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Liebe mit gemischten Gefühlen

von Mira Stern (Autor:in)
182 Seiten

Zusammenfassung

Ein Neuanfang, der alle Hindernisse überwindet, auch die unsichtbaren aus der Vergangenheit. Es braucht nur Mut zum Träumen.


Liliane will mit einem Wohnungswechsel neuen Schwung in ihr Leben bringen. Anfangs sieht alles vielversprechend aus; sie ist nicht nur von der bezaubernden Dachwohnung begeistert, auch der geheimnisvolle Vermieter übt eine ungewöhnliche Anziehung auf sie aus. Liliane sieht sich schon am Ziel ihrer Wünsche, doch der Weg zum Herzen dieses Mannes scheint verstellt zu sein. Wie von Geisterhand gelenkt, entzieht er sich, sobald Liliane seine Nähe sucht. Das Hindernis, das ihn von ihr fernhält, schleicht sich sogar in ihre Träume ein und stellt die Liebe der beiden auf eine harte Probe.


Hat die Liebe eine Chance, solange ihr ein mysteriöser Schatten im Weg steht?
Mira Stern - Eine andere Sicht der Dinge. Prickelnd, berührend, humorvoll und magisch. Genau wie bei ihrem vorigen Buch "Die eigenwillige Magie der Liebe" gilt: Ein außergewöhnlicher Liebesroman - geheimnisvoll, unvorhersehbar & wortwörtlich traumhaft.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mira Stern

Liebe mit gemischten Gefühlen

 

Vorspann

 

Es ist Montag. Für manche Geschäfte bedeutet das: Ruhetag. Doch nicht für den kleinen Frisörsalon, der so auffällig farbenfroh angestrichen ist.

Liliane betritt den Pavillon entschlossen, und doch mit gemischten Gefühlen. Sie hat sich entschieden, über eine Schwelle zu treten, die ihr bisher unüberwindlich zu sein schien. Sie wird sich ihren Zopf abschneiden lassen. Den Zopf.

Ursprünglich wollte sie nur wegen der Katze kommen, die sie Ende letzter Woche auf dem Aushang im Schaufenster entdeckt hatte.

Unter dem drolligen Katzenfoto stand: »An liebe Hände abzugeben!« Darunter eine Telefonnummer. Liliane rief spontan an und telefonierte lange mit der Besitzerin der Mieze, die mit eigenartig dumpfer Stimme in den Hörer nuschelte. Liliane vermutete, die ältere Dame wäre krank, und müsse sich deshalb von ihrem Haustier trennen. Sie versicherte ihr: »Ich werde mehr als nur liebe Hände für Ihre Katze haben«, und hoffte, sie damit ein wenig zu trösten.

Die Katzenbesitzerin wollte sich unbedingt in diesem Frisörsalon mit ihr treffen. Liliane fand das höchst ungewöhnlich und fragte mehrfach nach: »Soll ich nicht lieber direkt zu Ihnen kommen?«

Beim ersten Mal überging die Dame die Frage, doch beim zweiten Versuch hieß es: »Nein. Ich will Sie zuerst mal beim Friseur treffen. Nur wenn Sie mir gefallen, nehme ich Sie mit zu meiner Katze.«

Eine harmlose Marotte einer alten Frau, dachte Liliane. Sie war sich absolut sicher, dass die Mieze ein behagliches Zuhause bei ihr finden würde.

Im Stillen schwor sie sich:

… Jetzt. Endlich. Denn ich bin an der Reihe. Es ist an der Zeit, loszulassen. Nun ist es an mir, mich dem Neuen zuzuwenden! Ich habe etwas aufzuholen. Die Lektion dazu war ja wohl mehr als anschaulich! …

Sie schiebt die bedrückenden Erinnerungen schnell wieder beiseite. Die Erfahrung ist noch zu frisch. Es war ja in den vergangenen Wochen keineswegs um Katzen gegangen.

Vielleicht war es bloß ein Zufall, aber die alte Dame brachte mit ihrer Marotte die Kugel ins Rollen. Liliane überkam der unbändige Drang, den fremden Anstoß zu Ende zu spielen.

 

»Hallo, guten Tag, trau‘n Sie sich ruhig rein!« Die Frisöse reißt sie aus ihren Gedanken. »Sie kommen wegen der Frau mit der Katze, stimmt’s? Sie hat mir schon von Ihnen erzählt. Sie hat mir sogar beschrieben, wie Sie wohl aussehen würden. Wie ich sehe, stimmt das alles haargenau. Dabei kennt die Dame doch nur Ihre Stimme!? … Aber … kennen wir uns nicht irgendwoher?«

»Ja, wir hatten schon einmal das Vergnügen.« Liliane schmunzelt und zeigt nach draußen. »Ich bin die, die Ihnen mal gesagt hat, dass sie für gewöhnlich einen Bogen um Frisörsalons macht.«

Die Frisöse fasst nach dem Namensschild an ihrem Kittel. Sabrina. Sie dreht daran herum, als könne ihre Erinnerung darin verborgen liegen, und solle gefälligst herausspringen wie ein Flaschengeist. Ihre Technik scheint zu funktionieren. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Inzwischen sind meine Einführungsangebote vorbei. Da gibt’s also nix mehr zu verpassen! Und zu befürchten haben Sie auch nichts!« Sie scherzt und ahnt noch nichts von ihrem Glück.

Liliane lächelt und überrascht Sabrina: »Und dabei wollte ich gerade über einen ganz besonderen Schatten springen. Sie hätten nicht zufällig Zeit, meinen Zopf abzuschneiden?« Sie zeigt auf das geflochtene Schmuckstück, das ihr bis zur Taille reicht.

»Den Ganzen?!«, ruft die Frisöse entsetzt und reißt die Augen dabei weit auf. Sie ahnt nicht, dass sie Liliane dadurch sofort sympathisch wird. Halb schwärmend, halb warnend gibt Sabrina zu bedenken: »Sie haben so schöne lange Haare! Wollen Sie die wirklich abschneiden!?«

»Ich nicht. Ich dachte, Sie könnten das erledigen. Sieht vielleicht besser aus, als wenn ich selber daran herumschnippele. Es wird schließlich eine Weile dauern, bis die wieder nachgewachsen sind. Ich muss dann solange so rumlaufen, wie Sie mich zurichten.« Ihr letzter Satz hat einen spaßigen Unterton.

Sabrinas Stimmung hellt sich auf und überstrahlt ihr Gesicht. Sie weiß ja, was sie drauf hat, und fühlt sich herausgefordert.

Liliane hingegen rutscht das Herz in die Kniekehlen. Sie japst nach Luft und schaut hilfesuchend auf die großen Blumentöpfe neben den Fenstern. Die Pflanzen recken genüsslich ihre Blätter in alle Richtungen. Denen geht‘s hier gut, denkt sie. Und die Vorstellung, dass Sabrina einfühlsam mit ihren Pflanzen umgeht, beruhigt sie. So jemandem kann man sich doch anvertrauen.

Liliane strafft ihre Schultern und hebt das Kinn. Ihre Entschlossenheit kommt zurück. Sie lächelt Sabrina zuversichtlich entgegen und ermutigt sie damit, weiterzufragen.

»Sie wollen die Haare abschneiden und dann gleich wieder wachsen lassen? Sind Sie krank?« Sabrina kichert etwas entschuldigend, dass ihr das so unverblümt rausgerutscht ist, aber Liliane lacht schallend los.

»Könnte man fast meinen, was? Aber nein, ich hab keine Chemo vor mir. Ich muss den Zopf loswerden. Da hängen bestimmte Erinnerungen dran. Die lassen sich nicht so einfach abschütteln.«

»Also gut, wie Sie meinen. Tut mir richtig drum leid. Wollen Sie den Zopf aufheben? So im Ganzen meine ich?«

Liliane schüttelt den Kopf und will schon verneinen, doch dann kommt ihr eine Idee.

»Doch! Ich werde ihn verbrennen. Geben Sie ihn mir im Ganzen mit!«

Jetzt ist sie erst recht bereit, diesen Schritt zu gehen.

Liliane betrachtet sich im Spiegel. Ein letztes Mal streicht sie über ihren langen Zopf und wickelt sich dann das Ende um den Finger. In Kürze wird ihr Haar nur noch bis zur Schulter reichen.

Sabrina sortiert derweil Lockenwickler der Farbe nach vom Frisiertisch in Körbchen, bis nur noch die Schere, ein Kamm und eine Bürste vor ihnen auf dem Tisch liegen.

»Was machen Sie denn beruflich?«, schaltet sie sich in die verstohlene Abschiedsgeste. Sie greift nach dem Zopf und löst die geflochtenen Haare sachte auseinander.

»Seit diesem Monat arbeite ich wieder als Fotografin. Bis vor Kurzem hatte ich eine eigene Grafik-Design-Agentur. Doch das hat sich jetzt erledigt, weil die Auszeit, die ich mir zwischenzeitlich nehmen musste, ihre Opfer von mir gefordert hat. Ich hab wieder und wieder meine Termine verschoben und dadurch die Aufträge an die Konkurrenz verloren.«

»Ach wie schade. Aber Sie finden doch bestimmt nochmal neue Kunden!«

»Will ich gar nicht. Wissen Sie, das ist ein Job gewesen, bei dem ich viel sitzen musste. Mittlerweile bin ich sogar froh darüber, dass mir die Entscheidung, damit aufzuhören, abgenommen wurde.«

»Ach so? Wie denn das?« Sabrina bürstet die langen Haare, als hätte sie ihre Lieblingspuppe vor sich.

Liliane lächelt und fühlt sich für einen Augenblick in ihre Kindheit zurückversetzt. Anscheinend will Sabrina ihr den Zopf nochmal neu flechten, bevor er ab muss.

»Wieso ich froh darüber bin? Nun ja. Als Fotografin bin ich viel unterwegs. Und ich sehe die Menschen um mich herum inzwischen viel genauer an als noch vor ein paar Wochen. Das ist unglaublich aufschlussreich!«

»Inwiefern?«

»Ich frage mich, was sie wohl für eine Geschichte in sich tragen – wie ihre Augen dazu kamen, so groß aufgerissen in die Welt zu schauen oder sich klein zusammenzukneifen, als wollten sie nichts erkennen.« Sie seufzt und streicht sich ein Strähnchen aus der Stirn, unter dem sich ihre Sorgenfalten versteckt hatten. Sie bemerkt deren unbeabsichtigte Enttarnung, lächelt und nickt ihrem Spiegelbild zu. »Ich betrachte jetzt die Falten an Menschen wie Jahresringe an einem Baum. Ich zähle ihre Erfahrungen und versuche, mir Bilder vorzustellen, die zu ihrem Aussehen passen.«

»Schön! Das mache ich auch manchmal!« Sabrina kichert leise und wartet gespannt auf Lilianes Fortsetzung.

»Man kann sich in Menschen sehr täuschen. Es gelingt nur selten, einen Blick hinter ihre Fassade zu werfen. Doch der Reiz, dahinter blicken zu wollen, bleibt für mich immer bestehen. Außerdem ist meine Neugier erwacht …« Sie holt kurz Luft. »… Seit ich diese seltsame Geschichte erlebt habe, die mich hier in das Wohnviertel geführt hat.«

»Was hat Sie denn hier in dieses Wohnviertel geführt?«

»Eigentlich meine neue Wohnung. Aber dann gleich samt Vermieter!«

»Wie bitte?«

»Ich hab mich in meinen Vermieter verliebt, auf Anhieb!«

»Das müsste mir mal passieren! Kann man danach umsonst wohnen?«

»Nein, das will ich nicht. Noch nicht jedenfalls. Aber man weiß ja nie, was noch kommt.«

Das Schweigen, das einen Moment zwischen ihnen schwebt, flattert. Denn Sabrina will noch etwas wissen. »Was führt Sie denn ausgerechnet zu mir? … Mit Ihrem Wunsch, belastende Erinnerungen abzuschneiden.«

»Genau genommen bin ich ja nur wegen der Katze hier. Dieser seltsame Treffpunkt hat mir den Anstoß verpasst. Mir fehlte der Mut, meine vage Idee umzusetzen.« Sie seufzt und hofft, dass sie der Mut jetzt nicht gleich wieder verlässt.

Sabrina legt den Kopf schief. Sie will mehr erfahren. Ihr fragender Blick lässt Liliane nicht los, zieht ihr die nächsten Worte regelrecht aus der Nase.

»Ich war gerade erst in meine neue Wohnung eingezogen, als ich zufällig Ihren Pavillon entdeckt hatte. Sie waren mir damals schon auf Anhieb sympathisch, ich weiß nicht, wieso. Ich mag die Pflanzen, mit denen Sie sich umgeben. Sie verwandeln das hier in eine kleine Oase. Aber zuallererst hatte mich Ihr kreativer Fassaden-Anstrich angelockt! Den finde ich immer noch grandios.«

»Den hab ich selber gemacht! Sie sind die Einzige, der das gefällt. Die meisten finden das zu knallig und zu kontrastreich.«

Liliane lächelt. Da ist es wieder. Ihr geliebtes Wort. Doch sie schweigt diesmal dazu.

»Wollen Sie mir Ihre Geschichte erzählen? Für so einen drastischen Schritt muss es ja schwerwiegende Gründe geben. Vielleicht verraten Sie mir überhaupt ein bisschen was von sich. Dann tut es Ihnen nicht so weh, wenn Sie sehen, was ich Ihnen antue.«

Sabrina besitzt ein bemerkenswertes Einfühlungsvermögen.

Liliane schweigt wehmütig. Sie mag diese offenherzige Art der Frisöse und ist froh, bei ihr gelandet zu sein.

Ein Stimmchen in ihr spöttelt: »Alles nur wegen einer Katze, die überirdisch niedlich aus einem Foto herausgeschaut hat.«

Ihre Aufmerksamkeit wandert wieder zurück zu Sabrina. »Sie wollen die ganze Geschichte hören? Ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen sollte! Das würde verdammt lang dauern!«

»Und ich liebe lange Geschichten! Wir haben doch Zeit! Bis die Dame kommt, habe ich keinerlei Termine! Ich hab das Geschlossen-Schild soeben hingehängt.«

»Bis die Dame kommt, haben Sie keinerlei Termine?! Ist ja ein merkwürdiger Zufall!«

»Sie sagte, ich solle mir Zeit für Sie nehmen, aber autsch, das sollte ich natürlich nicht verraten! Verdammter Mist!« Sie wedelt mit ihrer Hand, als wenn sie sich verbrannt hätte.

»Wusste die Frau, dass ich mir die Haare schneiden lassen würde?«

»Nein. Das glaube ich eher nicht. Obwohl sie so eine Bemerkung gemacht hat, von wegen, man solle Ihnen vielleicht mal den Kopf waschen. Aber sie hat das ganz freundlich gesagt. Ich sollte eigentlich nur eine geduldige Zuhörerin sein, falls Sie was erzählen wollten.«

»So, so, eigenartig

»Nein! Gar nicht. Sie weiß, wie sehr ich Geschichten liebe. Sie kommt ja selber regelmäßig zu mir in den Salon. Manchmal nur zum Waschen und Frisieren. Und zum Erzählen. Ich bin vielleicht nur wegen der schönen Geschichten Frisöse geworden.«

Sie kichern wie Schulmädchen und fühlen sich auf Anhieb einander vertraut.

Liliane schwant aber schon, wer ihr nachher die Katze vorstellen wird. Und auch, warum sich deren Stimme am Telefon so eigenartig dumpf angehört hat. Vermutlich gerade so, als wenn sich jemand einen Schal umgebunden hätte, um nicht erkannt zu werden.

Doch Sabrinas Neugier rauscht ungeduldig hervor. »Wie hat denn das mit Ihnen und Ihrem Vermieter angefangen? Mal so unter Frauen. Ich bin schon so gespannt auf Ihre Geschichte!«

Liliane richtet ihren Blick nach innen und vergisst für einen Moment, warum sie in diesem Salon vor dem Spiegel sitzt, und was Sabrina da hinter ihr vorhat. Sie versinkt in ihren Erinnerungen wie in einem unheilvollen See. Doch sie strampelt und lässt sich nicht runterziehen. Sie enthebt sich dem strudelnden Sog und betrachtet die spiegelnde Oberfläche des Sees aus der Ferne. Sie entdeckt bewegte Bilder, nicht mehr nur die unangenehmen.

Die vergangenen Wochen ziehen an ihr vorüber. Liliane sieht sich vor dem Bild, in dem sie sich bisher gebannt gefühlt hat. So erzählt sie die Erlebnisse, als ob sie aus einem Buch vorlesen würde. Denn ab jetzt sind die Ereignisse Geschichte.

1 Wohnungssuche um jeden Preis

 

Liliane saß mit krausgezogener Stirn vor ihrem Computer. Sie ackerte sich verbissen durch die Wohnungsanzeigen und murmelte leise vor sich hin: »Ich muss endlich eine neue Wohnung finden!« Sie befürchtete aber, dass sie wieder nicht fündig würde. Dabei träumte sie schon so lange davon, aus ihrer hellhörigen Wohnung auszuziehen. Ihr nahm nur leider keiner ab, einen passenden Ersatz dafür zu finden. Ihr Zeigefinger trommelte auf die Maustaste, als könnten dadurch unsichtbare Angebote erscheinen. Sie scrollte und scrollte, die meisten Inserate kannte sie längst auswendig.

Im Großen und Ganzen war Liliane mit ihrem Leben zufrieden, weil sie es mit Mitte vierzig schon weit gebracht hatte. Eine eigene Agentur, die sie selbst auf die Beine gestellt hatte. Ein Job, der ihr Spaß machte. Sie konnte sich nicht beschweren. Doch sie fühlte sich nicht angekommen, spürte, dass ihr etwas fehlte. Ihre Arbeit füllte sie nicht vollends aus, und das, obwohl sie zeitweise von Aufträgen überschwemmt wurde. Sie bekam so häufig gesagt, was für ein Glück sie doch hätte. Bald traute sie sich nicht mehr, sich zu ihrem Leeregefühl zu bekennen.

An diesem Tag wollte Liliane aber aufhören, sich länger etwas vorzumachen. Ihr Single-Dasein gefiel ihr überhaupt nicht. Sie war nicht der Typ Mensch, der sich umtriebig auf die Pirsch nach Abenteuern begab. Ihr war jetzt klar, wie sehr ihre vier Wände dazu beitrugen, dass sie sich nicht lebendig fühlte.

Im Stillen versuchte sie, sich zum Handeln zu überzeugen.

… Ich hause schon viel zu lange an diesem ungünstig gelegenen Ende der Stadt. Jeden Morgen muss ich eine halbe Stunde früher aufstehen, nur um pünktlich im Studio zu erscheinen. Ich könnte mir die Fahrt mit dem Auto und die ewige Parkplatzsuche ersparen, wenn ich eine angemessene, aber günstiger gelegene Wohnung finden würde …

Ihre Gedanken arteten in Grübelei aus.

… Davon abgesehen fühle ich mich bei mir zu Hause nicht mehr wohl. So schön die Wohnung ja ist, aber sie lähmt mich. Meine Möbel stehen seit zehn Jahren an immer demselben Fleck. Es ist, als würden sie mir einreden, dass ich mich ebenfalls nicht von der Stelle zu bewegen brauche. Außerdem stecken da überall Erinnerungen drin! …

Ein Wunder, dass Liliane sich das an diesem Tag eingestand. Denn sie bezog sich auf eine Geschichte, die sie sonst so gut wie möglich verdrängte. Was nicht hieß, so gut wie nötig.

Sie holte tief Luft, streckte die Arme in die Höhe und dehnte ihre Rückenmuskeln. Das war ihre Methode, die Aufmerksamkeit daran zu hindern, den abdriftenden Gedanken zu folgen.

Eine Stimme in ihr schimpfte: »Wenn du so weitermachst, findest du wieder keine Wohnung!«

Es stimmte, aber Liliane sammelte Argumente, um sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Und es gab da noch etwas, das sie suchte. Es ließ sich nur nicht aussprechen.

Endlich richtete sich ihre Konzentration wieder auf die Wohnungsanzeigen.

Traumhafte Dachgeschosswohnung für Liebhaber des Besonderen zu vermieten! …

Liliane starrte die Zeilen an, die geisterhaft vor ihr aufgetaucht waren. Spontan hielt sie sie nur für eine Einbildung. Doch das Ausrufezeichen sprang ihr ins Auge.

Die bezeichnete Wohnung lag am entgegengesetzten Ende der Stadt, das hieß, sowohl ›günstig‹ in Bezug auf die Wohngegend, als auch ›günstig‹ gelegen im Hinblick auf ihr Studio. Der Preis war ein wenig oberhalb von ›günstig‹.

… mit Terrasse und Balkon …

Wie geht denn das? Eine Dachgeschosswohnung mit zwei direkten Zugängen ins Freie? Und sonst nicht einmal fünfzig Quadratmeter? Liliane witzelte vor sich hin: »Kleine Wohnung mit Panoramablick würde bestimmt auch passen, oder?«

Doch in ihr hörte sie eine Stimme sagen: »Das ist es. Das ist genau das, was du suchst!«

… von privat.

Liliane schrieb sich die Telefonnummer auf ein Blatt Papier. Sie war gespannt, ob sie direkt bei einem Vermieter landen würde oder bei einer Vermittlungsgesellschaft. Sie räusperte sich und streckte den Rücken. Diese Wohnung wäre gewiss schnell weg. Liliane wollte sich charmant anhören, und nicht nervös in den Hörer piepsen. »Ja, guten Tag …«, übte sie und räusperte sich noch einmal. Dann holte sie tief Luft und wählte die Nummer. Ihr Rücken drückte sich durch, die Schultern spannten sich, ihr Hals streckte sich.

»Wieland?«

»Ja hallo und schönen guten Tag, ich rufe wegen der Wohnung an …«

»Ja?«

»Mein Name ist Weber … Liliane Weber. Ich habe den Eindruck, dass Ihre Wohnung genau das ist, wonach ich schon ewig suche! … Ich würde sie mir gerne so schnell wie möglich ansehen kommen … und … ich hab eine Heidenangst, dass sie mir noch jemand wegschnappt.«

»Was das angeht, können Sie ganz beruhigt sein. Ich nehme nicht jeden. Und bis jetzt kam noch keiner infrage von denen, die sich gemeldet haben.«

Liliane zögerte, sie wusste nicht weiter. »Wie müsste man denn sein, um akzeptiert zu werden?« Doch sie schlug sich augenblicklich auf den Mund. Sie hatte laut gedacht.

»Das ist schwer zu erklären. Das geht nach … Gefühl … sagen wir … Sie müssten mir schon ziemlich sympathisch sein.« Er klang ein wenig verlegen.

Hörte sich das an, als wenn es völlig unwahrscheinlich wäre? Bisher war es für Liliane nie schwer gewesen, angenehm zu erscheinen. Zumindest für eine gewisse Zeit war sie den meisten Menschen sympathisch.

Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich nicht mehr allzu viele Hoffnungen machte, und forschte nach: »Und? Geben Sie mir eine Chance … oder bin ich schon durchgefallen?« Sie kicherte verhalten hinterher.

»Durchgefallen? Nein, nein, also … eigentlich nicht.«

»Was denn nun – eigentlich ›ja‹ heißt eigentlich ›nein‹ oder andersherum?«, witzelte ein Stimmchen innerhalb ihres Kopfes. Liliane wurde nicht so recht schlau aus dem, was der Mann am anderen Ende der Leitung von sich gab und wagte den nächsten Schritt.

»Eigentlich nicht … hm … vielleicht komme ich mir die Wohnung lieber ansehen, bevor sich Ihr ›eigentlich‹ für etwas anderes entscheidet. Sind Sie einverstanden? Darf ich mir die Wohnung ansehen kommen?«

Liliane wurde das Gefühl nicht los, dass sie mit diesem Vermieter umging, als müsse sie auf ihn Rücksicht nehmen. Seine Stimme hatte seine Ambivalenz nicht verbergen können, obwohl sie ausgesprochen angenehm klang. Offenkundig musste er die Wohnung vermieten, aber wollte nicht. Welche Gründe auch immer zu diesem ›müssen‹ führen mochten, er schien es nicht unbedingt nötig zu haben.

»Ja, gerne! Kommen Sie bitte … Vielleicht schaffen Sie es ja …«

»Doch ja, ich werde es schon schaffen! Womöglich schneller, als Ihnen lieb ist!« Liliane konnte sich ihren Scherz nicht verkneifen.

Darüber mussten sie beide lachen. Schon, um zu verbergen, dass auch ungesagte Worte etwas verraten.

Liliane hatte durchaus verstanden, dass er meinte, sie müsse schaffen, die von ihm gestellte Hürde zu überwinden. Doch sie war überzeugt, dass sie mit einer Prise Humor besser über die Runden käme. Ein Lachen, um gewappnet zu sein – sowohl gegen ihre eigene Angst, nicht zu genügen, als auch gegen sein Unbehagen, wogegen sich das auch immer richtete.

Mochte er keine fremden Menschen in seiner Nähe? Oder hatte er schlechte Erfahrungen gemacht mit dem Vermieten von Wohnungen? War etwas Kostbares in dem Appartement verbaut worden?

»Ab wann könnte ich denn frühestens einziehen?« Der Satz entschlüpfte ihr unkontrolliert. Noch war doch vom Einziehen gar keine Rede gewesen! Sie lächelte trotzig und hoffte – vielleicht ja doch.

»Wie bitte?«

»Na nur schon mal für alle Fälle.«

»Wann würden Sie denn gerne?«

»Am liebsten gestern.«

»So, so. Dann kommen Sie mal her.« Er lachte kurz auf. »Ich sitze im selben Haus. Sie können also jederzeit herkommen. Aber ich brauche eine Ankündigung. Vergessen Sie keinesfalls, sich anzukündigen! … Sonst haben Sie gleich einen schlechten Start.«

Er schnaubte belustigt, weil er ihr das verraten hatte.

»Sie sitzen im selben Haus? – Meinten Sie … sitzen … wie sitzen?« Sie kicherte über ihren eigenen Nonsens.

Liliane verhielt sich ungewohnt. Aber sie trachtete danach, mehr über diesen geheimnisvollen Vermieter herauszufinden. Womöglich gelänge es ihr, in Erfahrung zu bringen, was ihr Pluspunkte brächte, um die Wohnung zu ergattern. Dabei wusste sie nicht mal, ob ihr die Wohnung denn gefallen würde.

»Ich schreibe Artikel für die Feuilletonbeilage in der Zeitung. Das mache ich quasi bei mir zu Hause. Ich hab gleich unter meiner Wohnung ein Büro.«

Was für ein Traum, dachte Liliane, ein Büro direkt im eigenen Haus. Der braucht sich schon mal keine Sorgen über den morgendlichen Weg zur Arbeit zu machen.

Das Gespräch glitt immer mehr ins Private ab. Liliane beklagte sich über die Hellhörigkeit ihrer eigenen Wohnung: über ihr Gehirn, das sich unentwegt gezwungen sah, in den Gesprächsfetzen ihrer Nachbarn Sinnzusammenhänge zu entdecken. Über ihre Vorliebe, Musik laut zu hören und ihren Wunsch, eine Wohnung zu bewohnen, in der man diesem Verlangen ohne Schuldgefühle nachgeben könnte. Über ihr Bedürfnis, jederzeit lauthals zu lachen, ohne dabei auf die Uhr schauen zu müssen …

»Liliane Weber hießen Sie?«, erkundigte er sich und schrieb es sich auf.

»Ja. Heiße ich immer noch …« Sie kicherte provozierend. Doch Herr Wieland unterbrach das Gespräch.

»Ich glaube, wir können hier im Haus weiterreden. Sie wollten ja sowieso kommen. Ich muss jetzt dringend was erledigen.« Er nannte ihr die genaue Anschrift und nuschelte dazu den ihr schon bekannten Namen. Doch er fügte leise und wie zufällig seinen Vornamen Florian hinzu. Liliane war zu aufgeregt, um dem eine Bedeutung beizumessen.

»Ja, gut, am liebsten käme ich gleich. Aber ich kann ja auch grad nicht … wie wäre es denn heute am späten Nachmittag? Ich könnte ab fünf.«

»Um fünf? Ist gut. Dann bin ich jetzt vorgewarnt.«

Liliane versuchte, sich ihr Lachen zu verkneifen. Sie fand nicht, dass man vor ihr gewarnt werden müsste. Sie hatte den Eindruck, er würde Menschen nicht unbedingt mögen. Dennoch hatte er vermocht, ihr ihre anfängliche Scheu Fremden gegenüber zu nehmen. Das machte sie kribbelig. Oder war das nur, weil sie spürte, wie sich etwas in ihr in Bewegung setzte?

Sie wollte kein Möbel mehr sein! Sie wollte ihren Stellplatz verändern! Heute würde sie die Kündigung für ihre alte Wohnung schreiben. So oder so. Irgendeine Bleibe ließe sich schon noch finden.

Doch sie zweifelte kaum daran, in jener Dachgeschosswohnung zu landen.

Flugs überprüfte sie ihren Terminkalender. Einige Aufträge wären da zwingend abzuarbeiten. Doch danach könnte sie Termine canceln. Sie würde sich eine Auszeit nehmen, um sich ›voll und ganz‹ ihrer Wohnungssuche zu widmen – oder vielmehr dem Finden ihrer zukünftigen Wohnung.

 

In den nächsten Stunden versuchte Liliane, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch in Gedanken erkundete sie bereits ein neues Domizil … hell sollte es sein. Sie brauchte immer viel Licht um sich. Und Platz für ihre vielen Blumentöpfe müsste es geben. Doch das dürfte bei einer Wohnung mit Balkon und Terrasse doch wohl kein Problem sein. Liliane hatte inzwischen längst die Lage ihres Wunschobjekts genauer unter die Lupe genommen. Dank Google Maps war es ja möglich, exakt auf das Haus zu zoomen. Liliane war daraufhin noch viel dringender an diesem Angebot interessiert als ohnehin schon. Sie breitete den Stadtplan aus und suchte nach der Anschrift, die sie am Telefon erfahren hatte.

Ihre Kollegin betrat das Büro und brachte Zeitungen mit. »Grüß dich, Lila! Ich hab überall in der Umgebung die Anzeigenteile eingesammelt, das sind diesmal so viele, da findest du bestimmt etwas. Ich hab so ein komisches Gefühl.«

»Hi, Carla. Das ist ja lieb von dir! Aber was meinst du … von wegen … komisches Gefühl?«

»Ich glaube, dass du heute endlich eine Wohnung findest. Du weißt ja … ich bekomme doch immer diese seltsamen Ahnungen …« Sie lächelte treuherzig und bat damit um Verständnis für ihre Eigenart.

»Könnte was dran sein …«, gab Liliane schmunzelnd zurück.

»Was? Du machst ein Gesicht, als hättest du selber schon was gefunden!?«

»Bin mir nicht sicher, aber ich hab was an der Angel.«

»Erzähl mal!«

»Ich hab vorhin ein Inserat für eine kleine Dachgeschosswohnung entdeckt … und … auch gleich dort angerufen …«

»Und ich renn rum, um für dich neue Anzeigen aufzutreiben? So was Blödes! … Das Wichtigste hab ich prompt verpasst.«

»Hast ja noch nichts verpasst! Ich gehe heute hin und schau sie mir an.«

»Heute gleich? Sieht ja aus, als hätte sie auf dich gewartet!« Carlas Verwunderung schwang deutlich in ihrer Stimme mit.

»Das muss sich erst noch herausstellen. Der Vermieter scheint sehr wählerisch zu sein. Er meinte, er nähme nicht jeden. Überhaupt wirkte der ein wenig seltsam.« Liliane verzog das Gesicht.

»Seltsam muss nicht immer schlecht sein. Wir sind ja auch ein wenig seltsam, oder nicht!?« Sie kicherten verschwörerisch. Denn sie hielten sich gerne für verrückt.

»Wo liegt denn die neue Bude?«, wollte Carla wissen.

»Das glaubst du nicht! … In der Schlossparksiedlung!«

»Was!? In der Weststadt? Das kannst du vergessen! Da kriegt man keine erschwingliche Wohnung!«

»Der Preis ist zwar ein bisschen reichlich, aber gerade noch so akzeptabel. Vielleicht kann ich ihn ja ein wenig runterhandeln.«

»Ein Dachstübchen?«

»Ja. Aber mit Balkon und Terrasse! Hier guck mal, ich hab es mir gerade auf dem Plan angeschaut.«

Carla machte einen Satz auf den Schreibtisch zu.

»O Gott! Das wäre ja super! Ich drück dir total die Daumen! Wenn das klappen würde, Mensch!« Doch sie hielt etwas zurück, das sie ebenfalls umtrieb.

Liliane bemerkte es. »Was ist denn los? Du hast doch was auf dem Herzen? Raus damit! Heut passt’s.«

»Wird dir wahrscheinlich nicht besonders gefallen … vielleicht reden wir lieber ein andermal darüber. Heute will ich dir deinen Tag nicht verderben.« Carla druckste herum und wünschte sich, sie wäre nicht so leicht durchschaubar.

Doch Liliane ermunterte sie: »Na nun sag schon. Es wird mich ja nicht umbringen.«

»Moritz wird nun doch versetzt! Wir ziehen um … weit weg … nach Berlin! Wir bekommen wieder eine firmeneigene Wohnung.« Sie wich Lilianes Blick beharrlich aus. Doch die hörte ihr in aller Ruhe zu, ohne sie zu unterbrechen.

»Seine Firma managt das mit unserem Umzug. Und zwar schon nächsten Monat! Die arbeiten mit einem Top-Umzugsunternehmen zusammen, sagten sie …«

Carla schielte vorsichtig zu ihrer Chefin und zog ein Gesicht, als erwarte sie eine Ohrfeige.

Liliane begriff, was das alles bedeutete. Sie würde Carla, ihre beste Freundin und geschätzte Mitarbeiterin, verlieren. Sie müsste sich nach einer neuen Angestellten umschauen. Doch ihr entwich nur ein »Hm«.

Carla zog die Brauen hoch und machte kugelrunde Augen. Sie traute dem Frieden nicht so recht. »Ich hätte dich ja gerne vorgewarnt, aber ich hab es selber erst vor drei Tagen erfahren. Und ich wusste nicht, wie ich dir das schonend beibringen sollte.« Sie schaute Liliane an wie ein Welpe, der eben was ausgefressen hat.

»Ist schon gut, Carla. Dann soll das wohl so sein …«

»Du bist nicht sauer?! Ich hab mich verrückt gemacht, weil ich dachte, das würde dich umhauen! So gefasst hab ich dich ja lange nicht erlebt!« Sie prüfte Lilianes Gesicht mit misstrauischem Blick. »Alles okay mit dir?«

»Ja. Ich hab mir heute selber einen Tritt verpasst. Ich hab sogar die Kündigung für meine Wohnung geschrieben. Noch nicht abgeschickt, aber fertig getippt. Ich will endlich da raus. Mir ist fast egal, wo ich stattdessen lande. Hauptsache weit weg davon! … Und …«

»Ja?«

»Ich hab ohnehin gerade überlegt, ob ich mir hier in der Agentur nicht eine Auszeit nehmen könnte.«

»Hab ich richtig gehört? Heißt das, du willst die Agentur dafür dichtmachen?«

»Na wenn du nicht mehr da bist, um für mich einzuspringen, bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig.« Liliane kicherte zwar, aber es klang etwas resignierend.

»Du könntest ja auch nur reduzieren.«

»Ich denk nochmal drüber nach. Aber spontan war mir nach einer Auszeit zumute. Vielleicht brauche ich mal Abstand von allem. Ich hab seit Ewigkeiten keine herausragend guten Fotos mehr gemacht. Das war mir immer so wichtig, nun kommt es schon viel zu lange zu kurz! Weißt du, mir schwebt so ein richtig radikaler Schritt vor. Wenn du jetzt gehst, dann hält mich auch nichts mehr.«

»Hast du keine Angst? Selbst, wenn du erst mal von deinen Reserven zehren kannst … Irgendwann muss doch aber wieder was reinkommen. Was, wenn du dann nicht mehr zurückkannst?«

»Das habe ich seit Jahren genauso betrachtet und hab mich derweil nicht vom Fleck gerührt. Aber seit du mit Moritz zusammen bist, bin ich eine ziemlich einsame Singledame geworden.« Sie hüstelte. »Ich muss was ändern! Du weißt doch … ich warte immer noch auf einen Mann, der mich wie ein Rattenfänger anzulocken vermag.«

»Ja, ja … ich weiß … und dann willst du ihm nicht blindlings folgen, sondern seine Frau werden und mit ihm in einem Berg verschwinden … Alles klar! Ich verstehe dich ja. Aber mit Mitte vierzig bist du womöglich aus dem Alter raus, noch darauf zu hoffen, oder?«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt …«

Der Satz hallte von den Wänden wider, als wäre er aus dem Lautsprecher gekommen. Carla traf ein Blick, dem sie mit Worten nicht widersprechen konnte. Liliane stieß sich mit dem Fuß ab und vollführte eine Drehung mit ihrem Bürostuhl. Dann erklärte sie mit der Stimme eines kleinen trotzigen Mädchens: »Ich will immer noch einen Mann, mit dem ich mich wie ein Pferd in einem Doppelgespann fühlen kann …« Sie stieß sich mit der Hand am Schreibtisch ab und drehte eine weitere Runde mit ihrem Stuhl.

Carla ließ sich in ihren Sessel fallen und tat es Liliane gleich. Drehend trällerte sie: »… Er das eine und du das andere Pferd … beide harmonisch und kraftvoll an ein und derselben Kutsche ziehend … ich hab’s nicht vergessen. Aber, war das nicht nur ein Traum?«

»Ja. Na und? Warum sollte ich diesen Traum aufgeben?! Aber ich weiß jetzt, dass mir in meiner mich lähmenden Wohnung solche Träume vergehen, da haben die keine Chance, gegen das Vergangene anzukommen. Also raus da! Nichts wie weg! Mut zum Wandel! … Und vierzig ist doch kein Alter!« Sie schlug die Handflächen auf den Tisch und reckte sich.

»Mitte vierzig … da geht’s schon zielstrebig auf die Fünfzig zu!« Carla pochte mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte wie an eine Tür. Der Satz bat darum, hereingelassen zu werden.

»Und wenn! … Vielleicht mache ich einen Fehler, kann ja sein. Aber während wir so drüber reden, wird mir erst recht klar, dass ich diesen Sprung ins kalte Wasser wagen möchte. Ich will wieder leben! Was denkst du, wie gut du es hast! Ihr beide seid ein Traumpaar! Und so ewig ist es ja nun auch nicht her, dass ihr euch kennengelernt habt!«

»Na ja, ist was Wahres dran.« Carla seufzte genüsslich und legte den Kopf in den Nacken.

»Ich will auch so einen Prinzen finden, wie du gefunden hast!« Liliane kicherte, weil der Satz wieder in dieser trotzigen Kleinmädchenstimme aus ihr rausgerutscht war. Sie seufzte und zappelte mit den Fingern auf dem ausgebreiteten Stadtplan.

Carla betrachtete sie erstaunt. Bisher hatte Liliane sich nie anmerken lassen, dass sie sich nach einem Mann sehnte. Sie hatte eher den Eindruck erweckt, sie käme supergut klar mit ihrem Singledasein. Seit ihrem Absturz – nach der Geschichte mit Thomas. Carla legte den Kopf schief und zog die Stirn in Falten. »Also gut. Wie du meinst. Ich stehe ja auf mutige Menschen!« Sie nickte mit dem Kopf, als ob sie sich selber überzeugen wollte, doch gleich darauf wiegte sie ihn bedächtig hin und her. »Solange das keiner von mir verlangt, was du da vorhast!« Sie schaute Liliane direkt an und fügte leise, aber bestimmt hinzu: »Ich drücke dir für alles die Daumen. Heute und überhaupt. Ich bin echt gespannt, wie das ausgeht! Irgendwie sieht es nach einem Abenteuer aus, findest du nicht?« Ihre Stimme wurde wieder leidenschaftlicher: »Ich meine … im positiven Sinne. Ich finde es toll, wenn du dir das zutraust! Ich fange schon an, mich an deine verrückte Idee zu gewöhnen.«

Liliane schaute sie dankbar an und wusste wieder, warum Carla ihre beste Freundin war. Sie würde sie vermissen, das stand fest.

»Arbeiten wir noch was? Wie weit bist du denn heut früh gekommen?«

»Ich bin fertig geworden. Die Sache können wir abhaken … ist richtig gut gelungen. Komm, ich zeig’s dir mal bei mir auf dem Computer.«

Die beiden verloren sich wieder in ihrer Arbeitsroutine.

Nachmittags beschloss Liliane, an diesem Tag früher Schluss zu machen. Ihre Gedanken huschten, trotz ihrer produktiven Projekt-Ideen, andauernd zu ihrer Verabredung um fünf … Sie hatte vor, von zu Hause aus zu starten, obwohl das – äußerst unpraktisch – im Osten der Stadt lag. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, sich in heimatlichen Gefilden ein bisschen aufzuhübschen. Sie hoffte, ihr Erscheinungsbild könnte den wählerischen Herrn Wieland günstig stimmen. Um drei verließ sie das Büro.

 

*****

 

Als sie das Auto vor den Häusern in der Schlossparksiedlung parkte, flatterte ihr Herz. Es war nicht vorteilhaft, etwas so unbedingt haben zu wollen. Die Enttäuschung würde nur umso schmerzlicher ausfallen. Liliane rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Sie kurbelte das Fenster runter und fächerte sich Luft zu. Dann lehnte sie sich zurück und stellte die Rücklehne schräg. Sie war deutlich zu früh eingetroffen, Parkplätze hatte es frei zur Auswahl gegeben. Aber die einkalkulierte Zeit für die Suche war sicher nicht der einzige Grund für ihr frühes Erscheinen.

Die Zeiger der Uhr schienen stillzustehen. Liliane schloss die Augen und atmete tief und langsam. Sie gähnte und spürte, wie sie innerlich locker ließ. Und es gelang ihr, ihre Gedanken für eine Weile zum Schweigen zu bringen.

Endlich fühlte sie sich bereit. Sie stieg aus und zupfte an ihrer Bluse herum. Dann gab sie sich einen Ruck. Direkt vor dem Haus schaute sie an der Fassade nach oben und hoffte, die erspähte Rapunzel-Terrasse würde in Zukunft ihre sein. Sie war sich aber auf einmal nicht mehr sicher, ob es gewiss dasselbe Haus war, welches sie in der Google-Maps-Satellitenansicht herangezoomt hatte.

Ein Blick auf die Uhr mahnte Liliane, dass sie immer noch fünf Minuten zu früh war. Doch sie gab nichts drum. Fünf vor fünf. Das hörte sich doch drollig an. Sie klingelte bei Florian Wieland. Der Summer öffnete die Tür vom Hauseingang. Die Sprechanlage hatte er gar nicht erst betätigt.

Im Erdgeschoss befanden sich zwei Türen. Auf jeder klebte ein goldfarbenes Schild: ›Büro‹. Dass Herr Wieland direkt darüber wohnte, das wusste sie ja schon. Sie stieg die paar Stufen zum ersten Stock und zwang sich dabei zu innerer Ruhe. Sie wollte ihm gleich beim ersten Eindruck souverän erscheinen.

Herr Wieland öffnete seine Wohnungstür im selben Augenblick, in dem Liliane sie erreichte.

 

2 Ungewöhnliche Begegnung

 

»Ja, hallo … guten Tag. Ich hatte heute angerufen … wegen der Wohnung, die ich mir jetzt ansehen wollte.« Liliane behagten solche Momente nicht. Aber Herr Wieland lächelte ihr aufgeschlossen entgegen und sie spürte an dem – ein wenig zu lange auf ihr ruhenden – Blick, dass er positiv überrascht war. Seine Aufmerksamkeit strich wie ein Konturen nachzeichnender Pinsel über sie hinweg. Diese zarte, fast unmerkliche Art einer Berührung ersetzte den üblichen Handschlag zur Begrüßung. Lilianes Unbehagen löste sich in Wohlgefallen auf. Die Zeit, die für einen Augenblick stehen geblieben war, setzte sich wieder in Bewegung.

»Ja, kommen Sie! Die Wohnung liegt direkt über meiner.«

Er krempelte sich die Ärmel seines dunkelblau schimmernden Hemdes hoch und legte dabei ein verspielt wirkendes, dünnes Stoff-Armbändchen frei, an dem zwei winzige Anhänger baumelten. Ein Geburtstagsgeschenk seiner Mutter, das er dieses Jahr erhalten hatte. Er musste ihr versprechen, es jeden Tag zu tragen.

Seine Hand griff nach jenem Schlüsselbund am Brett, an welchem eine halblange Stöpsel-Kette drei Schlüssel miteinander verband. Jeder davon hatte einen Ring, doch einer der Ringe verfing sich nun ausgerechnet mit den baumelnden Anhängern des Bändchens an seinem Handgelenk.

Herr Wieland fluchte nicht, nein, er lächelte und entwirrte seelenruhig die merkwürdige Verflechtung seiner Anhänger mit dem Wohnungsschlüssel. Sein Brustkorb hob und senkte sich so auffällig, dass sich sein Atemrhythmus auf Liliane übertrug. Davon abgesehen bewegte er sich wie in Zeitlupe. Das war seine Methode, zu einer gewissen Ruhe zurückzufinden.

Wenigstens äußerlich. Denn in seinem Innern tobte ein Sturm. Er pustete verschüttete Bilder der Vergangenheit frei. Der unerwartet ungestüme Wind buddelte in einem abgeriegelten und zum Schutz abgedeckten Ausgrabungsgelände. Doch quer durch die Sandwolken hindurch flatterten tausende bunte, unerschrockene Schmetterlinge. Er spürte, wie sie dieser energiegeladenen Frau entwichen, deren Stimme schon am Telefon alles in ihm in Schwingung versetzt hatte. Er fühlte sich unversehens in eine Zeit zurückversetzt, an die er sich nicht mal mehr zu erinnern gewagt hatte – sie lag vor seiner neuen Zeitrechnung. Die Flügelschläge der Schmetterlinge pulsierten nicht nur im Innern, sondern auch auf seiner Haut. Er hatte den Eindruck, dass sie ihn ermuntern wollten, sich wie eine Schlange zu häuten. Seine Finger suchten Halt. Kaum war der beringte Schlüssel wieder frei, trösteten sie sich mit der handschmeichelnden Berührung der Kügelchen an der Schlüsselbundkette.

Vermutlich ist der größere der Haustürschlüssel für unten, dachte Liliane. Die Kette sprang verspielt um seine Finger wie ein griechisches Komboloi und zog ihren Blick auch weiterhin auf sich.

Herr Wieland, der, entgegen ihrer Vermutung nach ihrem Telefonat, nicht wesentlich älter war als sie, schlüpfte unterdessen aus den Hausschuhen in Straßenschuhe. Dabei bemerkte er ihren Blick auf seiner Hand mit der Schlüsselkette, räusperte sich und lächelte vielsagend. »Gehen wir?«

Er trat aus der Wohnungstür und wandte sich der Treppe nach oben zu. Auf seine einladende Geste hin erwiderte sie: »Ich folge Ihnen lieber nach!«

»So, so. Dann lassen Sie mich als unhöflich dastehen, weil ich Ihnen nicht den Vortritt lasse!?« Er beschwerte sich betont amüsiert.

»Ich halte das für eine Ausrede von Männern, die den Frauen ungeniert auf den Hintern starren wollen«, konterte sie übermütig und wunderte sich gleichzeitig über ihre freche Anwandlung. Sie lachten herzhaft und fühlten sich auf Anhieb rätselhaft vertraut miteinander.

Oben angekommen, schloss Herr Wieland die Tür auf, die den gesamten kleinen Treppenflur beherrschte. Liliane staunte den geräumigen Treppenabsatz an.

»Toll – ganz alleine hier oben!« Ihre Hand strich über das glänzend polierte Holzgeländer. »Ist das Dachgeschoss erst später ausgebaut worden?«

Er antwortete aber nur auf das, was sie bestaunt hatte: »Keine Nachbarn zu haben hat einige Vorteile.« Seine Stimme untermalte die Worte in verschiedenen Nuancen. Sie schillerten und passten zu seinem vieldeutigen, fast unsichtbaren Lächeln. Er stupste die Tür auf und lud sie mit einer Geste des lang ausgestreckten linken Armes ein, einzutreten.

Sie stand auf der letzten Stufe vor dem Treppenabsatz und betrachtete ihn aus dieser tiefer gelegenen Perspektive.

… Mann o Mann, was für ein charmanter Vermieter! Der Kerl sieht unverschämt gut aus – elegant und trotzdem sportlich, intelligent und mit Lachfältchen. Eine verdammt reizvolle Mischung! …

Der Eindruck lenkte sie einen winzigen Moment lang davon ab, nur die Wohnung besichtigen zu wollen. Sie huschte schnell an ihm vorbei, doch atmete dabei verstohlen seinen Duft ein. Und ihr gefiel, was ihr da die Nase umwehte. Unaufdringlich auffällig, sinnlich, aufmunternd, ungewöhnlich.

Sie betraten den kleinen Flur, von dem aus Türen in alle Richtungen führten. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und forderte auf diese Weise dazu auf, einzutreten. Das Zimmer wurde von Tageslicht durchflutet und wirkte dadurch größer, als es war. Die unüblich breite Balkontür faszinierte Liliane auf Anhieb. Sie staunte über den freien Blick auf den Himmel und drehte sich kindlich begeistert dem Vermieter zu.

Doch sie verstummte schlagartig und ergab sich regungslos einem Bann. Die Stille in seinem Gesicht war von unergründlicher Tiefe. Ihr stockte der Atem. Sein Blick ruhte auf ihr und fühlte sich an, als würde er nach ihrem Rücken greifen und ihren Rumpf sachte heranziehen. Sie schnappte nach Luft angesichts dieser vertraulichen Berührung. Sein Blick ließ prompt locker und entließ sie aus seinem imaginären Griff.

Er stand dabei etwa zwei Meter von ihr entfernt. Liliane schoss eine Hitze in den Kopf, die sich unübersehbar auf ihrem Gesicht abbildete. Das Glühen auf ihren Wangen war ihr äußerst unangenehm. Denn sie hatte keine Ahnung, ob wahrhaftig er diese Berührungsillusion bewerkstelligt hatte oder bloß ihre eigene Fantasie mit ihr durchgegangen war. Im letzten Fall sollte er es aber in keiner Weise erfahren.

Er lächelte amüsiert.

Sie hatte den Eindruck, er käme mühelos an ihre Gedanken heran. Dennoch konnte sie sich nicht gegen weitere Bedenken wehren:

… Sich so lange gegenüberzustehen, ohne ein Wort zu sprechen, aber mit umso mehr Blickkontakt, ist eindeutig verdächtig, wenn in diesem Fall nicht sogar schon anrüchig …

Sie versuchte, wegzuschauen, doch es gelang ihr nicht, sich seinem Bann zu entziehen.

Er lächelte unbeirrt.

Liliane wurde kribbelig. Sein Lächeln fühlte sich unverhältnismäßig nah an. So wie – einander nah. Sie atmete tief ein, überließ sich dem Sog, der von ihm ausging.

Es schien ihr, als würde ihr Blick mit eigenen Fingern durch sein Haar streichen und ein verspieltes Löckchen nach hinten zu den anderen legen. Sie genoss diese irreale Berührung.

… Der Abstand zwischen ihm und mir besteht aus den winzigsten zwei Metern, die mir je untergekommen sind …

Das war der letzte Gedanke, der es noch wagte, sich in die Traumsphäre hineinzuzwängen.

Sein Parfümduft überbrückte die Entfernung mit Leichtigkeit. Das Beben seines Herzens vibrierte in ihren Fingerspitzen, als wären sie sein Seismograph.

Ihre Blicke hielten einander stand: Seine Augen leuchteten still vor sich hin; in ihren wehte ein Schleier in einem imaginären Wind. Sie zwinkerte dagegen an. Doch sie versuchte vergebens, Klarsicht zu erlangen. Der Raum um sie herum veränderte seine Atmosphäre. Die Luft, die sie atmeten, bestand nur aus – ihm und ihr.

Ein feiner Windhauch zog aus dem Hausflur kommend an ihnen vorüber. Die Wohnungstür, die bis dahin offen gestanden hatte, fiel nach zwei kurzen Anläufen ins Schloss. Liliane wurde schwindlig. Die Tür, die sie eigenwillig in ihrer Seifenblase einschloss, verdeutlichte ihr etwas zu anschaulich, dass sie soeben die Kontrolle über sich verloren hatte. Das schreckte sie auf. Sie gab sich einen Ruck und riss sich aus der Versenkung. Sie räusperte sich mehrmals und lenkte ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung.

Ich wollte doch nur eine Wohnung mieten, rief sie sich ins Gedächtnis. Gehört denn der Vermieter neuerdings gleich dazu?

Sie atmete betont tief und gleichmäßig. Ihre Augen suchten nach Ablenkung, instinktiv wandten sie sich dem Licht zu.

Vom Balkon führten drei Treppenstufen auf eine tiefer gelegene, lange Terrasse. Liliane sah die vielen Blumentöpfe, die sie dort aufstellen würde, schon lebhaft vor sich. Eine schönere Wohnung, als eine mit solch einem Zugang ins Freie, hätte sie sich nicht wünschen können. Und das Beste daran: Das Haus war das einzige mit so einem vorgelagerten Terrain, niemand konnte von irgendwoher Einblick nehmen.

Liliane trat hinaus, ohne es beabsichtigt zu haben. Es war, als zögen ihre Augen ihren Körper nach sich. Sie betrachtete diese kleine Oase voller Staunen. Und angesichts der freien Aussicht war ihr fast egal, wie der Rest der Wohnung aussehen würde.

Noch immer sagte keiner von ihnen ein Wort. Beide erinnerten sich an Momente aus ihrem Leben, in denen Zeit vermochte, sich derart zu dehnen, dass Minuten in Sekunden passten. Sie wussten, dass sie merkwürdig auffällig schwiegen. Selbst dieses Schweigen fühlte sich wie eine Verbindung an.

Im nächsten Augenblick kehrte Liliane ins Zimmer zurück und hörte sich sagen: »Ich nehme die Wohnung!« Sie stutzte und vernahm prompt ein freches Stimmchen in sich, das sie fragte, wofür genau sie sich soeben entschieden hätte. Doch sie lächelte über diesen Kobold.

»Das freut mich … mehr als Sie ahnen.« Seine Stimme war etwas rau.

Hatte sie den leise nachgeschobenen Teil des Satzes wirklich gehört oder sich nur eingebildet? Sie drehte sich sachte um und suchte nach einer Antwort. Sein Blick fing ihren, der an ihm vorbeihuschen wollte, auf.

Liliane schluckte und wurde zusehends kribbeliger. »Ich hab Ihre Antwort irgendwie nicht richtig verstanden.« Sie hüstelte. »Ich meine rein akustisch. Ich hatte da so ein Rauschen im Ohr.«

Ihr Kobold kommentierte das mit: »Hat je jemand etwas Blöderes hervorgestammelt?«

»Hm – das Rauschen ist neu hier in diesem Raum …« Florian Wieland verkniff sich sein Lachen. »Für gewöhnlich gilt diese Wohngegend als die ruhigste weit und breit.«

Lachfältchen umtanzten seine Augen. Lilianes Lippen zuckten und waren bereit, loszuprusten. Doch sie presste sie kurz aufeinander und bemerkte dabei, wie rau sie sich anfühlten. Unwillkürlich glitt ihre Zunge dazwischen und legte einen feuchten Schutzfilm auf, der glänzte. Ihre Schneidezähne zupften kurz an der Unterlippe.

Seinen Augen entging das nicht nur nicht, sie strahlten, als wenn sich eine Lichterkette darin spiegeln würde. Liliane bemerkte das unbeabsichtigte Zusammenspiel und bereute inständig, sich diesem Mann wieder zugewendet zu haben. Doch der sprach bedenkenlos weiter. »Sie haben sich ja die übrige Wohnung gar nicht angesehen! Wollen Sie nicht wenigstens noch das Schlafzimmer inspizieren?«

»Nein! Jetzt nicht!«, platzte es aus ihr heraus. »Dann schon lieber das Bad!«

Ihre Stimme wirkte aufgebracht und deutlich zu laut für die kleinen Räume. Diese Art einer Wohnungsbesichtigung fand sie aber zu intim, um ausgerechnet das Schlafzimmer zu betreten.

Wieder schien Herr Wieland auf ihre Gedanken zu antworten: »Die Zimmer sind alle leer und warten auf Ihre Möbel. Im Schlafzimmer wollte ich Ihnen lediglich die schöne Aussicht aus dem Fenster zeigen.«

Liliane kicherte und konnte sich nicht bremsen. So, so. Da steht noch kein Bett, dachte sie. Mit einem Mal prustete sie los und ihr Lachen ließ sich nicht mehr einfangen. Die Tränen schossen ihr in die Augen und versuchten, alle Spannungen wegzuschwemmen. Der Druck hatte sich ein Ventil gesucht. Herr Wieland betrachtete das Schauspiel auf ihrem Gesicht. Ihr Lachen strahlte wie eine Sonne durch ihre verstohlenen Tränen.

»Wenn Sie so weitermachen, erscheint mir gleich ein Regenbogen.«

Er sagte es viel zu sanft, als dass sie diese leisen Worte hätte überhören können. Dieser Frequenz lauschte sie nur zu gern. Aber er drehte sich um und begab sich vor ihr her in den Flur; sie folgte ihm wie ein Hündchen.

Schwungvoll öffnete er die Badezimmertür. Das Licht, das durch das Dachfenster eindrang, überflutete den, für ein Badezimmer großzügig bemessenen, Raum.

»Hey! Hier kann ich ja glatt mein Büro einrichten!« Ihre Begeisterung war unverkennbar.

»Meine Frau hat sich früher mal beschwert, dass man von so viel Licht auf gehässige Weise jede Falte gezeigt bekommt. Ihr war es offenbar nicht gegeben, die Vorzüge des Lichts zu erkennen.«

»War? … Inzwischen kann sie es?«

»Worauf deine Frage abzielt, liegt ja wohl für jeden auf der Hand«, mischte sich ihr innewohnender Kobold wieder ein.

»… Inzwischen … ist sie tot«, gab der Vermieter leise zurück.

Ist es nicht taktlos, wenn einem das Herz vor Freude hüpft, während man »Oh, tut mir leid« hervor nuschelt? Aber Liliane konnte es schon nicht mehr ändern. Und ihr Herz schien nach diesem kurzen Satz eine Runde Walzer in ihrem Brustraum zu drehen – oder womöglich sogar Tango?

»Ich freue mich sehr, dass ich die Wohnung an jemanden wie Sie vermieten kann. Ich wollte immer, dass derjenige, der sie bekommt, sie auch zu schätzen weiß, und nicht einfach nur darin haust. Bei Ihnen weiß ich, dass Sie sie beleben werden.«

Liliane schmiegte ihre Wange an ihre hochgezogene linke Schulter und erschrak gleichzeitig darüber. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie hätte dabei an seine Schulter gedacht. Und so hob sie schnell das Kinn.

»Ja, ich werde ihr gewiss Leben einhauchen und ich freue mich schon darauf!«

Ihre Worte hatten sich fest und nachdrücklich anhören sollen, doch das Wörtchen ›einhauchen‹ hatte etwas abgefärbt.

»Wenn Sie Hilfe brauchen beim Umzug, kann ich vielleicht ein bisschen mit anfassen … wenn Sie mögen.« Er suchte nach einer Antwort in ihren Augen. Doch sie schaute verlegen weg. Sie wollte nicht verraten, was ihr bei seinen Worten durch den Kopf geschossen war.

»Die Treppe hier ins Dachgeschoss ist ein bisschen schmal geraten«, setzte er fort.

Sie vernahm die zweite Hälfte seiner Mitteilung eigenartig dumpf und drehte unwillkürlich ihren Kopf auf den Schultern hin und her, bis es in den Halswirbeln knirschte.

»Bei schweren Teilen macht aber mein Rücken nicht mit«, brummte er hinterher. Ob das eher entschuldigend oder verärgert gemeint war, blieb offen. Vermutlich beides.

Liliane kam noch immer nicht auf die Höhe der Miete zu sprechen. In der Anzeige hatte ja ein Betrag gestanden; sie wollte allerdings versuchen, ihn ein wenig herunterzuhandeln.

Jetzt fühlte sie sich nicht mehr dazu in der Lage. Die Wohnung schien ihr den Preis wert zu sein. Und der Gedanke pustete sich in ihr auf wie ein bunter Luftballon. Sie lächelte vor sich hin. Dieses Lächeln sah nicht aus, als ob sie verhandlungsmüde resignierte. Es sah viel mehr nach einem Hoffnungsschimmer aus.

3 Der Einzug

 

Als Liliane glaubte, dass sie sich das nächste Mal begegnen würden, kam alles anders. Am Einzugstag fühlte sie sich ohnehin schon übermäßig gestresst und fürchtete, im Chaos ihrer vielen Kisten den Überblick zu verlieren. Doch als Nächstes musste der Fahrer des Umzugsautos an der letzten großen Kreuzung in der Stadt eine Notbremsung machen, um einem Auffahrunfall zu entgehen. Genau genommen hätte Liliane froh sein müssen, dass der Fahrer so schnell und rechtzeitig reagiert hatte, um nicht in der Reihe der Knautschautos zu stehen. Aber sie sah in jenem Augenblick nur die Nachteile. Außerdem war ihm dann einer aufgefahren, wenn auch, ohne größere Schäden zu verursachen. Doch so musste sich der Fahrer ewig zur Verfügung stellen, bis die Polizei, die den Fall aufnahm, den fahrfähigen Verkehr wieder passieren ließ.

Liliane hatte das alles nur per Telefon erfahren und machte sich ihre eigenen Bilder dazu. Höchstwahrscheinlich sah es darauf verheerender aus als in Wirklichkeit. Sie stand abwechselnd ungeduldig vor dem Haus oder wieselte zwischen der Wohnung und der Bordsteinkante hin und her. Und sie sorgte sich unentwegt um das Porzellan und die empfindlichen Kerzenleuchter in ihren Umzugskisten und um die Spiegel und die Glasbilderrahmen! Dabei besaß sie gar keine echten Wertgegenstände. Ihr Geschirr wartete längst darauf, mal durch ein richtiges Service ersetzt zu werden, und die paar Kerzenständer wären zwar in der Tat nicht wiederbeschaffbar gewesen, aber ein Weltuntergang war es nicht unbedingt. Sie verhielt sich aber so. Sie beklagte ihr trauriges Schicksal, rannte hin und her und machte sich und die Leute, die ihr über den Weg liefen, verrückt. Wildfremde, arglose Passanten mussten sich ihre ach so tragische Geschichte anhören.

Eine Oma, die ihren Hund ausführte, hörte ihr endlich in Ruhe zu und gab ihr das Gefühl, ernst genommen zu werden. Liliane war ihr unendlich dankbar und ließ deren ›Schnuffi‹ an ihrer Hose rumsabbern, obwohl sie das sonst hasste.

»Erst schnuffeln die Köter an irgendwelchen Hundehaufen und nachher wischen sie sich ihre Nase an meiner Hose ab, obwohl ich doch nur freundlich geschaut hab, weil das Hündchen niedlich aussah«, pflegte sie in der Vergangenheit darüber zu schimpfen. Ihre Hundeliebe war äußerst ambivalent. Sie mochte Hunde, wie alle Tiere, und hätte jederzeit gerne mal einen durchgeknuddelt, wenn da nicht immer die feuchte Hundenase dazwischen stupsen würde, vor der ihr ein wenig grauste.

Lilianes Gedanken ließen unbemerkt von der Fixierung auf das furchtbare Unfallgeschehen ab. Die charmante Oma bot ein so perfektes Schauspiel an verständnisvollem Gucken dar, dass Liliane sogar den Hund neben ihr vergaß.

»Sie werden das schon schaffen, junge Frau. Sie haben so viel Energie, damit könnten Sie einen ganzen Wohnblock umsiedeln.«

Liliane überlegte kurz:

… War das eine versteckte Anspielung? Sollte ich so viel verstehen wie: ›Hören Sie auf, sich aufzuregen und unnötig Energie zu verschleudern?‹ …

Aber nein, die Dame tätschelte ihr den Arm und raunte ihr zu: »Die Dinge finden sich nachher alle wie von selbst, Sie müssen nur darauf vertrauen. Und die Zügel locker lassen.«

Sie schaute ihr tief in die Augen und Liliane staunte über den unerwartet klaren Blick. Das Gesicht der flotten Oma kam ihr überhaupt nicht mehr alt vor.

»Sie sind aber nett!«, stammelte sie hervor. »Danke. Ich glaube, der Himmel hat Sie mir geschickt.«

Die hilfreiche Frau lächelte und wurde immer jünger vor Lilianes Augen. »Ich wohne gleich da hinten in dem hellgrünen Haus, sehen Sie das? Ganz da hinten! Von hier aus sieht man es kaum, aber es ist das einzige in Grün und ist also nicht zu verfehlen. Falls Sie sich mal langweilen sollten, kommen Sie doch bei mir vorbei. Ich habe den Eindruck, dass wir uns gut vertragen würden.« Ein weiteres Mal schaute sie Liliane intensiv und seltsam berührend an.

»Anscheinend verstehen wir uns auch ohne Worte«, nuschelte die zurück. Doch sie wunderte sich über ihre Antwort.

»Ja. Durchaus. Das hab ich auch damit gemeint!« Die Dame, die allmählich wieder älter wurde, zwinkerte ihr verschmitzt zu.

»Hier scheint mir ja eine eigenartige Wohngegend zu sein! Kaum bekommt man intensiven Blickkontakt, schon fühlt man sich regelrecht in seinem Innersten berührt.«

Liliane hatte laut gedacht und zog ruckartig den Kopf zurück. Fast gleichzeitig ging sie aber davon aus, dass die freundliche Frau ohnehin nichts mit ihrem Satz anzufangen wüsste. Bedenkenlos schaute sie ihr ins Gesicht und – es verriet ihr, dass sie sich täuschte.

»Denken Sie daran, dass Sie mich besuchen kommen! Egal wie viel Zeit bis dahin vergeht. Ich warte auf Sie!«

Liliane nickte und flüsterte ein »Ja – versprochen« hinterher. Aber sie hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Die Situation erinnerte sie an Märchen, in denen man einen Pakt mit dem Teufel schloss.

… Aber diese Dame wirkt so alles andere als teuflisch. Eher kommt sie mir wie ein frecher Engel vor, welcher mir eben geholfen hat, nicht selber aus der Haut zu fahren …

Die beiden Frauen lächelten sich an und legten ihre Hände ineinander, um ihr neues Bündnis zu besiegeln. Liliane durchströmte Wärme, die sich bis in ihren Nacken breitmachte, fast so, als wäre sie in eine wohlige Badewanne eingetaucht. Auf einmal wurde sie von solch einer Ruhe erfüllt, dass ihr niemand mehr angemerkt hätte, dass sie sich inmitten ihres Umzugs befand. Das Chaos hatte sich gleich mit beruhigt.

Die sympathische Oma folgte ihrem Hündchen, das bereits das wortlose Signal ›Ich gehe jetzt‹ von seinem Frauchen empfangen hatte.

Liliane schaute diesem eingeschworenen Pärchen hinterher und holte tief Luft.

Als sie sich zur Seite wandte, huschte ihr Blick über die Beschriftungen auf ihren Kartons. Die Möbelpacker waren schon dabei, das Auto auszuladen. Liliane fand es verblüffend, dass sie deren Eintreffen nicht bemerkt hatte, und lächelte belustigt über sich selbst. Sie beobachtete, wie leicht die Leute, auch ohne sie, alles im Griff hatten. Vorsichtig tappte sie die wenigen Stufen bis zur sperrangelweit offen stehenden Haustür hinauf und betrat, die Lage abschätzend, den Hausflur. Die nächsten Stufen stürmte sie nach oben.

Als sie an der Tür des Vermieters vorbeikam, wirbelte ein unbehagliches Gefühl quer durch ihr Inneres. Die Tür, die das in ihr auslöste, wirkte nicht nur verschlossen, sondern abschirmend wie ein Schutzwall. Lilianes Gedanken trommelten gegen ihre Stirn.

… Warum hat er sich bis jetzt überhaupt noch nicht gezeigt? Ich bin mir sicher, dass er zu Hause ist. Ich fühle, dass hinter der Tür jemand steht …

Irritiert schüttelte sie den Kopf und stapfte die nächsten Stufen hoch. Gerade rechtzeitig, um den Trägern nicht im Weg rumzustehen.

Auf dem kleinen Treppenabsatz oben vor der Wohnungstür stand der Boss des Umzugsunternehmens. Er hatte Lilianes Zeichnungen in der Hand, auf denen jedes Regal, jeder Sessel maßstabsgerecht eingezeichnet waren. Sie hatte nächtelang nichts anderes gemacht, als die neue Wohnung virtuell einzurichten und alles akribisch aufzuzeichnen. Die Maße hatte sie sich gleich am ersten Tag vom Vermieter mitgeben lassen, auch wenn sie sich an das rein sachliche Geschehen bald schon nicht mehr so genau erinnern konnte.

Dieses Umzugsunternehmen war ein Glücksfall für jemanden wie sie. Das bemerkenswert eingespielte Team gab ihr keinerlei Anlass, sich in irgendeiner Weise dazwischen schalten zu müssen. Sie hatte das behagliche Gefühl, dass es – auch ohne sie – reibungslos vonstattenging. Um nicht blöd rumzustehen, betrat sie die Küche. Und staunte. Sogar dort waren einige Kartons in einer Ecke angesammelt. Und Möbelteile. Der Träger, der sie abgestellt hatte, huschte schon wieder an ihr vorbei nach draußen. Ein Monteur trat zu ihr in die Küche und sortierte die beschrifteten Schrankteile. Er machte sich offenbar bereit, die Küchenzeile aufzubauen.

»Soll ich Ihnen vielleicht irgendwie zur Hand gehen?«, fragte sie ihn.

Er lächelte und verkniff sich – für Liliane unverkennbar – den Scherz, der ihm dazu einfiel. Ausgesprochen höflich und dennoch angenehm locker erwiderte er: »Ich komme schon klar, bei mir geht das fix. Sobald die ersten Schränke stehen, können Sie ja mal probieren, ob die Kaffeemaschine funktioniert.«

»Geht klar, werde ich machen, aber bis dahin können Sie sich schon mal einen Schluck aus der Thermoskanne genehmigen.« Sie schmunzelte und fand, dass sie seine Anspielung geschickt zurückgespielt hatte.

»Och, aus Thermoskannen trinke ich eher selten, aber wenn Sie auch einen Becher dazu hätten?« Er zwinkerte ihr zu.

»Na Sie machen mir ja Spaß!« Liliane brachte ihm flugs einen Pappbecher voller Kaffee.

»Milch? Zucker?«

»Nur Zucker, aber bitte reichlich.«

Liliane verließ die Küche und freute sich auf die nächste Zeit. Die ersten Tage nach einem Umzug sind immer die spannendsten. Da erkennt man noch all die Möglichkeiten, die in einer neuen Wohnung stecken, bevor die Alltagsroutine damit beginnt, die Lust auf Veränderung und den dazugehörenden Enthusiasmus zu dämpfen.

Das Schlafzimmer war noch leer.

… Offenbar gilt das als unwichtiger Raum …

Sie belächelte diese Ansicht und fühlte sich erwischt, denn ihr kam das allmählich genauso vor. In ihrem Schlafzimmer passierte schon lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Sie flüchtete auf den Balkon.

»Oh, die Blumentöpfe durften schon einziehen, das finde ich aber schön!«, rief sie begeistert dem Träger entgegen, der soeben dabei war, den riesigen Bottich mit dem Olivenbaum abzustellen.

»Na ehe denen noch was passiert. Die stehen ja überall im Weg rum!«, schnaufte er wenig einfühlsam. Er hatte keine Ahnung, wie wichtig Pflanzen in ihrem Leben waren. Ihm erschienen sie in diesem Augenblick nur schwer und hinderlich.

Liliane verstand ihn durchaus. Sie hatte sich selber schon so manches Mal den Rücken verrenkt, wenn sie was umräumen oder gar umtopfen wollte.

»Sie haben aber auch ‘ne Menge solcher Riesentöpfe! Wären Sie denn nicht mit ‘nem Garten besser bedient als mit ‘ner Terrasse?« Seine keuchende Stimme verlieh gleichzeitig den Beschwerden seines Rückens Ausdruck.

»Ja. Vielleicht. Aber ich muss die Pflanzen um mich haben, bin nicht so der Kleingartentyp, verstehen Sie? Mein Garten müsste direkt bei mir am Haus sein.«

»Na gibt’s doch. Kaufen Sie sich eben ein Haus. Dann hamse auch n Garten dazu. Wie hier unten.«

»Klar! Hätte ich auch gern. Fehlt nur noch der Lottogewinn vorher.«

»Nä! Den könnten wir alle gut gebrauchen, wa?« Er grinste und stiefelte von dannen.

Liliane näherte sich dem Brüstungsmäuerchen auf der vorgelagerten Terrasse. Vorsichtig beugte sie sich darüber und versuchte, einen Blick auf die Fenster unter ihrer Wohnung zu erhaschen. Nichts zu machen. Jedenfalls nicht, ohne womöglich Hals über Kopf selbst vor den unteren Fenstern zu landen. Von der linken Mauer aus gelang es ihr, einen Seiten-Flügel des Erkers mit einem Blick zu streifen. Doch die Scheiben spiegelten im hellen Sonnenlicht. Sie konnte so oder so nichts erkennen. Ihr eigener Terrassen-Vorbau verbaute die meiste Sicht. Er war als Dach oberhalb der unteren Fenster angebracht. Ganz unten befand sich ebenfalls eine kleine Terrasse.

Eigentlich clever gemacht, dachte sie, denn wer mag es schon, wenn ihm jemand ins Zimmer lugen kann.

Sie lehnte sich mit breit ausgestreckten Armen rückwärts an die Brüstung und schaute von dort aus in ihr zukünftiges Wohnzimmer. Die Balkontüren standen beide weit auf und ließen sowohl Lilianes Blicke als auch ihre Gedanken ein:

… Genau dort wird mein Arbeitsbereich entstehen, direkt hinter dieser herrlich breiten Türöffnung. Da kann ich winters wie sommers nach draußen schauen und wann immer es möglich ist, bei sperrangelweit offener Tür dem Vogelgezwitscher lauschen …

Sie seufzte.

Das gemütliche Sofa wurde hereingetragen und in der dunkleren Nische des Raumes untergebracht. Genau wie sie sich das gedacht hatte, betonte es dort das kuschelige Eckchen. Sie nickte zufrieden, doch sie seufzte schon wieder, denn eine Erkenntnis drückte ihr von innen gegen die Brust. Auf der Couch würde sie nur sitzen, wenn es draußen dunkel wäre. Wenn überhaupt. Denn seit sie alleine lebte, empfand sie den Platz links und rechts von sich so zum Himmel schreiend leer.

Der Sessel wurde hereingetragen. Ihre Augen strahlten hocherfreut. Es kam ihr sehr gelegen, dass er die Aufmerksamkeit vom Sofa weg auf sich zog. Der Sessel war ihr Lieblingsplatz, um mal abzuschalten. Meistens warf sie sich quer über seine breiten, weich gepolsterten Armlehnen. Sie liebte es jederzeit, sich darauf niederzulassen, doch insbesondere, um sich bequem gelagert in ein Buch zu vertiefen. Jetzt wandte sie ihren Blick wieder von ihm ab und näherte sich lauschend der Tür.

… Da sind doch eben noch lauter fremde Menschen herumgewuselt, wo sind die denn alle hin verschwunden? …

Sie folgte den Geräuschen ins Treppenhaus. Dort beratschlagten die Männer, wie sie die enge Kurve ins Schlafzimmer nehmen könnten, ohne dabei Schrammen zu hinterlassen. Lilianes Kleiderschrank war deutlich zu groß für solche Winkelzüge. Seine Türen hatten sich zwar abmontieren lassen, aber die Rückwand war am Korpus angenagelt und verklebt, es hätte beim weiteren Zerlegen unschöne Schäden gegeben. Die Umzugsleute wollten dem Schrank eine Chance geben, im Ganzen umzuziehen. Ganz in jeder Weise. Einen Versuch war es ja wert, und immerhin – bis hierher war er schon heil gekommen. Nach geraumer Zeit und einigem Ächzen gelang es ihnen, das heilige Stück unbeschadet im Schlafzimmer zu platzieren.

 

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Das Einzige, das Liliane unbegreiflich erschien, war die überaus auffällige Unsichtbarkeit ihres Vermieters Florian Wieland. Bei jeder Runde durchs Treppenhaus schien sie mit ihren Augen sein Namensschild abzutasten. Immer in der Hoffnung, es könne ihr verraten, warum die Tür, auf der es klebte, sich nicht ein einziges Mal öffnete.

… Ein Glück, dass ich mich auf diese Hilfe beim Umzug gar nicht erst eingelassen habe. Oder ist eben das mein Fehler gewesen? Ist er beleidigt, dass ich seine Hilfe nicht in Betracht gezogen, sondern lieber ein professionelles Umzugsunternehmen beauftragt habe? Trotzdem merkwürdig. Bei dem Anfang – mit all seinem Zauber …

4 Seltsam – einsam

 

Als am Abend alle weg waren, wirkte es überaus still in der Wohnung. Die Tür nach draußen war eigensinnig ins Schloss gefallen. Die Balkontür musste ebenfalls geschlossen werden, weil ein heftiger Wind aufkam.

Liliane schaute sich in der neuen Umgebung um und war äußerst zufrieden, wie angenehm unaufgeregt sich das Chaos hatte ordnen lassen. Ihre Augen tasteten die Wände ab und erkannten so manch Vertrautes wieder. Die Umzugsleute hatten in der alten Behausung alles fotografiert und katalogisiert und hier dementsprechend eingeräumt. Jedes Buch stand an seinem angestammten Platz im Regal. Doch gerade das erschien Liliane etwas makaber.

… All mein Hab und Gut ist bereits angekommen, selbst die Küchengeräte finden sich in ihren Schränken. Nur ich stehe hier rum und fühle mich plötzlich heimatlos. Warum? Müsste ich mich jetzt nicht freuen? Sollte ich nicht vor Begeisterung, wie unkompliziert der Umzug abgelaufen ist, Luftsprünge machen? Sogar die anfänglichen Störungen durch den Unfall hatte ich ja zeitweise fast völlig vergessen …

Doch Liliane fühlte sich etwas verloren in ihrer neuen Wohnung. Ratlos starrte sie Löcher in die Luft und entdeckte prompt die Ursache ihres Übels, auch wenn sie es sich nicht gleich eingestehen wollte. Inmitten des Raumes erschien eine Erinnerungsblase und zeigte ihr einen Mann, den sie tagsüber unentwegt vermisst hatte.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie sich eine Flasche Wein schnappen sollte, um damit bewaffnet unten zu klingeln. So nach dem Motto: Wir könnten doch auf unsere hoffentlich gute Nachbarschaft anstoßen. Doch allein, dass sich in diesen Gedanken das Wörtchen ›hoffentlich‹ eingeschlichen hatte, raubte ihr jeden Mut, die Idee in die Tat umzusetzen.

Stattdessen lauschte sie auf die Klingel. Käme er denn nicht womöglich auf die Idee, mit eben erdachter Flasche Wein zu ihr zu kommen? Sie schlich zur Wohnungstür und öffnete sie. Sie schaute sich verstohlen um und spitzte die Ohren. Nichts und niemand. Sie klingelte bei sich selber, um ihren eigenen Klingelton kennenzulernen. Es folgte ein angenehmes, tieftönendes Ging-Gong. »O schön! Jetzt kenne ich schon mal den Ton, den ich weiterhin geduldig erwarten werde«, flüsterte sie vor sich hin.

»Geduldig?!«, keckerte ihr Kobold.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134452
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Träume Neuanfang Familienbund Bindungsangst Trauerbewältigung Psychologie mutige Frauen neue Liebe Geister der Vergangenheit Vertrauen finden

Autor

  • Mira Stern (Autor:in)

Mira Stern, Jahrgang 1972, studierte Germanistik/Kunstwissenschaft an der Universität Halle/Wittenberg. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa und den Nahen Osten lebte sie einige Jahre in Griechenland. Inzwischen widmet sie sich alten Menschen und betreut ehrenamtlich das Projekt ›Altern im Einklang mit der Natur‹.
Mira Stern Bücher entführen in Traumwelten:
›Die eigenwillige Magie der Liebe‹
›Liebe mit gemischten Gefühlen‹
›Geheimbund mit Dame‹

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Titel: Liebe mit gemischten Gefühlen