigen Blick, bevor er sich abwendet.

„So, genug Höflichkeiten ausgetauscht. Wir haben einiges an Arbeit vor uns und wollen Karl nicht länger warten lassen“, beschließt Konstantin.

„Also Sie und Konstantin?“, fragt Paul Valeria leise. Es ist offensichtlich, dass er die Hexe ansprechend findet und nun ziemlich geknickt ist.

„Ja, was dagegen?“, kontert Valeria und ich würde sie am liebsten knutschen.

„Nein“, antwortet er schnell. „Es ist nur überraschend. Nicht zuletzt, weil Sie durch andere Vampire leiden musste.“

„Monster gibt es überall, wie ich feststellen musste. Deswegen möchte ich trotzdem nicht auf Konstantin oder meine Freunde unter den Wölfen und Vampiren verzichten.“

Karl räuspert sich und sofort verstummen alle. „So, nachdem einige Dinge geklärt wurden, können wir uns dem eigentlichen Thema widmen.“

Es ist bemerkenswert, dass er die Unterbrechung mit Humor nimmt, aber meiner Erfahrung nach ist Karl immer ein gerechter und umgänglicher Anführer.

„Wir haben bereits gut mit Fabian und Konstantin zusammengearbeitet und ich denke, das wird auch diesmal der Fall sein.“ Karl winkt Konstantin zu sich. „Wie wäre es, wenn Sie die anderen über den aktuellen Stand informieren?“

„Gern“, stimmt Konstantin zu. „In der letzten Woche hat eine Gruppe von Schwarzmagiern auffälliges Interesse an Valeria gezeigt und sie bedroht. Es kam zu mehreren Kämpfen, in deren Verlauf die Anzahl der Lakaien dezimiert wurde. Der Dämon, der diese Gruppe führte, hatte den menschlichen Körper eines ihrer Bekannten besetzt und ist der Ursprung für die jüngsten Probleme. Wir wissen mittlerweile, dass die Angriffe auf die Frauen sowie die Jagd auf die Werwölfe zu einem großen Plan gehören. Den Dämon konnten wir zurück in die Hölle schicken. Gestern kam es zu einem erneuten Zusammentreffen mit den Lakaien. Zwei von ihnen genießen unsere Gastfreundschaft und könnten uns weitere Hinweise über die Ziele der Gruppe liefern. Bisher hatten wir es mit insgesamt zehn menschlichen Lakaien zu tun. Wir wissen im Moment noch nicht, wie hoch ihre Zahl tatsächlich ist und wie viele übernatürliche Wesen ihnen angehören.“

Je mehr der Vollstrecker erzählt, desto unwohler fühle ich mich. Unwissenheit kann ein Segen sein. Doch es hilft alles nichts. Wenn wir nicht endlich etwas unternehmen und zusammenarbeiten, könnte die Sache böse ausgehen.

Konstantin zeigt auf die beiden Vampire an seiner Seite. „David und Christoph sind ebenfalls Vollstrecker und haben sich bereiterklärt, uns zu helfen.“ Er betrachtet die versammelten Wölfe, die schockiert und skeptisch seinen Worten lauschen. „Ich weiß, dass wir in den letzten Jahrhunderten wenig miteinander zu tun hatten. Vampire und Werwölfe sind unterschiedlich, aber nicht so verschieden wie wir alle glauben. Die Schwarzmagier haben selbst diese Grenzen zwischen den Wesen überschritten und rekrutieren in allen Lagern neue Anhänger. Dabei sind sie mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo ihnen egal ist, dass sie sich den Menschen zu erkennen geben.“

Der letzte Satz beunruhigt alle Anwesenden. Ich bin da keine Ausnahme. Jedem ist bewusst, dass eine Entdeckung durch die Menschen kein gutes Ende für uns nehmen dürfte.

„Es ist wichtig, dass wir zusammenarbeiten und uns gegenseitig ergänzen. Karl hat euch hierhergerufen, weil er euch für aufgeschlossen und vertrauenswürdig hält. Solange wir nicht wissen, wer mit den Schwarzmagiern unter einer Decke steckt, darf nichts von alledem nach Außen gelangen.“

Zusammen mit Karl teilt Konstantin die Anwesenden in Gruppen und Aufgabenbereiche ein. Vorerst haben nur die engsten Vertrauten von Konstantin und Erika direkten Kontakt zu den Gefangenen. Die anderen werden als Beobachter eingesetzt und warten auf die Informationen über die Schwarzmagier, die wir hoffentlich von den Gefangenen erhalten werden.

Ich bekomme schon eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Man könnte sagen, dass ich recht behütet aufgewachsen bin. Dadurch, dass meine Eltern so jung in die Verantwortung gezwungen wurden, waren sie bei mir besonders vorsichtig. Im Gegensatz zu Erikas Situation mit ihren Eltern löste sich meine kurze Leine, als meine jüngeren Geschwister geboren wurden. Die Aufmerksamkeit meiner Eltern verlagerte sich und ich konnte mich etwas freier bewegen. Soweit es ihnen möglich war, hielten sie mich von allem Übel fern. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert, sondern manchmal hart und ungerecht. Mir wäre es lieber, wenn wir ganz normal recherchieren könnten, ich bezweifle allerdings, dass es auch nur einen ernst gemeinten Eintrag über Schwarzmagier bei Wikipedia gibt. Ein Blick auf die entschlossenen Gesichter der Vollstrecker zeigt mir, dass sie wissen, was sie tun. In ihrem Beruf werden ihnen nur selten willige Informanten begegnen. Obwohl sie wahrscheinlich auf Folter verzichten können, wenn es sich um Menschen handelt, bin ich mir sicher, dass sie einige Methoden kennen, um jemanden zur Mitarbeit zu überreden.

„Wir sollten unseren Gästen einen kurzen Besuch abstatten. Vielleicht sind sie schon gesprächsbereit“, schlägt Christoph vor.

„Tobi wird singen wie ein Vogel“, prophezeit Konstantin. „Der Kleine hat sich blind auf eine Sache eingelassen, die mehrere Nummern zu groß für ihn war. Den anderen sollten wir mit Vorsicht genießen.“

Kurz wird darüber diskutiert, ob man die Gefahr durch den zweiten Lakaien mithilfe eines Bannzaubers beseitigen könnte. Valeria verspricht, einen passenden Zauber zu suchen und sobald wie möglich anzuwenden.


Überraschende Nähe

David klatscht in die Hände. „Na gut, dann lasst uns mal loslegen. Die Nacht ist kurz, und ich möchte mich ein bisschen umsehen, bevor ich schlafen muss.“

„Du wirst noch Gelegenheit haben, Tourist zu spielen“, zieht Konstantin ihn auf. „Fabian soll einen fähigen Stadtführer abgeben, wie mir zu Ohren gekommen ist.“

Der Angesprochene lacht. „Für euch mache ich eine besondere Führung.“

Was auch immer das heißt, denke ich mir. Gibt es spezielle Vampiretablissements oder sowas? Ich nehme mir vor, Fabian bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.

„Das wäre super!“ David strahlt über das ganze Gesicht und entblößt zwei Reihen weißer Zähne. Von den drei Vollstreckern ist er eindeutig der fröhlichste. Irritiert bemerke ich, dass sein Lächeln ein komisches Prickeln in meinem Bauch auslöst. Dieses Gefühl ist so ungewohnt, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Er ist ja nicht der erste Mann, der mir gefällt, doch bisher beschränkte es sich bei mir auf mildes Interesse. Das, was der schwarze Vollstrecker mit meinem Körper anstellt, ist eine andere Kategorie.

„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, mischt sich Konstantin ein.

„Du warst schon immer ein Spielverderber“, murrt David und fügt sich in sein Schicksal. Wahrscheinlich ist es nur Zufall, dass sein Blick wieder auf mir landet, zumindest versuche ich, mir das einzureden. Gut möglich, dass er sich über mein komisches Verhalten wundert. Bei meiner besten Freundin ist das der Fall. Als wir uns zu den Autos begeben, passt sie mich ab und zieht mich hinters Haus, wo wir ungestört sind.

„Was ist mit dir los, Tamara? Du bist so ruhig und verhältst dich seltsam“, stellt sie mich zur Rede.

„Ich bin mir nicht sicher“, gebe ich zu. „Gerade ist alles verwirrend. Durch dich wusste ich zwar schon mehr als die anderen, trotzdem ist es erschreckend.“

„Das ist aber noch nicht alles“, vermutet sie.

Ich seufze und reibe mir mit der Hand über die Stirn. „Nein. Ich weiß im Moment selbst nicht, was mit mir los ist.“

Erika kommt zu mir und umarmt mich. „Du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kannst.“

„Danke. Sobald ich einen halbwegs klaren Kopf habe, reden wir“, verspreche ich.

„Na gut.“

Zufrieden ist sie nicht, doch wir haben keine Zeit für ein längeres Gespräch. Die anderen warten auf uns und es dürfte nicht mehr lange dauern, bis sie uns holen kommen. Bevor das passiert, gehen wir zurück. Gerade als wir um die Ecke biegen, laufe ich gegen etwas Hartes. Aus Reflex hebe ich meine Hände, um den Aufprall abzufangen. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ich nicht in die Hauswand, sondern in eine Person gerannt bin. Anscheinend waren wir nicht schnell genug und jemand wollte nach uns sehen. Dem leichten Prickeln nach zu urteilen, was durch meinen ganzen Körper geht, muss es sich um David handeln. Meine Hände liegen auf seiner Brust. Unter seinem schwarzen Shirt kann ich harte Muskeln fühlen. Mein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von seinem Schlüsselbein entfernt. Sofort steigt mir sein würziger Geruch nach Leder und Sandelholz in die Nase und lässt meine innere Wölfin aufgeregt im Kreis rennen. Seine Hände ruhen auf meiner Hüfte und halten mich an ihn gepresst.

Er will dich nur stabilisieren, rede ich mir ein. Das hat rein gar nichts zu bedeuten.

Mein rasendes Herz und die weichen Knie sind auch total unwichtig. Sicherlich bilde ich mir nur ein, dass seine Finger meine Hüfte zögerlich liebkosen. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr.

„Tamara. Das ist ein schöner Name“, sagt er mit einer Stimme wie Samt.

Kleine Schauer jagen durch meinen Körper und das Verlangen meine Nase in seiner Halsbeuge zu vergraben, wird immer größer. Vor meinem geistigen Auge taucht ein zerwühltes, großes Bett auf, in dem zwei ineinander verschlungene Leiber liegen.

„David! Hast du uns erschreckt. Ist etwas passiert?“

Erikas Frage reißt mich aus meinen Fantasien. Ertappt zucke ich zurück und entferne meine Finger schnell von Davids Brust.

„Wir haben uns nur gewundert, wohin ihr plötzlich verschwunden seid“, antwortet er. „Ich rechnete nicht damit, dass ihr mich gleich über den Haufen rennt.“

„Tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen.“ Meine Wangen brennen vor Scham. Ich würde gern zurücktreten, aber seine Hände halten mich effektiv zurück.

„Vampire haben die lästige Angewohnheit, sich anzuschleichen“, gibt er freimütig zu. „Außerdem werde ich mich bestimmt nicht beschweren, wenn ich eine hübsche Frau in den Armen halten darf.“

Eine von Erikas Augenbrauen wandert in die Höhe. „Du gehst ganz schön ran. Ich dachte, Vampire haben es nicht so mit Werwölfen?“

Lachend lässt David mich frei. „Das aus deinem Mund zu hören, ist ein bisschen ironisch, Erika.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich kann nichts dafür, wenn sich einige Vampire zu gut sind, um Umgang mit anderen übernatürlichen Wesen zu haben. Meine Sympathiepunkte vergebe ich nach Charakter und nicht danach, ob jemand mondsüchtig ist oder auf Blut steht.“

Diese Einstellung kann ich nur loben, allerdings beschäftigt mich mein Körper viel mehr. Ohne Davids Nähe friere ich, obwohl es sommerlich warm ist.

„Wir sollten zurück zu den anderen gehen“, werfe ich ein. Ich brauche unbedingt ein paar Minuten Ruhe, um über alles nachzudenken. Natürlich erkennen die beiden meine schlecht getarnte Flucht sofort.

„Wenn du meinst …“ Der Blick, den David mir zuwirft, lässt meine Wangen noch röter werden.

Ich recke das Kinn in die Höhe. „Ja, schließlich wollen wir doch herausfinden, was die Schwarzmagier planen. Für nette Unterhaltungen haben wir später genügend Zeit.“

„Ich nehm‘ dich beim Wort. Natürlich sollten wir unsere ‚Gäste‘ nicht zu lange warten lassen. Das wäre äußerst unhöflich“, meint der Vollstrecker und zwinkert mir zu. Dann dreht er sich um und verschwindet in den Schatten.

„Wow. Er ist wirklich sehr gut darin, sich unbemerkt in der Dunkelheit zu bewegen“, entfährt es mir.

„Offensichtlich ist das nicht sein einziges Talent“, kommentiert meine beste Freundin scharfsinnig wie immer.

Glücklicherweise kann ich nicht noch röter werden. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Na klar und ich bin Moses! Selbst wenn ich dich nicht schon seit einer halben Ewigkeit kennen würde, wäre mir aufgefallen, dass David eine besondere Wirkung auf dich hat.“

„Lass mir ein bisschen Zeit zum Erholen, ja? Ich fühle mich überfahren.“

Erika lächelt verständnisvoll. „Das glaube ich dir. Anscheinend ist er an dir interessiert und ungewohnt offensiv für einen Vampir.“

„Er hat mich ziemlich überrannt“, gebe ich zu.

Meine Freundin lacht. „Also eigentlich war es umgekehrt.“

Ich muss schmunzeln. „Stimmt.“

„Was hältst du von ihm?“

„Ich weiß es nicht genau. David scheint nett zu sein und ist eine Überraschung für mich. Aber ich habe ihn gerade erst kennengelernt. Seine Nähe verwirrt mich.“

Erika sieht mich mit großen Augen an. „Oh, oh. Scheint so, als hätte es dich erwischt.“

Unruhig scharre ich mit den Füßen. „Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. An meiner generellen Situation hat sich nichts verändert.“

Sie klopft mir leicht auf die Schulter. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst. David wird das respektieren. Da bin ich mir sicher.“

„Wenn du meinst“, entgegne ich alles andere als überzeugt.

„Das wird schon. Jetzt lass uns besser zurückgehen, bevor alle kommen und wissen wollen, was los ist.“

Zusammen begeben wir uns zum Rest der Truppe. Mir entgeht der neugierige Blick von Paul nicht.

„Hey Paul, brauchst du noch eine Mitfahrgelegenheit? Du könntest bei uns oder Tamara mitfahren.“, meint Erika.

Gespannt halte ich die Luft an. Wenn ich er wäre, würde ich die alleinstehende Dame statt des Pärchens wählen. Paul schaut mich kurz an, bevor er mit dem Kopf schüttelt.

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich bin selbst mit dem Auto da. Ich wohne am anderen Ende der Stadt und möchte euch unnötige Umwege ersparen.“

Erleichtert atme ich aus und hoffe, dass es keinem auffällt. Ich bin froh, dass ich keine Gesellschaft habe. Valeria beneide ich definitiv nicht, denn sie darf mit allen drei Vollstreckern im Auto fahren. Während ich Konstantins Wagen durch die leeren, dunklen Straßen folge, versuche ich, meine aufgewühlten Gedanken zu ordnen. David übt eindeutig eine große Anziehungskraft auf mich aus und scheint einem näheren Kennenlernen nicht abgeneigt. Die Stellen, an denen wir uns berührten, prickeln noch immer und sein einzigartiger Geruch hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

„Da ist fast sechsundzwanzig Jahre tote Hose und plötzlich tauchen zwei Männer gleichzeitig auf, die eine beunruhigende Wirkung auf mich haben“, murmele ich frustriert. Paul sieht nicht schlecht aus und wirkt auch ganz nett, aber ich möchte mich momentan einfach nicht an einen Wolf binden, vielleicht nie. Außerdem scheint er sich mehr für Valeria zu interessieren. Kopfschüttelnd denke ich an seine Verwunderung über ihre Beziehung zu Konstantin. Zwar kam er später dazu, doch der Mischgeruch der beiden ist ein deutliches Zeichen.

„Warum hat er das nicht erkannt?“, frage ich mich laut. „Oder hat er es ignoriert und wollte sein Glück trotzdem probieren? Das wäre nicht untypisch für einen Werwolf. Sie sind oftmals der Meinung, dass sie unwiderstehlich wären und ihnen die Frauen zu Füßen liegen sollten“, schnaube ich. „Das kann ich wirklich nicht gebrauchen. Bevor ich mich an einen rückschrittlichen Wolf binde, sterbe ich lieber als alte Jungfer.“

Immer weiter geht es in ein abgelegenes Gebiet. Ohne Konstantins Führung würde ich diesen Ort niemals finden. Irritiert parke ich mein Auto neben dem schwarzen Geländewagen vor einem heruntergekommenen Gebäudekomplex. Als ich aussteige und mich zu den anderen geselle, bin ich nicht die Einzige, die verwirrt ist, Paul schaut auch, als ob er die Welt nicht mehr versteht. Wahrscheinlich malt er sich aus, wie die Vampire ihre Gefangenen in heruntergekommenen Kerkerzellen anketten, wo sie von Ratten angenagt werden. Für ihn muss es nach seiner Gefangenschaft sehr schwer sein, uns zu begleiten.

„Es wird schon nicht so schlimm werden. Die Vollstrecker sind schließlich keine Monster“, versuche ich, ihn aufzumuntern.

Er schenkt mir ein schwaches Lächeln. „Danke.“ Dann strafft er die Schultern. „Ich muss da durch, wenn ich ein normales Leben führen will.“

„Das wird schon. Es braucht nur Zeit.“

Bevor Paul etwas erwidern kann, fordert Konstantin unsere Aufmerksamkeit.

„Kommt“, sagt dieser nur und betritt das verlassene Gebäude. Unsere kleine Gruppe setzt sich in Bewegung und ich falle zurück.

Auf verschlungenen Wegen geht es durch das Haus und schließlich abwärts in den Keller. Überall bröckelt der Putz oder es fehlen ganze Teile von Mauern und Decken. Es riecht nach Schimmel, feuchter Bausubstanz und Ausscheidungen von Menschen sowie kleinerem Getier. Insgesamt ist es eine unangenehme Mischung, die in meine empfindliche Nase beißt. Ich zucke zusammen, als plötzlich jemand hinter mir steht.

„Es stinkt schrecklich, ich weiß. Aber es wird gleich besser“, verspricht mir eine wohlbekannte Stimme.

„David!“, zische ich so leise wie möglich. „Hör auf, dich an mich heranzuschleichen!“

Der Vollstrecker hat tatsächlich den Nerv, mich frech anzugrinsen. „Warum denn? Wir Vampire mögen die Jagd. Wenn wir eine interessante Fährte aufnehmen, müssen wir sie verfolgen. Das solltest du als Werwölfin verstehen können.“

Sein Finger streicht leicht über meinen Nacken und beschert mir eine wohlige Gänsehaut. Meine Wölfin drängt mich dazu, mich an seinen starken Körper zu lehnen, doch ich wehre diesen Impuls ab. Stattdessen schlage ich Davids Hand weg und funkele ihn böse an, so böse, wie ich in dem atemlosen Zustand kann.

„Reiß dich zusammen, Blutsauger.“

„Du zeigst deine Krallen. Das gefällt mir.“

Seine Hartnäckigkeit und Gegenwart gefallen meiner Wölfin, allerdings möchte ich mich nicht blind in eine Affäre stürzen. Das können sich erfahrenere Frauen leisten. Ich sollte es langsamer angehen lassen.

„David, benimm dich!“

„Das würde ich ja gern, aber dein Geruch treibt mich in den Wahnsinn.“

Automatisch hebe ich den Arm und rieche an meiner Achsel. Erleichtert hebe ich den Kopf und sehe in Davids lachendes Gesicht.

„Was denn?“

„Dein Deo hat nicht versagt, falls du das befürchtet hattest.“ Immer noch breit grinsend kommt er näher und vergräbt seine Nase in meiner Halsbeuge. „Mhm, ein Hauch von Veilchen, ein bisschen Wolf und der verführerische Geruch deiner Erregung. Du reagierst auf mich.“

Wären wir Menschen, würde ich versuchen, diesen Fakt zu leugnen. So wie es ist, könnte ich es zwar versuchen, doch es wäre lächerlich.

„Ja, du erregst mich, zufrieden?“, frage ich gereizt. David ist mir viel zu nahe, um einen klaren Gedanken zu fassen. So wie er mich anschaut, hat er konkrete Vorstellungen.

„Zufrieden bin ich erst, wenn wir beide ganz alleine in einem Raum mit einem gemütlichen Bett sind“, kontert er.

Sofort produziert meine Fantasie die passenden Bilder, die meinen Herzschlag beschleunigen. Am liebsten würde ich ihn anspringen und das macht mir Angst.

„Fürchtest du dich etwa vor mir?“, fragt er plötzlich.

„Nicht direkt. Es geht mir einfach zu schnell.“ Verlegen gebe ich zu: „Wir haben uns gerade erst kennengelernt, David. So sehr mich deine Nähe auch erregt, ich brauche Zeit, um zu entscheiden, was ich tun soll.“

Mein Geständnis scheint David zu überraschen. Er atmet einmal tief durch und tritt zurück. „Na gut. Ich will dich nicht bedrängen. Du hast Recht, es geht extrem schnell und ist heftig. Auch wenn es mir schwerfällt, werde ich dich in Ruhe lassen. Sag mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast.“ Mit den letzten Worten zieht er eine Visitenkarte hervor und hält sie mir hin. „Du kannst mich jeder Zeit anrufen. Wie wäre es mit einem Date, um uns etwas besser kennenzulernen?“

Verblüfft über den Vorschlag und die Tatsache, dass der schwerbeschäftigte und attraktive Vollstrecker ausgerechnet mit mir ausgehen will, sehe ich ihn mit großen Augen an. Nach einem kurzen Moment besinne ich mich und nehme die Karte.

„Danke. Ich werde es mir überlegen.“ Es ist eine Erleichterung zu sehen, dass er ihn diese starke Anziehungskraft genauso aufwühlt wie mich und ein Wunder obendrein. Im Gegensatz zu mir hat er garantiert viel Erfahrung. Männer können nicht ohne Sex und sie haben keine Unschuld, die sie bewahren müssten. Ganz im Gegenteil, die meisten Männer wollen sie so früh wie möglich loswerden.

„Tamara, David! Wo bleibt ihr denn?“, ruft Erika plötzlich.

Erschrocken stelle ich fest, dass die Anderen bereits ein gutes Stück entfernt sind. Das ist gut so, sonst hätten sie unser Gespräch komplett mitbekommen. Wir sind zwar unter uns, aber mir ist es lieber, wenn ich die Sache nur mit David klären muss. Besonders bei Paul kann ich schlecht einschätzen, wie er reagiert und es ist kompliziert genug.

„Wir kommen!“, antworte ich daher. Ich laufe los und bemerke erst an einem leichten Widerstand, dass ich reflexartig Davids Hand ergriffen habe und ihn hinter mir her ziehe.

„Verzeihung. Ich habe jüngere Geschwister, die ich immer mitschleifen muss.“

Sofort möchte ich den Fehler korrigieren, doch er ist nicht gewillt, meine Hand freizugeben.

„Mich stört es nicht, wenn du mich ein bisschen durch die Gegend schleifst.“

„Du bist wirklich unmöglich“, werfe ich ihm vor.

„Ach komm schon, so schlimm findest du es gar nicht.“

Ertappt sehe ich ihn an. „Es ist peinlich, dass du mich so einfach durchschaust.“

David zuckt mit den Schultern. „Wenn du meine Nähe nicht dulden würdest, könntest du mich auf verschiedene Arten loswerden. Du hast es jedoch nicht ernsthaft versucht. Ich kann zwar nicht in deinen Kopf sehen, aber dein Körper spricht eine deutliche Sprache.“

„Wenn’s nur nach dem und meiner inneren Wölfin ginge, würden wir unsere Zeit nicht mit Unterhaltungen verschwenden“, brumme ich missgelaunt.

Der Vollstrecker bleibt ruckartig stehen. Zwangsläufig pralle ich durch meinen eigenen Schwung gegen ihn. Überall dort, wo wir uns berühren, kribbelt es auf meiner Haut. Ich weiß noch gar nicht, was los ist, als David mein Kinn anhebt und mich küsst. Seine Lippen fühlen sich wunderbar weich auf meinen an und sind äußerst geschickt. Es ist ein leichter Kuss, fast schon keusch und trotzdem prägt er sich fest in meine Erinnerung ein. So plötzlich wie er begann, endet er leider auch. Ich hätte nicht gedacht, dass so eine kleine Liebkosung, meinen Körper derart in Aufruhr versetzen kann. Verwundert sehen wir uns an und wissen beide nicht, was wir dazu sagen sollen. David ist offenbar ebenso überrumpelt von seinen Gefühlen wie ich.

Als leise Schritte zu hören sind, erwachen wir aus unserer Starre.

„Oh Mist! Wir haben zu lange gebraucht“, murmele ich.

„Scheint so.“ David hebt mich hoch und einen Herzschlag später stehen wir vor Erika.

„Woah! Habt ihr mich erschrocken!“, entfährt es ihr, als wir unvermittelt auftauchen. Sie hat eine Hand auf ihr pochendes Herz gelegt und schaut uns mit großen Augen an. Sobald sie sich von dem Schock erholt hat, folgt der nächste. David hat mich noch nicht abgesetzt und so stehen wir in einer ziemlich intimen Pose vor meiner besten Freundin.

„Ähm. Ich denke, es wäre besser, wenn du mich jetzt herunter lässt. Wir haben Erika ja eingeholt“, sage ich, um die peinliche Situation zu überspielen.

Ich bin überrascht, als David mich ohne Widerworte absetzt. „Tut mir leid, dass ihr auf uns warten musstet“, meint er gelassen zu Erika, als wäre nichts gewesen. „Wir waren so in unser Gespräch vertieft, dass wir eine falsche Abzweigung genommen haben.“

Skeptisch mustert meine beste Freundin den Vollstrecker. „Gespräch? Interessante Umschreibung. Aber wir sollten jetzt zu den Anderen gehen, sonst dürftet ihr einiges zu erklären haben.“

„Natürlich. Wir wollen unsere Gäste nicht länger warten lassen“, stimmt David zu. „Das wäre sehr unhöflich und Konstantin achtet strikt darauf, dass wir gut mit unseren Gästen umgehen.“

Ich beneide David, weil er so gelassen erscheint. Ich hoffe zumindest, dass ihn der Kuss so aufgewühlt hat wie mich. Im Gegensatz zu mir dürfte er ausreichend Erfahrung in diesem Bereich haben. Seltsamerweise schmerzt mich der Gedanke, dass das zwischen uns für ihn nicht so besonders ist wie für mich. So wie er auftritt, ist es durchaus möglich, dass ich nicht die einzige Werwölfin bin, die er näher kennt oder in meinem Fall kennenlernen will. Frustriert schüttele ich den Kopf und beschleunige meine Schritte. Unter keinen Umständen möchte ich mich in dem verfallenen Gemäuer verlaufen. Nach wenigen Minuten sind wir endlich bei den anderen. Sie stehen vor einem Zugang zum Keller. Wirklich vertrauenserweckend sieht die alte, schmale Kellertreppe nicht aus, die nur spärlich beleuchtet ist. Schaudernd denke ich an die ganzen Krabbeltiere, die unter diesen Bedingungen wunderbar gedeihen.

„Du hast doch nicht etwa Angst vor Spinnen, oder?“, fragt David mich belustigt.

„Nein, aber ich verzichte lieber auf engeren Kontakt zu ihnen. Als Wolf ist mir das egal, obwohl selbst dann einige Viecher nerven.“

„Na ja, wenn du durchs Unterholz rennst, wird sich eine Begegnung mit Spinnen oder Ähnlichem wohl nicht vermeiden lassen.“ Neugierig betrachtet er mich. „Wie sieht deine Wölfin eigentlich aus?“

Überrascht blicke ich zu ihm. Diese Frage hatte ich nicht erwartet. „Wie ein Wolf eben aussieht. Ich habe nur eine etwas hellere Fellfarbe.“

„Zeigst du sie mir irgendwann mal?“

Meine Wangen färben sich rosa. „Vielleicht.“

„Bist du schüchtern?“, neckt er mich.

„Du zeigst doch auch nicht gleich jedem deine vampirische Seite“, gebe ich zurück. „Dabei musst du dich für die Verwandlung noch nicht einmal ausziehen.“

„Ausziehen klingt gut“, meint David nur und lässt seinen Blick genüsslich über meinen Körper gleiten. „Mhm, ich hätte nichts gegen eine private Vorführung einzuwenden, wenn dir danach sein sollte.“

„Wir werden sehen, aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen.“

David zieht eine Schnute. „Du bist gemein. Ich wollte dich so gern mal hinter den Ohren kraulen.“

Gerade als ich ihm einen passenden Kommentar an den Kopf werfen will, öffnet sich plötzlich die Tür zu einer anderen Welt. Ich kann nicht glauben, dass es hier in diesem heruntergekommenen Komplex moderne Schließanlagen gibt. Was dahinter zum Vorschein kommt, überrascht mich. Statt halb verfallenem Gemäuer gibt es hier fast klinisch reine, weiße Wände. Unterbrochen werden sie nur von vereinzelten Stahltüren. In den Ecken entdecke ich Kameras. Es besteht kein Zweifel, dass die Vampire wissen, was sie tun und über die nötige Ausstattung verfügen.

„Es ist echt ein kleiner Hochsicherheitstrakt“, meine ich leise zu David.

„Wir arbeiten gern im Untergrund. Hier kommt man nur rein oder raus, wenn man die nötigen Informationen besitzt.“

Das glaube ich ihm auf Anhieb. Ich bin mehr als froh, dass ich nicht alleine und nur zu Besuch bin. Mit den Gästen der Vollstrecker möchte ich wirklich nicht tauschen.


Auf der anderen Seite (Paul)

Es kostet mich einiges an Überwindung, zusammen mit den anderen den Gefängnistrakt zu betreten.

Angst und Unwohlsein steigern sich mit jedem Schritt, den wir auf die Zellen zumachen. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn und meine Hände fangen an zu zittern.

„Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut eure Verstecke getarnt sind“, meint Valeria und betrachtet die Räumlichkeiten.

„Ein bisschen Privatsphäre kann nie schaden“, witzelt David, der schwarze Vollstrecker.

„Und man hört die Schreie nicht“, platzt es aus mir heraus.

Ich bereue die Äußerung im selben Moment, denn alle Augen sind auf mich gerichtet. Der stahlgraue Blick von Konstantin liegt auf mir. Der Vampir unterzieht mich einer schnellen Musterung. Ich habe keine Hoffnung, dass ihm mein rasendes Herz oder der Geruch meiner Angst entgeht.

„Du musst dir das nicht antun, wenn es dir zu sehr zusetzt“, sagt Konstantin. „Wir haben nicht vor, ihnen Gewalt anzutun, aber wir werden sie auch nicht mit Samthandschuhen anfassen“, stellt er klar, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Scham brandet in mir auf. Konstantin und Fabian haben gesehen, was diese Verrückten mir angetan haben. Glücklicherweise sind die meisten meiner Verletzungen gut verheilt. Meine Werwolfsgene sorgten dafür, dass ich nur wenige, feine Narben davongetragen habe, statt einen offenen Rücken oder eine Mondlandschaft.

„Nein, es geht schon. Ich muss mich meinen Ängsten stellen und diesmal stehe ich auf der richtigen Seite der Gitter.“

„Wenn du meinst …“

Mit angehaltenem Atem halte ich Konstantins prüfenden Blick stand. Als er mit den Schultern zuckt, entspanne ich mich wieder.

„Nehmt euch vor dem zweiten Lakaien in Acht. Solange wir ihn nicht ausgeschaltet haben, könnte er uns gefährlich werden“, warnt er uns und dreht sich dann weg.

Verstohlen betrachte ich seinen Rücken. Bis zu meiner Befreiung hatte ich nie Kontakt zu Vampiren. Ich kenne nur die Schauermärchen, die in meinem Rudel über sie erzählt werden. Konstantin ist offensichtlich mehr als ein Mensch und hat auf dem ersten Blick Ähnlichkeit mit den kalten, blutrünstigen Wesen aus diesen Geschichten, die mordend durch die Gegend ziehen. Wenn er mich nicht zusammen mit Fabian gerettet hätte, würde ich mir vermutlich vor Angst in die Hosen machen. Dieser Vampir könnte sehr viel Schaden anrichten, wenn er wollte. Das Gleiche gilt für seine zwei Kollegen. Alle drei sind ausschließlich schwarz gekleidet, was bei allen außer David einen deutlichen Kontrast zur blassen Haut bildet. Ihre Körper sind gestählt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. David scheint eher der drahtige Typ zu sein und ist von den Dreien der Kleinste und Fröhlichste. Christoph ist ein wahrer Riese und könnte mich bestimmt mit einer Hand zerquetschen. Konstantin liegt irgendwo dazwischen. Seine Statur ähnelt der eines Werwolfes und doch würde niemand den Fehler machen und ihn damit verwechseln. Ihn umgibt eine kühle und mächtige Aura, die so ziemlich jeden einschüchtern kann.

Dabei ist die Umgebung bedrückend genug. Im Gegensatz zu meinem Käfig ist das hier ein richtiges Gefängnis. Konstantin schließt eine der Türen auf und führt uns einen weiteren Gang entlang. Links und rechts sind Gefängniszellen zu sehen. Mit einem stummen Befehl schickt er seine zwei Kollegen vor. Schnellen Schrittes verschwinden sie am Ende des Gangs. Ein entsetztes Keuchen ist zu hören, dann ein dumpfer Aufschlag. Ruhe.

Ich zucke bei den Geräuschen zusammen und versuche, nicht darüber nachzudenken, was die beiden mit dem Schwarzmagier gemacht haben.

Gelassen tauchen die beiden Vollstrecker wieder auf. „Der schläft jetzt eine Weile“, berichtet Christoph.

Konstantin nickt. „Gut, dann können wir uns nun dem anderen Lakaien widmen.“

Wir schlagen die gegensätzliche Richtung ein und stehen schließlich vor der zweiten, belegten Zelle. Konstantin öffnet die Stahltür und lotst uns in den kleinen Vorraum, der nun Einblick in die eigentliche Zelle gewährt. Im Vergleich zu mir hat der schwächliche Mensch ein Luxushotel gebucht. Privatsphäre, eine Möglichkeit zum Schlafen und Waschen und seine Kleidung durfte er auch behalten. Trotzdem bietet er einen erbärmlichen Anblick. Dieses spindeldürre Männchen hat ein paar Pickel im Gesicht und der Bartwuchs dürfte noch eine Weile auf sich warten lassen. Seine blassen Augen sind vor Schreck extrem geweitet und mustern uns ängstlich durch die dicken Gitterstäbe. Dafür, dass er von Konstantin gefangen genommen wurde, sieht er verdammt gesund aus.

So viel Glück hatte ich leider nicht, als mich die Werwolfjäger erwischten …

Ich habe jedoch keinen Zweifel daran, dass der Aufenthalt für den Lakaien alles andere als angenehm wird. Als die Luft in der Zelle plötzlich von dem penetranten Geruch der Angst verpestet wird, stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich suche nach der Ursache und werde schnell fündig. Konstantins Aufmerksamkeit gilt dem Gefangenen. Die grauen Augen des Vollstreckers wirken kalt und unbarmherzig. Wahrscheinlich wünscht sich der Angesehene lieber den Tod als eine direkte Konfrontation mit dem Vampir. Dieser Wunsch dürfte umso dringlicher werden, als Konstantin seine dämonische Seite zeigt. Ein raubtierhaftes Lächeln entblößt seine Fänge.

„Hallo Tobi, ich denke, es ist Zeit für ein Gespräch“, begrüßt ihn Konstantin. „Ich hoffe, du hast ein paar brauchbare Informationen für uns. Andernfalls würden sich David und Christoph über eine kleine Stärkung freuen …“

Selbst mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Der Mensch wird kalkweiß und scheint kurz davor zu sein, in Ohnmacht zu fallen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Hastig stolpert er einige Schritte zurück, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Vampire zu bringen. Er scheint den Gittern nicht zuzutrauen, dass sie ihn vor Konstantin schützen. Ein berechtigter Zweifel, wie sich einen Moment später herausstellt. Tobis Augen weiten sich panisch, als sich seine Beine plötzlich in die gegensätzliche Richtung bewegen. Der Geruch seiner Angst verpestet die Luft. An seinem Gesichtsausdruck kann ich deutlich sehen, wie er dagegen ankämpft, aber seine Füße bewegen sich unbarmherzig zurück zum Gitter.

„Du wolltest doch nicht etwa vor uns fliehen?“, fragt Konstantin zynisch.

Alle sind still geworden. Diese Demonstration seiner Macht jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Offenbar hat der Vollstrecker ihn jeglicher Kontrolle beraubt, sodass Tobi sich noch nicht einmal äußern kann. Mich schüttelt es bei der Vorstellung. Es ist schlimm genug, irgendwo eingesperrt zu werden, doch diese vollkommene Hilflosigkeit ist grausam. Der kleine Lakai ist für den Vampir nichts weiter als ein Püppchen, eine Marionette, die er nach Belieben tanzen lassen kann.

Ohne auf eine Antwort von Tobi zu warten, fährt Konstantin fort: „Wie du siehst, ist das zwecklos. Ich habe noch wesentlich mehr auf Lager als diesen Taschenspielertrick. Wenn du uns jedoch sagst, was wir wissen wollen, darfst du dich wieder frei bewegen.“

Den Ausdruck auf Tobis Gesicht zeigt die nackte Angst. „Nein, bitte! Ich sage euch alles, was ich weiß!“

„Das wollte ich hören. Setz dich doch.“

Sofort gehorcht Tobi und lässt sich auf dem Fußboden nieder. Anscheinend etwas zu schwungvoll, denn sein Mund verzieht sich schmerzhaft.

„Jetzt ist es doch viel gemütlicher, oder?“

Der verängstigte junge Mann nickt schnell.

„So. Jetzt erzähl uns, wie du zu den Schwarzmagiern gekommen bist“, eröffnet Konstantin das Gespräch.

Tobias berichtet uns, dass er eines Nachts in seiner ehemaligen Lieblingskneipe von einem der Lakaien angesprochen wurde. „Ich war betrunken und habe mir nichts dabei gedacht. Da war auch niemals die Rede von Vampiren oder Mord. Ich dachte, das wären halt solche okkulten Typen, die eine große Show machen, trinken, ihren Spaß haben und vielleicht mal ein schwarzes Huhn opfern.“

Über diese Dummheit kann man nur mit dem Kopf schütteln. Obwohl ich meine Klappe lieber halten sollte, denn mich haben die Wolfjäger schließlich nur durch meine eigene Blödheit in die Finger bekommen.

„Wann hast du bemerkt, dass da mehr ist?“

„Bei meinem Einführungsritual.“ Tobi schüttelt es regelrecht. Anscheinend sind das keine schönen Erinnerungen.

„Was ist dort passiert?“, hakt Konstantin nach.

„Ich musste meine normale Kleidung gegen eine kratzige schwarze Kutte mit Kapuze tauschen. Dann verbanden sie mir die Augen und führten mich in den Altarraum. Als ich wieder sehen konnte, stand ich in einem finsteren Kellergewölbe. Es roch eigenartig nach Kräutern und irgendwie metallisch. In der Mitte des Raums standen ein schwarzer Altar, dahinter der Obermagier und ein seltsamer alter Mann im Pullunder. Mein erster Gedanke war, dass Letzterer eher in eine Bibliothek passt als in diesen finsteren Keller. Als er mich jedoch anblickte, gefror mir das Blut in den Adern. Das war definitiv kein normaler Mensch.“

Mir sagt das gar nichts, aber ich bemerke die Blicke, die Valeria und Konstantin tauschen.

„Harry“, flüstert die Hexe.

„Oder zumindest jemand, der so aussah“, ergänzt Konstantin. Er streicht Valeria leicht über den Rücken, bevor er sich Tobi zuwendet. „Wann war das?“

„Vor zweieinhalb Monaten.“

Valeria schlägt die Hände vors Gesicht und lehnt sich schwer gegen Konstantin. Dieser umarmt sie und jetzt zeigt sich deutlich, was ich vorhin in meiner Blödheit übersehen hatte. Mir wird bewusst, dass ich riesiges Glück habe, unversehrt hier zu stehen. Der Vollstrecker hätte mir durchaus die Eier abreißen können, weil ich seine Partnerin angebaggert habe. Anscheinend hat mir die Gefangenschaft bei diesen Irren mehr zugesetzt, als ich dachte, wenn ich derlei wichtige Dinge nicht mehr mitbekomme. Ich konzentriere mich auf Konstantins Geruch und meine Augen weiten sich. Es ist kein einfacher Mischgeruch, wie ich es von anderen Pärchen kenne. Dort dominiert der Eigengeruch der jeweiligen Person über der Note des Partners. Hier ist die Mischung identisch als hätten sich ihre beiden Duftnoten zu einem neuen Duft vereint.

Das ist echt eigenartig, denke ich. Was hat das nur zu bedeuten? Ich bin noch immer verwundert, dass die Hexe ausgerechnet mit einem Vampir zusammen ist. Zwar habe ich nur Gerüchte und die Kurzfassung der Ereignisse gehört, aber das reicht aus. Ich will nicht wissen, was die drei abtrünnigen Vampire alles mit Valeria angestellt haben. Klar ist aber, dass es so grausam war, dass es einen Mann beinahe in den Wahnsinn getrieben hat. Nach meiner Befreiung durch Konstantin und Fabian habe ich erfahren, was der Grund für meine Entführung war: Der brutale Mord an drei jungen Frauen durch Vampire. Ich kann mich vage an die Berichte in den Zeitungen erinnern. Das Entsetzen der Leute war groß und dabei waren nur wenige Details bekannt. Derartige Dinge geschehen eigentlich nur in Horrorfilmen und plötzlich war es bittere Realität.

Nachdem sich Valeria wieder gefasst hat, werden Tobi weitere Fragen gestellt. Je mehr er erzählt, desto unwohler fühle ich mich. Ich gebe zu, dass ich bei Konstantins Ausführungen nicht hundertprozentig anwesend war. Irgendwas lenkte mich gehörig ab, auch wenn ich nicht weiß, was genau. Seit ich bei der Versammlung angekommen bin, fühle ich mich eigenartig. Selbst jetzt ist mein innerer Wolf unruhig, doch ich habe keinen blassen Schimmer warum. Mich beschäftigt viel mehr die Tatsache, dass uns ein Kleinkrieg mit Schwarzmagiern bevorsteht. Ein bisschen wirkt das Ganze wie ein schlechter Film. Wenn mir jemand vor zwei Monaten gesagt hätte, dass ich zusammen mit Vampiren und Hexen auf die Jagd nach Schwarzmagiern gehen würde, hätte ich die Person in die Geschlossene einweisen lassen. Angespannt lausche ich Konstantins Fragen und Tobis zögerlichen Antworten. Die Angst des jungen Mannes hat leicht nachgelassen, was eine Wohltat für meine empfindliche Nase ist. Nach und nach erschließt sich uns die Struktur der Schwarzmagier. Sie ist vergleichbar mit einer Sekte. Das Sagen haben nur drei ‚Hohepriester‘, wie Tobi sie bezeichnet. Anscheinend sind alle drei magisch begabt und haben sich einem Dämon verschrieben: Asmodäus. Mir entgehen die Blicke nicht, die die Vollstrecker einander zuwerfen. Gern würde ich über diese Geschichte lachen, denn alles kommt mir so unwirklich vor. Die Anspannung der Anderen hält mich jedoch davon ab. Nach meinem dummen Spruch von vorhin würden sie mich bestimmt wegen geistiger Umnachtung aus dem Team werfen. Das hieße dann wieder, unnütz zu Hause rumsitzen und mich mit meiner Gefangenschaft auseinandersetzen. Nein, danke. Darauf kann ich gut verzichten.

Obwohl ich alleine wohne, wurde ich wieder bei meinen Eltern einquartiert. Anfangs war das nett und die Heilung schritt voran, aber ich kann die sorgenvollen Blicke meiner Mutter nicht mehr ertragen. Sie behandeln mich wie ein zerbrechliches Etwas und trauen sich nicht, mich nach den Erlebnissen meiner Gefangenschaft zu fragen. Nachdem herauskam, dass Vampire hinter dem ganzen Ärger steckten, ist die Stimmung im Rudel ohnehin eigenartig. Werwölfe hatten schon immer ein schlechtes Verhältnis zu Vampiren, warum kann keiner sagen. Noch heute werden alte Schauermärchen über die blutrünstigen Wesen der Nacht erzählt. Wie viel Wahrheit darin steckt, weiß keiner, denn Vampire kreuzen selten unseren Weg. Erst bei meiner Befreiung begegnete ich meinen ersten Blutsaugern und verdanke ihnen mein Leben. Auch so habe ich gesunden Respekt vor ihnen, doch ich fürchte sie nicht und mache sie nicht für meine Gefangennahme verantwortlich. Ich hatte im Käfig genug Zeit, um über die Situation nachzudenken. So gern ich die Schuld für diese schrecklichen Erlebnisse anderen in die Schuhe schieben würde, mir ist klar, dass mich nur meine eigene Dummheit in den Schlamassel gezogen hat. Jedem Wolf wird eingetrichtert, dass er sich nur im Schutze des Rudels verwandeln darf oder in abgesicherten Gebieten. Allerdings war mir das nach einer langen Partynacht egal. Auf vier Beinen läuft es sich stabiler als auf zweien. Das dachte ich mir zumindest. Wie dumm das war, steht außer Frage. Es ist mehr als nur peinlich, dass ich die Menschen nicht gewittert habe. Wahrscheinlich war mein Verstand zu benebelt, um die Gefahr wahrzunehmen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich mich äußerst umständlich auszog und dann mühevoll verwandelte. Die Welt drehte sich, sodass ich überhaupt nicht mitbekam, wie ich betäubt wurde. Dafür war das Erwachen umso unangenehmer.

Schaudernd verdränge ich diese Gedanken. Während ich über meine Blödheit sinniere, werden wichtige Dinge besprochen. Anscheinend besteht der Großteil unserer Gegner aus normalen Menschen. Es gibt einige magisch Begabte und auch ein paar übernatürliche Wesen. Nach der Vernichtung der abtrünnigen Vampire sind es noch eine Handvoll Wölfe, die den Orden unterstützen. Namen der Mitglieder kann Tobi uns nicht nennen und auch keine genauen Zahlen. Das ist schade, aber immerhin haben wir jetzt eine grobe Vorstellung davon, wie die Schwarzmagier organisiert sind. Dass der Großteil Menschen sind, ist nicht sonderlich überraschend. Es gibt kaum noch Hexen. Problematisch ist die Sache mit den Werwölfen. Solange wir nicht wissen, um wen es sich handelt, müssen wir sehr vorsichtig sein.

Mir behagt die Vorstellung nicht, dass sich Werwölfe diesen Irren angeschlossen haben. Dummheit macht auch vor uns Wölfen nicht Halt, leider. Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es eine schlaue Vorgehensweise der Dämonenanbeter. Durch die Morde hielten sie nicht nur ihre blutrünstigen Mitglieder bei Laune, sondern stärkten die Macht ihres dämonischen Herrn. Der Vorfall mit den Werwolfjägern und meiner Gefangenschaft schürt das Misstrauen zwischen Wölfen und Vampiren. Wir haben Übung darin, uns gegenseitig die Schuld zu geben. Wenn wir die alte Feindschaft aufleben ließen, hätten die Schwarzmagier freie Bahn. Es ist leicht, die erhitzten Gemüter in die gewünschte Richtung zu lenken. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich einige Wölfe dem Orden anschließen würden, wenn es hieße: Wir machen das alles nur, um es den Vampiren heimzuzahlen. Ein einfaches Feindbild erspart lästige Erklärungen. Ob es nun die Juden, die bösen Ausländer oder die mordlustigen Vampire sind, ist dabei völlig egal. Ich sehe ja gerade, wie es im Rudel läuft. Sie haben nur mitbekommen, dass Vampire drei Frauen ermordet und uns damit die Werwolfjäger auf den Hals gehetzt haben. Dass diese Vampire selbst in ihren eigenen Reihen Verbrecher sind und gejagt wurden, haben die meisten ausgeblendet. Meine Befreiung, bei der Fabian sein Leben riskierte, wird als Selbstverständlichkeit hingenommen. Weder Fabian noch Konstantin trifft die Schuld daran, dass ich in die Fänge dieser Irren geriet. Es war meine eigene Dummheit. Wenn die Jäger mich nicht gefunden hätten, wäre ihnen irgendwann die Puste ausgegangen. Natürlich bin ich nicht der einzige leichtsinnige Wolf, aber die Trefferquote ist ähnlich hoch wie beim Lotto. Die Drahtzieher, die ihre mörderischen Pläne im Hintergrund schmieden, werden definitiv nicht als Schuldige gesehen. Kaum einer wird sich Gedanken darüber machen, warum wir jahrzehntelang nie etwas von vampirischen Verbrechen gehört haben und jetzt plötzlich mehrere extreme Fälle auftauchen. Es ist offenbar zu viel verlangt, das Hirn einzuschalten und über die Sache nachzudenken. Zum Grübeln hatte ich während meiner Gefangenschaft genug Zeit. Meine Beschäftigungsmöglichkeiten waren begrenzt. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was blinder Hass und Angst vor dem Fremden für schreckliche Ausmaße annehmen können. Der Anführer der Wolfjäger, Sigi, war zerfressen von diesen beiden Gefühlen und ich musste darunter leiden. Schläge, Tritte, Verbrennungen waren ihre Methoden, um mich gesprächig zu machen. Ich wurde als Monster, Perversling und Ausgeburt der Hölle beschimpft. Mir wurde Mord vorgeworfen und ich hatte keine Ahnung, warum oder an wem. Keiner der Menschen kam auf die Idee, dass ich unschuldig sein könnte. Mit meiner Fähigkeit, mich in einen Wolf zu verwandeln, war ich automatisch als Täter identifiziert worden. So hatte niemand Einwände gegen meine Behandlung, keiner verurteilte meine Folterung, auch wenn ein paar wenigen unwohl dabei war. Andere wiederum genossen meine Qualen und lebten ihre dunkelsten Fantasien aus. Die Macht über Schwächere beflügelte so manchen selbsternannten Jäger und Retter der Menschheit.

Ich kann von Glück reden, dass Erika es sich in den Kopf gesetzt hatte, Fabian zu ihrem neuen Mitbewohner zu machen. Hätte sie an die Schauermärchen geglaubt oder er sie für ihren wölfischen Teil verurteilt, wäre ich entweder in der Gefangenschaft gestorben oder wahnsinnig geworden. Bei dieser ungewöhnlichen Ansammlung aus verschiedenen fantastischen Wesen und den ganzen glücklichen Zufällen kann man nur von Schicksal reden.

Erschrocken sehe ich auf, als mich jemand in die Rippen pikt.

„Geht es dir gut?“, fragt Erika.

Peinlich berührt, nicke ich schnell. „Ja, ich habe nur darüber nachgedacht, welche Probleme uns die abtrünnigen Wölfe machen könnten.“

Alle Augen wenden sich zu mir.

„Zu welchem Schluss bist du gekommen?“, will David wissen und mustert mich interessiert. Ich habe das unangenehme Gefühl, dass er bis auf den Grund meiner Seele blickt, auch wenn das wahrscheinlich albern ist.

„Na ja“, meine ich unbehaglich. „Die Stimmung unter den Wölfen ist aufgeheizt. Ich denke nicht, dass es viel Überredungskunst braucht, um neue Mitglieder für die Schwarzmagier zu rekrutieren. Man müsste ihnen das Ganze nur als Racheaktion gegen Vampire verkaufen.“

Alle sehen mich entsetzt an.

„Wie kommst du darauf?“, meldet sich die Wölfin mit den kurzen, dunklen Haaren zu Wort. Vorhin war ich zu abgelenkt, um nach ihrem Namen zu fragen, was ich jetzt bitter bereue.

„Einige Wölfe in meinem Rudel sind der Meinung, dass Vampire die Schuld an allen Problemen tragen. Seitdem bekannt wurde, warum man mich entführte, scheint ihr gesunder Menschenverstand abhandengekommen zu sein.“

„Aber es sind ebenfalls Vampire, denen du deine Rettung zu verdanken hast“, wirft sie aufgebracht ein. Ihr Anblick hat eine seltsame Wirkung auf mich. Obwohl sie überhaupt nicht mein Typ ist, wittert mein innerer Wolf eine potentielle Partnerin. Ich muss mich arg zusammenreißen, um eine halbwegs intelligente Erklärung abzugeben.

„Mir ist das bewusst, doch manche blenden das aus oder sehen es als Akt der Gerechtigkeit. Mein Rudel ist nicht so aufgeschlossen wie eures“, gestehe ich. „Jörg führt ein strenges Regiment und schon Vermischungen mit Menschen werden misstrauisch beäugt.“

„Na prima“, schnaubt David. „Das heißt, wir haben es nicht nur mit den Anhängern dieses schwarzmagischen Ordens zu tun, sondern auch mit engstirnigen Werwölfen, die lieber ihre Vorurteile stärken statt ihr Hirn zu benutzen.“

„Es tut mir leid“, gestehe ich kleinlaut. „Ich habe versucht, alles richtigzustellen, nur auf mich hört keiner. Sie denken alle, ich wäre zu traumatisiert, um die Situation richtig einzuschätzen.“

„Ich könnt‘ grade sowas von kotzen“, entfährt es der faszinierenden Werwölfin.

Unauffällig schnuppere ich und muss ein Knurren unterdrücken. Sie riecht verdammt gut, doch ich kann den Geruch eines Vampires an ihr wahrnehmen. Aus irgendeinem Grund behagt mir der Gedanke nicht, dass sie jemand anderem gehören könnte. Nur warum und wer war ihr so nah?

„Beruhige dich, Tamara.“ Konstantins kühle Stimme zerrt mich gewaltsam aus meiner Entdeckung.

Tamara, ein passender Name, befinde ich und frage mich, warum ich sie vorhin nicht wahrgenommen habe.

„Das Misstrauen der Wölfe uns gegenüber ist nichts Neues. Genau aus diesem Grund habe ich mich für die Zusammenarbeit mit Karl entschlossen. Dein Alpha ist vergleichsweise aufgeschlossen und sehr vernünftig. Theoretisch könnten Christoph, David und ich das Problem auch alleine lösen. Es wäre nur schwieriger und würde die Gerüchteküche weiter zum Brodeln bringen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als wenigstens ein paar Wölfe einzubeziehen.“

Wenn ich die drei Vollstrecker ansehe, habe ich keinerlei Zweifel daran. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, diesmal auf der richtigen Seite der Gitter zu stehen.


Körpergerüche und andere Peinlichkeiten (Tamara)

Frustriert schaue ich in die Runde. Mir ist klar, dass die Anwesenden nichts für die Probleme können, aber mich nervt diese Voreingenommenheit.

„Entspann dich, kleine Löwin“, flüstert mir jemand ins Ohr.

Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es ist. Mein Körper reagiert automatisch auf seine Gegenwart. David steht dicht hinter mir, sehr dicht. Wenn ich mich nur ein winziges Stückchen nach hinten lehne, würden wir uns berühren. Mein Herzschlag beschleunigt sich bei diesem Gedanken.

„Was geht in deinem Kopf vor?“, fragt er mich. Er schnuppert unauffällig an mir und sein leises Grollen beschert mir eine Gänsehaut.

„Du machst es mir schwer, meine Hände bei mir zu behalten, wenn du so verlockend riechst.“

„Ich kann nichts dafür“, flüstere ich zurück. „Du bist mir zu nahe.“

Widerwillig tritt David einen Schritt zurück. Gleich fällt mir das Atmen leichter, auch wenn ich mich nach ihm sehne.

Verdammt, was ist nur los mit mir?!, frage ich mich. Ich kenne ihn nur ein paar Stunden und doch spielt mein Körper verrückt, sobald er in meiner Nähe ist. Mit geschlossenen Augen nehme ich einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, denn natürlich ist das Einzige, was ich dadurch erreiche, dass sich Davids Geruch in mein Gedächtnis brennt. Schnell reiße ich die Augen auf. Ich will nicht herausfinden, was mein Unterbewusstsein wieder für schweinische Bilder produziert. Das Erste, was ich sehe, ist Paul. Ich runzle die Stirn und frage mich, warum er mich anstarrt. Dann bemerke ich, wie seine Augen zwischen mir und David wechseln und ich spüre seine Gereiztheit.

Na prima! Ein hormongesteuerter Wolf – ich habe auch noch nicht genug Probleme am Hals. Es war klar, dass meine Erregung nicht unentdeckt bleibt. Vorsichtig schaue ich zu den anderen und laufe im nächsten Moment knallrot an. Alle Augen sind auf mich gerichtet, nur Valeria guckt verwirrt, aber sie hat nur den schwachen Geruchssinn eines Menschen.

Scheiße … Ist das peinlich!

„David, kannst du bitte das Essen für die Gefangenen holen?“, meint Konstantin. Obwohl er ‚bitte‘ gesagt hat, ist es ein Befehl.

Ohne Murren folgt David und wirft mir einen kurzen Blick zu. Es tut mir leid, dass er den Laufburschen spielen muss, doch in Anbetracht der Situation ist es die beste Lösung. Keine Ahnung, was in Paul gefahren ist, seine Aggression ist deutlich zu spüren. Genervt wende ich mich ihm zu.

„Was zum Teufel ist mit dir los?!“

„Du riechst nach ihm“, kommt die Antwort. Ein leichtes Knurren hat sich in seine Stimme gemischt.

Zum zweiten Mal muss ich tief Luft holen, um mich zu beruhigen. Allerdings hat Pauls Geruch definitiv nicht so eine verheerende Wirkung auf mich. Irritiert nehme ich die Erregung bei ihm wahr. Och, nö! Ich will nicht, dass dieser Höhlenwolf auf mich steht!

Ich verschränke die Arme vor der Brust. Sonst würde meine Hand wahrscheinlich in Pauls Gesicht landen.

„Na und?“, wiegele ich seinen Vorwurf ab. „Ich darf riechen, nach wem ich möchte.“

Das Grollen wird deutlicher. An dem goldenen Flackern seiner Augen kann ich sehen, dass sein innerer Wolf regiert. Was ist in ihn gefahren?

Mir ist klar, dass ein Einschreiten der anderen, die Situation noch schlimmer machen würde. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Erika angespannt ist und Fabians Arm festhält. Konstantins eisige Kraft könnte ich sogar bewusstlos spüren, aber Valeria hält ihn zurück. David wird nicht ewig unterwegs sein, also gibt es nur eine Möglichkeit.

Mit einem lauten Klatschen macht meine Hand Kontakt mit Pauls Wange.

„Aua!“ Er fasst sich an die pochende Stelle.

„Selbst Schuld“, meine ich schulterzuckend. „Jetzt benimm dich oder ich reiße dir den Allerwertesten auf. Du verhältst dich wie ein tollwütiger Köter. Wollen wir hier konstruktiv arbeiten oder möchtest du in einer der Zellen über das angemessene Verhalten in gemischten Gruppen sinnieren? Ich bin sicher, dass Konstantin dir ein hübsches Plätzchen zuweist.“

Ich sehe zu dem Obervollstrecker. Seine Mundwinkel zucken, doch sein Körper ist noch in Alarmbereitschaft.

„Wir haben ein paar freie Zellen“, bestätigt er.

Paul schaut entsetzt von ihm zu mir. „Nein, danke. Entschuldigung. Ich weiß nicht, was mit mir los ist“, antwortet er kleinlaut.

„Ich denke, wir haben alles von Tobi erfahren, was er weiß“, meldet sich Christoph zu Wort.

Verwirrt schaue ich zu dem dürren Männchen in der Zelle hinter uns. Ihn hatte ich völlig vergessen. Offensichtlich ist der Bursche total überfordert mit der Situation. Wäre ich an seiner Stelle auch. Wann steht man schon so einer verrückten Truppe gegenüber?

„Du hast Recht. Für heute reicht es“, stimmt Konstantin zu. „Ich überlasse ihn deinen fähigen Händen.“

Die Erleichterung, die sich kurzzeitig auf Tobis Gesicht gezeigt hatte, weicht einem Ausdruck reiner Angst.

„A-aber, aber ich habe euch alles gesagt, was ihr wissen wolltet!“ Der schwächliche Lakai scheint, gleich zu hyperventilieren. Vermutlich denkt er, sein letztes Stündlein hat geschlagen. Ich frage mich zwar, was Christoph mit ihm macht, doch ich gehe davon aus, dass Tobi das überlebt. So kaltblütig wie Konstantin wirkt, ist er nicht.

„Kommt, wir gehen jetzt besser raus“, weist er uns an. Alle gehorchen und wenden sich zum Ausgang. Alle bis auf einen. Paul steht unbeweglich an seinem Platz und ist sichtlich hin- und hergerissen.

„Paul! Lass Christoph seine Arbeit machen.“ Konstantins Aufmerksamkeit ruht auf dem verwirrten Werwolf. Dieser schluckt geräuschvoll und folgt schließlich der Aufforderung. Sich den Vollstreckern zu widersetzen, dürfte schlecht für die Gesundheit sein.

Schweigend verlassen wir den Zellentrakt. Das Zuschlagen der Tür hat etwas Endgültiges. Irgendetwas sagt mir, dass ich Tobi nicht wieder sehen werde.

Als wir uns auf den Ausgang zubewegen, sehe ich mich unauffällig nach David um.

„Er wird später zu uns stoßen.“ Ertappt blicke ich zu Konstantin, der mich aufmerksam mustert.

„Von wem redest du?“, gebe ich so unschuldig wie möglich zurück.

„Ich denke, das wissen wir beide.“

Ich kann nicht vermeiden, dass ich rot werde. Es hat keinen Sinn, das abzustreiten, dennoch ergreife ich die Chance auf einen galanten Themenwechsel. Konstantin alleine gegenüberzustehen ist eine Herausforderung, aber ich muss ihm zwangsläufig mit meiner Bitte konfrontieren.

„Ich wollte dich etwas wegen Miriam fragen“, meine ich schnell.

Eine von Konstantins schwarzen Augenbrauen wandert elegant nach oben. „Wolltest du das? Was denn?“

Jetzt weiß ich, wie sich die Tiere auf dem Seziertisch gefühlt haben. Dann reiße ich mich zusammen. So verwirrend die Angelegenheit mit David auch ist, es gibt Wichtigeres.

„Ja, ich habe heute Nachmittag mit ihr eine Liste der Dinge zusammengestellt, die sie aus ihrer alten Wohnung braucht: Ausweise, Schulzeug und einige private Sachen. Solange die jetzige Pflegefamilie die Vormundschaft besitzt, kommen wir nicht ran.“

„Das sollte in wenigen Tagen erledigt sein“, meint Konstantin und die Kälte in seiner Stimme beschert mir eine Gänsehaut. „Ich gehe davon aus, dass du mich nicht ohne Grund darauf ansprichst.“

„Ich hatte gehofft, dass ihr“, ich berichtige mich, „dass wir die Gegenstände möglichst schnell holen könnten. Miriam ist bei uns gut aufgehoben, doch ohne die Unterlagen sind uns die Hände gebunden. Falls die Pflegeeltern Miriam als vermisst melden, dürften wir großen Ärger bekommen.“

Der Vollstrecker sieht mich einen Moment lang an. „Wir nehmen auf solche Einsätze niemanden mit.“

Ich setze gerade zum Widerspruch an, als er weiterredet: „In diesem besonderen Fall könnte ich vielleicht eine Ausnahme machen ...“

Angespannt warte ich auf den Haken an der Sache.

„Du wirst David begleiten. Morgen Nacht stattet ihr den Pflegeeltern einen Besuch ab. Valeria wird euch ein Präsent für sie mitgeben. Laut meinen Informationen sind derzeit noch zwei jüngere Kinder in deren Obhut. Ihr werdet euch ein Bild von der Situation machen und mir dann berichten. Nehmt nur das mit, was Miriam gehört und hinterlasst keine Spuren, verstanden?“

Völlig überrumpelt bringe ich nur ein Nicken zu Stande.

„In Ordnung“, meint Konstantin. „Versaut es nicht. Wenn ihr die Aktion morgen erfolgreich durchführen wollt, dürft ihr euch nicht so ablenken lassen wie vorhin.“

Ich zucke bei der mentalen Watsche zusammen. „Tut mir leid und danke für die Chance.“

„Pass auf dich auf, kleine Wölfin. Die nächste Zeit dürfte sehr anstrengend für dich werden“, prophezeit Konstantin und begibt sich zu den anderen.

Einen Herzschlag lang sehe ich ihm hinterher, bevor ich mich aus meiner Starre löse.

Was zur Hölle hat das alles zu bedeuten? Mir ist bewusst, dass ich im Moment viel um die Ohren habe und die meisten Dinge erst ihren Anfang nehmen. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass Konstantin auf etwas Bestimmtes anspielt. Mehr aus Gewohnheit schaue ich auf meine Uhr und erschrecke. Die Nacht ist wesentlich weiter vorgerückt, als ich dachte. Die Versammlung und das Verhör haben einen Großteil der dunklen Stunden vereinnahmt. Das erklärt natürlich, warum Konstantin die Aufgaben verteilt, die heute noch erledigt werden müssen. Ein bisschen frustrierend ist es schon, dass wir so wenig erreicht haben. Klar, wir haben ein paar Helfer rekrutiert und wissen jetzt grob, wie dieser komische schwarzmagische Orden aufgebaut ist, aber effektiv haben wir noch nichts gegen ihn unternommen. Es war anders, als ich es mir ausgemalt hatte. Obwohl Konstantin demonstriert hat, welche beängstigenden Kräfte in ihm schlummern, lief das Verhör human ab. Wieder frage ich mich, was Christoph mit Tobi machen soll. Ewig können sie den Menschen nicht hierbehalten. Er mag zwar bei den Schwarzmagiern nur Kanonenfutter sein, doch irgendjemand wird ihn vermissen. Apropos vermissen: Meine Eltern werden bestimmt bald nervös, außerdem möchte ich Miriam in ihrer ersten Nacht bei uns nicht vollkommen alleine lassen. Mit Grauen denke ich an die bevorstehende Prüfungszeit. Ich hasse diese blöden Blockprüfungen, wo ich ganze Aktenordner an Vorlesungsstoff in mein Hirn prügeln muss. Trotzdem komme ich nicht umhin, zu lernen, und habe in weiser Voraussicht einiges zusammengetragen. Erika ist deutlich länger in diese Sache verwickelt und hat mehr als eine Vorlesung dadurch verpasst. Mit ihr möchte ich daher auch nicht tauschen, obwohl ihr diese Lernerei leichter fällt als mir. Ich war schon immer der praktische Typ. Das Gefühlschaos mit David wird meine Konzentration nicht verbessern. Oder ich verfalle in einen regelrechten Lernwahn, um ihn aus meinem Kopf zu bekommen.

Warum lässt allein der Gedanke an ihn mein Herz schneller schlagen? Ich seufze und lasse die Schultern hängen. Da wünsche ich mir seit Jahren einen Mann, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht und jetzt jammere ich rum, weil er plötzlich erschienen ist.

„Tamara?“

Ich schrecke aus meinen Überlegungen und suche nach der Person, die mich gerufen hat. Erika steht einige Schritte von mir entfernt und mustert mich besorgt.

„Ist alles okay bei dir? Du bist so ruhig und bummelst.“

Erst will ich ihr versichern, dass es mir gut geht, aber entscheide ich mich für die Wahrheit. Wenn ich nicht mit Erika über das Problem reden kann, dann mit niemandem.

„Ich bin gerade durch den Wind. Diese ganzen Sachen sind so verwirrend. Miriam wartet in meinem Zimmer und die Prüfungen sitzen mir im Nacken.“

Meine beste Freundin sieht mich mitfühlend an. „Ich weiß, es ist verdammt viel. Wenn du nicht bei allen Aktionen dabei bist, wird dir keiner einen Vorwurf machen. Wir haben alle ein Leben außerhalb des Schwarzmagier-Problems.“

Sie tritt zu mir und umarmt mich. „Das wird schon. Mach dir einfach nicht so viel Druck. Miriam und das Studium sind wichtig. Für den Rest sind hauptsächlich die Vollstrecker zuständig. Wir können eh nur helfen und zwischen den Parteien vermitteln.“

„Ich weiß“, seufze ich. „Wobei ich diesen Konflikt zu befeuern scheine. Pauls Reaktion war eindeutig und obwohl er eigentlich auf unserer Seite steht.“

„Vorhin hat die Luft tatsächlich leicht gebrannt.“ Erika drückt mich noch einmal an sich und lässt mich dann los. „Zwischen dir und David fliegen die Funken“, stellt sie sachlich fest.

Meine Wangen röten sich automatisch. „Ich kann es nicht kontrollieren. Sobald er mir zu nahe kommt, spielt mein Körper verrückt. Über meine innere Wölfin brauchen wir nicht erst reden. Das ist so untypisch für mich und so plötzlich.“

Erikas Augen werden immer größer. „Oh, oh. Dich hat es ganz schön erwischt.“

Hilflos sehe ich sie an. „Was soll ich denn jetzt machen?“

„Deinem Herzen folgen.“

Als ich darauf nichts erwidere, hakt sie nach. „Das war noch nicht alles, oder?“

„Nein“, gebe ich kleinlaut zu. „Paul bringt zusätzliche Verwirrung. Als ich ihn vorhin bei der Versammlung berührte, war es auch sehr eigenartig.“

„Deswegen hat er also so extrem reagiert.“ Erika sieht mich an und spricht das aus, was ich insgeheim denke: „Du sitzt in der Scheiße, Schätzchen.“

„Auf jeden Fall zwischen allen Stühlen. Egal wie ich mich entscheide, irgendjemand wird damit nicht zufrieden sein.“

„Wer gefällt dir denn besser?“

Verlegen schaue ich zu Boden. „Paul ist okay, wenn man mal weglässt, dass er sich wie ein pubertierender Jungwolf aufführt, aber …“

„Er ist nicht der Richtige“, ergänzt Erika. „Du weißt, dass du mit diesem Entschluss viele Wölfe gegen dich aufbringen wirst?“

Trotzig hebe ich mein Kinn. „Das ist mir egal. Alle tun immer so als wäre es ein Verbrechen, wenn wir mit Vampiren zusammen sind. Niemand, wirklich niemand hat ein Problem damit, dass sich die Jungs mit allem vergnügen, was Brüste hat und nicht bei drei auf den Bäumen ist.“ Ich verschränke die Arme. „Paul soll den Ball flach halten. Er hat vorhin erst eine vergebene Frau angemacht. Entweder er steht auf derlei Konstellationen oder er ist extrem schwer von Begriff. In beiden Fällen spricht das nicht für ihn.“

„Beruhige dich“, beschwichtigt Erika mich. „Ich weiß das. Mir ist nur wichtig, dass du glücklich bist. Gerade beim ersten Freund sollte man etwas wählerischer sein, wenn man kann.“

Ich raufe mir die Haare, die jetzt wahrscheinlich in alle Richtungen abstehen. „Dieses kleine Detail kommt noch dazu. Wenn ich mich tatsächlich auf David einlassen sollte, muss ich ihm beichten, dass ich unberührt bin.“

Meine Freundin klopft mir leicht auf die Schulter. „Mach dir darüber mal keine Gedanken. Er wird es verkraften.“

Sie ergreift meinen Arm. „Komm. Die anderen sind bestimmt so gut wie draußen. Ich will hier nicht eingeschlossen werden oder mich verlaufen.“

Da stimme ich ihr aus vollem Herzen zu. Schnellen Schrittes gehen wir zum Ausgang. An der Tür wartet Konstantin.

„Fertig?“

Meine Wangen brennen und ich würde am liebsten im Boden versinken. Er lässt sich zwar nichts anmerken, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass er einiges gehört hat, vielleicht alles.

Erika verdreht nur die Augen. „Wir bummeln nicht absichtlich.“

„Ja, ja. Raus mit euch.“

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Hinter uns fällt die schwere Stahltür mit einem dumpfen Laut ins Schloss, bevor ein leises Piepen ertönt.

„Sag mal, warum gibt es eigentlich diesen Komplex? Ich dachte, es gäbe kein Vampirgefängnis“, fragt Erika den Vollstrecker. Ich horche auf.

„Diese Zellen sind dafür da, Verdächtige aus dem Verkehr zu ziehen, bis der Rat ein Urteil fällt oder wir alle Beweise zusammengetragen haben. Manchmal nutzen wir sie auch, um leichtsinnigen Vampiren einen Denkzettel zu verpassen. Eine dauerhafte Unterbringung von Abtrünnigen wäre zu aufwendig und gleichzeitig eine unendliche Geschichte. Allein die Versorgung mit Blut wäre bei unsterblichen Insassen ein unmögliches Unterfangen.“

„Was passiert, wenn ihr kein Blut bekommt?“, frage ich vorsichtig.

Konstantins graue Augen halten mich gefangen. „Das möchtest du nicht testen. Je älter wir werden, desto weniger Blut brauchen wir, aber wir müssen alle in regelmäßigen Abständen trinken. Erst sind es Krämpfe, dann ein unbändiger Blutdurst, der erstaunliche Kräfte freisetzt. Ließe man einen ausgehungerten Vampir auf Menschen los, würde das in einem grauenhaften Gemetzel enden. Unser Körper dehydriert und beginnt, sich selbst zu verdauen. Es dauert einige Tage, bis wir in eine Art Delirium verfallen und schließlich sterben.“

Diese Beschreibung verursacht mir eine Gänsehaut.

„Das klingt, als wäre es ausprobiert worden“, meint Erika.

„Oh. Es gab ein paar Wahnsinnige, die derlei Experimente durchgeführt haben“, bestätigt Konstantin.

„Das ist wirklich schrecklich.“ Ich reibe mir mit den Händen über die Arme, um ein bisschen Wärme zu erzeugen. Der muffige und dunkle Gang des verfallenen Komplexes wäre genau das richtige Bühnenbild für Horrorfilme.

„Lasst uns gehen. Die anderen warten oben auf uns“, treibt uns Konstantin an.

Sofort setze ich mich in Bewegung, obwohl es mir widerstrebt, David zurückzulassen. Warum auch immer. Außerdem ist Christoph bei ihm. Sie werden schon ihre Gründe für das Vorgehen haben.

„Was steht als Nächstes an?“, frage ich, um mich ein bisschen von David und der bedrückenden Umgebung abzulenken.

„Wir überprüfen, was Tobi uns erzählt hat. Es ist gut, dass wir jetzt die grobe Struktur wissen, und einige Vermutungen wurden bestätigt. Ohne einen guten Plan und wenigstens ein paar Namen ist es aber zu gefährlich, gegen die Gruppe vorzugehen. Paul hat Recht, wenn er die übergelaufenen Wölfe als Gefahr sieht. Wir sollten so schnell wie möglich herausfinden, um wen es sich handelt.“ Konstantin wirft mir einen kurzen Blick zu. „Ihr seid euch heute das erste Mal begegnet, oder?“

„Ja“, antworte ich verwirrt und gleichzeitig unangenehm berührt.

„Mhm“, macht der Vollstrecker nur und denkt sich wahrscheinlich seinen Teil.

„Was ‚Mhm‘?“, frage ich genervt.

Konstantins Mund zuckt amüsiert. „Ihr Wölfinnen seid sehr temperamentvoll. Ich habe mich nur gewundert, warum er so auf dich angesprungen ist. Vorhin beim Rudeltreffen lag sein Fokus woanders.“ Die letzten Worte sagt er mit einer deutlichen Kälte in der Stimme. Man muss kein Genie sein, um dieses Verhalten zu deuten. Jeder, der es wagt, Valeria auch nur schief anzusehen, darf mit unschönen Folgen rechnen.

So gelassen wie möglich zucke ich mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, was für ein Problem er hat.“

„Ganz sicher?“, hakt Konstantin nach und mir wird klar, dass es keinen Sinn hat, ihm etwas vorzumachen. Ich kann gut darauf verzichten, von ihm gegrillt zu werden. Bevor ich antworten kann, mischt sich Erika ein.

„Hör auf, Tamara zu löchern! Was geht dich das eigentlich an?“, fragt sie frech.

Ich würde mich das nicht trauen, aber die beiden scheinen auf das Gezanke zu stehen.

„Mich geht das etwas an, weil ich wissen muss, wie ich das Team am effektivsten einteile. Außerdem ist es denkbar, dass deswegen ein oder mehrere Beteiligte ausfallen – im Idealfall nicht durch Kämpfe in den eigenen Reihen“, erwidert Konstantin kühl.

Entsetzt sehe ich ihn an. „Du, du denkst, dass sie aufeinander losgehen könnten?“

„Es ist nicht unwahrscheinlich. Wir verteidigen, was uns gehört, Tamara. Vielleicht entspannt es sich, wenn dein besonderer Zustand passé ist.“

„Mein Zustand?“ Augenblicklich laufe ich tomatenrot an. „Woher … ?“

„Du hast uns belauscht, du hinterlistiger Blutsauger!“, empört sich meine Freundin.

Konstantin ignoriert sie vollkommen und betrachtet mich stattdessen. „Ich wusste es vom ersten Moment an, aber keine Angst, die anderen haben keine Ahnung. Von mir wird das auch niemand erfahren.“

Ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl, wenngleich ich mich frage, woher er das wissen kann. „Danke. Ich werde das beizeiten klären.“

„Das möchte ich für dich hoffen, obwohl ich mir bei einem von ihnen keine Sorgen machen muss.“

Es ist klar, dass er auf David anspielt, Paul ist zu labil. Natürlich habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, mein kleines Geheimnis für mich zu behalten. Ich weiß allerdings, dass mich diese Dummheit einiges kosten könnte. Offensichtlich setzt Konstantin sehr viel Vertrauen in David, und scheint ihn gut zu kennen. Wenn es anders läge, wäre er wohl nicht hier, um uns bei unserem Problem zu helfen. So langsam interessiert mich, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen. Ihr Verhalten ist ungewohnt herzlich. Die drei Vollstrecker verbindet trotz ihrer Unterschiede mehr als nur ihr Beruf. Das Geplänkel erinnert mich irgendwie an meine Geschwister. Bevor ich jedoch die Chance habe, Konstantin danach zu fragen, haben wir die anderen und damit den Ausgang erreicht.

„Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen“, stellt Fabian fest. Sobald Erika in Reichweite ist, zieht er sie an sich. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, denn die beiden sind schrecklich in einander verliebt. Auch Valeria und Konstantin stehen dicht nebeneinander. Damit sind nur Paul und ich übrig, aber ich halte so viel Abstand wie möglich von ihm.

„Ich habe Konstantin aufgehalten“, beantworte ich Fabians Frage. „Es geht um Miriam. Konstantin hat mir versichert, dass er daran arbeitet, den bisherigen Pflegeeltern die Vormundschaft zu entziehen und auf uns zu übertragen.“

Die Augen des freundlichen Vampirs bekommen bei der Erwähnung von Miriams Pflegeeltern einen harten Glanz. Ich kann es Fabian nicht verübeln. Er hat das Resultat der ‚fürsorglichen Behandlung‘ durch Miriams Pflegevater direkt nach der Tat begutachten können.

„Weißt du inzwischen, wer ihre Eltern waren?“, fragt Fabian den Vollstrecker.

„Ja, mehr oder minder. Die Namen sind in den Unterlagen verzeichnet. Allerdings konnte ich keine Verbindung zu einem der ortsansässigen Wolfsrudel finden. Es sieht ganz danach aus, als wäre Miriams Mutter mit ihrem menschlichen Gefährten vor ihrem alten Rudel geflohen. Geboren wurde Miriam nämlich in Hamburg.“

„Hamburg?“, frage ich verwirrt.

Konstantin zuckt mit den Schultern. „So steht es in den Unterlagen. Gut möglich, dass es nur eine Zwischenstation war. Wenn das ursprüngliche Rudel ähnlich intolerant ist wie das von Paul, dürfte sie verschwunden sein, bevor die Schwangerschaft aufgefallen wäre.“

Mich durchläuft ein kalter Schauer bei der Vorstellung, dass Miriams Mutter vor ihrer eigenen Familie ins Ungewisse flüchten musste. Kinder sind bei uns willkommen, doch ich werde den Verdacht nicht los, dass es Rudel gibt, die Mischlinge gern so beseitigen würden wie die Menschen früher den unerwünschten Nachwuchs ihrer Haustiere.

Paul schaut betreten zu Boden. Unwillkürlich frage ich mich, ob es bei ihm im Rudel solche Vorfälle gab. Mir entgeht auch der Blickwechsel zwischen Valeria und Erika nicht. Langsam aber sicher habe ich das Gefühl, dass hier etwas läuft, von dem ich keine Ahnung habe.

„Heute Nacht können wir hier nichts mehr tun. Zusammen mit David und Christoph werde ich die Informationen abarbeiten, die Tobi uns gegeben hat. Sehr wahrscheinlich weiß unser zweiter Gefangener noch ein paar Dinge. Die Befragung ist morgen. Da er magisch begabt ist, möchte ich für alle Eventualitäten vorbereitet sein.“

Konstantin schaut in die Runde. „Was ihr tun könnt, ist, Augen und Ohren offen zu halten. Euch gegenüber werden die verräterischen Wölfe nicht so zurückhaltend sein. Vielleicht könnt ihr schon jetzt eine Liste zusammenstellen, die potentielle Mitläufer enthält. Je weiter wir den Kreis der Verdächtigen einengen, desto einfacher wird es für uns, den Schwarzmagiern die Tour zu vermasseln.“

„Was passiert mit den verdächtigen Wölfen?“, erkundigt Paul sich kleinlaut. Ihm ist deutlich anzusehen, dass ihm die Aufgabe und die daraus resultierenden Konsequenzen zu schaffen machen.

„Das kommt auf die Schwere ihrer Vergehen an“, antwortet Konstantin und fixiert den jungen Wolf. „Ich habe kein Problem damit, sie den verantwortlichen Alphas zu übergeben. Kann ich mir der richtigen Behandlung jedoch nicht sicher sein, haben wir in dieser schmucken Unterkunft noch ein paar Plätze frei.“ Er lässt den Blick durch die Runde gleiten und verkörpert gerade den kalten Vollstrecker, der er sein kann. „Ich kann euch gleich sagen, dass diese Sache unschön wird. Mit Fanatikern ist nicht zu spaßen und es wird mehr als einen Kampf geben. Sobald wir willentlich angegriffen werden, gibt es nur eine Lösung. Wenn die schwarze Magie ihre Seele ergriffen hat, existiert keine Rettung mehr. Die Verdorbenheit kann nicht kuriert werden.“

Ich versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, der sich bei seinen Worten gebildet hat. Im Gegensatz zu den drei Vollstreckern habe ich keinerlei Kampferfahrung. Bisher musste ich mich nur gegen lästige Jungwölfe und meine Geschwister zur Wehr setzten. Was da auf uns zukommt, ist eine völlig andere Dimension. Werwölfe heilen besser als Menschen, aber nicht so schnell wie Vampire. Nach der Verletzung, die Fabian von seinem Kampf mit Gregor davongetragen hatte, wäre ich wenigstens eine Woche außer Gefecht gesetzt gewesen.

„Soweit es geht, werden wir euch aus der direkten Konfrontation heraushalten. Ihr solltet jedoch gut auf euch aufpassen“, Konstantins Blick verweilt auf mir. „Es ist durchaus möglich, dass ihr für eure Sympathien zu den Vampiren zu Feinden erklärt und angegriffen werdet.“


Albträume und der schwarze Mann (Tamara)

Noch vollkommen aufgewühlt von den Erlebnissen der letzten Stunden verabschiede ich mich von meinen Freunden und dem Rest der Truppe. Valeria überrascht mich, indem sie mich fest in ihre Arme schließt.

„Es war schön, dich kennenzulernen. Pass gut auf dich auf, Tamara und grüß Miriam von uns.“

„Danke, das finde ich ebenfalls. Deine Grüße richte ich gern aus. Ich hoffe, dass sie sich bald bei uns wohlfühlt. Dank der Tränke deiner Großmutter schreitet die Heilung schnell voran. Ich wünschte nur, dass ich das auch von den unsichtbaren Verletzungen sagen könnte.“

Valeria lächelt mich traurig an. „Es wird nicht leicht, aber sie scheint ein umgängliches Mädchen zu sein, das einfach nur geliebt werden will.“

„Ich weiß, diesen Eindruck hatte ich auch. Mal sehen, wie es sich entwickelt. Den ersten Tag hat sie halbwegs gut verkraftet. Jetzt muss ich wirklich nach Hause. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil ich sie so lange alleine lasse.“

„Fahr nach Hause, Tamara. Melde dich morgen bei David, wenn du bereit für euren Einsatz bist“, weißt Konstantin mich an.

Ich nicke und versuche nicht daran zu denken, was alles passieren könnte, wenn David und ich ohne Anstandsdame unterwegs sind. „In Ordnung. Du sagtest vorhin, dass wir etwas von Valeria holen sollen. Darf ich fragen, was?“

Konstantin und die Hexe wechseln einen kurzen Blick. „Sagen wir mal so: Mein kleines Geschenk wird sicherstellen, dass er den verbliebenen Kindern keinen weiteren Schaden zufügen kann. In ihrem Fall ist es zwar möglich, dass Verfahren zu beschleunigen, aber wir können schlecht perfekte Pflegeeltern für jedes Kind suchen“, erklärt Valeria.

Ich verstehe das, trotzdem tun sie mir leid. Wenn dieses ominöse ‚Geschenk‘ von Valeria die erhoffte Wirkung hat, sollte es den Kindern besser gehen. „Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Schlaft gut.“

„Bis morgen und gute Nacht!“, wünscht Valeria mir.

Nachdenklich gehe ich zu meinem Auto und fahre nach Hause. Als ich vorhin zum Treffen kam, hatte ich noch keine Ahnung, was mich erwarten würde. Nun weiß ich es und wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können, damit es nicht zu einem vollkommenen Albtraum wird. Zuhause angekommen, schleiche ich in mein Zimmer. Fix schnappe ich mir mein Schlafzeug und springe schnell ins Bad. Zwar bezweifle ich, dass ich bald in den Schlaf finde, aber ich weiß ganz genau, dass ich morgen unsanft und viel zu früh geweckt werde. Ein bisschen erstaunt es mich schon, dass mich mein Vater nicht wutschnaubend empfing. Bestimmt hat meine Mutter ihn besänftigt und ins Bett gezerrt. Auf leisen Sohlen tapse ich zurück und komme mir ziemlich blöd vor. Man könnte meinen, ich käme von einem heißen Date. Doch leider ist das weit gefehlt. Tatsache ist, dass ich mich wieder umstellen und auf Miriam Rücksicht nehmen muss. Ich klemme mir meine Klamotten unter den Arm und husche ins Zimmer. Es ist echt praktisch, dass ich kein Licht brauche, sonst wäre das Mädchen wahrscheinlich schon wach. So aber lege ich meine getragene Kleidung auf meinem Stuhl ab und will ins Bett schlüpfen. Ein angenehmer Geruch hält mich jedoch ab. Jetzt da umgezogen bin, fällt mir Davids Duft auf. Einen Herzschlag lang zögere ich, bevor ich mir mein Shirt schnappe und es mit ins Bett nehme. Genüsslich vergrabe ich meine Nase in dem weichen Stoff und komme mir nur ein bisschen albern vor. Mit geschlossenen Augen lasse ich unsere Begegnungen Revue passieren. Ein wohliger Schauer geht durch meinen Körper. Irgendetwas besitzt dieser Vampir, was mich fasziniert, regelrecht anzieht. Nie hätte ich gedacht, dass ich mal so extrem auf einen Mann reagieren könnte. David ist anders als alles, was ich kenne. Damit meine ich nicht nur sein exotisches Äußeres oder sein vampirisches Wesen. Sein Interesse schmeichelt mir ungemein, doch ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. David ist der ungewöhnlichste Vampir, den man sich vorstellen kann. Offen, humorvoll und kontaktfreudig sind ja nicht die typischen Eigenschaften, mit denen die Blutsauger beschrieben werden. Konstantin ist dagegen ziemlich nah am klassischen Bild, wenngleich ich bei ihm weitere Facetten entdecken konnte.

Da sieht man mal wieder, dass die meisten Vorurteile nicht zutreffen, denke ich. Es ist ebenso erstaunlich, dass die drei gegensätzlichen Vampire so eine enge Verbindung zueinander haben. Vielleicht kann ich David ja morgen Nacht danach fragen. Ein wenig Angst habe ich schon vor der Begegnung. Wenn die Anziehungskraft weiterhin so stark ist, dürfte es echt schwer sein, sich zusammenzureißen. Aber es gibt im Moment viel wichtigere Dinge als meine Hormone. Wir brauchen Miriams Sachen und müssen dafür sorgen, dass diese widerlichen Menschen den anderen Schutzbefohlenen nie wieder etwas antun können. Ich hoffe nur, dass die beiden Kinder nicht genauso übel zugerichtet sind wie Miriam.

Langsam drifte ich in den Schlaf. Instinktiv kuschle ich mich in mein Bett und Davids Geruch ist das Letzte, was ich bewusst wahrnehme.

Mitten in der Nacht schrecke ich aus meinen angenehmen Träumen. Verwirrt suche ich nach der Ursache.

„Nein! Lass mich! Ich will das nicht!“, fleht eine kindliche Stimme.

Miriam!

Mit einem Satz bin ich aus dem Bett und bei ihr. Meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, aber ich kann niemanden außer uns im Zimmer spüren. Ich beuge mich zu ihr hinunter und stelle fest, dass die Kleine schläft – allerdings alles andere als friedlich. Sie wirft sich hin und her und spricht im Schlaf.

„Bitte! Ich will das nicht!“

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Ihren Worten nach zu urteilen, ist das ein fieser Albtraum. Vorsichtig rüttele ich an ihrer Schulter.

„Miriam, wach auf!“

Sie zuckt vor mir zurück und fällt dabei fast aus dem Bett. „Fass mich nicht an! Du tust mir weh!“

Eine Schrecksekunde lang glaube ich, dass sie mich meint, doch ihre nächsten Worte widerlegen diese Vermutung.

„Ich möchte dich nicht anfassen … nicht dort …“, keucht das Mädchen.

Kurzentschlossen betätige ich den Lichtschalter. Dann wende ich mich zum Bett und schüttele ihren zarten Körper etwas kräftiger.

„Wach auf! Das ist nur ein Traum!“, wiederhole ich immer wieder.

Miriam versucht, sich aus meinem Griff zu winden, aber langsam dringe ich zu ihr durch. Sie blinzelt mehrfach und schließlich erkennt sie mich.

„Tamara!“

„Endlich“, seufze ich erleichtert.

Miriam zittert wie Espenlaub und in ihren Augen sammeln sich die ersten Tränen.

„Du hast schlecht geträumt. Hier ist niemand, der dir wehtun möchte“, versuche ich, sie zu beruhigen.

Schluchzend wirft sie sich in meine Arme und klammert sich an mich. Sie so zu sehen, zerreißt mich innerlich.

„Es war sehr schlimm, oder?“, frage ich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739389028
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Liebesroman Hexen Dresden Freundschaft Spannung Gestaltwandler Vorurteile Werwölfe Vampire Trilogie Erotik Erotischer Liebesroman Romance Fantasy

Autor

  • Vanessa Carduie (Autor:in)

Vanessa Carduie erblickte an einem grauen Herbstmorgen 1988 in Dresden das Licht der Welt. Geschichten faszinierten sie von klein auf und bald folgten die ersten eigenen Erzählungen. Mit ihren Büchern möchte sie ihre Leserinnen und Leser zum Lachen, Weinen und manchmal auch zum Nachdenken bringen. Dafür beschreitet sie auch gern ungewöhnliche Wege.
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Titel: Wolfsblues