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Bis du vernichtet bist

Katja Paulsens schwerster Fall

von Lena Viajera (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Katja Paulsen ermittelt, Band 1

Zusammenfassung

Eigentlich verläuft Katja Paulsens Leben in geordneten Bahnen. Die geschiedene Mutter lebt mit ihrem sechzehnjährigen Sohn in Berlin und führt die erfolgreiche Detektei Paulsen mit ihrem Vater als Seniorpartner. Doch dann wird sie gegen ihren Willen in ein Komplott innerhalb der Berliner Unterwelt hineingezogen. Was sich anfänglich wie ein Abenteuer anfühlt, wird schnell zu blutigem Ernst.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Bis du vernichtet bist

 

Von Lena Viajera

 

 

Kapitel 1

Katja Paulsen spielte nervös mit einem losen Faden ihrer Jacke. Sie schaute aus dem Fenster der Luxuslimousine und fragte sich, ob es richtig gewesen war, der Einladung zu folgen. Andererseits: Hatte sie tatsächlich eine Wahl gehabt?

 

Eine Stunde zuvor hatte sie in ihrem Büro gesessen und den Abschlussbericht für die Alte Lübecker Versicherung formuliert.

Auf rund zwanzig Seiten legte sie akribisch dar, weshalb eine Selbstverstümmelung des Versicherten ihrer Meinung nach auszuschließen war. Eine profunde Anzahl an Indizien und Zeugenaussagen belegten, dass er seine Hand nicht absichtlich mit dem Propeller eines laufenden Außenbordmotors in Kontakt gebracht hatte.

Katja ging davon aus, dass die Alte Lübecker die Versicherungssumme nach Erhalt ihres Berichts prompt zur Auszahlung freigeben würde.

 

Die Fünfundvierzigjährige war in zweiter Generation Privatdetektivin. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie den Beruf ihres Vaters bewundert und ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit assistiert. Mit Begeisterung war sie nach Ihrem Realschulabschluss bei ihm in die Lehre gegangen und führte die Detektei heute mit ihrem Vater als Seniorpartner fort.

Die Klienten der Detektei bestanden größtenteils aus Versicherungen, die Katja Paulsen einschalteten, wenn es um die Auszahlung größerer Versicherungssummen ging und Zweifel an dem Sachverhalt bestanden.

Katja genoss den Ruf, äußerst hartnäckig, objektiv und penibel zu sein. Sie hatte noch nie mit einer Expertise falsch gelegen und wenn sie, wie in diesem Fall, zu dem Ergebnis kam, dass kein Fall von Versicherungsbetrug vorlag, zahlten die Versicherungen für gewöhnlich anstandslos.

Katja Paulsen beschäftigte keine Sekretärin oder Empfangsmitarbeiterin.

Die Detektei war überschaubar. Sie bestand aus zwei Büros, einer winzigen Kaffeeküche und einem geräumigen Flur, in den Katja und ihr Vater eine Sitzecke gestellt hatten, um Wartenden eine Sitzgelegenheit anzubieten.

Die Detektei hatte keine nennenswerte Laufkundschaft. Sie befand sich in einem Mehrfamilienhaus, welches neben der Detektei über insgesamt drei Wohnungen verfügte. Ein schlichtes Messingschild neben der Haustür wies auf die Anwesenheit der beiden Detektive hin.

 

Umso überraschter hatte Katja auf die beiden Männer reagiert, die vor einer Stunde in ihrem Büro aufgetaucht waren. Auf den ersten Blick ließen sich die beiden als typische Gorillas beschreiben: Breites Kreuz, muskelbepackte Oberarme, die in billige, enge Sakkos gepresst waren. Dazu Jeans und Turnschuhe.

Sie hatten ihre Namen nicht genannt und der größere der beiden hatte sich unaufgefordert auf einen der Besuchersessel gegenüber von ihrem Schreibtisch gesetzt und sie mit unverhohlener Neugier angestarrt.

Der kleinere hatte eine Runde durch die Detektei gedreht und seinem Partner bald darauf mit einem Kopfnicken zu verstehen gegeben, dass sie alleine waren. Dann stellte er sich vor die Wohnungstür und verschränkte die Arme.

Die Geste war eindeutig. Ohne seinen Widerstand zu überwinden, würde Katja nicht im Stande sein, die Detektei zu verlassen. Zwar verfügte sie über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und scheute für gewöhnlich keine Konfrontation. Aber der 1,65 m großen Frau war klar, dass sie alleine gegen diese beiden Muskelprotze chancenlos sein würde, gesetzt den Fall, dass die Situation in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mündete.

Also hatte sie mit klopfendem Herzen, gezwungen lächelnd gefragt: „Wie kann ich Ihnen helfen, meine Herren?“

Der ihr gegenübersitzende Gorilla lächelte zurück. Zum Vorschein kamen eine Reihe blendend weißer Zähne. „Mein Boss würde gerne mit Ihnen sprechen.“

‚Aha.‘, dachte Katja. ‚Und wer ist dein Boss?‘

Sie hob fragend die Brauen.

„Michael Sauer hat viel von Ihnen gehört.“, ergänzte der Gorilla mit den weißen Zähnen.

Katjas Herz setzte für einen Schlag aus.

Was, zur Hölle, wollte Michael Sauer, stadtbekannter Herrscher der Unterwelt, König von Drogenhandel, Prostitution und Glücksspiel von ihr?

Katja schluckte.

Ihr Blick wanderte zu dem Bilderrahmen mit dem Foto ihres sechzehnjährigen Sohnes. Jonas sah ihr daraus mit einem für ihn typischen, nachdenklichen Gesichtsausdruck entgegen.

Der Blick des Gorillas war ihrem gefolgt. Er beugte sich leicht vor und ergriff den Rahmen. Katja fiel auf, dass er große, vernarbte Hände hatte. Sie schaute zurück in sein Gesicht.

„Ach, der Jonas.“, sagte er und nickte bedächtig.

Abermals stockte Katja der Atem.

Mit einer langsamen, fast sanften Bewegung stellte der Gorilla den Bilderrahmen zurück an seinen Platz, erhob sich und fragte: „Können wir?“

Katja nickte stumm.

Geistesgegenwärtig griff sie nach ihrem ständigen Begleiter, einem rosafarbenen Filofax.

Als sie außerdem ihr Handy nehmen wollte, stoppte der Gorilla ihre Bewegung, indem er ihr seine Pranke auf den Unterarm legte. Katja spürte die Kraft in dem Händedruck. Sie erschauderte.

„Das werden Sie nicht brauchen.“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

 

***

 

Michael Sauer erwartete Katja im Weinstübchen, einem Lokal in der Nähe des Gendarmenmarktes.

Katjas anfängliche Erleichterung über das normalerweise gut besuchte Lokal als Ort für das Treffen verflüchtigte sich rasch, als sie erkannte, dass nur ein einziger Tisch besetzt war. Der, an dem Michael Sauer mit locker übereinandergeschlagenen Beinen saß und sie aufmerksam ansah.

Wie ferngesteuert bewegte sie sich auf den Tisch zu. Ihr Begleiter, der sie bis in das Lokal eskortiert hatte, war an der Eingangstür zurückgeblieben.

Michael Sauer erhob sich und streckte ihr seine Hand entgegen. Sein Händedruck war fest. Mit einer knappen Geste forderte er sie auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Die Weinstube hatte hohe Decken mit kleinen, mit Malereien verzierten Gewölben. Eine Holzvertäfelung umgab ein Dutzend schlichte Holztische mit Stühlen. Zusammen mit weißen Tischdecken und gedämpftem Licht sorgte das normalerweise für eine gemütlich-rustikale Atmosphäre. Katja kannte das Lokal und hatte schon einige heitere Abende hier verbracht.

Heute aber erschien ihr der Stuhl, auf dem sie saß, hart und unbequem und sie hatte den Eindruck, die Holzvertäfelung würde sie erdrücken.

„Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.“, eröffnete Michael Sauer das Gespräch.

Innerlich erbebte Katja. Nötigung war das Wort, welches sie am ehesten mit dieser Form der Einladung assoziierte.

Ein Kellner brachte unaufgefordert einen Cappuccino für Katja. Daneben stellte er eine Zuckerdose.

Katjas Lieblingsgetränk. Starker Cappuccino mit viel Zucker. Sie war es gewohnt, in Cafés nach einer Extraportion zu fragen, da ihr die kleine Portion, die üblicherweise zu einem Cappuccino serviert wurde, nie genügte.

„Ich habe mir erlaubt, Ihnen Ihr bevorzugtes Getränk zu bestellen.“, sagte Michael Sauer und beobachtete sie.

Katja wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Die ganze Szene erschien ihr surreal. Als ob sie einen Film schaue, in dem sie selbst mitspielte.

„Gut informiert zu sein, ist wesentlich für meinen Erfolg. Ich denke, das haben wir gemeinsam, nicht wahr?“, fuhr er fort.

Mechanisch rührte Katja in ihrem Cappuccino.

Michael Sauer schien keine Antwort von ihr zu erwarten. Der Achtundfünfzigjährige, 1,80 m große Mann war es gewohnt, dass die Menschen in seiner Umgebung Angst oder wenigstens Respekt empfanden.

„Aber es gibt etwas wesentlich Bedeutsameres als Wissen. Loyalität.“, sagte er.

Mit ernstem Gesichtsausdruck analysierte er Katja bis in das kleinste Detail. Ihre Haltung, ihre Mimik, jede Reaktion auf seine Worte.

Die sonst so energiegeladene, quirlige Frau war wie gelähmt. Nur langsam löste sie sich aus ihrer Starre.

„Darf ich fragen, warum Sie mir das erzählen?“, nahm sie all ihren Mut zusammen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. War es möglich, dass sie Michael Sauer bei ihren Ermittlungen in die Quere gekommen war? War sie jemandem auf die Füße getreten, dem man besser nicht auf die Füße trat? Oder hatte Jonas irgendetwas angestellt? Hatte er eine Dummheit gemacht, einen Fehler?

Michael Sauer lächelte. Er lehnte sich zurück und sagte: „Ich werde sie engagieren.“

Katja war wie vom Donner gerührt.

Michael Sauer hatte nicht gefragt, ob sie für ihn arbeiten wolle, sondern er hatte festgestellt, dass sie es tun werde.

Sie räusperte sich. Sie wusste, woher Michael Sauers Geld und seine Macht stammte.

„An was hatten Sie denn dabei gedacht?“, fragte sie vorsichtig.

Daraufhin lachte er. Ein tiefes, klangvolles Lachen, wie Katja feststellte.

„Selbstverständlich werden Sie als Detektivin für mich arbeiten.“, stellte er sodann fest.

Auf seinen kaum wahrnehmbaren Fingerzeig hin näherte sich ein Mann, den Katja bisher nicht bemerkt hatte. Wortlos legte er ein Foto vor ihr auf den Tisch und entfernte sich rasch wieder.

Das Foto zeigte eine fröhlich lachende Frau in den Vierzigern mit blondem Pagenkopf. Sie war sportlich elegant gekleidet und ihren Hals zierte ein auffälliges Medaillon an einer Kette. Es war relativ groß und geschmackvoll verziert. In der Mitte prangte eine große Blüte, die von drei kleineren umrahmt wurde.

Katja betrachtete das Bild aufmerksam. Sie kannte die Frau nicht. Sie spürte Michael Sauers bohrenden Blick und hob den Kopf.

„Sehen Sie, ich weiß alles über diese Frau. Wie sie heißt, wo sie wohnt, einfach alles. Aber ist sie loyal?“, fragte er ernst.

Darum ging es also.

„Ist sie, nun ja, Ihre Partnerin?“, Katja suchte nach dem richtigen Begriff.

Michael Sauer zögerte.

„Sie müssen unvoreingenommen an die Sache herangehen. Alles andere würde das Resultat verfälschen. Aber ich denke, diese Information wird nicht schaden. Sandra Schweitzer ist das, was man gemeinhin als Geliebte bezeichnet.“, antwortete er.

Insgeheim wunderte sich Katja. Bei einem Mann wie Michael Sauer hätte sie mit blutjungen, leichtbekleideten Frauen als Gespielinnen gerechnet. Nicht mit einer erwachsenen, so normal wirkenden Frau. Aber der Eindruck konnte ja täuschen.

„Ich denke, der Auftrag ist klar definiert. Oder haben Sie noch Fragen?“, hörte sie Michael Sauer sagen.

Neben ihr war ein Mann aufgetaucht. Wieder hatte Katja sein Kommen nicht bemerkt.

Der Auftrag. Michael Sauers Auftrag an sie. Kurz überlegte sie, ob es irgendeinen Weg gab, abzulehnen. Aufzustehen, den Raum zu verlassen und nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Die letzten zwei Stunden ihres Lebens ungeschehen zu machen.

Sie wusste, dass das unmöglich war.

 

***

 

Katja tigerte durch ihr Wohnzimmer und raufte sich die braunen, kurz geschnittenen Haare. Während sie den Raum wieder und wieder mit langen Schritten durchquerte, erzählte sie ihrem Vater von den jüngsten Ereignissen.

 

Michael Sauers Fahrer hatte sie ungefragt zu ihrer Wohnadresse gefahren. Vor der Tür hatte er in zweiter Reihe gehalten und sie war wortlos ausgestiegen. Ein lautes Hupen sowie ein Pfiff des Fahrers hatten sie kurzzeitig aufgehalten. Der Mann hatte sie zurückgewunken und ihr ein Handy in die Hand gedrückt.

„Nummer ist eingespeichert.“, hatte er gebrummt.

Auf Katjas verständnislosen Blick hin hatte er ergänzt: „Wenn Sie den Boss sprechen möchten, wählen Sie einfach die eingespeicherte Nummer.“

Katjas erster Impuls war, zu überprüfen, ob Jonas wohlauf war. Sie war in die Wohnung gerannt, hatte den schwanzwedelnden Charly, einen kleinen Terriermischling, im Flur unbeachtet stehengelassen und war in Jonas Zimmer gestürmt und hatte ihn dort konzentriert zeichnend vorgefunden. Seinen verwunderten Blick ignorierend, hatte sie anschließend sofort ihren Vater angerufen.

 

Mit sorgenvoller Miene hörte sich Rainer Koch an, was seiner Tochter widerfahren war.

„Bitte sag mir, dass du irgendeinen Weg siehst, wie ich aus der Sache heil herauskomme.“, sagte sie und sah ihn flehend an.

Nicht zum ersten Mal an diesem Abend schüttelte er den Kopf. Etwas Vergleichbares war ihm in seiner langjährigen Laufbahn nie passiert. „Wir müssen die Frau durchleuchten. Herausfinden, warum Michael Sauer an ihrer Loyalität zweifelt.“, sagte er.

Katja stampfte mit dem Fuß auf.

„Aber ich möchte nicht für ihn arbeiten!“, insistierte sie.

„Katja, du hast doch gar keine Wahl.“

Sie seufzte schwer.

Wie Recht er hatte.

Kapitel 2

Gedankenverloren rührte Katja am nächsten Tag in ihrem Tee.

 

Sie hatte sich heute Morgen, als sie sich wie gewohnt einen Cappuccino zubereitet hatte, beim Anblick der Kaffeetasse beinahe übergeben. Gleich einem Flashback fühlte sie sich in das Gespräch mit Michael Sauer am Vortag zurückversetzt.

Bis auf weiteres würde sie keinen Cappuccino mehr anrühren.

 

Sie hatte schlecht geschlafen. Im Traum wurde sie von zwei Berggorillas gejagt, die im Laufe der Verfolgungsjagd Menschengestalt annahmen und ihr zuriefen: Du kannst uns nicht entkommen. Schweißgebadet war sie aufgewacht und hatte beschlossen, unverzüglich mit der Arbeit zu beginnen. Je schneller dieser Auftrag erledigt war, desto eher hatte sie wieder eine Chance, ihr altes Leben zurückzubekommen.

 

Jetzt saß sie im Büro und brütete über den Ergebnissen ihrer Online-Recherche. Viel war nicht dabei herausgekommen.

 

Sie telefonierte kurz mit ihrem Vater. Beide verständigten sich darauf, Sandra Schweitzer für ein paar Tage zu beschatten, um einen Eindruck von der Person zu bekommen. Anhaltspunkte dafür zu finden, weshalb Michael Sauer in Betracht zog, seine Geliebte könne illoyal sein.

Parallel dazu wollte Rainer Koch versuchen, ehemalige Kollegen, allesamt schon im Ruhestand, aber ihm nach wie vor freundschaftlich verbunden, über Michael Sauer auszuhorchen.

 

***

 

Katja unterdrückte ein Gähnen. Geschlagene zwei Stunden hockte sie jetzt schon in ihrem blauen Mini Cooper mit bester Sicht in den Friseursalon Chérie, in dem sich Sandra Schweitzer die Haare erst waschen, dann schneiden und jetzt auch noch färben ließ.

Die monotone Tätigkeit ließ Katjas Gedanken umherschweifen. Wieder und wieder rekapitulierte sie den gestrigen Tag. Haderte mit sich und ihrem Auftrag. Nie hatte sie mit Menschen wie Michael Sauer zu tun haben wollen. Nie hätte sie in Betracht gezogen, einmal nicht selbst entscheiden zu können, ob sie einen Auftrag annahm.

Katja war es gewohnt, die Oberhand zu haben. Spätestens seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren lebte sie unabhängig. Sie war diejenige, die entschied, was sie wann tat und welchen Auftrag sie annahm. Bis gestern.

Gereizt hämmerte sie einmal mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad. Wieder waren ihre Gedanken an dem Punkt angekommen, an dem sie Michael Sauer und den gestrigen Tag verfluchte.

 

Sie zuckte zusammen, als die Autotür geöffnet wurde und ihr Vater einstieg.

„Ich bin’s nur.“, sagte er lächelnd und drückte kurz zur Beruhigung ihre Hand.

Katja lächelte schwach.

Nachdem Rainer Koch sich mit einem Blick in den Salon vergewissert hatte, dass Sandra Schweitzer noch eine Weile darin verbringen würde, fing er an, zu berichten: „Meine erste Fragerunde im kleinen Kreis hat wenig Erhellendes geliefert. Keiner hat je direkt mit Michael Sauer zu tun gehabt. Alles nur Hörensagen. Auf jeden Fall scheint es absolut untypisch für ihn zu sein, jemanden außerhalb seines Zirkels zu beauftragen.“

„Ich habe mich auch schon gefragt, warum er nicht einen seiner unzähligen, ich nenne sie mal Angestellten, mit dieser Aufgabe betraut hat.“, antwortete Katja eifrig.

„Entweder hat er niemanden, den er für qualifiziert hält.“

„Das glaube ich nicht!“

„Ich auch nicht. Die andere Möglichkeit ist, dass er vermutet, Sandra Schweitzer könne mit einem seiner Leute gemeinsame Sache machen.“

Katja wurde schwindelig bei der Vorstellung, dass sie möglicherweise eine Verschwörung in einem Verbrecherzirkel aufklären sollte. Wo war sie da bloß hineingeraten?

Sie hörte die Stimme ihres Vaters: „Komm, fahr nach Hause und ruh dich ein wenig aus. Leg dich aufs Ohr. Ich übernehm den Rest von heute. Und nachher komme ich bei euch vorbei, wir essen zusammen mit Jonas und dann bringe ich dich auf den neuesten Stand.“

 

***

 

Jonas kam vom abendlichen Spaziergang mit Charly zurück und fand seine Mutter, eine Schüssel mit Salat mechanisch durchrührend, in der Küche vor.

Er warf einen Blick in die Schüssel und fragte schelmisch: „Was soll das werden? Brei?“

Erschrocken ließ Katja das Salatbesteck in die Schüssel fallen.

Prüfend betrachtete Jonas seine Mutter. Er war es gewohnt, dass sie hektisch, aufgekratzt und gelegentlich auch mal launisch war. Aber eben hatte sie wie in Trance dagestanden. So kannte er sie nicht.

„Alles ok?“, fragte er.

Die Klingel rettete Katja vor einer Antwort. Eilig lief sie Richtung Tür. Ihr Sohn sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Charly sprang an seinem Bein hoch und forderte seine abendliche Mahlzeit. Jonas beugte sich zu ihm herunter und kraulte ihn hinter den Ohren. „Ist ja gut, mein Freund. Ich mach dir dein Fresschen fertig.“

 

Besorgt blinzelte Katja durch den Spion. Erleichtert stellte sie fest, dass es tatsächlich ihr Vater war, der vor der Tür stand. Rasch öffnete sie.

Rainer Koch hatte Fridolin, seinen alten Schäferhund, mitgebracht. Majestätisch betrat das Tier die Wohnung und steuerte zielsicher auf Charlys Fressnapf zu. Die nächsten Minuten hatte Jonas alle Hände voll zu tun, die beiden Streithähne zu trennen. Normalerweise verstanden die Hunde sich prima, aber wenn es ums Fressen ging, hörte die Freundschaft für gewöhnlich auf.

 

„Und? Irgendetwas Neues?“, flüsterte Katja derweil.

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

„Friseur, ein bisschen shoppen und abends eine Runde Jogging. Dabei habe ich sie dann verloren.“, sagte er mit gedämpfter Stimme und schaute ein wenig beschämt zu Boden.

Katja wunderte sich. Ihr Vater war zwar nicht mehr der Jüngste, aber er war sportlich und verfügte über eine bemerkenswerte Ausdauer. Wenn Sandra Schweitzer ihn abgehängt hatte, musste sie entweder ausgesprochen gut in Form und sehr schnell gelaufen sein, oder sie hatte schlichtweg Glück gehabt.

 

***

 

Am nächsten Tag vertauschten Katja und ihr Vater die Reihenfolge. Den ersten Teil des Tages hatte er Sandra Schweitzers Schritte verfolgt, am Nachmittag übernahm Katja.

Soeben hatte Sandra Schweitzer eine Buchhandlung verlassen und ein Taxi herangewunken. In angemessenem Abstand verfolgte Katja das Taxi. Um sich nicht ablenken zu lassen, hatte sie das Radio, welches sie normalerweise stets eingeschaltet hatte, ausgeschaltet. Der Feierabendverkehr hatte eingesetzt und sie musste aufpassen, damit sie das Taxi nicht aus den Augen verlor.

Als sie Richtung Dahlem fuhren, wurden die Straßen leerer. Katja ließ sich weiter zurückfallen. Das Taxi hielt in einer kleinen Straße, die von imposanten Wohnhäusern gesäumt wurde. Sandra Schweitzer bezahlte, stieg aus und betrat eine weiße Stadtvilla. Katja fuhr langsam an dem Gebäude vorbei.

Die Straße war zu klein und zu leer. Hier konnte sie auf keinen Fall parken und aus dem Auto heraus beobachten. Innerhalb kürzester Zeit wäre sie aufgefallen. Sie bog ein paar Mal rechts ab, um erneut langsam an der weißen Stadtvilla vorbeizufahren. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie fuhr bis zur nächsten Kreuzung, bog rechts ab und parkte knapp außer Sichtweite. Dann stieg sie aus und lief gemessenen Schrittes zurück.

Gegenüber der weißen Stadtvilla hatte sie ein Baugerüst entdeckt. Offenbar wurde an dem gegenüberliegenden Haus die Fassade erneuert. Das Grundstück war von einem halbhohen Zaun mit einer metallenen Pforte umgeben. Mit klopfendem Herzen drückte sie die Klinke. Unverschlossen! Als sie sich dem Haus weiter näherte, stellte sie fest, dass nicht nur die Fassade, sondern das ganze Haus von Grund auf saniert wurde. Hier wohnte im Augenblick keiner. Vermutlich war dies auch die Erklärung für die unverschlossene Gartenpforte. Entweder hatten die Bauarbeiter vergessen, abzuschließen, oder das Tor wurde für die Dauer der Arbeiten offengelassen.

Katja inspizierte die Umgebung. Es war Ende Februar und die meisten Bäume und Sträucher noch kahl. Sie musste sich ein Versteck suchen.

Das Baugerüst war von einer Plane umgeben. Katja hob sie an einer Seite vorsichtig und schlüpfte darunter. Bewegungslos verharrte sie. Kein Geräusch weit und breit. Kein Mensch in Sicht. Beflügelt durch ihren bisherigen Erfolg kletterte sie eine Etage hinauf.

Ein erneutes Lupfen der Plane zeigte ihr, dass sie, um einen guten Blick auf die weiße Stadtvilla zu haben, eine Etage höher musste. Die Holzbohlen des Gerüstes knarrten und der Wind blies die Plane immer wieder an einigen Stellen hoch. Jedes Mal blickte Katja alarmiert in die Richtung, aus der das Geräusch der hochfliegenden Plane gekommen war.

Endlich hatte sie einen hervorragenden Aussichtspunkt gefunden. Optimale Sicht auf die weiße Stadtvilla, sie selbst verdeckt durch die Plane, die sie nur an einer kleinen Ecke angehoben hatte, damit sie hindurchschauen konnte. Katja hockte sich hin. Sehr lange würde sie hier nicht ausharren können. Die Temperaturen waren zwar mit rund 7°C für Februar mild, aber es war bereits später Nachmittag und gegen Abend würde es kälter werden und Katja spürte schon jetzt den aufkommenden, kühlen Abendwind, der ihre Ohren frieren ließ.

Sie holte ihr kleines Fernglas hervor und verschaffte sich einen Überblick. Die weiße Villa schien ein Neubau zu sein. Die Pflanzen im Garten waren noch klein und die Bäume niedrig. Katja zählte vier Klingelschilder und schloss daraus, dass das Haus in vier Wohnungen unterteilt war. Zwei oben und zwei unten. Wie bei solchen Neubauten modern, hatten sie alle bodentiefe Fenster, wie Katja erfreut feststellte. Aus Sicht einer beobachtenden Privatdetektivin ein Vorteil.

Sie spähte durch die Fenster. Hoffentlich hatte Sandra Schweitzer nicht, von Katja unbemerkt, während sie sich hier ihren Platz gesucht hatte, das Haus wieder verlassen.

Nein. Da war sie. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster in einer Wohnung in der oberen Etage und unterhielt sich mit einem Mann. Katja kniff die Augen zusammen. Michael Sauer! Der Mann, mit dem sich Sandra Schweitzer unterhielt, war ihr Auftraggeber.

Ein Frösteln durchfuhr Katja. Sie hätte nicht sagen können, ob allein die Kälte oder auch der Anblick Michael Sauers daran Schuld war. Er war perfekt gekleidet: Maßanzug, teure Schuhe und eine Krawatte im passenden Farbton. Das weißlich-graue, volle Haar war tadellos frisiert und der ebenfalls weißlich-graue Bart gepflegt. Und dennoch umgab diese imposante Gestalt die Aura des Bösen. Etwas in seinem Anblick löste Furcht in Katja aus.

Rasch verdrängte sie dieses Gefühl. Sie musste sich jetzt konzentrieren. Die Kälte kroch unerbittlich unter ihre Kleidung und sie spürte, wie ihre Gelenke steif wurden. Sie verlagerte ihr Gewicht. Die Holzbohlen quittierten ihre Bewegung mit einem lauten Knarzen.

Sandra Schweitzer gestikulierte wild. Auch Michael Sauer wirkte erregt. Zu gerne hätte Katja gehört, worüber die beiden sprachen. Schließlich verließ die Frau den Raum und Michael Sauer begann, ein Telefonat zu führen. Währenddessen zog er die Gardinen zu. Katja ärgerte sich. Damit war ihr Blick versperrt.

‚Kein Grund, länger hier zu frieren.‘, beschloss sie und machte sich an den Abstieg.

Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein kurzer Blick in den Garten verriet ihr, dass sie nach wie vor allein war. Sie steuerte auf die Pforte zu.

In ihrer Hosentasche vibrierte ihr Handy. Geistesgegenwärtig drehte sie sich um, und versteckte sich noch einmal hinter der Plane. Papa stand auf dem Display. Sie nahm das Gespräch an.

„Gibt es etwas Neues?“, fragte er ohne Begrüßung.

„Ich stehe vor ihrer Wohnung, aber bis jetzt nichts Aufregendes.“

„Sind sie zusammen?“

„Ja.“

In diesem Moment hörte Katja ein Geräusch. Sie hielt den Atem an und lugte vorsichtig hinter der Plane hervor. Sandra Schweitzer hatte das Haus soeben wieder verlassen. Sie trug Joggingklamotten und hatte offenbar ihren Schlüsselbund fallen gelassen. In diesem Augenblick bückte sie sich danach. Das klirrende Geräusch des Schlüsselbundes auf dem Pflaster hatte Katja gehört.

„Ich muss auflegen. Sie geht wieder joggen.“

Katja beendete das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten. In weiser Voraussicht hatte sie sich ihre Turnschuhe und eine bequeme Hose angezogen, aber die Kälte hatte ihre Glieder steif werden lassen und sie fühlte sich jetzt bei jedem Schritt, den sie lief, wie eingerostet.

Sandra Schweitzer legte ein flottes Tempo vor. Katja folgte in großem Abstand. Es war kaum ein Mensch auf der Straße. Unabhängig davon, dass sie nicht das Gefühl hatte, lange mithalten zu können, wäre es auffällig gewesen, wenn sie zu dicht an die Frau herangelaufen wäre.

Eine ganze Weile lief Katja so hinter ihr her. Dann beschleunigte Sandra Schweitzer. Katja spürte, wie ihre Wangen glühten. Sie schwitzte und die die kühle Abendluft brannte in ihren Lungen. Sandra Schweitzer lief immer weiter von der weißen Stadtvilla weg. Katja spürte, wie die Milchsäure in ihre Muskeln schoss. Ihre Beine wurden schwerer und bei jedem Schritt hob sie ihre Füße ein kleines bisschen weniger an. Sie schlurfte schon beinahe. Und dann stolperte sie. Zwar gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten und zu verhindern, dass sie hinfiel, aber sie war gezwungen, anzuhalten. Keuchend stemmte sie die Hände in die Hüften und wartete darauf, dass sich ihr Atem beruhigte. Sandra Schweitzer war über alle Berge.

Der Weg zurück zu ihrem Auto erschien Katja wie der Gang nach Canossa.

 

***

 

„Was machst du denn da?“, fragte Jonas belustigt.

Katja hatte, zuhause angekommen, eine heiße Dusche genommen. Sie hatte das warme Wasser so lange über ihren Nacken fließen lassen, bis sie das Gefühl hatte, ihr würden Schwimmhäute wachsen. Dann war ihr eine Idee gekommen. Rasch hatte sie sich abgetrocknet, etwas Bequemes angezogen und sich auf den Weg in den Keller gemacht. Dort hatte sie ihre Rollerblades hervorgekramt, die sie jetzt, im Wohnzimmer auf dem Boden sitzend, entstaubte und die Kugellager reinigte.

„Ich dachte, die könnte ich mal wieder benutzen.“, sagte sie lächelnd.

Jonas schüttelte den Kopf. Aber so kannte er seine Mutter. Immer eine neue Idee auf Lager, die dann möglichst sofort in die Tat umgesetzt werden musste. Für Außenstehende ergab das nicht immer einen Sinn. Aber Jonas war froh, dass seine Mutter sich nicht mehr so apathisch verhielt wie gestern.

„Darf ich morgen bei Nele übernachten?“, fragte er beiläufig.

Katja horchte auf.

Nele war Jonas erste feste Freundin. Sie war fünfzehn und, soweit Katja das beurteilen konnte, ein nettes Mädchen. Bisher hatten sich die beiden zwar regelmäßig besucht und Dinge unternommen, jedoch noch nie eine ganze Nacht zusammen verbracht. Kurz überlegte Katja, ob sie ablehnen sollte. Dann schalt sie sich selbst für diesen Gedanken. Jonas war zum Glück ein verantwortungsbewusster Jugendlicher. Sie hatte ihn schon vor einer ganzen Weile aufgeklärt und die Dinge, die es zu besprechen gab, mit ihm besprochen. Die Zeiten, in denen junge Leute erst heiraten mussten, bevor sie eine Nacht miteinander verbrachten, war schließlich lange vorbei.

„Ist Neles Mutter denn damit einverstanden?“, erkundigte sie sich.

„Sonst hätte ich wohl kaum gefragt.“

Da war etwas dran.

„Dann bin ich auch einverstanden.“

Für alle Fälle würde sie nachher kurz mit Neles Mutter telefonieren. Aber das musste Jonas ja nicht unbedingt wissen.

Der freute sich, schnappte sich eine Banane und ging auf sein Zimmer. Streng genommen kam es Katja gelegen, wenn sie morgen Abend nicht mit ihrem Sohn rechnen musste. Sie war fest entschlossen, Sandra Schweitzer am folgenden Tag nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Und wer wusste schon, was die an einem Freitagabend vorhatte.

 

***

 

Tränen schimmerten in den Augen der Frau. Sie streichelte der Jüngeren sanft über das verschwitzte Haar. Dabei gelang es ihr nicht, die Bilder zu verdrängen. Sie waren für immer in ihrer Netzhaut eingebrannt.

Wie sie sich mit weit aufgerissenen Augen in Trance tanzte.

Wie sie sich dem Fremden, völlig enthemmt, an den Hals geschmissen hatte.

Wie sie sich mitten unter all diesen Menschen nackt ausgezogen hatte.

Wie die fremden Männer sie begrapscht hatten, als ob sie bloß Fleisch wäre.

„Laß mich dir helfen. Laß mich dich retten.“, flüsterte sie leise und eine Träne kullerte über ihre Wange und tropfte auf den Kopf des jungen Mädchens, welches sie fest an ihre Brust gedrückt hielt.

 

***

 

Katja versuchte, sich auf das Gutachten, das vor ihr lag, zu konzentrieren. Ihr Vater hatte heute wieder die erste Schicht übernommen, während sie versuchte, ihre normale Büroarbeit zu erledigen. Nachdem sie volle zwei Tage ausschließlich für Michael Sauer gearbeitet hatte, war ihr bewusst geworden, dass er, sollte sie aus dieser Sache heil herauskommen, nicht derjenige sein würde, der künftig ihre Rechnungen bezahlte. Sie durfte ihre regulären, ihre vernünftigen Klienten nicht über Gebühr warten lassen, sondern musste auch deren Aufträge in einer angemessenen Zeit erledigen. Also hatte sie heute Vormittag ausschließlich für ihre Stammkunden gearbeitet und zum Glück Einiges geschafft.

Katja spürte den Druck, der auf ihr lastete. Nicht zum ersten Mal war sie froh, ihren Vater an ihrer Seite zu haben. Sie sah auf die Uhr. Zeit, ihn zu treffen.

„Wo bist du?“, textete sie.

Kurz darauf klingelte ihr Handy. Ihr Vater rief an.

„Ich spaziere mit Fridolin durch ihr Wohnviertel. Hier gibt es ein kleines Café mit lecker aussehendem Kuchen. Wollen wir uns dort treffen?“

„Gerne.“

„Ich schicke dir die Adresse.“

Kurz darauf brummte ihr Smartphone und sie hatte die Anschrift. Rasch griff sie ihre Autoschlüssel, ihren Filofax und ihr Handy und warf alles in ihre Handtasche.

Während der Fahrt zu dem Café stellte sie fest, dass sie so langsam Gefallen an dem ungewöhnlichen Auftrag fand. Zwar widerstrebte es ihr nach wie vor, für Michael Sauer zu arbeiten. Aber sie musste zugeben, die Beschattungen und der damit verbundene Nervenkitzel hatten schon Etwas. Auf jeden Fall war es eine Abwechslung von ihrem üblichen Berufsalltag.

 

***

 

„Ich gehe davon aus, dass die Frau keinen Job hat.“, sagte Katja.

Sie saß mit ihrem Vater in dem kleinen Café und hatte ein großes Stück Käsekuchen und einen grünen Tee vor sich. Cappuccino rührte sie nach wie vor nicht an. Katja und ihr Vater verglichen ihre Notizen. Sie las aus ihrem rosafarbenen Filofax vor und ihr Vater tippte auf seinem Smartphone. Insoweit spielten die beiden verkehrte Welt. Die Jüngere bevorzugte Papier und Stift, der Ältere lud alle wichtigen Daten in seine Cloud.

„Da hast du wohl Recht. Ich habe sie auch nicht einmal arbeiten sehen.“, stimmte Rainer zu. „Aber sie war heute eine ganze Weile auf dem Friedhof. Stand vor zwei Grabsteinen und führte Selbstgespräche. Ich bin nicht sicher, ob sie nur ein oder beide Gräber besucht hat. Aber ich habe mir die GPS-Position gespeichert und werde später die Namen auf den Grabsteinen überprüfen.“

Auch er schien den Nervenkitzel, den dieser Auftrag mit sich brachte, zu genießen. Katja stellte in seinen Augen einen Glanz fest, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Seit ihre Mutter gestorben war, hatte sich ihr Vater deutlich verändert. Er war zurückhaltender geworden und schien sich nicht mehr so richtig für Dinge begeistern zu können, obwohl er stets ein liebevoller Vater und Großvater war.

Als ihre Mutter starb, war Katja erst fünfzehn Jahre alt gewesen, seither war also viel Zeit vergangen. Aber die Zeit heilte nicht alle Wunden, hatte sie festgestellt.

„Er hat übrigens heute Vormittag die Stadt verlassen.“, sagte Rainer.

In der Öffentlichkeit vermieden sie es, Namen zu nennen.

„Oh? Woher weißt du das?“

„Ich sah ihn mit zwei großen Koffern in eines seiner Autos steigen und hörte, wie er den Fahrer anwies, ihn zum Flughafen zu bringen.“

Katja verarbeitete die Information.

„Das heißt, sie hat heute sturmfreie Bude.“, stellte sie fest.

Ihr Vater brummte.

„Wir werden sehen.“

„Es sein denn, sie geht uns jetzt gerade durch die Lappen, während wir hier gemütlich Kuchen essen.“

„Was denkst du denn von mir?“

Katja zog überrascht die Brauen nach oben.

Ihr Vater deutete auf sein Handydisplay. Eine App zeigte Tür geschlossen an.

Katja verstand nur Bahnhof.

Rainer lachte und erklärte: „Fridolin musste vorhin in dem Vorgarten der beiden seinen Gummiball suchen. Und ich natürlich hinterher. Der Hund darf ja nicht einfach so ein fremdes Grundstück betreten!“ Er warf einen liebevollen Blick aus dem Fenster. Fridolin saß bei leicht geöffneter Scheibe in Katjas Mini Cooper und hatte das Café, in dem sein Herrchen saß, im Blick. „Und bei der Gelegenheit habe ich ein kleines Gerät am Türrahmen der Haustür angebracht. Es ist lautlos, schickt mir aber eine Nachricht, wenn die Tür geöffnet wird.“

Katja staunte.

„Eigentlich ist es als Einbruchschutz konzipiert. Aber so funktioniert es auch prima.“

„Und man muss nicht auf einem Gerüst frieren, nur um zu wissen, ob jemand das Haus verlässt.“, ergänzte Katja lachend.

Wie auf Kommando fiepte Rainers Smartphone.

Er setzte sich kerzengerade auf. Katja fischte rasch einen Geldschein aus ihrer Tasche und klemmte ihn unter ihre Untertasse.

„Los!“

Rainer Koch war bereits an der Tür.

 

***

 

Sandra Schweitzer stand vor einem VW Polo und war augenscheinlich auf der Suche nach den Autoschlüsseln in ihrer Handtasche. Sie hielt den Blick gesenkt und wühlte angestrengt.

Ohne ein weiteres Wort drehten Katja und Rainer um, und liefen zu dem Mini Cooper. Fridolin empfing sie mit einem enthusiastischen Bellen. Katja schnallte sich an und startete schon den Motor, während ihr Vater noch nach seinem Gurtschloss angelte. Ihre Miene entspannte sich erst, als sie den Polo mit Sandra Schweitzer darin wieder im Blick hatte. Sie ließ sich etwas zurückfallen und folgte ihr.

„Wusstest du, dass sie ein Auto besitzt?“, fragte Katja ihren Vater.

Der brummte. „Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich schon einen GPS-Tracker daran befestigt.“

Katja wunderte sich insgeheim, welche Technik ihrem Vater offensichtlich zur Verfügung stand und wie gut er sich damit auskannte. Für ihre üblichen Aufträge waren solche Dinge nicht von Nöten und sie war keinesfalls sicher, ob ihr Einsatz legal wäre. Andererseits war es wahrscheinlich auch nicht legal, auf einem fremden Grundstück auf einem Baugerüst umherzuschleichen.

In jedem Fall war es erstaunlich, dass Sandra Schweitzer, die in den vergangenen Tagen stets mit dem Taxi von A nach B gefahren war, jetzt, wo Michael Sauer die Stadt verlassen hatte, plötzlich mit ihrem eigenen Auto wegfuhr.

Noch erstaunlicher fand Katja, dass Sandra Schweitzer offenbar ebenfalls die Stadt verlassen wollte. Sie fuhr immer weiter aus Berlin heraus. Gepäck hatte sie, soweit Katja das auf die Schnelle hatte erkennen können, nicht dabei gehabt. Sie warf einen raschen Seitenblick zu ihrem Vater. Der hatte seine Augen fest auf den Polo geheftet.

Aus dem Augenwinkel nahm Katja eine Veränderung im Cockpit ihres Mini Coopers wahr.

„Scheiße.“, murmelte sie.

„Was ist?“, fragte ihr Vater alarmiert.

„Wir fahren jetzt auf Reserve.“

„Ist nicht wahr! Du beginnst eine Observierung mit einem fast leeren Tank?“, regte sich Rainer auf. „Das hast du nicht so bei mir gelernt.“

Katja grinste, obwohl es sie ärgerte.

„Solche Fälle hatten wir während meiner Ausbildung nie.“, sagte sie.

Ihr Vater tätschelte ihr den Arm, wobei er den Blick nicht von dem Polo abwandte. „Hoffen wir das Beste.“

 

Während Katjas Blick zum hundertsten Mal zur Tankanzeige wanderte, hörte sie ihren Vater überrascht ausrufen: „Die fährt zum Elisabeth-Sanatorium!“

„Wohin?“, fragte Katja, der der Begriff nichts sagte.

„Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hat ein jüdischer Arzt auf dem Waldgelände bei Stahnsdorf eine Lungenklinik eröffnet. Nach der Machtübernahme durch die Nazis ist er mit seiner Familie in die USA geflohen. Zwar wurde das Gebäude bis in die Neunziger als Klinik, zuletzt glaube ich, als Hautklinik genutzt, aber seit vielen Jahren steht es leer. Und unter Denkmalschutz. Tatsächlich verfällt dieser riesige Bau leider nach und nach.“, erklärte ihr Vater.

„Was will sie denn dort?“, murmelte Katja.

„Keine Ahnung. Aber wir werden es sehen. Fahr da lang, ich kenne einen Platz, wo du den Mini versteckt parken kannst.“, dirigierte Rainer sie.

 

Katja und ihr Vater schlichen, Fridolin dicht an der Seite seines Herrchens, durch das hohe Gras. Der Mini Cooper stand sicher geparkt in der Nähe und Katja hoffte, dass sie es auf dem Rückweg wenigstens bis zur nächsten Tankstelle schaffen würden.

Das einstige „Elisabeth-Sanatorium“ war riesig. Es war von einem kleinen Park umgeben, der ebenso ungepflegt war, wie das Gebäude selbst.

„Wir sollten uns aufteilen.“, sagte Rainer.

Katja fröstelte. Dieser Ort war unheimlich. Aber sie zeigte sich tapfer und nickte.

„Schalte dein Handy auf Vibrationsalarm.“, riet Rainer.

Wieder nickte Katja.

 

Vorsichtig näherte sie sich dem Gebäude. Rasch warf sie noch einen Blick zu ihrem Vater, bevor der vollständig aus ihrem Blickfeld verschwand. Ein Kontrollblick auf ihr Handy zeigte ihr, dass sie wenigstens daran gedacht hatte, den Akku zu laden.

Jetzt gab es keine Ausrede mehr für weitere Verzögerungen. Sie stieg eine kleine Treppe hinauf und schritt durch die Eingangstür. Die hatte eine völlig verrostete Türklinke mit herabhängendem Griff und stand halb offen. Katja war froh, die Klinke nicht berühren zu müssen. Außerdem hätte sie befürchtet, sich durch ein Quietschen oder Knarren sofort zu verraten.

Sie stand in einer Art Eingangshalle, mit drei weiteren Türen. Eine Treppe führte ins Obergeschoss.

Katja entschied, sich zunächst im Erdgeschoss umzusehen. Schritt für Schritt lief sie auf die nächstgelegene Tür zu. Überall blätterte die Farbe von den Wänden und der Decke, und der Boden war mit Schutt bedeckt. Sie lief durch einen Gang mit lauter Holztüren, die braun und ockerfarben gestrichen waren. Einige standen offen. Sie warf einen raschen Blick hindurch.

Ein Raum war weiß gefliest und in seiner Mitte stand einsam ein Kühlschrank mit geöffneter Tür. Darin erspähte sie einige vergessene Behältnisse.

Im nächsten Raum musste sich früher eine Art Waschraum befunden haben. An einer Wand hingen noch zweieinhalb Waschbecken. Von den vier Fenstern war eines angekippt, so dass man fast den Eindruck hatte, jemand habe es eben erst zum Lüften geöffnet.

Katja hörte auf, in jeden einzelnen Raum zu gucken. So viel Zeit hatte sie nicht. In einer weiteren Eingangshalle blieb sie stehen. Lauschte. In der Ferne meinte sie, Schritte zu hören. Sie folgte dem Geräusch und trat durch eine Tür mit der grünen Überschrift „Station I“.

Wieder lief sie einen langen Flur entlang in die nächste kleine Halle. Von hier aus führte eine Tür weiter in das Innere des Gebäudes. An der Tür hatte jemand vor langer Zeit einen Zettel mit einigen Reißzwecken befestigt. Wirtschaftshof. Kein Durchgang für Patienten.

Katja spähte durch ein paar schmierige Scheiben in den Innenhof und meinte, einen blonden Pagenkopf um die Ecke huschen zu sehen. Sie fragte sich, ob sie schon halluzinierte. Dieser gruselige Ort ließ ihren Adrenalinspiegel ansteigen.

Sie beschloss, dem Pagenkopf, oder was immer sie da gesehen haben mochte, zu folgen. Vorsichtig stieß sie mit der Fußspitze eine morsche Holztür soweit auf, dass sie hindurchpasste.

Dabei musste sie ein Tier aufgescheucht haben. Im Gestrüpp raschelte es laut und dann hörte sie das Geräusch trappelnder Pfoten, die sich zügig entfernten. Katjas Herz raste. Das hier war nichts für schwache Nerven! Zu allem Überfluss hatte die Dämmerung eingesetzt und Katja sah nicht mehr genau, wo sie hintrat.

Im dem Moment, in dem sie entschied, ihren Vater, der ja auch irgendwo in dem Gebäude herumschlich, zu kontaktieren, hörte sie einen schrecklichen Schrei. Einen Schmerzensschrei! Und sie kannte die Stimme! Es war ihr Vater, der da schrie! Lautes Bellen folgte, das in ein Winseln überging.

Ohne zu Überlegen rannte Katja die nächstgelegene Treppe hinauf. Sie folgte dem Winseln und rief abwechselnd laut „Papa“ und „Fridolin“ und „Wo seid ihr?“. Das Jaulen wurde lauter. Von ihrem Vater kein Laut. Angst überkam Katja. Sie rannte, so schnell sie konnte. Mehrfach stolperte sie über lose Gegenstände auf dem Boden. Sie ruderte mit den Armen und musste abrupt bremsen.

Vor ihr war eine Galerie und das hölzerne Geländer war an einer Stelle durchbrochen. Ein Blick nach unten offenbarte ihr einen grauenvollen Anblick.

Da lag ihr Vater. Regungslos. Neben ihm sein treuer Begleiter Fridolin, der ihm das Gesicht leckte. Katjas Augen suchten den nächstgelegenen Weg nach unten. Sie wollte so schnell wie möglich zu ihrem Vater!

Langsamer als gewollt kletterte sie die Treppe hinunter. Einige Stufen waren kaputt und sie befürchtete, bei jedem Schritt einzubrechen.

Heil unten angekommen kniete sie sich in den Dreck. Sie sprach ihren Vater an, versuchte es mit einem leichten Klaps auf die Wange. Keine Reaktion. Nackte Panik ergriff von Katja Besitz. Sie zitterte und raufte sich die Haare. Alles, was sie einmal über Erste-Hilfe gelernt hatte, war wie weggeblasen, ihr Hirn war völlig leer. Starr vor Angst schaute sie auf ihren reglosen Vater.

Da stupste Fridolin sie sanft in die Seite. Die Berührung katapultierte Katja in die Realität zurück. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte die 112. Die beruhigende Frauenstimme am Apparat half ihr, die Situation zu bewältigen. Sie beschrieb der Frau so gut sie konnte, wo sie war und dass ihr Vater bewusstlos sei und einen Arzt brauche. Mit ruhiger Stimme erklärte die ihr, dass Hilfe auf dem Weg sei und forderte sie auf, die Atmung ihres Vaters zu kontrollieren. Dass sie darauf nicht selbst gekommen war! Sie hielt ihr Gesicht dicht vor Mund und Nase des Bewusstlosen. Eindeutig. Er atmete. Erleichtert gab sie dies an die Frau von der Rettungsstelle weiter. Die erklärte ihr dann, wie sie ihren Vater in die stabile Seitenlage brachte.

Anschließend fühlte sich Katja schon ein kleines bisschen besser. Zwar befand sie sich nach wie vor in einem Ausnahmezustand, ihr Herz raste und sie lief fahrig in dem Raum auf und ab, aber die Frau in der Rettungsstelle hörte nicht auf, beruhigend auf sie einzureden.

Dann erklärte die Frau, Katja müsse ihren Vater jetzt verlassen und ins Freie. Das Gelände sei so groß, dass sie den Rettungskräften den Weg weisen müsse. Erneut überkam Katja Panik. Es war dunkel geworden und sie hatte die Orientierung verloren. Sie wies Fridolin an, bei seinem Herrchen zu bleiben. Der saß neben ihrem Vater, rührte sich nicht von der Stelle und hatte vermutlich nie vorgehabt, ihn dort alleine zu lassen. Katja nahm all ihren Mut zusammen und lief los. Sie lief immer geradeaus, in der Hoffnung, so am schnellsten einen Weg nach draußen zu finden. Nach einigen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, stand sie im Freien.

„Ich bin draußen.“, rief sie aufgeregt in ihr Handy.

„Schreien Sie! Rufen Sie laut Hilfe, damit die Kollegen Sie hören.“, wies die Frau in der Rettungsstelle sie an.

Und Katja brüllte aus Leibeskräften.

Ihr Unterbewusstsein registrierte eine vorbeihuschende Gestalt. Oder war es eine Sinnestäuschung? Die Taschenlampen der Rettungskräfte waren jedenfalls real. Sie näherten sich rasch und Katja hätte das Glücksgefühl, das sie bei deren Anblick empfand, nicht in Worte fassen können. Sie winkte und schrie, bis die Sanitäter samt Notarzt direkt vor ihr standen. Dann stürmte sie zurück in das baufällige Gebäude und rief laut: „Fridolin!“ Ein lautes, kräftiges und anhaltendes Bellen kam prompt zur Antwort. Die Rettungskräfte sahen sich erstaunt an. Dann rannten sie gemeinsam mit Katja in Richtung des Bellens.

 

Der Sanitäter warf einen letzten zweifelnden Blick auf Katja und die Umgebung.

„Kommen Sie wirklich alleine klar hier draußen?“, fragte er noch einmal.

Katja nickte stumm.

Sie musste hier und jetzt alleine klar kommen. Der Zustand ihres Vaters war kritisch, deshalb hatte sie sich stärker und tapferer gegeben, als sie sich tatsächlich im Augenblick fühlte. Sie hatte behauptet, ihr Auto parke gleich um die Ecke. Das Rettungsteam sollte jetzt keine Zeit damit vergeuden, mit ihr nach ihrem Auto zu suchen. Sie sollten sich um ihren Vater kümmern, ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus bringen. Schließlich war sie eine erwachsene, gesunde Frau mit einem riesigen Schäferhund an ihrer Seite. Sie war sicher, Fridolin würde sie mit seinem Leben beschützen, sollte es notwendig sein.

Mit bedauerndem Blick schloss der Sanitäter die Türen des Rettungswagens und machte sich auf den Weg zur Beifahrertür. Im Inneren des Wagens kümmerten sich jetzt der Notarzt und ein Sanitäter um Katjas Vater.

„Sie könnten wirklich gerne mitfahren, aber der Hund müsste hierbleiben. Ich darf da keine Ausnahme machen.“, erklärte er nochmal.

Streng rational verstand Katja, warum der Schäferhund nicht mit in den Krankenwagen durfte. Aber der Gedanke, jetzt nicht mit ihrem Vater mitfahren zu können, brach ihr das Herz. Aber sie konnte Fridolin auf keinen Fall hier zurücklassen. Das würde ihr Vater ihr nie verzeihen.

„Wo bringen Sie ihn hin?“, fragte sie matt.

„Benjamin Franklin.“, antwortete der Sanitäter, bevor er in das Fahrzeug sprang, und meinte damit den Campus Benjamin Franklin der Charité Universitätsmedizin Berlin.

 

Katja sah dem davonfahrenden Krankenwagen und dem dicht darauf folgenden Notarztwagen hinterher. Sie konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Tränen liefen ihr unkontrolliert über das Gesicht. Ihr ganzer Körper wurde von heftigem Schluchzen durchgeschüttelt. Und das Halsband Fridolins, den sie festhalten musste, weil er sein Herrchen nicht hatte wegfahren lassen wollen, schnitt tief in ihre Handfläche. Fridolins unaufhörliches Bellen war weithin zu hören.

„Ruhig, mein Dicker. Wir müssen jetzt tapfer sein.“, beruhigte Katja den alten Schäferhund.

Dann musste sie sich einem Problem stellen, das sie bis eben verdrängt hatte. Sie wusste nicht, wo ihr Auto stand.

Sie spürte, wie die Tränen der Verzweiflung erneut herannahten. Aber ihre Kämpfernatur gewann die Oberhand. Katja stampfte wild mit dem Fuß auf, ließ das Halsband los und rief: „Such! Fridolin, wo ist das Auto?“ Der Schäferhund schaute sie aufmerksam an, rührte sich aber keinen Millimeter von der Stelle. Katja wiederholte das Kommando. Erneut blieb der Hund regungslos stehen.

‚Entweder versteht er nicht, was ich will, oder er nimmt von mir keine Kommandos entgegen.‘, dachte Katja resigniert.

Ängstlich sah sie zu dem baufälligen Gebäude in der Dunkelheit. Wenn sie genau den Weg zurück nehmen würde, den sie gekommen war ... Katja traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie wollte, nein, sie konnte nicht in der Dunkelheit zurück durch die gruselige Ruine, um das blöde Auto zu finden. Es musste einen anderen Weg geben.

Sie beschloss, dem Zaun um das Gebäude herum zu folgen. Im schlimmsten Fall würde sie die längere Variante auswählen und eine Weile laufen, aber sie hoffte, dass sie so die Stelle, von der aus sie den Weg zurück zum Auto finden würde, wiedererkannte.

Also machte sie sich auf den Weg. Mutig lief sie Schritt für Schritt und versuchte, die Geräusche, die aus der Dunkelheit kamen und die sie nicht zuordnen konnte, zu ignorieren. Um sich zu beruhigen, sprach sie laut mit Fridolin, der langsam neben ihr hertrottete.

 

Nach einer halben Stunde, die Katja wie eine halbe Nacht vorkam, hatte sie die Stelle erreicht, wo sie vor gar nicht so langer Zeit gemeinsam mit Rainer Koch das Auto geparkt hatte. Schnell verdrängte Katja den Gedanken an ihren lieben, ruhigen Vater. Sie musste sich jetzt darauf konzentrieren, mit Fridolin sicher nach Hause zu kommen.

Am liebsten wäre sie sofort ins Krankenhaus gefahren, aber ihr fiel siedendheiß ein, dass Jonas heute bei Nele übernachtete und sie die Aufgabe hatte, sich um Charly zu kümmern. Der arme kleine Terriermischling drehte in der Wohnung vermutlich gerade durch, weil er Hunger hatte und dringend raus musste.

Katja klatschte sich selbst kurz auf die Wangen. ‚Zuhause darfst du weinen. Zuhause darfst du dich gehen lassen. Jetzt musst du Stärke beweisen.‘, trichterte sie sich ein.

Sie vergewisserte sich, dass Fridolin sicher mit dem speziellen Hundegurt auf der Rückbank angeschnallt war, und startete den Motor. Mit einem Schnurren sprang er an, sie schaltete das Licht ein und als sie das Klacken der Zentralverriegelung hörte, fühlte sie sich gleich viel sicherer. Mit neuem Mut lenkte sie den Wagen zurück Richtung Berlin.

 

Nach zehn Minuten auf der Landstraße machte ihr Wagen komische Geräusche. Ein ungleichmäßiges Ruckeln schüttelte den Mini Cooper mitsamt seinen Insassen durch, dann blieb er stehen. Fridolin bellte ungehalten. Katja stöhnte. Die Tankanzeige. Die verdammte Tankanzeige!

Sie sah sich um. Weit und breit kein Mensch, geschweige denn eine Tankstelle, in Sicht.

Ihr stand offenbar noch ein weiterer Fußmarsch an diesem Abend bevor. Oder konnte man wegen so etwas den ADAC rufen? Schließlich war sie schon ewig Mitglied und hatte die Hilfe der Gelben Engel noch nie in Anspruch genommen ...

Während sie überlegte, näherte sich von hinten ein Wagen. Er verlangsamte, um schließlich neben ihr anzuhalten. Katjas Herz hüpfte vor Freude. Offenbar beabsichtigte der Fahrer des Wagens, ihr zu helfen!

Das Gefühl der Freude verschwand so schnell, wie es gekommen war, als sie erkannte was für ein Auto neben ihr angehalten hatte, und wer die Fahrerin des Wagens war. Katjas Herz rutschte buchstäblich in die Hose, als niemand anderes als Sandra Schweitzer neben ihr anhielt. Auf ihrem Beifahrersitz saß ein Mann Anfang dreißig, der die Scheibe herunterließ.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er.

„Sprit ist alle.“, brachte Katja krächzend hervor.

„Ich habe immer einen Reservekanister im Auto.“, mischte sich Sandra Schweitzer ein. Sie parkte vor Katjas Mini, stieg aus und öffnete ihren Kofferraum. Katja saß wie zur Salzsäule erstarrt hinter ihrem Lenkrad, während sie Sandra Schweitzer mit dem Kanister in der Hand auf sich zukommen sah.

Irritiert fragte die: „Brauchen Sie nun Benzin, oder nicht?“

Katja schüttelte sich kurz. „Ja, ja, brauche ich.“, beeilte sie sich, zu sagen, und verlies das Auto.

Unfähig, eine vernünftige Handlung auszuführen, sah sie dabei zu, wie ihre Zielperson ihr Auto betankte. Konnte das alles wirklich wahr sein? Träumte sie? Wenn ja, würde sie jetzt schrecklich gerne aus diesem Alptraum erwachen!

„Brauchen Sie sonst noch etwas?“, erkundigte sich Sandra Schweitzer und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Katja schüttelte stumm den Kopf.

„Danke. Vielen, vielen Dank.“, brachte sie matt hervor.

Fünf Minuten später saß sie wieder in ihrem Auto und sah den Polo von Sandra Schweitzer in der Ferne kleiner werden. Nach wie vor ungläubig schüttelte Katja den Kopf.

Dann betätigte sie die Zündung. Erneut ruckelte und hustete der Mini ordentlich. Vorsichtig trat sie auf das Gaspedal. Der Wagen fuhr!

 

***

 

Ein strenger Geruch kam ihr entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete. Fridolin schnüffelte und setzte sich dann im Hausflur hin. Offenbar hatte er nicht vor, die stinkende Wohnung zu betreten. Katja konnte es ihm nicht verdenken, aber hier draußen konnte er nicht sitzen bleiben. Es kostete sie ihre letzte Kraft, den großen Hund in die Wohnung zu zerren.

Drinnen machte sie sich auf die Suche nach Charly. Der arme Kerl saß beschämt unter dem Küchentisch und wollte nicht herauskommen. Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten, und in den Flur gemacht. Dieser Zeitpunkt musste schon eine Weile zurückliegen, denn der Geruch, der sich mittlerweile in der gesamten Wohnung ausgebreitet hatte, war ekelerregend. Wortlos nahm Katja die Putzutensilien und kümmerte sich um die Bescherung.

Anschließend redete sie minutenlang beruhigend und gurrend auf Charly ein, damit dieser unter dem Tisch hervorkam. Das arme Tier konnte nun wirklich nichts für die Misere.

Nachdem sie mit beiden Hunden eine kleine Runde um den Block gedreht und je zwei Näpfe mit Futter und Wasser gefüllt hatte, brach sie in der Küche zusammen. Setzte sich einfach an Ort und Stelle auf den Boden und schluchzte hemmungslos. Fridolin hatte sein Futter nicht angerührt. Er sah aus, als würde er auch am liebsten sofort losheulen. Sein Verhalten erinnerte Katja schmerzlich daran, dass sie keine Ahnung hatte, wie es um ihren Vater stand.

Sie fischte ihr Smartphone aus der Tasche und googelte die Telefonnummer des Krankenhauses. Nach mehrfachem Weiterverbinden erhielt sie die Information, dass keine telefonischen Auskünfte zu Patienten gegeben würden, sie aber gerne, bevorzugt zu den Besuchszeiten, persönlich im Krankenhaus vorstellig werden könne. Katja hätte am liebsten ihr Telefon in die Ecke gefeuert.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es 22:26 Uhr war. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, wunderte sich, dass sie überhaupt noch Kraftreserven hatte, und bereitete sich einen doppelten Espresso zu. Sie trank ihn in einem Zug.

 

***

 

Samstagmorgen fand Jonas seine Mutter in Embryonalhaltung auf dem Sofa, zu ihren Füßen Fridolin und Charly, einträchtig schnarchend. Die beiden Hunde wurden bei seinem Eintreffen sofort wach und begrüßten ihn lautstark. Katja schaute sich schlaftrunken um.

„Was ist denn hier passiert? Und was macht Fridolin hier?“, fragte Jonas erstaunt.

Schlagartig war Katja hellwach. Vor ihr auf dem Tisch lag der Aktenordner, aus dem sie die beglaubigte Kopie von Rainers Patientenverfügung und der dazugehörigen Vorsorgevollmacht herausgesucht hatte. Sie hatte gestern Abend die Absicht gehabt, die beiden Dokumente zu nehmen und sofort damit ins Krankenhaus zu fahren. Nur ganz kurz hatte sie sich auf das Sofa gesetzt, um einmal durchzuatmen.

Wütend schlug sie sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Ich muss eingeschlafen sein!“, fluchte sie.

Jonas hörte auf, die beiden Hunde zu kraulen, und setzte sich neben sie. Er wiederholte seine Frage: „Was ist denn passiert?“ Er sah die Dokumente auf dem Tisch und die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Katjas Gedanken rasten. Sie wollte Jonas nicht anlügen, aber unnötig beunruhigen oder ihn gar in Gefahr bringen, indem sie ihn in alles einweihte, wollte sie auch nicht. Sie entschied sich für einen Mittelweg.

„Opa hatte gestern einen Unfall. Er wurde bewusstlos ins Krankenhaus gebracht. Ich wollte gleich hinterher, aber wie du siehst, bin ich hier eingeschlafen.“

Mit einer Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit schaute Jonas seine Mutter an. Die hielt seinem Blick stand. Er kannte diesen Blick. Mehr würde er jetzt nicht aus ihr herausbekommen.

Katja rümpfte die Nase, hob einen Arm und schnupperte an sich. „Ich brauche eine Dusche. Kannst du in der Zwischenzeit bitte eine Runde mit den Hunden drehen? Dann fahren wir gemeinsam ins Krankenhaus, wenn du möchtest.“

Jonas betrachtete das als Friedensangebot. Vielleicht würde sie ihm unterwegs weitere Einzelheiten verraten. Er nickte und schnappte sich die Leine von Charly.

„Wo ist denn Fridolins Leine?“, fragte er, nachdem er keine gefunden hatte.

„Die hab ich in der Aufregung vergessen. Nimm halt etwas anderes.“, sagte Katja und war schon auf dem Weg ins Bad.

 

***

 

Im Krankenhaus angekommen, erfuhren sie, dass Rainer Koch auf der Intensivstation lag. Beklommen liefen sie durch mehrere Flure, um schließlich auf der richtigen Station anzukommen. Katja steuerte einen kleinen Empfangstresen an.

„Guten Tag, mein Name ist Katja Paulsen. Ein Mann namens Rainer Koch liegt hier auf der Station und ich möchte gerne zu ihm.“

Die Krankenschwester schaute sie aus müden, aber hochkonzentrierten Augen an. „Sind Sie eine Verwandte?“

„Ich bin seine Tochter. Außerdem habe ich seine Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht, die mich als Bevollmächtigte benennt.“, sagte sie und reichte die beglaubigten Kopien der Dokumente über den Tresen.

Ein erfreuter Gesichtsausdruck huschte über das Gesicht der Krankenschwester. „Die wenigsten Leute sind so gut vorbereitet.“, lobte sie und nahm die Dokumente. „Sie erlauben, dass ich mir das kurz genauer anschaue?“

„Sicher.“, sie nickte.

Während die Schwester las, ließ Katja ihren Blick über die Umgebung schweifen. Wie riesig und modern dieses Krankenhaus doch war. Beeindruckend. Dennoch fühlte sie sich hier, wie in jedem anderen Krankenhaus, in dem sie je gewesen war, unwohl.

Erinnerungen an die letzten Tage ihrer Mutter versuchten, sich in ihr Bewusstsein zu drängen. Katja wollte dies nicht zulassen. Nicht jetzt. Jetzt zählte nur ihr Vater.

Die Schwester hatte mittlerweile die Dokumente gelesen und forderte Katja auf, in einem kleinen Warteraum Platz zu nehmen. „Ein Arzt wird gleich kommen und sie informieren.“

 

Die Wartezeit schien ewig zu dauern. Katja wippte nervös mit dem Fuß auf und ab. Jonas fummelte an dem Verschluss seiner Armbanduhr herum.

 

„Frau Paulsen?“, die Tür hatte sich geöffnet und ein junger Arzt schaute herein.

Katja sprang auf. „Das bin ich.“

Der Arzt sah ebenfalls müde aus. Er zog sich einen Stuhl heran und warf auch nochmal einen Blick auf die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht. Dann schaute er fragend auf Jonas.

„Das ist mein Sohn, Herr Kochs Enkel.“, sagte Katja und hoffte, das Jonas bleiben durfte.

Der Arzt schien kurz zu überlegen, dann erklärte er: „Ihr Vater wurde gestern von den Rettungskräften bewusstlos hier eingeliefert. Wir haben sofort eine ganze Reihe von Untersuchungen vorgenommen. Herr Koch hat einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.“ Hier machte der Arzt eine Pause. Als Katja nichts erwiderte, fuhr er fort: „Dieser Schlag kann von einem Sturz oder einem, na ja, einem Schlag mit einem Gegenstand herrühren.“ Wieder machte er eine Pause. Katja wurde langsam ungeduldig. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und biss sich dabei heftig in die Wange. Sie spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund und verzog kurz das Gesicht. Der Arzt deutete dies falsch: „Wenn sie etwas darüber wissen, sollten sie es der Polizei sagen. Der diensthabende Notarzt hat die Sache gestern, soweit ich weiß, gemeldet.“

Katja hielt es nicht mehr aus. „Wie geht es meinem Vater denn jetzt?“

Der Arzt zuckte kurz. Er merkte, dass er vom eigentlichen Thema, dem Gesundheitszustand seines Patienten, abgekommen war. Darum beeilte er sich, zu sagen: „Herr Koch hatte eine Schwellung im Kopf, die uns zunächst große Sorgen bereitete. Wir haben ihn daher im künstlichen Koma behalten und medikamentös behandelt. Vor einer halben Stunde habe ich ihn zuletzt untersucht, und es sieht jetzt schon bedeutend besser aus. Wir planen, ihn bei weiterhin positivem Verlauf, morgen aus dem Koma zu holen.“

Katja schloss die Augen und seufzte tief vor Erleichterung. „Hat er noch weitere Verletzungen? Wird er wieder vollkommen gesund?“

Jetzt lächelte der Arzt. Scheinbar hörte er solche Fragen oft. „Ein paar Prellungen und Schürfwunden. Ansonsten bin ich recht zuversichtlich.“

„Kann ich ihn kurz sehen?“, bat Katja.

Der Arzt nickte. „Aber erhoffen Sie sich nicht zuviel.“

 

Durch eine Scheibe guckte Katja auf ihren Vater. Er lag in einem Bett und war an diverse Maschinen angeschlossen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in den gleichmäßigen Intervallen, die die Beatmungsmaschine vorgab.

Just als Katja das Zimmer betreten wollte, hörte sie in einiger Entfernung jemanden sagen: „Die Frau dort ist seine Tochter.“ Sie drehte sich zu der Stimme um, und sah den jungen Arzt im Gespräch mit zwei Männern. Er zeigte in ihre Richtung, und die beiden kamen auf sie zu.

‚Wenn das mal keine Polizisten sind.‘, dachte Katja und warf einen kurzen Seitenblick zu Jonas. Aber es war keine Zeit mehr, ihn unter einem Vorwand wegzuschicken.

 

„Katja Paulsen?“, fragte einer der Männer.

Sie nickte.

Die Männer in Zivil holten ihre Polizeiausweise hervor, die sie als Kriminaloberkommissar (KOK) Wilhelm und Kriminalhauptmeister (KHM) Berger auswiesen. KOK Wilhelm deutete mit einem Kopfnicken auf Rainer Koch. „Ihr Vater?“, fragte er.

Wieder nickte Katja.

„Wollen wir uns nicht kurz setzen?“, fragte KOK Wilhelm und deutete auf ein paar Besucherstühle, die in einer Nische angebracht waren.

„Ich möchte jetzt gerne zu meinem Vater. Sie sehen ja, es geht ihm nicht gut. Kann ich Sie nicht später anrufen oder sowas?“, fragte Katja. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass Jonas das Gespräch mit den Polizisten mithörte.

KHM Berger mischte sich ein: „Ihr Vater wurde möglicherweise Opfer eines Gewaltverbrechens. Da sollte es auch in Ihrem Interesse sein, so schnell wie möglich mit uns zu sprechen.“

„Es dauert wirklich nicht lang.“, beschwichtigte KOK Wilhelm.

Katja überlegte kurz. Dann nickte sie, drehte sich zu Jonas, der mit weit aufgerissenen Augen dastand und die Szene beobachtete: „Geh schon mal zu Opa rein. Ich komme gleich nach.“ Jonas war anzusehen, dass er der Aufforderung seiner Mutter nur widerstrebend nachkam. Aber er war klug genug, um zu verstehen, dass es sich nicht um eine Bitte, sondern um eine Anweisung gehandelt hatte, die er besser befolgte.

 

Als Katja sich vergewissert hatte, dass Jonas die Zimmertür fest hinter sich geschlossen hatte, lief sie mit den beiden Polizisten zu den Besucherstühlen. Sie sah deren misstrauische Blicke und beeilte sich, zu sagen: „Bitte entschuldigen Sie. Aber ich möchte meinem Sohn nicht unnötig Angst einjagen. Dass sein Opa bewusstlos im Krankenhaus liegt, ist schlimm genug.“

KOK Wilhelm nickte langsam, KHM Berger zeigte keine Reaktion. Der Ausspruch „guter Bulle, böser Bulle“ fiel Katja ein. Nur mühsam konnte sie sich ein Grinsen verkneifen.

„Sie wissen, dass das Krankenhaus uns wegen einer schweren Kopfverletzung unklaren Ursprungs informiert hat?“, fragte KOK Wilhelm.

Katja nickte.

Der Polizist holte sein Notizblock hervor. Er blätterte kurz, dann sagte er: „Sie haben den Notruf gewählt?“

Wieder nickte Katja.

KHM Berger, der sich bisher zurückgehalten hatte, verlor die Geduld: „Können Sie uns irgendetwas über die Ursache der Kopfverletzung sagen? Was hatten Sie beide in einem leerstehenden, halbverfallenen Gebäude zu suchen?“

Katja antwortete wahrheitsgemäß: „Ich weiß nicht, wie mein Vater verletzt wurde. Ich habe ihn bewusstlos gefunden und sofort den Rettungswagen gerufen.“ Die andere Frage ließ sie bewusst unter den Tisch fallen.

Natürlich war den Polizisten aufgefallen, dass sie eine Frage nicht beantwortet hatte. KOK Wilhelm insistierte: „Ist Ihnen bekannt, dass sich das Gebäude des ehemaligen Elisabeth-Sanatoriums in Privatbesitz befindet? Immerhin sind überall „Betreten-Verboten“-Schilder angebracht?“

Katja antwortete mit einer Gegenfrage: „Hat jemand Strafantrag gestellt?“ Sie wusste, dass sie allenfalls wegen Hausfriedensbruchs belangt werden konnten, und dass diese Tat nur auf Antrag verfolgt wurde.

KOK Wilhelm seufzte. „Nein.“, sagte er und klappte sein Notizbuch mit einer heftigen Bewegung zu. „Das wäre dann zunächst alles, Frau Paulsen. Wir melden uns, falls wir weitere Fragen haben.“

Die Polizisten standen auf und auch Katja erhob sich.

Ein klein wenig plagte sie ihr schlechtes Gewissen. Schließlich waren die Polizisten ja nur in Erscheinung getreten, weil sie fürchteten, dass ihr Vater Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Was, wenn sie es genauer betrachtete, tatsächlich nicht auszuschließen war. Als Friedensangebot streckte sie den beiden ihre Hand und ihre Visitenkarte entgegen. KOK Wilhelm nahm sie zögerlich und las dann interessiert Detektivin unter ihrem Namen. Nachdenklich schaute er sie an und schüttelte dann ihre Hand zum Abschied.

„Ich werde Ihnen gerne behilflich sein, wenn ich kann.“, sagte sie, und hoffte, dass die beiden ihr Friedensangebot richtig deuteten.

 

***

 

Auf der Heimfahrt schwiegen Mutter und Sohn sich an.

Nach dem Gespräch mit den Polizisten war Katja in das Krankenzimmer gegangen und hatte dort einen am Boden zerstörten Jonas vorgefunden. Er hielt die Hand des Großvaters und weinte lautlos. Er liebte seinen Opa und spätestens seit Katjas Trennung von Jonas Vater war Rainer Koch die wichtigste männliche Bezugsperson in seinem Leben. Es quälte ihn, den Opa so hilflos und verletzt daliegen zu sehen. Katja ging es nicht anders. Sie machte sich tausend Vorwürfe und hätte sich ohrfeigen können, weil sie sich in dem Elisabeth-Sanatorium getrennt hatten. Sie war davon ausgegangen, dass Fridolin sein Herrchen vor allem und jedem beschützen konnte. An einen Sturz hatte sie dabei nicht gedacht.

Aber was, wenn es kein Unfall gewesen war? Katja lief es eiskalt über den Rücken und sie spürte die Angst, die von ihr Besitz ergriff.

„Wie konnte das passieren?“

Jonas Frage riss Katja aus ihren Gedanken. Was sollte sie antworten? Es war eine Sache, sich gegenüber der Polizei kurzzufassen, um weder sich noch ihren Vater zu belasten. Aber jetzt hatte Jonas, ihr Sohn, den sie normalerweise nicht anlog, ihr eine heikle Frage gestellt. Sie wollte ihn nicht in Gefahr bringen. Aber würde eine Lüge ihn schützen? Katja versuchte es mit einem Mittelweg.

„Opa und ich haben ermittelt. Dabei wurde er verletzt. Ich war nicht bei ihm, als es passiert ist, deshalb weiß ich nicht genau, was geschehen ist. Vermutlich ist er gestürzt.“, sagte sie, den Blick fest auf die Straße geheftet. Sie spürte, dass ihr Sohn sie prüfend ansah.

„Warum hat der Polizist dann von einem möglichen Gewaltverbrechen gesprochen?“, fragte er.

Normalerweise war Katja glücklich, dass ihr Sohn aufmerksam war. Jetzt wünschte sie sich, er hätte ausnahmsweise mal nicht so genau zugehört.

„Nun, das Krankenhaus hat eine Kopfverletzung unklaren Ursprungs an die Polizei gemeldet. Und da werden dann halt automatisch gewisse Mechanismen in Gang gesetzt.“

„Hm.“, machte Jonas.

Eine Weile sagte wieder keiner ein Wort.

„Und was habt ihr ermittelt, wobei sich Opa so verletzen konnte?“

Katja hatte die Wahl. Abblocken und ihren Sohn vor den Kopf stoßen oder zugeben, dass sie mit ihrem Vater in einem halb verfallenen Gebäude unterwegs gewesen war, um jemanden zu beschatten. Letzteres würde garantiert weitere Fragen nach sich ziehen.

Schweren Herzens antwortete Katja: „Du weißt doch, dass unsere Aufträge geheim sind. Ich kann weder mit dir, noch mit sonst einer Person darüber sprechen. Das wäre ein Vertrauensbruch gegenüber unseren Klienten.“

„Vertrauen?! Du hast echt Nerven!“, Jonas hieb einmal kurz und kräftig auf das Armaturenbrett vor ihm. „Opa ist schwer verletzt und du faselst vom Vertrauen deiner Klienten.“ Er redete sich in Rage. Katja schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Sie hatte keine Kraft für einen Streit. Und insgeheim gab sie Jonas ja Recht. Sein Vertrauen sollte für sie an erster Stelle stehen.

„Ich möchte dich nur schützen, Jonas.“, sagte sie deshalb leise.

Aber der reagierte nicht. Entweder hatte er ihren letzten Satz gar nicht gehört, oder er war so enttäuscht, dass er keine Lust hatte, zu antworten.

 

Zuhause angekommen, schnappte er sich die Hundeleinen und zog mit Charly und Fridolin los. Den beiden Hunden gefiel die Aussicht auf einen Spaziergang und sie bellten enthusiastisch.

Die Tür schlug zu und Katja war allein. Sie hörte, wie sich das Bellen entfernte und immer leiser wurde. Schließlich war es still um sie herum.

 

***

 

In der Nacht auf Sonntag fasste Katja Paulsen den Entschluss, Michael Sauer und seinen Auftrag zum Teufel zu jagen.

Stundenlang hatte sie sich im Bett hin und her gewälzt. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Was hatte ihr dieser Auftrag, den sie nie hatte annehmen wollen, eingebracht? Ihr Vater lag schwerverletzt im künstlichen Koma im Krankenhaus und sie hatte sich mit ihrem Sohn gestritten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich in ihrem E-Mail-Postfach mittlerweile die Anfragen ihrer Klienten häuften, die sich „höflich nach dem Bearbeitungsstand“ ihres Falles erkundigten und anfingen, Fristen zu erwähnen.

Katja würde einen Schlussstrich ziehen. Sie würde die Handynummer anrufen und mitteilen, ihre Ermittlungen hätten keine Anhaltspunkte für Illoyalität von Sandra Schweitzer ergeben. Fertig. Auftrag ausgeführt.

 

***

 

Sonntagmorgen stand Katja bereits beim ersten Morgengrauen in der Küche und trank einen Tee. Sie konnte es kaum erwarten, wieder ins Krankenhaus zu fahren und ihren hoffentlich wachen Vater in die Arme zu schließen. Aber sie wollte auf keinen Fall ohne Jonas aufbrechen.

Der hatte auch schlecht geschlafen und tauchte früh in der Küche auf. Wortlos schüttete er sich eine Portion Cornflakes in eine Schale, kippte Milch darauf und begann, zu kauen.

„Fahren wir gleich zu Opa?“, fragte er, nachdem er aufgegessen hatte.

Katja nickte. „Ich hoffe, er ist schon wach.“

 

***

 

„Sie sind aber früh!“, rief die Krankenschwester, als Katja und Jonas im Krankenhaus eintrafen. „Gehen Sie nochmal in die Cafeteria, oder besser, fahren Sie noch einmal nach Hause. Sie können frühestens heute Nachmittag zu ihm rein.“, sagte sie. Enttäuscht schauten Katja und Jonas sich an.

 

Nach endlosen Stunden des Wartens, unzähligen Besuchen in der Cafeteria und einigen Kilometern zurückgelegter Wegstrecke auf den Fluren des Krankenhauses, durften sie endlich zu Rainer Koch. „Höchstens zwei Minuten! Und er wird heute noch nicht richtig ansprechbar sein.“, hatte der diensthabende Arzt sie ermahnt. Katja und ihr Sohn hatten eifrig genickt und dann das Zimmer von Rainer Koch betreten.

Der war in keinem guten Zustand. Er litt unter grauenvollen Kopfschmerzen, gegen die er sogleich starke Schmerzmittel bekam, die ihn unversehens wieder wegdämmern ließen. Nur kurz hatte er Katja und Jonas Hände gedrückt, sie schwach angelächelt, bevor er wieder in das Reich der Träume entschwand.

 

***

 

Ihren Vorschlag, Pizza zu bestellen, hatte Jonas abgelehnt. Zuhause angekommen, hatte er sich rasch mit den Worten: „Ich treffe mich mit Nele, könnte spät werden.“, verabschiedet. Normalerweise hätte Katja unter Hinweis darauf, dass morgen Montag und somit Schule sei, lautstark protestiert. Heute nickte sie nur matt. „Pass auf dich auf!“, rief sie ihm nach. Dann hörte sie, wie die Tür zuschlug.

 

Mit klopfendem Herzen wählte sie die Handynummer, die Michael Sauers Fahrer ihr gegeben hatte. Sie hörte ein Freizeichen, dann folgte das Besetztzeichen. Hatte jemand den Anruf abgewiesen?

 

***

 

Zwei Stunden später saß sie wieder in einer Luxuslimousine mit einem ihr unbekannten Ziel. Der Gorilla mit den weißen Zähnen hatte plötzlich vor ihrer Tür gestanden und sie mit den Worten „Er erwartet Sie“ abgeholt. Wieder hatte sie ihr Handy nicht mitnehmen dürfen.

In Katja kämpften verschieden Gefühle um die Vorherrschaft. Sie hatte Angst vor dem erneuten Treffen mit Michael Sauer. Gleichzeitig war sie in Anbetracht der jüngsten Erlebnisse frustriert und fest entschlossen, diesen „Auftrag“ zu beenden.

 

Dieses Mal empfing Michael Sauer sie in einem italienischen Restaurant. Katja betrat das Lokal und sah sich suchend um. Sie war noch nie hier gewesen und im Gegensatz zu ihrem ersten Treffen war dieses Lokal nicht menschenleer.

Auf den ersten Blick wirkte das Restaurant schlicht. Schwarzer Holzfußboden, schwarze Holzstühle mit dazu passenden Tischen, auf denen rot-weiß-karierte Tischdecken lagen. Beim näheren Hinsehen entdeckte man aber, dass es sich um ein hochpreisigeres Restaurant handeln musste. Hinter einem großen Tresen stand eine Frau, die frische Nudeln mithilfe einer glänzenden Nudelmaschine aus Edelstahl herstellte. In einer Vitrine war eine Auswahl erlesener Antipasti zu bewundern und eine ganze Wand voller Weinkühlschränke, die die unterschiedlichsten Temperaturen anzeigten, rundeten das Bild ab.

Michael Sauer schien soeben sein Abendessen beendet zu haben. Sein Tisch war abgeräumt, aber die Serviette lag benutzt zu seiner rechten Seite und vor ihm stand eine leere Espressotasse. Er erhob sich, als er sie sah und begrüßte sie, indem er einen Handkuss andeutete, der Katja mit Unbehagen erfüllte.

„Darf ich Ihnen etwas bestellen?“, fragte er, nach wie vor stehend.

Katja schüttelte den Kopf. „Nein, Danke.“, sagte sie artig. Sie aß gerne italienisch und unter anderen Umständen hätte sie es reizvoll gefunden, die Qualität der Gerichte in diesem Restaurant zu testen. Aber in Gegenwart von Michael Sauer würde sie ganz sicher keinen Bissen herunterbekommen und einen Cappuccino hatte sie seit ihrem letzten Treffen nicht mehr angerührt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739494920
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
weibliche Heldin Kuschelkrimi Berlinkrimi Krimi Hauptstadtkrimi Krimi mit Hund Thriller Spannung

Autor

  • Lena Viajera (Autor:in)

Was gibt es Schöneres, als ein Buch zu lesen? Eins zu schreiben! Mit ihren Geschichten möchte Lena Viajera unterhalten, zum Nachdenken anregen und ihren Leserinnen und Lesern ein paar vergnügte Stunden bescheren. Was sie zum Schreiben gebracht hat? In Büchern ist alles möglich. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und jede Idee kann Wirklichkeit werden.
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Titel: Bis du vernichtet bist