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Gefangen!

Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg

von Ernst Reuß (Autor:in)
282 Seiten

Zusammenfassung

Beide Großväter des Autors waren in der Sowjetunion. Einer in der Kommandantur eines Kriegsgefangenenlagers für sowjetische Kriegsgefangene in der Ukraine, der andere als Kriegsgefangener in genau demselben Lager, nach Ende des Krieges. Auf der Suche nach Verantwortung wird Reuß, ein Jurist aus Berlin, mit dem Problem von deutschen und sowjetischen Soldaten konfrontiert, die in die Hände des Feindes gerieten. Er recherchiert. Aus persönlicher Betroffenheit wird schließlich eine Dokumentation, wie es sie bis dato nicht gab. An die sechs Millionen Rotarmisten gingen in deutsche Kriegsgefangenschaft mehr als die Hälfte kam hier um.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Texte © Copyright by erma Verlag, Neue Straße 14, 97493 Bergrheinfeld, historisches.sachbuch@gmx.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN-13: 978-3739393230

Vorbemerkungen

Zum Thema

„Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges1.“Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ bestand in Deutschland wenig Interesse am Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener. Anteilnahme erregten lediglich die enormen deutschen Verluste in der Sowjetunion und das Schicksal deutscher Soldaten in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Die Bewusstwerdung des Holocaust führte in erheblichem Maße zur Verdrängung der Verbrechen an Bürgern der Sowjetunion. Die eigenen Verbrechen dort, soweit überhaupt zur Kenntnis genommen, wurden mit Verbrechen der Alliierten aufgewogen.

Dies gipfelte darin, dass in Westdeutschland Mahnmale, die von den Sowjets oder von Überlebenden der Kriegsgefangenenlager errichtet worden waren, beseitigt oder entschärft wurden2. Schon harmlose Inschriften, die das Leid der Gefangenen darstellen sollten, waren offenbar dem Wirtschaftswunderdeutschen nicht mehr zuzumuten.

Waren gar Sowjetstern oder Hammer und Sichel auf den Denkmälern zu sehen, wurde dies in der noch jungen BRD häufig entschärft.

Waren auf den Gedenksteinen bei den sowjetischen Massengräbern Zahlen der Opfer genannt, wurde penibel nachgerechnet und notfalls eine Tafel mit einer Gegenrechnung daneben gestellt.

Obwohl bis zu 3,3 Millionen von 5,7 Millionen Gefangenen in den Lagern umgekommen sind und die sowjetischen Kriegsgefangenen somit neben den Juden diejenige Opfergruppe waren, die das schlimmste Schicksal im Zweiten Weltkrieg erleiden musste, wurde nichts Genaueres über die sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt.

„Systematische Massenmorde an Kriegsgefangenen sind nicht allein vom nationalsozialistischen Deutschland begangen worden. Vielmehr hat es sie in der Geschichte seit der Antike immer wieder gegeben. Dennoch ragt auch hier wieder der deutsche Fall heraus, wegen der enormen Dimensionen, die noch einmal durch das kalkulierte Hungersterben in den Schatten gestellt wurden.“3Wenngleich es sich bei den deutschen Lagern im Osten zumindest anfangs um reine Vernichtungslager für „slawische Untermenschen“ handelte, interessierten sich weder Sowjets noch Amerikaner für eine umfassende Aufklärung.

Die Amerikaner hatten zu Beginn des Kalten Krieges kein sonderliches Interesse, das Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen ausführlich zu dokumentieren. Außerdem wurden mitverant-wortliche Wehrmachtsgeneräle für den Neuaufbau einer westdeutschen Armee, als Bollwerk gegen den Kommunismus, dringend gebraucht.

Den Sowjets andererseits war daran gelegen, den weitgehenden Zusammenbruch ihrer Armee im Sommer 1941, bei dem über 5 Millionen sowjetische Soldaten gefangen genommen wurden, zu verschleiern.

Außerdem galt ein Kriegsgefangener nach stalinistischer Doktrin als Verräter, und sich gefangen nehmen zu lassen, wurde als Straftat bewertet. Propagandastellen hatten dazu aufgerufen, sich stattdessen das Leben zu nehmen. Alle sowjetischen Kriegsgefangenen standen unter einem generellen Kollaborationsverdacht, wurden nach Ende des Krieges in „Filtrationslagern“ verhört und in vielen Fällen erneut zu langjähriger Lagerhaft verurteilt.

Aus diesen Gründen unterblieb lange Jahre auch jede Beschäftigung deutscher Historiker mit diesem brisanten Thema. Die Vergangenheitsbewältigung in Büchern und anderen Massenmedien während des Kalten Krieges bestärkte vielmehr die Überzeugung, dass im Krieg gegen die Sowjetunion lediglich einige Exzesse der SS zu bedauern wären.

Immer wieder wurde versucht, Kriegsverbrechen von sowjetischen Soldaten und die vielen Untaten des Diktators Stalin mit den deutschen Verbrechen in der Sowjetunion und den Untaten des Diktators Hitler aufzurechnen.

Mit diesem Buch sollen das „Unternehmen Barbarossa“, also der Feldzug der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion, und die damit verbundenen Folgen, insbesondere die Kriegsgefangenschaft, aus der Sicht zweier einfacher Soldaten dargestellt werden. Als zentraler Punkt wird die Behandlung und das unterschiedliche Schicksal von sowjetischen und deutschen Gefangenen thematisiert, was bisher – zumindest betrifft dies die kriegsgefangenen sowjetischen Soldaten – nur sehr unzureichend und im Hinblick auf die kriegsgefangenen deutschen Soldaten oftmals lediglich verzerrt geschah.

Durch die Tatsache, dass beide Protagonisten des Buches in grundsätzlich unterschiedlichen Positionen im selben Kriegsgefangenenlager in Winniza in der Ukraine waren – der eine in der Kommandantur unter deutscher Herrschaft, der andere als Gefangener unter sowjetischer Herrschaft – kann die ungleiche Behandlung von Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg exemplarisch dargestellt werden.

Möglicherweise ist der unterschiedliche militärische Werdegang dieser beiden Soldaten auch typisch für jene Zeit. Auf jeden Fall werden aber zwei deutsche Militärangehörige an der Ostfront gezeigt, die gegenüber dem Nationalsozialismus gegensätzliche Haltungen einnehmen. Aus den noch vorhandenen persönlichen Zeugnissen jener Zeit, insbesondere Fotos und Feldpostbriefen, soll ein Bild der Geschichte gezeichnet werden, welches das Schicksal einfacher Menschen im Zweiten Weltkrieg begreifbarer macht.

Quellenlage

Auf Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht wurde nach Kriegsbeginn bei allen Wehrkreisen je ein „Kommandeur der Kriegsgefangenen“ für die einzurichtenden Kriegsgefangenenlager bestellt. Die Abteilung Kriegsgefangenenwesen, die für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen zuständig war, führte ab 1942 die Bezeichnung „Chef des Kriegsgefangenenwesens“. Auf Weisung Hitlers wurde Ende Juni 1943 zudem ein „Generalinspekteur für das Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht“ eingesetzt. Zuletzt wurde Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, angewiesen, Aufsicht und Kontrolle über das Kriegsgefangenenwesen auszuüben. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits fast alle außerhalb des Deutschen Reichs befindlichen Kriegsgefangenenlager geräumt.

Die Kommandeure der Kriegsgefangenen mussten Kriegstagebücher führen, die dann in das Heeresarchiv nach Potsdam gelangten. Vermutlich wurden diese Bestände jedoch in der Nacht zum 15. April 1945 bei einem schweren britischen Luftangriff vernichtet oder zusammen mit anderen Kriegstagebüchern und Akten von den deutschen Stellen verbrannt.

Man hatte ja schließlich einiges vor den anrückenden Alliierten zu verbergen. Die Registraturen der Kriegsgefangeneneinrichtungen selbst mussten keine Unterlagen an das Heeresarchiv abgeben. Wahrscheinlich wurden beim Rückzug oder zum Kriegsende all diese Unterlagen vernichtet.

Dadurch gibt es große, nicht mehr zu schließende Lücken, so dass die Aufarbeitung des Schicksals der Gefangenen sich heute zum Teil schwierig gestaltet und umfassende Aussagen zu den meisten Lagern überhaupt nicht mehr möglich sind.

Das Bundesarchiv in Freiburg verwahrt lediglich Akten von wenigen, im Reichsgebiet befindlichen Kriegsgefangenenlagern. Einige Angaben zu den Kriegsgefangenenlagern im Osten lassen sich auch auf Wehrkreisebene bei den Kommandeuren der Kriegsgefangenen oder bei den Beständen mit Bezug auf die rückwärtigen Armeegebiete finden. Allerdings sind auch diese Überlieferungen mehr als lückenhaft, geben aber teilweise anschauliche Einblicke in die katastrophalen Zustände einzelner Lager. Material zum Thema Kriegsgefangenenwesen ist neben den regionalen Archiven auch in ministeriellen Beständen sowie in den erhalten gebliebenen Unterlagen der zentralen Ämter der SS zu finden, die vom Bundesarchiv in Berlin verwahrt werden. Auch die Zentralstelle für die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg verfügt über Schriftgut im Umfang von etwa einem Kilometer, darunter einzelne Unterlagen zu Kriegsgefangeneneinrichtungen.

Zum Teil befinden sich von den Alliierten erbeutete Akten auch noch in deren Archiven, beispielsweise im Staatsarchiv Moskau und im Militärarchiv in Prag. Personenbezogene Unterlagen über das Kriegsgefangenenwesen wurden grundsätzlich in der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin verwahrt, aber zu Kriegsende in der Drachenbergkaserne in Meiningen ausgelagert. Dort wurden die Unterlagen nach dem Krieg von den Amerikanern beschlagnahmt und nach dem Wechsel der Besatzungsmacht in Thüringen mit unbekanntem Ziel in die UdSSR gebracht. Das sehr umfangreiche Schriftgut soll beim Abtransport in 377 Kisten verpackt worden sein. Im Zentralen Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Podolsk bei Moskau wurde dieser Aktenbestand der Wehrmachtsauskunftsstelle gefunden. Aber auch diese Unterlagen tragen wenig zur Aufarbeitung des Kriegsgefangenenwesens im Zweiten Weltkrieg bei, da es sich dabei nur um Personalakten handelt.

Literatur zum Thema „Kriegsgefangene“ gibt es reichlich. Allerdings beschränkt sich diese zumeist auf das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion oder auf das Schicksal der zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten Kriegsgefangenen. Andere Bücher streifen bei der Beschreibung des Zweiten Weltkrieges oder bei einzelnen Aspekten des Krieges die Kriegsgefangenen lediglich am Rande.

Die wenigen vorhandenen deutschen Publikationen über Kriegsgefangenenlager sind eher dem heimatkundlichen Bereich zuzuordnen. Daher verwundert es nicht, dass es auch keine fundierte Untersuchung über die Lager auf den Gebieten des Generalgouvernements und der Reichskommissariate Ostland und Ukraine gibt.

Bücher auf Deutsch, die sich wirklich intensiv mit den Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen auseinandersetzen, gibt es nur drei:

Müller, Nikischin, Wagenlehner (Hrsg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941–1956, von 1998; Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangenenlager im „Fall Barbarossa“, aus dem Jahre 1981 und Christian Streit, Keine Kameraden, von 1978.

Es handelt sich dabei um wissenschaftliche Untersuchungen, die sich lediglich abstrakt mit dem Verbrechen beschäftigten, ohne direkt auf das Schicksal einzelner Menschen einzugehen, also keine Sicht „von unten“ bieten.


Warum dieses Buch?

Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Ein am Rand einer Grube mit Leichen kniender einzelner Zivilist, der direkt in die Kamera des Fotografen blickt, während ein deutscher Soldat von hinten die Pistole auf seinen Kopf richtet. Der Fotograf hatte offensichtlich kurz vor der Liquidierung auf den Auslöser gedrückt. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattgefunden hatte. Es war Winniza4 in der Ukraine. „Der letzte Jude von Winniza“ soll auf dem Originalfoto gestanden haben, das nach sowjetischen Angaben bei einem gefallenen deutschen Soldaten gefunden wurde. Ob es tatsächlich so war, lässt sich wohl nie wieder verifizieren. Sicher ist aber, dass sich solche Szenen hunderttausendfach im Rücken der Ostfront abspielten5.

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Das Foto der Erschießung in Winniza

Winniza?

Winniza hatte ich schon gehört. Mein Großvater soll dort gewesen sein, während des Krieges. Mein Großvater Ernst, der zu früh Verstorbene, nach dem ich benannt worden war. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben.

Von da an interessierte es mich brennend, was in Winniza geschah und wo genau meine Großväter im Zweiten Weltkrieg tätig waren. Mich ließ das Thema nicht mehr los. Ich begann nachzuforschen. Nach den Büchern über den Feldzug gegen die Sowjetunion und den darin veröffentlichten Bildern zu schließen, geschahen solche Liquidationen anscheinend häufiger, auch weit hinter der Front. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass man als Soldat von derartigen Verbrechen nichts mitbekam.

Zu meinem Erstaunen und dem Erstaunen meiner Familie musste ich erfahren, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Kriegsgefangenenlagers tätig gewesen war. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen waren.

Zu meinem noch größeren Erstaunen stellte ich fest, dass zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien zu lesen war, aber es kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgegangenen gab, obwohl 3,3 Millionen von ihnen in den deutschen Vernichtungslagern umgekommen waren. Einzig Christian Streit hatte 1978 eine umfassende Dissertation über das Problem geschrieben. Sein Buch „Keine Kameraden“ hatte wohl zu einigen Diskussionen geführt, aber danach herrschte wieder weitgehend Ruhe, was dieses Thema betraf.

Zu meinem allergrößten Erstaunen erfuhr ich bei meinen Nachforschungen, dass mein anderer Großvater, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren.

Ich wollte nun noch genauer wissen, was in Winniza geschehen war. Stipendiumsanträge oder Anfragen an renommierte Wissenschaftler, inwieweit es möglich wäre, mich bei der Erforschung dieses Teils der Geschichte zu unterstützen, blieben ergebnislos. Meist war es den Angesprochenen nicht einmal eine Antwort wert. Private Fotomaterialien und Rechercheergebnisse, die dem Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst zur Verfügung gestellt wurden, blieben für immer verschwunden. Angeblich seien sie gestohlen worden. Anzeige wurde deswegen seltsamerweise nicht gestellt. Kontaktaufnahmen mit Historikern aus der Ukraine führten auch nicht weiter. Trotzdem versuchte ich, weitere Erkenntnisse zu gewinnen und besuchte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Thematik hergeben konnten. Am effektivsten waren dabei zwei Aufenthalte in der Zentralstelle für die Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Aber auch in den Bundesarchiven in Berlin und Freiburg wurde ich fündig. Leider waren die Ergebnisse begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde.

Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront.

Das Bild von schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen.

Aus diesem Grund beschloss ich, da nunmehr dafür genügend Material vorhanden war, ein Buch zu verfassen, um diese viel zu kurz gekommene Thematik zumindest jetzt einem breiteren Publikum vor Augen zu führen.

Ein derartiges Buch aus dem Blickwinkel Betroffener, das sich auch intensiv mit den Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangen beschäftigt, gibt es bisher nicht. Ausgehend vom Lager in Winniza soll die Gesamtproblematik dargestellt werden.

Die letzten deutschen Kriegsgefangenen verließen erst 1955 die Sowjetunion.

2015 jährt sich dieses Ereignis zum sechzigsten Mal und zum siebzigsten Mal der Tag der Befreiung. Es ist zu befürchten, dass die dazu erscheinenden Publikationen sich hauptsächlich mit dem schweren Schicksal deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion beschäftigen werden. Mit den Verbrechen an sowjetischen Gefangenen wird man sich dabei wahrscheinlich erneut kaum auseinander setzen.

Das „Unternehmen Barbarossa“

1941

Am 22. Juni 1941 beginnt der deutsche Überfall auf Russland mit dem Vormarsch dreier Heeresgruppen. Rumänien, Italien, die Slowakei, Finnland und Ungarn schließen sich dem Deutschen Reich an. Der dem Angriff zugrunde liegende „Barbarossaplan“ spielt auf Kaiser Friedrich I. an, der im 12. Jahrhundert einen Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ angeführt hatte. Das ZK der KPdSU ruft daraufhin den „Vaterländischen Krieg“ aus. Der deutsche Vormarsch an allen Fronten scheint unaufhaltsam. Im Juli und August werden große sowjetische Verbände in Kesselschlachten vernichtet. In Bialystok und Minsk werden mehr als 300 000 Gefangene gemacht, in Smolensk nochmals 310 000. Im September wird Leningrad von jeder Landverbindung abgeschnitten. Östlich von Kiew kommt es zur Gefangennahme von über 600 000 sowjetischen Soldaten. Allerdings haben die deutschen Truppen – durch anhaltenden sowjetischen Widerstand – ebenfalls starke Verluste zu verzeichnen. Der Vormarsch verlangsamt sich. Dennoch, mit dem am 2. Oktober beginnenden Angriff auf Moskau kommen die deutschen Truppen bis auf 30 km vor Moskau. Die Artillerie ist in der Lage, den Kreml ins Visier zu nehmen. Doch schon am 5. Dezember 1941 erfolgt eine sowjetische Gegenoffensive mit frischen Kräften, welche die Deutschen erstmals zum Rückzug zwingt. Ein erster Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges6.

1942

Allerdings wird dieser Rückzug in einer Verteidigungsstellung unter starken Verlusten im Januar 1942 stabilisiert. Dabei sind die Verluste der deutschen Armee derartig hoch, dass an eine breite Gegenoffensive nicht mehr zu denken ist. Die weitergehende Winteroffensive der sowjetischen Armee erzielt bis März Teilerfolge, erreicht jedoch nicht die angestrebten Ziele. Im Mai scheitert eine sowjetische Offensive bei Charkow, bei der erneut circa 250 000 Soldaten in deutsche Gefangenschaft geraten.

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Gefangene Rotarmisten 1942. Bundesarchiv, Bild 183-B21845 / Wahner / CC-BY-SA

Im Sommer 1942 versucht nun wieder die deutsche Armee eine Offensive. Man erreicht die Wolga und die kaukasischen Ölfelder, was die Sowjetunion wiederum in eine erhebliche Krise stürzt. Im Juni wird durch die deutschen Soldaten die Festung Sewastopol und damit die gesamte Krim erobert. Im August erreichen deutsche Truppen die Kaukasushöhen, können allerdings die Sowjets nicht entscheidend schlagen. Einen Monat später beginnen die Kämpfe um Stalingrad. Die Stadt ist im Oktober zu 90 Prozent besetzt. Am 19. November kommt es zu einer sowjetischen Gegenoffensive, die zur Einkesselung der 6. Armee und rumänischer Verbände führt.

1943

Am 31. Januar 1943 kapitulieren die eingeschlossenen Truppen bei Stalingrad. Von ehemals 250 000 Mann gehen 90 000 Überlebende in Gefangenschaft. Im Sommer, am 5. Juli, versucht die deutsche Armee erneut eine Großoffensive bei Kursk mit 600 000 Mann und 2 700 Panzern. Die deutschen Soldaten werden jedoch aufgehalten und bis an den Dnjepr zurückgedrängt. Erfolglos wird versucht, den sowjetischen Vormarsch aufzuhalten. Die Sowjets erobern am 6. November Kiew zurück. Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien wurde zuvor schon Hitlers wichtigster Verbündeter Mussolini am 25. Juli 1943 abgesetzt und verhaftet. Mit den US-Amerikanern vereinbarte Italien danach ein Waffenstillstand, der am 8. September 1943 öffentlich gemacht wurde. Am 13. Oktober 1943 erklärte Italien dem Deutschen Reich den Krieg und trat an der Seite der Alliierten wieder in den Krieg ein.

1944

Im Januar 1944 wird die Heeresgruppe Nord hinter den Peipussee zurückgedrängt, was auch das Ende der Belagerung Leningrads bedeutet. Während der sowjetischen Frühjahrsoffensive im März werden die deutschen Truppen ganz aus der Ukraine vertrieben. Die Krim wird erst im Mai unter großen Verlusten geräumt. Drei Jahre nach Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion beginnt am 22. Juni die sowjetische Sommeroffensive, die zur Zerschlagung des ganzen Frontabschnitts führt und zur Gefangennahme beziehungsweise zum Tod von 350 000 deutschen Soldaten. Am 28. Juli befinden sich die sowjetischen Truppen in Brest. Im August wird der Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht blutig niedergeschlagen. Kurz danach wechselt in Rumänien die Regierung und erklärt Deutschland den Krieg. Italien Finnland vereinbart mit den Alliierten am 19. September einen Waffenstillstand, und im Oktober wird Belgrad durch sowjetische und jugoslawische Truppen besetzt.

1945

Am 12. Januar 1945 beginnt die sowjetische Offensive, die bis Anfang Februar von Warschau bis nach Schlesien und über die Oder führt. Große Fluchtbewegungen bei der deutschen Zivilbevölkerung setzen ein. Man befürchtet Racheexzesse. Am 11. Februar wird Budapest, am 13. April Wien erobert. In der Nacht vom 15. auf den 16. April beginnt der Angriff auf die letzten deutschen Abwehrstellungen an der Oder. Der Marsch nach Berlin kann nicht mehr aufgehalten werden. Am 30. April begeht Hitler Selbstmord. Der Berliner Stadtkommandant Weidling kapituliert zwei Tage später. Am 7. Mai wird in Reims beziehungsweise in der Nacht auf den 9. Mai in Berlin/Karlshorst die Kapitulation Deutschlands unterzeichnet.


  1. Prof. Dr. Hans Mommsen in: Haus der Geschichte, Kriegsgefangene, 1995, S. 141 f.

  2. Vergleiche beispielsweise Borgsen/Volland, Stalag X B Sandbostel, 1991, S. 248 ff und Stiftung Sächsischer Gedenkstätten, Für die Lebenden, 2003, S. 22.

  3. Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht, 2008, S. 237.

  4. Laut Yad Vashem Photo Archives 2626/4.

  5. Knopp, Bilder, die wir nie vergessen, 2014, S. 146 ff.

  6. Beevor, Der Zweite Weltkrieg, 2014, S. 298: „Durch den Rückschlag vor Moskau und den Eintritt der USA in den Krieg geriet der Dezember 1941 zum Wendepunkt der Weltpolitik. Von nun an war Deutschland nicht mehr in der Lage, den Zweiten Weltkrieg eindeutig zu gewinnen, auch wenn noch die Kraft besaß, schreckliches Unheil anzurichten und Tod zu verbreiten.“.

Ein normaler Soldat

Werdegang

Ernst kam aus einfachen Verhältnissen. Er wurde am 11. März 1908 als jüngstes von drei Kindern im fränkischen Schweinfurt geboren. Sein Vater Johann war Schreiner, die Mutter Koletta Hausfrau. Nach der Grundschule bekam der begabte Schüler ein Stipendium, machte eine Lehre als Kaufmann und wurde schließlich Kontorist bei einer Maschinenfabrik. Bereits mit 14 Jahren, am Beginn seiner Lehre, wurde er Mitglied der Deutschen Angestelltengewerkschaft.

Ernsts Leben verlief vollkommen normal und ohne größere Schicksalsschläge.

Mit 22 Jahren, am 14. November 1930, heiratete er die im vierten Monat schwangere Eleonora, deren Vater einen kleinen Handwerksbetrieb in einem Vorort besaß. Ernst wurde in den nachfolgenden Jahren Vater von drei Söhnen und wohnte zusammen mit seiner Familie im Haus des Schwiegervaters vor den Toren der Stadt in Bergrheinfeld.

Bis 1929 waren die Nationalsozialisten in Schweinfurt lediglich eine Splittergruppe mit gerade mal zehn Mitgliedern. Trotzdem sprach Adolf Hitler am 16. Oktober 1932 vor begeisterten 15 000 Schweinfurtern. Der Boden war also schon bereitet als Hitler 1933 die Macht ergriff. Willkürlich wurden die Nazimandate im Schweinfurter Stadtrat auf zwei auf neun erhöht, fünf der damals dreizehn SPD-Stadträte aus dem Rat ausgeschlossen und einige andere in „Schutzhaft“ genommen. „Die Bewegung“ wuchs von nun an sehr schnell.

Auch in Bergrheinfeld blieb der nationalsozialistische Siegeszug nicht unbemerkt. In der Dorfchronik wird beschrieben, wie SA-Mitglieder aus der Stadt Versammlungen des Fränkischen Bauern- und Mittelstandsbundes störten und mit Trommelwirbel durch die Dorfstraße zogen. Die Dorfchronik erwähnt auch, wie bei einem derartigen Aufmarsch der braunen Horde ein mutiger einsamer „Heil Moskau“-Rufer am Straßenrand von einem SA-Mann geohrfeigt wurde. Größere Auseinandersetzungen zwischen Dorfbewohnern und SA sind nicht erwähnt. Dennoch war der braune Spuk den Bürgern des Ortes suspekt und man sprach sich eher gegen die nationalsozialistischen Randalierer aus.

Dies änderte sich jedoch sofort nach Hitlers Machtergreifung.

Man passte sich hurtig an.

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Bergrheinfeld nach Hitlers Machtübernahme

Bereits am 9. Mai 1933 beschloss der Gemeinderat, die Hauptstraße zu teilen und in Adolf-Hitler-Straße sowie Hindenburgstraße umzubenennen. Obwohl nur zwei Mitglieder des zehnköpfigen Gemeinderats der NSDAP angehörten, wurde der Beschluss einstimmig gefasst.

Auch Ernst passte sich den neuen Verhältnissen, mit denen er schon vorher insgeheim sympathisiert hatte, schleunigst an. Bereits am 1. Mai 1933, ein Vierteljahr nach Hitlers Machtübernahme, trat er in die NSDAP ein und wurde als Scharführer Mitglied der SA. Sein Schwiegervater war für die NSDAP im Gemeinderat tätig.

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Ernst (Zweiter von links) marschiert

Außerdem war Ernst Mitglied der Deutschen Arbeitsfront geworden. Die DAF war die nationalsozialistische Nachfolgeorganisation der Gewerkschaften. Sie wurde mit dem Vermögen der Gewerkschaften als Einheitsverband von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gegründet. Hitler hatte schon am 2. Mai 1933 alle Gewerkschaften aufgelöst, Streiks verboten und Gewerkschaftshäuser besetzen lassen. Viele Gewerkschaftsfunktionäre wurden verhaftet und in Konzentrationslagern interniert. Die Bildung anderer Organisationen neben der Deutschen Arbeitsfront war von nun an ausdrücklich verboten.

Doch so ganz sicher konnte man sich in der Anfangszeit der Machtübernahme auch als braver Parteimitläufer und SA-Mitglied nicht sein. Gut ein Jahr später war es schon nicht mehr unbedingt „en vogue“, Mitglied der SA zu sein. Am 30. Juni 1934 und den zwei darauffolgenden Tagen wurden viele Mitglieder und Personen aus dem Umfeld der SA sowie deren Führer Ernst Röhm wegen eines angeblichen Putschversuchs ermordet. Wie viele Personen letztlich umgebracht wurden, ist nicht genau feststellbar. Die Zahlen schwanken zwischen 61, so zumindest Hitler in einer Reichstagsrede, und über 1 000. Am 3. Juli 1934 wurde folgendes Gesetz beschlossen und im Reichsgesetzblatt veröffentlicht1:

„Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe vom 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.“

Die Morde waren somit gesetzlich legitimiert. Der rechtgläubige Deutsche brauchte also kein schlechtes Gewissen zu haben.

Nach dem sogenannten Röhmputsch war die SA weitgehend entmachtet und von den 4,5 Millionen Mitgliedern des Jahres 1934 blieben im Oktober 1935, nach zahlreichen Austritten, nur noch 1,6 Millionen übrig.

Auch Ernst trat aus und fand ein neues Aufgabengebiet. Er wurde Obergefolgschaftsführer der HJ. Die HJ war militärisch durchstrukturiert und gliederte sich vom Gebietsführer über den Bannführer bis zum Gefolgschafts-, Schar- und Kameradschaftsführer.

Als ausgezeichneter Sportler hamsterte Ernst in den folgenden Jahren Pokale im Turnen, Faustball und Fußball und „erzog“ nebenbei die Dorfjugend. Wobei sich die Erziehung eher auf den sportlichen als auf den politischen Bereich erstreckte.

Die nächsten Jahre verliefen ruhig. Ernst hatte eine fünfköpfige Familie zu ernähren und war als Sportass ziemlich beliebt in seiner Umgebung. Bei Kriegsbeginn, im September 1939, wurde er vorerst nicht eingezogen.

Erst nachdem eine Bäuerin aus der Nachbarschaft ihn beschimpfte, weil er als HJ-Führer und NSDAP-Mitglied nicht im Krieg sei, während schon einige Söhne des Ortes eingezogen worden waren, meldete er sich freiwillig. Dass er ein Feigling wäre, wollte er sich dann doch nicht sagen lassen.

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Ernst als HJ-Führer

Sein Diensteintritt erfolgte am 20. Mai 1940.

Aufgrund seiner kaufmännischen Ausbildung blieb ihm der Dienst direkt an der Front erspart. Trotzdem war das beschauliche Leben vorbei. Man hatte ja schließlich seine vaterländische Pflicht zu erfüllen.

Er wurde beim 2. Landesschützenbataillon 807 ausgebildet und war ab 9. August 1940 im Stammlager XIII B in Weiden in der Oberpfalz eingesetzt.

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Ernst als Soldat

Stalag XIII B in Weiden war ein Kriegsgefangenenlager für belgische, französische, polnische, jugoslawische, amerikanische, sowjetische, englische und italienische Soldaten sowie für spanische Zivilisten. Maximal gab es dort 31 000 Gefangene. Es wurde am 17. Juli 1940 als Barackenlager errichtet.


Im Stalag

Organisiertes Sterben

Zur Unterbringung Gefangener hatte die Wehrmacht seit 1939 ein engmaschiges Netz von Kriegsgefangenenlagern in Deutschland und den besetzten Gebieten errichtet. Im Wehrkreis X III – also in Franken und in der Oberpfalz – gab es noch andere Kriegsgefangenenlager: zum Beispiel Stalag XIII A in Sulzbach, XIII C in Hammelburg und XIII D in Nürnberg-Langwasser.

Die für den Feldzug gegen die Sowjetunion vorgesehenen Stalags erhielten eine Bezeichnung mit arabischen Zahlen aus der „300er-Reihe“. Die 100er- und die 200er-Reihe waren zuvor für die Lager im Frankreichfeldzug benutzt worden.

Die im Reich verbliebenen „Russenlager“ erhielten neben der arabischen Zahl die übliche, dem Wehrkreis entsprechende Kennzeichnung mit einer römischen Zahl. Beispielsweise hieß das Lager in Zeithain: Stalag 304 IV H Zeithain. Für das Gelände des Truppenübungsplatzes Zeithain wurde zunächst die Aufstellung der Stalags 304 und 314 befohlen.

Später wies man ihm noch zusätzlich das Stalag 329 aus dem Wehrkreis XIII zu, das später als Frontlager nach Winniza in die Ukraine verlegt wurde.

Ab 18. April 1941 wurde Ernst in die Kommandantur des Stammlagers 329 versetzt.

Man bereitete das „Unternehmen Barbarossa“ vor und erwartete beim „blitzschnellen“ Vormarsch massenhaft Kriegsgefangene. Stalag 329, welches zuerst in Amberg in der Oberpfalz aufgestellt worden war, befand sich vom 4. Juni bis Mitte Juli 1941 unbelegt auf dem Truppenübungsplatz Zeithain, nahe der sächsischen Industriestadt Riesa an der Elbe. Auch das Zeithainer Lager bestand, wie die anderen Russenlager in Deutschland, lediglich aus einem mit Stacheldrahtverhau umgebenen Gelände.

Laut Befehl sollten Unterkünfte für serbische Kriegsgefangene vorbereitet werden. Es handelte sich bei diesem Befehl jedoch nur um eine Tarnmaßnahme, die den wahren Grund, den Angriff auf Russland, verschleiern sollte.

Ab 8. April 1941 wurde das Personal für das Lager Zeithain aufgestellt. Das Stammpersonal gliederte sich in sechs Gruppen: Kommandantur, Arbeitseinsatz, Sanitätsoffizier, Abwehr und Postüberwachung, Verwaltung, Fahrbereitschaft. Die Unterkünfte des Personals lagen außerhalb des Stammlagers. Außerdienstlicher Kontakt mit den Kriegsgefangenen war verboten.

Wachpersonal wurde von den Landesschützenbataillonen rekrutiert. Dabei handelte es sich normalerweise um bedingt verwendungsfähige, meist ältere Männer. Die Sollstärke bestand bei einem auf 30 000 Kriegsgefangenen ausgelegten Lager aus 20 Offizieren, 69 Unteroffizieren und 149 Mannschaften sowie 18 Zivilbeamten; bei einem Lager mit 10 000 Kriegsgefangenen aus 14 Offizieren, 23 Unteroffizieren, 61 Mannschaften sowie 33 Zivilbeamten2.

Ernst war einer von ihnen. Er war in der Schreibstube beschäftigt und brachte es im Laufe der Kriegsjahre bis zum Oberfeldwebel.

Die in den Nürnberger Prozessen von der sowjetischen Anklagevertretung vorgelegten Dokumente über Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen berichten von entsetzlichen Zuständen in solchen Lagern. Es wurde Befehl erteilt die Kriegsgefangenenlager einfach unter freiem Himmel durch Absperrung mit Stacheldrahtzäunen zu errichten. Für die russischen Gefangenen sollte es keine Barackenlager geben.

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Kriegsgefangene. Bundesarchiv, Bild 101I-006-2212-30 / Hermann / CC-BY-SA

In solch ungeschützten Internierungslagern erfroren und verhungerten in den nächsten Jahren Millionen sowjetischer Gefangener. Sie starben an Hunger und Krankheiten oder wurden ermordet.

Eine amtliche Statistik des OKW (Oberstes Kommando der Wehrmacht) vom 1. Mai 1944 lässt den Schluss zu, dass bereits ein Jahr vor Kriegsende mindestens 2 Millionen Gefangene in den Lagern gestorben waren. Mit anderen Statistiken kann man zu dem Ergebnis gelangen, dass diese Anzahl bereits zwei Jahre zuvor – im Februar 1942 – erreicht worden war. Die vorsichtige Schätzung von Streim, dem ehemalige Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, geht bis Kriegsende von insgesamt mindestens 2,5 Millionen gestorbenen Kriegsgefangenen der Roten Armee aus, wobei hier nicht die als Freischärler festgenommenen und liquidierten Soldaten eingerechnet worden sind. Andere ernst zu nehmende Forscher wie Streit, Dallin und Jacobson rechnen vor, dass bis zu 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene in den deutschen Lagern umgekommen sind.

Bei diesen Zahlen ist dazu noch zu berücksichtigen, dass viele, die zuvor schon unmenschlichen Märsche hin zu rückwärtigen Durchgangslagern nicht überlebt hatten und in keiner Statistik auftauchten3.

Wer schlapp machte wurde häufig vor Ort erschossen, was einige Mal zu unglaublichen Massakern führte, so das mitunter überhaupt nur ein Drittel der ursprünglich Gefangen überhaupt am Ziel ankamen. Nach russischen Schätzungen sollen schon so 200 000 – 250 000 Rotarmisten auf dem Transport ermordet worden sein4.

Insgesamt hat es nach Statistiken des OKH und des OKW 5 734 528 sowjetische Kriegsgefangene gegeben. Zieht man davon jene ungefähr 1 000 000 Soldaten ab, die entlassen worden waren und die ungefähr 500 000 Gefangenen, die durch Flucht und beim Rückzug „abhanden“ kamen und berücksichtigt man, dass nach der offiziellen Statistik am 1. Januar 1945 sich noch 930 287 Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft befanden, kommt man auf die an sich unglaubliche Zahl von 3,3 Millionen Verstorbenen5.

Mehr als die Hälfte der sowjetischen Gefangenen war also in den deutschen Lagern jämmerlich zugrunde gegangen!

Mitte Juli 1941 waren in Deutschland bereits die ersten russischen Kriegsgefangenen mit Zügen angekommen. Sie waren zuvor wie Vieh in Güterwaggons getrieben worden. Ein Augenzeuge einer Verladeaktion in der Ukraine berichtete6:

„Am Bahnhof von Winniza nahmen wir Aufstellung und wurden in eine Marscheinheit eingeteilt. Unvermittelt tauchte eine Kolonne grauer Gestalten auf, die von schwerbewaffneten Aufsehern in offene Güterwaggons getrieben wurden. Damit es schneller ging, wurde mit Schlägen nachgeholfen. Die Männer waren kahlgeschoren und ohne Kopfbedeckung.“

Die Züge umfassten durchschnittlich 50 bis 60 Waggons, in die so viel Kriegsgefangene wie möglich hineingestopft wurden.

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Sowjetische Gefangene werden transportiert. Bundesarchiv, Bild 101I-267-0124-20A / Vorpahl / CC-BY-SA.

Laut Augenzeugenberichten waren die Verhältnisse in den Transporten unerträglich. Die Waggons waren völlig überfüllt. Die Gefangenen mussten sich so hinsetzen, dass der Vordermann immer auf den Oberschenkeln des Hintermanns zu sitzen kam.

In dieser grauenvollen Enge hatten sie zuweilen eine Woche oder mehr zu verbringen, bis sie am Zielort angelangt waren. Ein Deportierter berichtet von seinen Leiden7:

„in jedem Waggon starben (...) Menschen an Blutverlust, Wundstarrkrampf, Blutvergiftung, vor Hunger, Wasser- und Luftmangel (...). Diese unmenschliche Qual dauerte vom 4.-11. Juli 1941. Der Zug hielt an. Zur Mittagszeit begann das Ausladen der Kriegsgefangenen (...). Die Toten wurden aus den Waggons auf den Platz geworfen.“

Im Winter war die Sterblichkeit aufgrund der unbeheizten Waggons noch höher. Der Reichskommissar für das Ostland sprach von einer Sterblichkeitsquote von 25 bis 70 Prozent in den Waggons8. Auch ein Bericht des rückwärtigen Heeresgebietes vom November 1941 thematisierte die hohe Sterblichkeit der Gefangenen in den offenen Güterwaggons, kurz O-Wagen9:

„O-Wagen sollen nicht mehr zum Transport von Gef. verwendet werden. Beim letzten Transport von Bobruisk nach Minsk sind 20 % der Gef. gestorben (von 5000 Mann = 1000 Mann). Insgesamt sind bisher Gefangene gestorben 14 777. 158 000 Gefangene sind durch die Lager geschleust worden.“

Mit einem Merkblatt zur Durchführung von Kriegsgefangenentransporten wurden die Kommandanten vor Ort angehalten, zumindest hygienische Mindeststandards bei den Deportationen einzuhalten. Zu beachten war demnach das10

„Einstreuen von Stroh, Sägemehl, Reiser, Einstellen von Abortkübeln (Marmeladeeimer)“.

Bei einer Meuterei, bei Fluchtversuchen und Ähnlichem lautete der Befehl kurz und lapidar11:

„rücksichtsloser Waffengebrauch“.

Nach Ankunft in den Lagern sollte es den Gefangenen auch nicht viel besser ergehen. Die hygienischen Verhältnisse in den „Russenlagern“ – auch in Deutschland – entsprachen zu keiner Zeit menschlichen Erfordernissen. Man ging davon aus, dass der „slawische Untermensch“ keine sonderlichen Hygienebedürfnisse habe. Zehntausende von Menschen waren auf engstem, mit Stacheldraht umgebenem Raum eingepfercht. Die Beseitigung der Exkremente war zumeist nicht organisiert, so dass man durch Kot waten musste, wollte man seine Notdurft verrichten. Einmal im Monat fand ein Entlausungsbad statt. Darüber hinaus gab es keine Möglichkeit sich zu waschen.

Ein Überlebender, der sich schon ab September 1941 in Gefangenschaft befand, berichtet12:

„Wir wurden (…) bis zu einer Bahnstation (…) getrieben. Die Schwachen, nicht mehr Bewegungsfähigen wurden am Ende der Kolonne erschossen. Endlich mussten wir in Viehwaggons einsteigen. Es war so eng, dass wir nur dicht beieinander sitzen konnten. In den Waggon schmiss man nur ein Paar Laibe Brot rein. Das Brot teilten wir in gleiche Portionen. Wir wurden nach Deutschland geliefert und in einem Lager untergebracht, dessen Nummer ich nicht mehr kenne. Das war ein freies Feld, von Stacheldraht umzäunt. Wachtürme umringten das Gelände. Auf jedem Turm befand sich rund um die Uhr ein Wachmann. In den Wachtürmen gab es Scheinwerfer und Maschinengewehre, die in Richtung Lager zielten. Man durfte sich dem Zaun nicht nähern. Die Wachmannschaft eröffnete sofort das Feuer. (…) Die erste Nacht hat sich mir gut eingeprägt. Ein freies Feld. Die Lufttemperatur war niedrig. Die nach dem langen Weg erschöpften Menschen schliefen direkt auf dem nackten Boden. Mein Kamerad und ich hatten einen Stahlhelm. Mithilfe des Helms gruben wir ein kleines Erdloch und schliefen drin. (…) Am Morgen kamen wir aus dem Erdloch raus. Das Gelände war von liegenden Menschen voll. Sie konnten nicht aufstehen, obwohl sie noch am Leben waren. Die aus den Reihen der Kriegsgefangenen angeworbenen Polizisten zogen diese Körper zu einem Haufen vor dem Tor. (…) Zwei Polizisten zogen einen Liegenden an den Beinen. Hinterher liefen ein paar Kameraden und riefen: „Herr Polizist, oder wie müssen wir Sie nennen? Er ist noch am Leben! Noch am Leben!“ (Ich glaube, das waren Ukrainer.) Als Antwort bekamen sie Schimpfe und Kopfschläge mit Stöcken. Zum Tor kamen bedeckte Pferdekarren. Die vor dem Tor liegenden Menschen wurden in diese Karren gestapelt und weggebracht (…)“

Kurz nach Eintreffen der Gefangenen in Zeithain brach schon eine Ruhrepidemie aus. 20 Prozent der Lagerinsassen erkrankten. Die genaue Zahl der Toten ist unbekannt.

Monate später, mit Einbruch der Kälte, ging die Zahl der Ruhrerkrankungen zurück. Aber es entstanden erste, durch Kleiderläuse übertragene Flecktyphuserkrankungen. Ein Gefangener berichtet13:

„Täglich starben bis zu 500 Menschen an dieser Krankheit. Die Toten wurden in Massengräbern bestattet, in die man sie in mehreren Reihen übereinander legte. Elend, Kälte, Hunger, Krankheiten, Sterben – so sah es im Lager (...) aus.“

Andere Zeitzeugen aus der Wachmannschaft berichten von 20 bis 200 Toten täglich.

Ein Überlebender berichtet14:

„(…) Später wurden wir nach Deutschland abtransportiert. Ich glaube, es war ein KZ Zeitheim. Wir schliefen unter dem freien Himmel, auf einer Wiese. Es regnete sehr stark. Tagsüber durfte man stehen bleiben. In der Nacht musste man nur liegen. Wer doch aufstand, wurde erschossen. (…) Danach verbreitete sich Typhus. Die Deutschen haben das Lager verlassen. Wir sind allein geblieben. Ich wurde auch typhuskrank. (…) Ich blieb mit dem russischen medizinischen Personal. Das war wie ein Todesurteil. 11 Tage lang war ich völlig ohnmächtig. Die Jungs haben meine Brotration getrocknet und aufbewahrt. Als sich mein Gesundheitszustand etwas verbesserte, konnte ich diese Brotstücke essen und damit überleben. (…) Das gesamte Lager sah schon wie ein Lazarett aus. Die Kranken starben massenhaft vom Hunger. (…).

Der Lagerkommandant hatte seinen Wachmannschaften verboten, über das Sterben zu sprechen oder darüber in Feldpostbriefen zu schreiben.

Die Quarantäne konnte erst im März 1942 aufgehoben werden.

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Bildunterschrift: Sterbende Russen „ein alltägliches Bild“, Stalag Sandbostel, Bundesarchiv, Bild 146-2005-0146 / CC-BY-SA


Goebbels und die „Unmenschen“ hinter Stacheldraht

Auch das Propagandaministerium beschäftigte sich mit den vielen Gefangenen. Man versuchte, sie zur Bestätigung des propagierten Weltbildes zu nutzen. Goebbels ließ am 26. August 1941 eine Fahrt der Mitglieder der Ministerkonferenz zum Stammlager in Zeithain organisieren, an der er selbst auch teilnahm.

Laut Reichshauptleiter Tiessler aus dem Propagandaministerium sollte der Zweck dieses „Betriebsausflugs“ sein15,

„den Konferenzteilnehmern und Vertretern des Gaues Berlin einmal die in den Wochenschauen gezeigten Unmenschen in Natur vorzuführen und hierdurch zu zeigen, vor welcher Gefahr F ü h r e r und die Wehrmacht uns gerettet haben.“

Goebbels wollte die in den Wochenschauen gezeigten Bestien im Original vorführen.

Dies misslang jedoch gründlich, denn die Teilnehmer des „Betriebsausfluges“ zeigten sich enttäuscht von den „Unmenschen“, die so gar nicht den Erwartungen entsprachen und sogar „ein durchaus menschliches Aussehen hatten“.

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Sowjetische Kriegsgefangene, Oktober 1941, Bundesarchiv, Bild 192-051 / CC-BY-SA

Reichshauptleiter Tiessler vom Propagandaministerium merkte in seinem Bericht enttäuscht an16:

„Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten (...) Ferner erklärten sie übereinstimmend, sie hätten Hunger und wollten arbeiten (...) Auch die anderen Fahrtteilnehmer haben – obwohl sie alle die Notwendigkeit, gegen die Gefangenen erbarmungslos vorzugehen, nicht nur einsehen, sondern um unserer gemarterten Soldaten willen noch für eine mildtätige Behandlung halten – das Lager nicht mit dem Gefühl des Hasses verlassen, sondern eher in Verwunderung darüber, daß es noch so viele menschlich aussehende Russen gibt.“

Er berichtete weiter17:

„Ich nehme an, daß bei zukünftigen Besichtigungen vorher dafür Sorge getroffen wird, daß der in den Wochenschauen gezeigte Entwurf gezeigt wird.“

Logisch! Er war ja aus dem Propagandaministerium. Es war seine Aufgabe die Realitäten dem „Entwurf“ anzupassen.

Tiessler gab bei seinen Überlegungen auch ein geradezu klassisches Beispiel der vorherrschenden „Humanität“ – nicht nur – höherer Parteikreise18:

„Zum Abschluß der Führung wurden uns die Gefangenen gezeigt, die schon einmal ausgebrochen sind. Wir verstanden nicht, daß diese überhaupt noch lebten. (...) Sie waren hinter einem Stacheldrahtverhau und machten in dem strömenden Regen, zum größten Teil zu dreien unter einer Jacke stehend, einen erbärmlichen Eindruck. Einer der Gefangenen (...) sagte zunächst immer wieder daßelbe, nämlich sie wollten arbeiten. Dann verlangte er Brot bezw. etwas zu essen, da sie schon so lange gehungert hätten. (...) Er wollte nur arbeiten und essen. Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. Nicht aus Mitleid, sondern aus reinen Verstandesgründen stehe ich auf dem Standpunkt, daß man das Essen, was sie noch bekommen, sowie die Wachmannschaften, die man für sie braucht, sparen und sie, wenn sie geflohen sind, sofort töten sollte.“

Später triumphierte Tiessler, der seinen Misserfolg im Beisein Goebbels unbedingt wieder gutmachen wollte dann doch19:

„Im Nachtrag (...) gebe ich bekannt, daß der zweite Teil der Ministerkonferenzteilnehmer gestern das Gefangenenlager in Neuhammer besuchte. Dort waren überhaupt nur solche Typen zu finden, wie sie in der Wochenschau gezeigt werden sollten.“

Der über seinen eigenen Erfolg begeisterte Reichshauptleiter aus dem Propagandaministerium schlug daher nun vor, derartige „Unmenschen“ in NSDAP-Versammlungen und in den besetzten Gebieten im Westen vorzuführen. Er schlug auch vor, sie den gefangenen englischen Offizieren vorzuführen, damit diese sich eines besseren Gegners besinnen würden20.

Aus den Akten des Propagandaministeriums ging nicht hervor, ob dieser Vorschlag von Goebbels mit Wohlwollen aufgenommen wurde. Spätere „Vor-Ort-Vorführungen“ sind nicht dokumentiert.

Von „Balanda“, „Russenbrot“ und „Aussonderungen“

In Zeithain wurde normalerweise morgens „Tee“ oder Kaffee-Ersatz ausgegeben. Beides schmeckte nicht unbedingt wirklich nach Tee oder Kaffee, aber war zumindest heiß.

Mittags gab es Balanda, eine dünne Suppe, die aus ungereinigten Steck- und Futterrüben und einer geringen Menge Kartoffeln bestand.

Abends gab es „Russenbrot“. Das speziell hergestellte Brot für die russischen Kriegsgefangenen bestand zu 50 Prozent aus Roggenschrot, zu je 20 Prozent aus Zuckerrübenschnitzeln und Zellmehl sowie zu 10 Prozent aus Strohmehl oder Laub (!). Fünf bis zehn Personen mussten sich einen Laib von eineinhalb Kilogramm teilen21.

Essgeschirr gab es nicht. Das mussten die Gefangenen besitzen oder selbst herstellen.

Ein Leutnant machte im Oktober 1941 folgende, in einem Brief dargelegte Beobachtungen22:

„Heute Vormittag habe ich mit einem Hauptmann und einem Feldwebel das große Russenlager besichtigt (...) Täglich kommen hier die gräulichsten Dinge vor. Täglich sterben welche an Krankheiten und Unterernährung (...) Die Leichen sind nur Haut und Knochen (...) alles Greifbare stopfen sie in sich hinein: Gras, giftige Pilze usw.“

Im Lager Zeithain befanden sich am 1. Dezember 1941 laut Bestandslisten23 10 677 Gefangene, am 1. Januar 1942 nur noch 7 298 und am 1. Februar 1942 gerade nur noch 5 685 Kriegsgefangene. Zwar kann man die Sterbequote im Lager hiermit nur sehr ungenau erfassen, jedoch zeigen die Zahlen, dass es eine verhältnismäßig hohe Zahl in diesem Zeitraum sein musste. Insgesamt dürften in Zeithain maximal 40 000 sowjetische Kriegsgefangene ums Leben gekommen sein24.

Die Gefangenen starben jedoch nicht nur an Krankheiten. Man versuchte auch, den gefährlichen bolschewistischen Virus zu bekämpfen und „sonderbehandelte“ des Kommunismus verdächtige Gefangene. Bereits am 21. Juli 1941 wurde durch den Chef der Sicherheitspolizei mit Einsatzbefehl Nr. 9 angeordnet, dass auch für das Lager Zeithain ein Kommando aus einem SS–Führer und drei bis vier Beamten zu bilden sei, um die Kriegsgefangenen zu überprüfen. Die Durchführung der Aussonderungen und Liquidierungen hatte sich diskret abzuspielen und wurde, wie folgt, präzisiert25:

„Der Einsatz der Sonderkommandos ist im Einvernehmen mit den Befehlshabern des rückwärtigen Heeresgebietes (Kriegsgefangenenbezirks-Kommandanten) so zu regeln, daß die Aussonderung möglichst unauffällig vorgenommen und die Liquidierungen ohne Verzug und so weit abseits von den Dulags und von Ortschaften durchgeführt werden, daß sie den sonstigen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung nicht bekannt werden.“

Von den Zeithainer „Aussonderern“ wurde nach dem Krieg niemand bestraft.

Das Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigten Offiziere, welche die Aussonderungen in Zeithain durchgeführt hatten, wurde schon 1965 wegen Verjährung eingestellt. Ein nicht verjährter Mord im Sinne des Strafgesetzbuches hätte nur dann vorgelegen, wenn den Angeklagten persönliche Mordmotive wie beispielsweise Heimtücke, Grausamkeit oder Mordlust hätten vorgeworfen werden können. Das war nicht der Fall. Ihnen konnte nicht mal ein Vorsatz nachgewiesen werden.

Im staatsanwaltlichen Bericht hieß es26:

„Über die Tätigkeit (...) haben die zahlreichen übrigen vernommenen Zeugen keine Angaben machen können, die den sicheren Schluss zulassen, daß den (...) Beschuldigten U. sowie H. und L. bekannt war, daß die von ihnen Ausgesonderten nach der Überstellung in die Konzentrationslager liquidiert werden sollten. Insbesondere kann (...) nicht widerlegt werden, daß sich ihre Aussonderungsaufgabe auch auf die Gewinnung von sowjetischen Kräften für deutschen Einsatz (Aufbau besetzter Gebiete, Vorbereitungen für die Aufstellung von Verbänden nach Art der Turk-Divisionen oder der Wlassow-Armee, Gegenspionage u. a.) bezog.“

Wie üblich beriefen sich auch die Zeithainer „Aussonderer“ auf den Befehlsnotstand. Sie hatten ja nur das gemacht, was ihnen gesagt worden war. In der Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft hieß es, dass ihnen nicht widerlegt werden könne27,

„daß ihre (...) Aussonderungsmaßnahmen auf ausdrücklichen Befehl des Reg. Direktors K., des Leiters der Stapo-Leitstelle Dresden, erfolgten, denen sie sich nicht entziehen zu können glaubten.“

Spätestens 1965, zwanzig Jahre nach dem Ende des „Dritten Reiches“, wären laut Strafgesetzbuch alle vor 1945 begangenen Verbrechen verjährt gewesen. Die Bundesregierung lehnte damals eine Verlängerung der Verjährungsfrist ab, was zu lautstarken Diskussionen führte.

Das Ergebnis war ein Kompromiss: Im „Berechnungsgesetz“ wurde der Ablauf der Verjährungsfrist von 1965 auf 1970 verschoben.

1969 wiederholte sich dann das Spiel. Ergebnis des wieder geänderten Gesetzes war, dass für Völkermord keinerlei Verjährung und für Mord eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vorgesehen war. Als sich das Problem nach Ablauf der 30 Jahre in den 80er Jahren erneut stellte, hob der Bundestag schließlich die Verjährungsfrist für Mord gänzlich auf.


In der Ukraine

Ernst erlebte weder den Besuch Goebbels in Zeithain noch die Fleckfieberquarantäne vor Ort mit und wohl auch nicht mehr die dortigen „Aussonderungen“.

Er befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Osten.

Er war in Winniza in der Ukraine. Winniza war und ist das administrative Zentrum des genauso benannten Landkreises und hat heute an die 400 000 Einwohner.

1941 war Winniza von der deutschen Wehrmacht erobert und im Rahmen der Bildung des deutschen Reichskommissariats Ukraine in den Generalbezirk Shitomir eingegliedert worden.

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Ernst in Winniza: Text auf der Bildrückseite „Kostet nur 3 Rubel!“

Stalag 329 war im August 1941 als Frontlager dorthin verlegt worden.

Stalag 329 in Winniza bestand aus einer ehemaligen russischen Kaserne und 10 bis 15 Holzbaracken. Das Hauptlager konnte mit bis zu 50 000 Mann belegt werden. Vom 20. August bis 2. Oktober 1941 war das Lager in Shmerinka nahe der Stadt Winniza, dann bis November 1943 direkt in der Stadt28.

Shmerinka wurde dann genauso wie Gaissin und Berditschew als Nebenlager genutzt.

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Frauen aus der Umgebung von Winniza versuchen im Gefangenenlager über ihre Männer zu erfahren. Bundesarchiv, Bild 146-1979-113-05 / Hübner / CC-BY-SA

Nach Aussagen von mehreren Mitgliedern der Stammbesatzung des Stalags 329 schwankte die Belegungszahl des Stalag 329 zwischen 1 000 und 100 000 Gefangenen. Möglicherweise beruhen die unterschiedlichen Angaben darauf, dass auch in der Nähe von Winniza kurzfristig große Durchgangslager geschaffen wurden und dann erst die Gefangenen auf die verschiedenen Lager aufgeteilt wurden. Laut offiziellem Bericht des Chefs des Kriegsgefangenenwesens hatte das Lager 329 in Winniza maximal etwa 19 000 Gefangene29.

Will man den Alltag in einem solchen Lager beschreiben, stellen sich viele Fragen. Wie war die Ernährungssituation vor Ort? Wie viele Gefangene wurden „ausgesondert“? Wer war für die Ernährung der Gefangenen zuständig? Wurde der Zivilbevölkerung erlaubt, den Gefangenen Lebensmittel zuzustecken? Wie viele wurden „auf der Flucht erschossen“? Wie viele starben täglich?

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Ausgabe von Brot an die offensichtlich hungrigen sowjetischen Gefangenen im Lager Winniza. Bundesarchiv, Bild 146-1979-113-04 / Hübner / CC-BY-SA

Ernst war dort in der Schreibstube tätig und verwaltete als Unteroffizier den täglichen Horror vor Ort mit. War er vielleicht für die Ernährungsbeschaffung zuständig?

Leider lassen sich die meisten dieser Fragen möglicherweise nie mehr abschließend klären. Vielleicht existiert aber – vergessen oder versteckt in sowjetischen oder ukrainischen Kellern und Dachböden – einiges an Originalmaterial. Bisher wurde allerdings noch nichts gefunden. In deutschen Archiven sind keine Lagerakten vorhanden. Sie wurden aus guten Gründen beim Rückzug wahrscheinlich vollständig vernichtet. Man stößt auf vereinzelte Augenzeugenberichte, sonst nichts.

Einzig der Koch des Lagers berichtet in seiner polizeilichen Vernehmung nach dem Krieg von Hungertoten im Stalag 32930:

„Es gab damals ca. 60 000 russische Gefangene. Dazu waren 10 Feldküchen vorhanden. Aus jeder Küche wurden 6 000 Gefangene verpflegt. Die große Zahl der Gefangenen konnte nicht ausreichend verpflegt werden. Es starben viele Gefangene des Hungertodes.“

Da die offiziellen Zahlen erheblich geringer sind, könnte es sein, dass er in seiner Vernehmung irrtümlich von der im Vorfeld entstandenen Gefangenensammelstelle berichtete, von wo die Gefangenen in das Stalag verwiesen wurden.


Kriegsverlauf

„Blitzkrieg“

Der Feldzug gegen die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“, begann am Sonntag dem 22. Juni 1941 um 330 Uhr früh. Drei Heeresgruppen überquerten im Schutze der Morgendämmerung die erst im Herbst 1939 frisch festgelegten Grenzen. Hitler und Stalin hatten zuvor in ihrem Pakt Polen unter sich aufgeteilt und die Grenzen neu gezogen.

Der „Nichtangriffspakt“ hielt also nicht sonderlich lange und war von beiden Seiten auch nicht wirklich ernst gemeint. Sowohl Hitler als auch Stalin rechneten früher oder später mit Krieg zwischen den beiden Ländern.

Stalin erwartete den Angriff allerdings nicht so früh. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn er verschlief den Angriff, weil zunächst keiner seiner Untertanen sich traute, den Tyrannen zu wecken. Jedenfalls war die Rote Armee auf diesen Angriff noch nicht vorbereitet31.

Da vom 22. bis 24. Juni die Tage am längsten sind, konnten die deutschen Landser bei Tageslicht auch am weitesten marschieren.

Hitler und seine Generäle hatten einen Blitzkrieg von längstens vier Monaten geplant. Vorgesehenen dafür waren mehr als 3 Millionen Soldaten.

Die Sowjetunion wurde zu Beginn überrannt.

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Bundesarchiv, Bild 101I-267-0115-24 / Friedrich / CC-BY-SA

Anfangs sah daher alles nach einem erneuten, schnellen militärischen Erfolg Hitlers aus.

Es sollte jedoch ganz anders kommen!

Schon bis Ende des Jahres 1941 waren 25 Prozent der deutschen Soldaten an der Ostfront gefallen, und wie der „Blitzkrieg“ endete ist, inzwischen hinreichend bekannt.

Zuletzt befanden sich über 3 Millionen Deutsche in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und 5,5 Millionen Deutsche waren gestorben. Insgesamt hatte der Wahnsinn Zweiter Weltkrieg geschätzten 55 Millionen Menschen den Tod gebracht.

Die Zahlen für direkte militärische Verluste bei den Sowjets bewegen sich in einer Bandbreite zwischen 8 und 14 Millionen. Nach neueren Berechnungen sollen von ungefähr 160 Millionen Menschen, die 1941 in der Sowjetunion lebten, 27 bis 32 Millionen durch unmittelbare Kriegsgewalt oder durch die Folgen von Hunger, Kälte und Epidemien umgekommen sein32.

Im Laufe des Feldzuges wurde von 1941 bis 1944 auch die Ukraine durch deutsche Truppen besetzt.

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Bildunterschrift: „Ukrainische Männer und Frauen danken unseren Soldaten für ihre Befreiung“. Bundesarchiv, Bild 146-1974-109-25 / CC-BY-SA

Nur ganz am Anfang wurden sie als „Befreier“ begrüßt. Dann wurden auch die Ukrainer eines Besseren belehrt. Der „Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine“ erließ schon bald ausführliche „Richtlinien zur Unterdrückung des Volkswiderstands“33.

In der Ukraine wurden zehn Stalags errichtet. Die große Zahl von Kriegsgefangenen machte es notwendig, Kommandeure der Kriegsgefangenen – zum Teil auch mit nachgeordneten Kriegsgefangenen-Bezirkskommandanturen – einzusetzen. Als Kommandanten wurden normalerweise ehemalige Weltkriegsoffiziere berufen, die nicht mehr fronttauglich waren. Von den insgesamt 22 Kommandanten in den ukrainischen Kriegsgefangenenlagern war der jüngste 1896, der älteste 1871 geboren.

„Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine“ war ab Oktober 1941 General Kitzinger, und Kommandeure der Kriegsgefangenen in der Ukraine waren bis November 1942 Generalleutnant Feichtmeier und danach Generalmajor Wolff34.

Hitler zog vom 16. Juli bis 31. Oktober 1942 in die Anlage „Werwolf“ bei Winniza, um der Front näher zu sein. „Werwolf“ lag in einem Wald nördlich von Winniza an der Straße nach Shitomir. Das Führerhauptquartier bestand aus Blockhäusern. Die etwa 30 Gebäude wurden seit dem 1. November 1941 errichtet. Die Arbeits- und Wohngebäude Hitlers lagen abseits der Straße und waren durch hohe Drahtzäune gesichert. Ein Flugfeld befand sich in der Nähe.

Unweit der Stadt betrieb Himmler in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums die Einrichtung einer mit zunächst 10 000 Volksdeutschen zu besiedelnden Kolonie unter dem Namen „Hegewald“, die als einer der Kerne der zukünftigen deutschen Siedlungen in der Ukraine gedacht war35.

Erst während der sowjetischen Frühjahrsoffensive im März 1944 wurden die deutschen Truppen schließlich wieder ganz aus der Ukraine vertrieben.

12 Bundesarchiv, Bild 101I-711-0438-05A Menzendorf CC-BY-SA,_Russland-Süd,_Marsch_auf_unbefestigter_Straße.jpg

Januar 1944: Rückzug aus der Ukraine, Bundesarchiv, Bild 101I-711-0438-05A / Menzendorf / CC-BY-SA

Auf dem Rückzug hinterließen die deutschen Soldaten – gemäß dem Befehl Himmlers – verbrannte Erde36:

„Es muss erreicht werden, daß bei der Räumung von Gebietsteilen der Ukraine kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben, daß kein Haus stehen bleibt, kein Bergwerk vorhanden ist, das nicht für Jahre gestört ist, kein Brunnen vorhanden ist, der nicht vergiftet ist. Der Gegner muss wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden.“

Angeordnet wurde37:

„Im Falle von Absetzbewegungen sind alle dem Feind irgendwie nutzbaren Anlagen und Vorräte:

Unterkünfte (Häuser und Wohnbunker), Maschinen, Mühlen, Windmühlen, Brunnen, Heu- und Strohstaken in dem jeweils dafür freigegebenen Abschnitt und Zeitpunkt restlos zu zerstören.

Häuser sind ausnahmslos abzubrennen, Feuerstellen durch Handgranaten zu zersprengen, Brunnen durch Vernichtung der Zieh- und Schöpfanlagen sowie durch Einwerfen von Unrat (Kadaver, Mist, Kuh-Mistbrikett, Benzin) unbrauchbar zu machen, Stroh- und Heustaken sowie Vorräte aller Art in Brand zu setzen, landwirtschaftliche Maschinen sowie festes Gestänge permanenter Leitungen zu sprengen, Fähren und Kähne durch Leckschiessen zu versenken.

Zerstörung der Brücken und Sperrung der Wege durch Minen ist Aufgabe der Pioniere.

Jeder einzelne hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß das dem Feind überlassene Gebiet für jede militärische und landwirtschaftliche Nutzung auf absehbare Zeit hinaus ausfällt.“

Alfred J., ein damals 24-jähriger Kradmelder und später Kriminalpolizist in Westberlin, erzählte von der Politik verbrannten Erde, der sich zurückziehenden Truppen und war sehr erstaunt, dass man mit ihnen nach Gefangennahme trotzdem glimpflich umging, was sicherlich oft aber nicht immer so war38:

„Wir hatten alle, oder sagen wir: in der überwiegenden Mehr­zahl, große Angst vor dem, was mit uns geschehen würde, weil wir, na ja... während des Krieges recht unschöne Sachen gesehen hatten. Auf dem ganzen Rückzug wurden systematisch alle Dörfer ange­steckt, durch die wir kamen. Alles, was zum Leben dienen konnte, wurde vernichtet. Brücken wurden gesprengt, riesige Industriege­biete, so um Dnepropetrowsk herum, wurden zerstört. Wir waren einmal so zwei oder drei Tage lang durch ein riesiges Industriege­biet gezogen, das war nur noch eine einzige Trümmerwüste. Da war alles gesprengt worden, alles kaputt. Die Bevölkerung war vertrie­ben worden, das Vieh wurde umgebracht. Also, wir richteten da Dinge an, die nicht zu vertreten waren. Unser Divisionskommandeur hatte sich jeden Morgen von seiner Ordonanz eine brennende Fackel reichen lassen, und dann hat er höchstpersönlich das Haus ange­steckt, in dem er übernachtet hatte! Also: ‚Verbrannte Erde‘. Dörfer wurden niedergebrannt. Und um seiner Truppe ein gutes Beispiel zu geben, hat der Herr Kommandeur sein Quartier selber angesteckt. Also, das war nun ein schlimmes Gefühl. Wir dachten, wie werden die mit uns umgehen? Man wurde den Verdacht nicht los, dass sie uns totschlagen oder erschießen oder sonst irgendetwas antun wür­den. (…) Auf dem Marsch nach Tiraspol machten wir am Fluss Dnjestr plötzlich Pause mit der Kolonne. Und sie bedeuteten uns, wir könn­ten auch baden im Fluss. Also, das war schon eine Überraschung. Eine Kolonne von 300 bis 500 Mann, über die die Wachsoldaten gar nicht so hundertprozentig den Überblick hatten, und die sagten: Hier, ihr könnt baden, während sie sich auf ihre Machorka konzentrierten. Saßen dann am Ufer und drehten ihre Machorka-Ziga­retten. Haben einfach zugeguckt. Und da kam uns dann so irgend­wie der Gedanke: Na, dass die uns vor dem Totmachen noch baden lassen, das ist ja wohl nicht möglich. Ist ja wohl nicht so beabsich­tigt. Und da war es dann vorbei mit der Angst.“

714 Städte und 28 000 Dörfer in der Ukraine wurden zerstört. Ungefähr 30 Millionen Stück Vieh wurden abtransportiert.

Bis zu 5 Millionen Ukrainer sollen dem Krieg zum Opfer gefallen sein.

Laut den vorläufigen – es waren erst 24 von 44 Bezirken untersucht – Ergebnissen einer außerordentlichen Kommission im April 1944 kamen im Winnizaer Gebiet 101 139 Menschen um, 64 076 wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Allein in der Stadt Winniza sollen 41 620 Menschen umgebracht und 13 400 verschleppt worden sein39. Andere Zahlen sprechen von insgesamt 53 820 Toten in der Stadt Winniza, darunter 12 000 Kriegsgefangenen40.

„Säuberungen“

Überall im Osten, wo sich deutsche Soldaten befanden und – insbesondere die Einsatzkommandos – wüteten, wurde gemordet. Man nannte diese Taten euphemistisch „Säuberungen“.

Im Zuge der Vorbereitung auf das „Unternehmen Barbarossa“ waren ab Mai 1941 vier voll motorisierte Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD aufgestellt worden, deren Aufgabe es sein sollte, sicherheitspolizeiliche Aufgaben wahrzunehmen und „Säuberungen“ durchzuführen.

Als „Gestapo auf Rädern“ bezeichnete das Nürnberger Militärgericht später diese Truppe. Die „motorisierte Gestapo“ funktionierte bestens im Sinne der rassistischen Vorstellungswelt der braunen Befehlshaber. Sie löschten komplette jüdische Gemeinden – Frauen, Kinder und Greise – aus.

Ein Wissenschaftler schreibt41:

„Bezüglich der Einsatzgruppen kann man (…) anführen, daß im Rahmen militärischer Operationen noch nie zuvor so wenige Menschen willkürlich über das Leben so vieler anderer entschieden, sie ermordet und gequält hatten. Mochten sich die intellektuellen Köpfe dieser Einheiten – vor allem gegenüber der Nachwelt – als Nachrichtenbeschaffer, politische Funktionäre, Sicherheitsbeauftragte und weltanschauliche Soldaten des Staatsschutzes verstanden haben, so waren sie doch hauptsächlich und vor allem Mörder.“Aus allen Teilen Deutschlands hatte man für diese „Mördertruppe“ Gestapobeamte, Kriminalpolizisten, SD-Angehörige und das erforderliche Hilfspersonal – Dolmetscher, Kraftfahrer, Funker, Fernschreiber usw. – zusammengezogen. Ein großer Teil ihrer Mitglieder stammte aus der SS.

Die Sicherheitspolizei war untergliedert42

in die Einsatzgruppe A – für das Baltikum mit den Sonderkommandos 1 a und 1 b sowie den Einsatzkommandos 2 und 3;

in die Einsatzgruppe B – für Weißrussland mit den Sonderkommandos 7a und 7b, den Einsatzkommandos 8 und 9 sowie dem „Vorkommando Moskau“;

in die Einsatzgruppe C – für die nördliche und mittlere Ukraine mit den Sonderkommandos 4a und 4b sowie den Einsatzkommandos 5 und 6

und in die Einsatzgruppe D – für Bessarabien, die Südukraine, die Krim und Kaukasien mit den Sonderkommandos 10 und 10 b sowie den Einsatzkommandos 11 a, 11 b und 12.

Nach Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion wurde das Personal der für die nördliche und mittlere Ukraine zuständigen Einsatzgruppe C noch durch Zuteilung eines Polizeireservebataillons aufgestockt. Ein Kommandoführer in der Ukraine definierte die Aufgabenstellung und Tätigkeit der Einsatzgruppen im März 1943 wie folgt43:

„Neben der Vernichtung aktiv hervorgetretener Gegner sind durch vorbeugende Maßnahmen solche Elemente auszumerzen, die auf Grund ihrer Gesinnung oder Vergangenheit bei dazu günstigen Um­ständen als Feinde aktiv hervortreten können. Die Sicherheitspolizei führt diese Aufgabe entsprechend den allgemeinen Weisungen des Führers mit jeder erforderlichen Härte durch.“

Die Einsatzgruppe A berichtete am 15. Oktober 1941 davon, bisher 125 000 Juden und 5 000 andere liquidiert zu haben. Einsatzgruppe B sprach am 14. November 1941 von insgesamt 45 000 Exekutionen, Einsatzgruppe C von 75 000 Juden und 5 000 anderen und die Einsatzgruppe D meldete am 12. Dezember 1941 die Anzahl von 55 000 Getöteten44.

Die Anzahl der Morde reichte den Machthabern anscheinend jedoch noch nicht, denn schon bald, nach Beginn des Feldzuges, wurde noch eine fünfte Einsatzgruppe nach Russland geschickt.

Häufig waren darunter auch ausgesiedelte Juden aus Deutschland wie wahrscheinlich auch in diesem Fall, in dem ein Wehrmachtsangehöriger 1965 über ein Massaker an 2500 Juden in der südlichen Ukraine, zu dem er als Zuschauer vom Teilkommandoführer des SK 10 b eingeladen war, folgendes aussagte 45:

„Während ich diesem Gemetzel zusah, stand plötzlich ein junges Mädchen bei mir, hob die Hände auf und sagte: ‚Bitte, bitte, man soll mich doch noch ein bis’l leben lassen, ich bin doch noch so jung. Meine Eltern sind schon gefallen. Wir haben daheim kein Radio, wir haben auch keine Zeitung gehabt. Die reichen Juden sind schon lange mit den Autos und den Flugzeugen fort. Warum erschießt man uns arme Juden. Wir haben noch nie auf Deutsche geschimpft. Sagen Sie doch, sie sollen mich noch ein bis’l leben lassen. Ich bin doch noch so jung’! Hierbei hatte das Mädchen die Hände immer vor dem Gesicht in der Art des Betens aufgehoben und sah mir in die Augen. Das Mädchen war meiner Erinnerung nach noch ein Schulmädel oder eine Studentin. Es sprach fließendes, akzentfreies Deutsch, hatte bräunliches Haar und sah absolut nicht wie ein Judenkind aus. Einer der Maschinenpistolenschützen hat uns dort stehen sehen, denn er rief zu mir herunter: ‚Führ sie herauf’! Ich erwiderte, daß ich das nicht tuen würde. Das Mädchen hatte diesen Zuruf ja auch gehört und bat mich ängstlich: ‚Bitte, bitte tun Sie es nicht’! Als ich keine Anstalten machte, das Mädchen hinauf zu den Schützen zu bringen, sah ich den SS-Mann zu mir herunterkommen. Er hatte die Maschinenpistole in der Hüfte im Anschlag. Ich dachte bei diesem Anblick immerfort, hoffentlich dreht sich das Mädel, welches mir immerfort in die Augen sah, nicht um und sieht so ihren Mörder und den Tod noch vor Augen. Ich tröstete es also immer wieder, obwohl ich den Todesschützen bereits hinter seinem Rücken auf uns zukommen sah. Das Mädchen flehte mich immerfort an und hat den SS-Mann sicher nicht herankommen gehört. Als dieser schräg hinter dem Mädchen angekommen war, drückte er ab. Er schoß dem Mädchen hinter’s Ohr hinein [,] und ohne einen Muckser zu machen stürzte es vor mir zu Boden. (…) Das Bild des mir zu Füßen liegenden Mädchens werde ich zeitlebens nicht vergessen. (…) Als es dann am Boden lag, sagte der SS-Mann, daß ich es jetzt zu den übrigen Toten ziehen könne. Ich hatte einen solchen Ekel vor diesem Mann bekommen, daß ich, als er sich umdrehte, hinter ihm ausgespuckt habe. Angewidert vor dem tierischen Verhalten dieses Menschen habe ich mich abgewendet und bin zu meinem Fahrzeug gegangen.“

Was solche Mordaktionen betraf, stellten die Einsatzgruppen nur die Speerspitze der deutschen Verbände dar. Beteiligt am Massenmord in Russland waren viele. Beispielhaft ist auch folgende Ereignismeldung46:

„In Borispol wurden auf Anforderung des Kommandanten der dortigen Kriegsgefangenenlager (...) am 14.10.41 752 und am 16.10.41 357 jüdische Kriegsgefangene, darunter einige Kommissare und 78 vom Lagerarzt übergebene jüdische Verwundete erschossen. Gleichzeitig exekutierte derselbe Zug 24 Partisanen und Kommunisten, die von Ortskommandanten in Borispol festgenommen wurden (...) Ein anderer Zug (...) exekutierte störungslos 1 865 Juden, Kommunisten und Partisanen, darunter 53 Kriegsgefangene und einige Flintenweiber.“

Der Brief eines Frontarbeiters aus Weißrussland an die Heimat zeigt mit welchem Selbstverständnis der deutsche Herrenmensch in der Sowjetunion wütete und räumt mit der immer noch kolportierten Mär auf, dass Niemand von dem Treiben im Osten etwas gewusst habe47:

„Lieber Vater! Du müßtest einmal sehen wie es dem auserwähltem Volk hier geht. Alles was Hände und Füße hat schlägt und tritt an ihm herum, wenn jemand seinen Zorn auslassen will kommt ein Jüd dran, zu fett werden sie bei uns auch nicht. Früh muß sie ein O.T. Mann holen am Tag beaufsichtigen und abends wieder nach Hause bringen, denn sie wohnen gemeinsam in einem mit 3 m hohen Stacheldraht eingezäuntem Lager, wer ohne Posten auf der Straße gesehen wird, wird sofort erschossen. Auch haben wir gefangene Russen zum arbeiten, es gehen alle Tage einige kaputt oder werden erschossen. Wenn wir diese früh holen sagt der Unteroffizier am Abend muß die Zahl stimmen oder ihr habt die Burschen erschossen und ich sehe die Leichen dieses macht nichts, auch ging uns im Wald einer stiften konnten ihn aber noch in die ewigen Jagdgründe schicken. Im Zimmer haben wir Judenmädchen zum Aufwaschen, Kleiderwaschen, Strümpfstopfen, Schuh putzen haben uns diese auf dem Arbeitsamt ausgesucht, bei meinem Zimmer ist eine tüchtige Judendame wäscht und hält alles in Ordnung. Auch sind in der letzten Zeit 40 000 Juden wieder erschossen worden weil wir diese Brüder nicht mehr brauchen können, da zittern die anderen immer weil sie auch noch dran kommen. Was ich Euch geschrieben habe soll man nicht weiter erzählen, es ist verboten. Da nun das Osterfest nahe vor der Türe steht so wünsche ich Euch frohe und gesunde Osterfeiertage seid alle nochmals herzlich gegrüßt von Euren Sohn und Bruder Oskar.“

Auch die Beiläufigkeit wie im folgenden Brief desselben Autors nur wenige Monate später von unfassbaren Verbrechen berichtet wird, zeigt die unbegreifliche Normalität des bestialischen Treibens in jenen Tagen48:

„Bei uns währe alles in Ordnung wenn bloß der Fraß etwas besser wäre. Kartoffel und wieder Kartoffel man scheißt Haufen so groß wie ein Backkorb und hat trotzdem Kohldampf. Salat oder Gemüse hat es noch nicht gegeben bis der groß wird den wir gesät haben wird es Weihnachten werden. Ich kaufe mir immer einmal Rettich etwas Butter gibt es auch hat auch wieder Bier gegeben, ist dann eine prima Brotzeit. Auch habe ich an Schwägerin Anni eine Beileidskarte gleich auf dem Telegramm geschickt hat mir aber bis heute noch keine Antwort zukommen lassen ich schreibe halt auch nichts mehr an ihr. Ich dachte immer Wehners Edmund ist verheiratet meine Frau hat mir die Todesanzeige geschickt da heißt es aber nichts von der Frau. Auch wurde eine Wasserleitung gegraben da kamen wir durch ein jüdisches Massengrab welches zirka ein ½ Jahr alt war. Juden mußten dann die Leichen umbetten, wenn sie fertig waren fanden sie dann auch den Tod im gleichen Grab. Von dieser Sache schweigen denn ich war vom Kommando Wachhabender.“

Solche Erschießungen „kleineren“ Ausmaßes waren offensichtlich an der Tagesordnung.

Auch in der Gegend von Winniza, in der Stalag 329 im August 1941 eingerichtet wurde, gab es häufig derartige Vorkommnisse. Vielfach gibt es Zeugenaussagen, die das Ermorden von 5 bis 50 Menschen belegen. Das geschah vor allem nach Einmarsch des Einsatzkommandos 6 im Juli 1941, also noch vor Errichtung des Kriegsgefangenenlagers.

Eine dieser - in diesem Falle circa drei Stunden anhaltende – Mordaktionen in Winniza wurde von einem Täter aus dem Polizeibataillon 45 später wie folgt beschrieben49:

„Die Juden mussten einzeln an den Brunnenschacht. An jedem der Schächte stand dann ein Mann von der 2. Kompanie (…) Die Opfer mussten sich dann mit Blick in den Schacht leicht über die Brüstung neigen und wurden von dem Schützen mit Pistole durch einen Genickschuß getötet. die Opfer sind dann kopfüber in den Schacht gefallen. Das ist laufend gegangen. Ich möchte meinen, dass im Durchschnitt je Minute 1 Person erschossen wurde, d.h. an jedem Schacht 1 Person pro Minute. Das nehme ich so an. Ich glaube nicht, dass eine längere Zeit beansprucht wurde.“

Laut den Ereignismeldungen Nr. 38 vom 30. Juli 1941 und Nr. 47 vom 9. August 1941 kam es beispielsweise in Winniza auch zu Exekutionen von 146 Juden. 30 davon sollen an der Mauer des vom Einsatzkommando besetzten NKWD-Gebäudes und eine weitere Gruppe an einer Sandgrube am Stadtrand von Winniza von Mitgliedern des EK 6 getötet worden sein50.

21 Jahre nach Ende des Krieges wurden Zeugen in einem Prozess gegen Mitglieder der Einsatzkommandos auch hierzu befragt. Ein Beteiligter schildert die Ereignisse wie folgt51:

„Als nächsten Einsatzort kann ich Winnica nennen (...) Wir lagen im NKWD-Gebäude. Eines Tages sackte ein Fahrzeug der Einheit auf dem Hof des Gebäudes ein. Man stellte fest, daß dort Leichen, die der Russe hinterlassen hatte, vergraben waren52. Es wurden nun Juden zusammengetrieben, die die Leichen ausgraben mussten. Anschließend sind diese Juden, es mögen 30 – 40 gewesen sein, erschossen worden (...) Es sind dann aber ausser den Juden, die die Leichen ausgraben mussten, auch noch weitere erschossen worden. Die Erschießung hat in einer Sandgrube am Stadtrand von Winnica stattgefunden.“

Das Einsatzkommando hinterließ eine breite Blutspur vor allem unter der jüdischen Bevölkerung. Das hatte sich inzwischen wohl auch bis nach Winniza herumgesprochen. Die jüdischen Einwohner versuchten vor dem Einsatzkommando zu flüchten, was nach dem Einmarsch zu regelrechten Treibjagden auf Juden führte.

Ein Angehöriger des EK 6 erzählt53:

„Aus unserem Kommando wurde ein kleines Kommando zusammengestellt, bestehend aus SD und SS. Ich selbst bin nicht mitgefahren. Das kleine Kommando fuhr von Winniza aus in Richtung rumänische Grenze. Unterwegs sind die jüdischen Flüchtlinge eingeholt und an Ort und Stelle erschossen worden. Nach den Erzählungen soll es eine direkte Treibjagd gewesen sein, es sollen Tausende von Juden erschossen worden sein. Von Winniza zogen wir nach Kiew (...)“

Aber auch nachdem die „Hauptsäuberungen“ durch das EK 6 ausgeführt worden waren, hatte das Nachkommando noch einiges zu tun. Ein Angehöriger des Nachkommandos berichtete über laufend durchgeführte Exekutionen54:

„Das Nachkommando hatte ähnliche Aufgaben wie das Hauptkommando. Auch bei ihm haben Judenerschießungen stattgefunden. Es waren vielleicht nicht ausschließlich Juden, sie wurden frühmorgens, damit die Bevölkerung es nicht sah, mit Lkw fortgefahren. Uns war klar, daß sie nicht etwa entlassen werden würden.“

Offiziell sollten also mit den Einsatzgruppen bereits im Vorfeld Unruhen vermieden werden. „Potentielle Unruhestifter“ sollten gnadenlos „ausgemerzt“ werden. In der Stadt Winniza selbst gab es offenbar mindestens zwei solcher „vorbeugenden Maßnahmen“. Bei der ersten Aktion am 22. September 1941 soll es in Winniza ungefähr 10 000 Erschießungsopfer gegeben haben55. Nach Aussagen von dort stationierten Soldaten waren bei dieser Aktion vorzugsweise Alte und Kranke erschossen worden.

Alte und Kranke als „potentielle Unruhestifter“?

Ein Mitglied des Polizeireservebataillons 69 – der Bankangestellte Helmuth B. – berichtet von der ersten Aktion gegen Juden56:

„(...) es kann somit im September 1941 gewesen sein, als ich mit einigen Kameraden in der Freizeit in Winniza spazieren ging. So kamen wir auf einen Sportplatz. Hier sahen wir eine Menschenansammlung. Man hatte Juden zu einem Kreis auf dem Sportplatz zusammengetrieben, die von SS–Leuten oder SD–Leuten bewacht wurden. Ich entsinne mich hierbei, daß ein dicker starker SS oder SD–Mann diese Juden mit dem Karabiner stieß, so daß sie hinfielen. Ich habe auch gehört, daß dieser Mann sagte, ’was du Schwein willst kein Jude sein’ (...) Nach einigen Minuten haben wir uns von der Stelle entfernt, weil wir es nicht mehr ansehen konnten. Ich weiß aber, daß es sich bei den Juden um lauter alte Leute gehandelt hat. Es waren Männer und Frauen im Greisenalter.“

Sollten all diese Menschen etwa die zukünftigen, gefährlichen Feinde gewesen sein?

Offensichtlich nicht!

Hitlers Krieg im Osten war – zumindest auch – ein rassistisch motivierter Vernichtungskrieg!

Ein SS-Mitglied aus der Reiterabteilung berichtete über die – wahrscheinlich – selbe Erschießung57:

„Wir wurden mit LKWs zu einem in der Nähe Winnizas gelegenen Waldstück gefahren. Dort war eine Grube ausgehoben, an welcher sich SD-Leute aufhielten. (...) Etwa alle 10–20 m wurde ein Angehöriger unserer Einheit postiert. Danach kamen LKWs herangefahren, auf denen sich jeweils ca. 40 Menschen befanden. Diese Leute – es handelte sich um Frauen, Männer und Kinder – mußten sich nach Verlassen der Fahrzeuge völlig entkleiden und wurden dann durch die von uns gebildete Gasse an die Grube geführt. Hier standen 3 SD–Leute, von denen jeweils 2 mit Pistolen die Juden erschossen, nachdem sie vorher in die Grube springen mußten. (...) Wie ich gerüchteweise erfahren habe, sollen die Erschossenen aus einem Krankenhaus und auch aus Wohnungen in Winniza herausgeholt worden sein.“

Bereits im April 1942 kam es nach Aussagen von Soldaten in Winniza zu einer weiteren Erschießung größeren Umfangs, bei der nach Zeugenaussagen und staatsanwaltschaftlichen Schätzungen mindestens 15 000 Menschen jüdischen Glaubens umgebracht wurden. Dies führte im Jahre 1960 zu staatsanwaltlichen Ermittlungen. Von den „Aktionen“ berichtet vor dem Staatsanwalt ein weiterer Angehöriger des Reservebataillons 6958:

„Zu dieser Zeit waren bei mir auf der Kammer 2 jüdische Mädchen beschäftigt. (...) Ich bin auch in der Wohnung dieser Mädchen gewesen, es handelte sich um Geschwister. Hier habe ich auch die Mutter dieser Mädchen gesprochen. (...) Wir mögen kurz in Rußland gewesen sein als der Spieß Raderschatt zu mir kam und sagte, daß in Winniza Judenaktionen durchgeführt würden. Er gab mir den Auftrag, in den leerstehenden Häusern der Juden nachzusehen, ob dort noch geeignetes Mobiliar für die Dienststelle vorhanden sei. (...) Ich möchte annehmen, daß man zu dieser Zeit alle Juden erschossen hat, die nicht mehr arbeiten konnten. Ich begründe dies damit, weil wir später noch arbeitsfähige Juden bei uns beschäftigt hatten. Im April 1942 muß eine weitere Aktion gegen die jüdische Bevölkerung von Winniza stattgefunden haben. (...) In dieser Zeit war ich gerade auf Urlaub. Als ich zurückkam, war meine erste Frage, wo sind denn die Judenmädchen geblieben. Ich erinnere mich genau, daß man mir gesagt hat, die Juden von Winniza sind erschossen worden.“

Ein anderer Angehöriger des Polizeireservebataillons 69 – der Kellner Karl H. – teilte in den damals durchgeführten Vernehmungen mit59:

„Ich habe mit anderen Kameraden an einem Sportplatz in Winniza abgesperrt. Die Judenfamilien kamen bereits auf den Platz und haben geweint und geschrien. Von vorne kam der Befehl durchgehen. Wir mußten ständig hinten nachschieben. Die Juden gingen in Richtung eines Waldes. (...) Nach der Aktion waren die Kameraden niedergeschlagen. Es sprach aber niemand gerne von der Sache. So habe ich wohl erfahren, daß man die Juden erschossen hat, Einzelheiten kann ich aber nicht angeben, weil ich nicht Zeuge der eigentlichen Erschießung geworden bin.“

Der Polizeimeister Peter G. vom Polizeireservebataillon sagte dabei über die zweite „Aktion“ aus60:

„Ich wurde (...) in eine Absperrung eingegliedert. Ich war zunächst sehr überrascht, um was es eigentlich ging. Mein Posten war etwa 120 Meter von einer großen Grube entfernt und ich konnte deutlich erkennen, wie ein SD–Mann mit einer Maschinenpistole vom Rand der Grube aus in diese hineinschoß. (...) Gemeinsam mit den anderen (...) hatte ich dafür zu sorgen, daß diese Juden nicht fliehen konnten. (...) Auf einem verschlammten Weg kamen die Juden an uns vorbeigezogen. Ich habe beobachtet, wie sie Geld zerrissen und auch andere Sachen in den Schlamm traten. Etwa 30 Meter von der Exekutionsstätte entfernt mußten sich die Opfer entkleiden und ihre Kleider auf einen Haufen werfen. Nackt gingen sie in die Grube und wurden (...) erschossen. Ich habe genau beobachtet, daß es sich um Männer, und Frauen und Kinder handelte. Die Juden haben sich diszipliniert benommen. So habe ich gesehen, wie sich Familien verabschiedeten und Frauen ihr Kinder küßten. Die Juden haben laut gebetet und andere laut geschrien.“

Herbert H. berichtete von einer Massenerschießung, der oben zitierten zweiten „Aktion“ gegen die Juden von Winniza. Er begleitete als Ordonnanz seinen Hauptmann, der auf Grund der Verladeaktion am Marktplatz von Winniza neugierig geworden war und mit den Worten „Jetzt sehen wir uns das Spiel mal an“ hinterherfuhr. Er wollte sich die Erschießungen nicht entgehen lassen. Das grausame „Spiel“ ging folgendermaßen vor sich61:

„Jetzt sahen wir, daß die Juden von den Lastwagen herunterspringen mußten. Es handelte sich um Männer, Frauen und Kinder. Der SD-Mann zeigte in Richtung eines verfallenen Gebäudes (...) Auch wir begaben uns zu diesem Gebäude. Hier mußten sich die Juden entkleiden (...) Diese Baracke hatte hinten einen Ausgang, wo die Juden nackend herauskamen und auf einem zertretenen Weg noch etwa 300 Meter weitergehen mußten. Hier standen SD und Polizisten wieder mit Hunden. Schubweise gingen die Juden diesen Weg, wobei sie ständig von SD-Leuten angetrieben wurden. Auch wir sind diesen Weg gegangen und kamen an eine große Grube von etwa 30 x 40 Metern und einer Tiefe von etwa 4 Metern. In dieser Grube lagen bereits 4 bis 5 Schichten nackter Menschen, die schon erschossen waren. Die Leute, die die Erschießungen vornahmen, waren mit blauen Schlosseranzügen bekleidet und trugen russische MPs. Einer hatte eine Pistole 08 mm und erteilte die Schüsse auf die Juden, die noch nicht tot waren. Ich habe gesehen, wie diese Leute über die Toten liefen bis zu den Juden, die sich hingekniet hatten und auf den Genickschuß warteten. Einzeln wurden die Juden kniend mit den Maschinenpistolen erschossen. So konnte ich auch beobachten, wie ein Jude an der Schlagader getroffen wurde, weil er sich umgedreht hatte. Ich meine es sei ein Offizier gewesen, der hinging und diesen Juden mit einem Pistolenschuß in den Kopf tötete. An dem Rand der Grube standen einige SD-Leute mit Regenumhängen, die die ankommenden Juden antrieben in die Grube zu springen. Wenn sie nicht springen wollten, wurden sie von diesen Leuten hineingestoßen. (...) Ich weiß, daß noch 2 weitere Gruben am Exekutionsort vorhanden waren. Ich habe auch die Schießereien an den Gruben gehört.“

Ein Einzelschicksal ging anscheinend selbst dem kampferprobten Hauptmann an die Nieren62:

„Hauptmann M. und ich standen am Rand der Grube, als ein junges jüdisches Ehepaar mit 2 Kindern in die Grube springen sollte. Der Mann sah Hauptmann M. und kam mit seinen 2 Kindern auf dem Arm auf ihn zu und sagte, „Warum das alles, ich habe doch nichts getan.“ Hauptmann M. hat sich abgewendet und zu mir gesagt, ich habe hier keine Funktion. Ich habe beobachten können, daß Hauptmann M. sehr ergriffen war. Dann ist der Mann mit seiner Frau und den Kindern in die Grube gesprungen und wurde so erschossen wie bereits geschildert. “

Die Erschießungen sollen von 9 Uhr bis 1630 Uhr gedauert haben.

Wegen der Massaker in Winniza wurde niemand von der 1. Kompanie des Polizeireservebataillons angeklagt, da diese „nur“ Absperrungen durchführte.

Die Täter des Massakers blieben weitgehend im Dunkeln.

Die Anklagen gegen die Angehörigen des Einsatzkommandos 6 führten zwar zu einigen Verurteilungen, aber nicht wegen der Massaker in Winniza.

Das Gericht hatte ja eine ausreichende Auswahl an begangenen Massakern. Erschießungen gab es schließlich häufig.

Zwei genauer dokumentierte Massenmorde von Einsatzgruppen gab es beispielsweise in Shitomir und in der Schlucht von Babi Jar.

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Text auf der Rückseite des Bildes: „Juden in Shitomir kurz vor ...“

Wobei Babi Jar geradezu ein Synonym für derartig grausame Verbrechen wurde. Die Buchhalter des Grauens63 listeten für den 19. September in Shitomir, nicht weit von Winniza, 3 145 erschossene Juden auf. In der Schlucht von Babi Jar bei Kiew wurden am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33 771 Menschen bestialisch ermordet. Die am Morden in der Schlucht von Babi Yar beteiligten Polizeibataillone sollen auch hier „nur“ abgesperrt und die Opfer zum Erschießungsort getrieben haben, was zur Zeit der Ermittlungen als verjährte Beihilfe nicht mehr bestraft werden konnte64.

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Da auch bei den Erschießungen alles seine Ordnung haben musste, wurde normalerweise die Kleidung der Massakrierten fein säuberlich auf Lastwagen verfrachtet, desinfiziert und der NS-Volkswohlfahrt zugeführt.

Auch das wurde penibel dokumentiert65:

„137 Lastwagen Bekleidungsstücke, die im Zuge der in Shitomir und Kiew vorgenommenen Judenaktionen angefallen waren, wurden der NSV zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt. Der größte Teil davon gelangte nach der notwendigen Desinfektion zur Verteilung an Volksdeutsche. U. a. konnte auch ein Kriegslazarett der Waffen-SS seinen Bedarf an Wolldecken usw. aus diesem Vorrat decken.“

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“Untermenschen“

Das Verhalten der deutschen Armee gegenüber Zivilisten in den besetzten Gebieten war – um es sehr vorsichtig auszudrücken – nicht von besonderer Rücksichtnahme geprägt.

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Juli 1941: Einem alten Juden wird von deutschen Soldaten der Bart abgeschnitten. Bundesarchiv, Bild 101I-187-0203-11 / Gehrmann, Friedrich / CC-BY-SA

Der Generalplan Ost sollte die Germanisierung des europäischen Teils der Sowjetunion bis zum Ural bewerkstelligen. Generalfeldmarschall von Reichenau erläuterte dazu in seinem Tagesbefehl vom 10. Oktober 194166:

„Das wesentliche Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis.“

Doch bevor die Ostkolonien als Rohstoffquelle und Absatzgebiet genutzt werden konnten, mussten sie von der nicht-arischen Bevölkerung befreit werden.

Da sich die Wehrmacht alleine aus russischen Ressourcen ernähren sollte, waren die einheimischen Bewohner nun lediglich überflüssige Esser.

Falls es sich, wie mitunter behauptet, nicht um einen vorsätzlich ausgeklügelten „Hungerplan“67 der nationalsozialistischen Führungselite handelte, wurde von den Naziführern der Hungertod von Millionen sowjetischer Menschen zumindest billigend in Kauf genommen.

Juristisch macht das keinen wesentlichen Unterschied.

Dabei erledigten die Polizeibataillone der Armee ihren Teil des auch von Reichenau vorgegebenen Plans und beteiligten sich an der Ausrottung des „asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis“. Sie waren häufig in Massenerschießungen involviert.

Die Angehörigen dieser Polizeibataillone waren sowohl vor als auch nach dem Krieg meistens normale Polizisten. Während des Krieges aber waren sie an der „Endlösung“ beteiligt.

Browning lässt in seinem Buch „Ganz normale Männer“ einige der Mitglieder des von ihm untersuchten Reserve-Polizeibataillons 101, welches in Polen wütete, berichten. Laut ihren Berichten hatten sie vor allem anfangs mit der Rolle, die ihnen bei der „Endlösung“ zugedacht war noch größere Probleme68:

„Ich mußte ihn regelrecht wieder hochziehen und voranschleppen. So erreichte ich den Exekutionsort erst, als meine Kameraden bereits ihre Juden erschossen hatten. Beim Anblick seiner erschossenen Landsleute warf sich mein Jude nun zu Boden und blieb liegen. Ich habe nun meinen Karabiner durchgeladen und ihn durch einen Schuß in den Hinterkopf erschossen. Da ich durch die grausame Behandlung der Juden bei der Räumung der Stadt schon sehr aufgeregt und völlig durcheinander war, habe ich jetzt viel zu hoch geschossen. Durch den Schuß wurde meinem Juden das gesamte hintere Schädeldach abgerissen und das Gehirn bloßgelegt. Teile des Schädeldachs sind dabei meinem Zugfüh­rer, dem Hauptwachtmeister S. ins Gesicht geflogen. Dies war für mich der Anlaß, nach Rückkehr zum Wagen zu unserem Spieß zu gehen und um meine Ablösung zu bitten. Mir war durch den Vorfall derartig übel geworden, daß ich einfach nicht mehr konnte. “

Andere Angehörige des Polizeibataillons machten ähnliche Erfahrungen:

„Nachdem ich eine Erschießung durchgeführt hatte und zur nächsten Erschießung am Abladeplatz mir als Opfer eine Mutter mit Tochter zugeteilt wurde und ich mit diesen ins Gespräch kam und erfuhr, daß sie Deutsche aus Kassel waren, faßte ich den Entschluß, mich nicht mehr an Exekutionen zu beteiligen. Mir war die ganze Sache jetzt so zuwider, daß ich erneut zu meinem Zugführer ging und ihm erklärte, daß mir noch immer übel sei und ich nicht mehr könne und um meine Ablösung bäte.“

Ein Dritter69 konnte sich daran erinnern, dass der erste Jude, den er trotz flehentlicher Bitte um Gnade erschossen hatte, einen Orden aus dem Ersten Weltkrieg besaß und aus Bremen stammte. Aber auch der konnte auf keine Gnade hoffen. Befehl war schließlich Befehl!

Die obigen Schilderungen betrafen die Gefühle der Angehörigen dieses Bataillons bei der ersten Erschießung, auf die sie nicht vorbereitet waren.

Insgesamt schätzt man die jüdischen Opfer allein dieses - aus 500 Mann bestehenden - Bataillons bis zum Mai 1943 auf 83 000 Menschen70.

Nach und nach wurden derartige Maßnahmen zu Routine. Nur so sind Aussagen wie folgende zu erklären71:

„In den drei Gräben wurden von unserer Kompanie an diesem Tage etwa 350 Juden beiderlei Geschlechts, vorwiegend aber Männer erschossen. Bei den Erschießungen ist es aber zu keinen grausamen Handlungen gekommen, das möchte ich betonen.“

„Normale“ Erschießungen wurden also als nicht mehr grausam empfunden. Es mussten schon ganz andere Dinge geschehen, um eine gewisse Abscheu bei den abgestumpften Soldaten auszulösen.

Beim Polizeibataillon 45, das ähnliche Erfahrungen machte, waren die Skrupel anscheinend schon bald verflogen. Wie sollte man sonst ein mehrseitiges Gedicht mit dem zynischen Titel „Mehr oder weniger lustige KdF Reise nach Südosten“ erklären, das im Januar 1942 beim Kameradschaftsabend zum Besten gegeben wurde. Hier ein kurzer Auszug72:

„Von Jalta bis Sewastopol

So ringsherum um Simferopol

Da hausen wir wie die Titanen

Ganz mächtig. Und die Partisanen

Kriegen mal endlich toll

Ihr ziemlich großes Arschloch voll.

Ferner die Juden und Krimtschaken

Verlernen schnell das Nüsseknacken.

So tobt der Kampf an allen Fronten

Wir waren überall dabei

Und zeigten gerne was wir konnten

Und nicht ein Einzger schoß vorbei.“Die Mörder in Uniform schreckten auch nicht davor zurück, Frauen und Kinder zu töten. Ein Mitglied des EK 5, das auch in der Nähe von Winniza wütete, beschreibt in seiner Vernehmung nach dem Krieg eine dieser Erschießungen, an der er selbst teilnahm73:

„Die Frauen und Kinder wurden auf Panjewagen aus der Ortschaft herausgefahren. Die Männer mußten zu Fuß gehen. Insgesamt dürfte es sich um 60–100 Menschen gehandelt haben. Genauer habe ich die Zahl nicht mehr in Erinnerung. Wieviel Kinder sich dabei befunden haben, kann ich nicht sagen, 10 werden es wohl gewesen sein. In einem Fall erinnere ich mich, daß eine Frau ein Kleinkind auf dem Arm trug. Etwa 5 Menschen wurden jeweils vom Warteplatz zum Exekutionsplatz hingeführt. Ich meine, das geschah durch die ukrainischen Hilfspolizisten. Die zu Erschießenden mußten sich mit dem Gesicht zur Grube hin aufstellen. Dann wurden sie durch Genickschuß mit der Pistole (...) erschossen. Hinter jedem der zu Erschießenden stand einer von uns Angehörigen des Kommandos. In einem Falle habe ich gesehen, daß ein zusätzlicher Schütze herangezogen wurde, als eine Mutter mit Säugling an der Grube stand. Dieser hatte den Säugling zu erschießen, während ein anderer die Mutter erschoß. Ich habe in Erinnerung, daß ich 2 Frauen und 3 Männer erschossen habe.“

In der Nachkriegszeit wurden in Deutschland immer nur die Gräueltaten der SS thematisiert. Die Wehrmacht selbst war außen vor. Die unbestrittenen Leiden der einzelnen deutschen Soldaten wurden mit dem Leiden der Bürger in der Sowjetunion aufgewogen. Wer wen überfallen und massenhaft getötet hatte, wurde dabei meist vernachlässigt.

Bis heute wird man häufig angefeindet, wenn man über Verbrechen der deutschen Wehrmacht berichtet. Aber es war die Wehrmacht, welche an der Deportierung von Hunderten und Tausenden von Zivilisten zur Zwangsarbeit teilgenommen hatte. Es war die Wehrmacht, deren geflissentliche Zusammenarbeit mit den berüchtigten SS-Einsatzkommandos die über eine Million ermordeten Juden an der Ostfront überhaupt erst ermöglichte. Es war die Wehrmacht, die Absperrungen durchführte und die Mörder ernährte, transportierte und unterbrachte. Und es war der normale Soldat der Wehrmacht, vor allem hinter der Front, der die Gräuel tagtäglich mitbekam und als „Normalität“ des Krieges erlebte ohne aufzubegehren. Ein Mitglied des Stalags 329 berichtete74:

„Mir ist bekannt, daß nahezu täglich Erschießungen von Zivilpersonen (Männer, Frauen u. Kinder jüd. Abstammung) in der Nähe des Stalags stattgefunden haben. Diese Erschießungen hatten nichts mit dem Lager zu tun. In der Nähe der Lager wurden (...) später von Kriegsgefangenen lange Gräben ausgehoben, in denen die Erschossenen vergraben wurden. Wer für diese Erschießungen verantwortlich war, weiß ich ebenfalls nicht. Die Delinquenten wurden täglich, oftmals bis zu 100 Stück mit Lastkraftwagen angefahren und von einem SS-Offizier der Begleitmannschaft mit einer Maschinenpistole erschossen. Ich habe selbst zweimal aus einiger Entfernung zugeschaut.“

Auch Ernst, der in der Nähe des Stalags untergebracht war, muss von den Erschießungen und den Gräueltaten gewusst haben.

Im Krieg war es verboten darüber zu sprechen oder diesbezügliche Bilder und Briefe in die Heimat zu verschicken. Offensichtlich hielt sich Ernst an seine Befehle. Bilder und Briefe aus jener Zeit sprechen eher für ein Abenteuer. Laut seinen Erzählungen liebte Ernst das Land und die Leute. Er beabsichtigte sogar nach einem gewonnen Krieg dorthin auszuwandern. Auch die Bilder aus dem Fotoalbum – wo er häufiger im Kreise ukrainischer Familien zu sehen ist – lassen auf eine gewisse Verbundenheit mit der Bevölkerung schließen.

15 Ernst und russ.Fam.jpg

Ernst inmitten einer ukrainischen Familie

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Text von Ernst auf der Bildrückseite: Nov. 41 mit einer blonden Russin und einer brünetten Ukrainerin

Nach dem Krieg wurde nie darüber gesprochen, was eigentlich in Winniza geschehen war. Es hieß lediglich, dass Ernst in Winniza, weit hinter der Front, in der Schreibstube gesessen hatte. Man war in der Nachkriegszeit als ehemaliger, einfacher, im Krieg verwundeter oder erkrankter Soldat mit dem täglichen Daseinskampf und den körperlichen Gebrechen vollauf beschäftigt.

Die seelischen Wunden und die Frage der Mitschuld wurden tabuisiert.

Nur ein Bild aus dem privaten Fotalbum zeigt, dass es im Stalag 329 in Winniza auch um Leben und Tod ging.

17 die ersten Toten.jpg


„Partisanenbekämpfung“

Aber nicht nur mittels Aushungern, sondern auch mit der so genannten Partisanenbekämpfung sollte die slawische Bevölkerung dezimiert werden. Und das schon, bevor überhaupt eine wirkliche Partisanenbewegung entstanden war.

Die Fluchtquote in den Gefangenenlagern war aufgrund der schlechten Behandlung und des zu erwartenden Hungertodes gerade in den okkupierten Ostgebieten sehr hoch. Zur „Partisanenbekämpfung“ gab es deshalb von einem bestimmten Zeitpunkt die Anweisung, versprengte Soldaten oder entflohene Kriegsgefangene als „Freischärler“ zu erschießen. Der Generalkommandant des VII. Armeekorps befahl am 29. Juni 1941, alle Zivilisten, die bewaffnet angetroffen werden, als Freischärler anzusehen und zu „erledigen“ 75,

„auch wenn sie nur Rasiermesser in den Stiefeln haben“.

Schon ein für Soldaten typischer Kurzhaarschnitt konnte laut Führungsanordnungen ins Verderben führen76. Auch die Aussage von Adolf Hitler vom 16. Juli 1941 spricht für sich77:

„Die Russen haben jetzt einen Befehl zum Partisanenkrieg hinter unseren Fronten gegeben. Dieser Partisanenkrieg hat auch wieder seinen Vorteil: er gibt uns die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt.“

„Auszurotten, was sich gegen uns stellt“ war auch Keitels Plan im September 1941. Er verlangte „beim ersten Anlaß unverzüglich die schärfsten Mittel anzuwenden“ und das Leben eines getöteten deutschen Soldaten mit dem Tod von 50 bis 100 „Kommunisten“ zu rächen78.

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Erschießung von Partisanen in der Sowjetunion, Bundesarchiv, Bild 101I-212-0221-07 / Thiede / CC-BY-SA

Besonders brutal ging man bei der „Partisanenbekämpfung“ in Ruthenien vor. Ruthenien wurde der östliche Teil Galiziens genannt, der heute zwischen der Ukraine und Weißrussland aufgeteilt ist. In einem Monat wurden dort von 10 940 Gefangenen 10 431 als Partisanen erschossen. Auch hier konnte von Partisanen oder von „fanatischen, kommunistisch geschulten Kämpfern, die vor keiner Gewalttat zurückschrecken“, wie es propagandistisch hieß, nur schwerlich die Rede sein. Bei dieser Partisanenbekämpfung hatten die deutschen Truppen nur zwei Gefallene und fünf Verwundete zu beklagen. So gefährlich waren „die fanatisch geschulten Kämpfer“ dann ja wohl anscheinend doch nicht. Ganze 89 Waffen wurden bei den mehr als 10 000 „Partisanen“ erbeutet79!

Im Kaukasus musste deshalb sogar ein Generaloberst die ihm unterstellten „Bandenbekämpfer“ im Dezember 1942 zur Mäßigung aufrufen80:

„Es ist selbstverständlich, dass gegen jeden Versuch der Bandenbildung mit rücksichtsloser Härte durchgegriffen werden muss. Daran ist nicht zu deuteln. Es ist aber vorgekommen, dass bei den Durchkämmungsaktionen auch Frauen und Kinder, die im Wald Heu oder wilde Früchte sammelten, von unseren Strafkommandos erschossen wurden oder größere Exekutionen gegen vermeintliche Angehörige von Bandenmitgleidern vorgenommen worden sind.“

Inwieweit er mit seinem Aufruf Erfolg hatte, lässt sich nicht mehr eruieren.

Im „rückwärtigen Heeresgebiet Mitte“ wurden bis Mai 1942 ungefähr 80 000 Personen als „Partisanen“ beziehungsweise „partisanenverdächtig“ erschossen. In einem Befehl vom 16. Dezember 1941 hieß es81:

„Ortschaften, in welchen die Einwohner die Partisanen unterstützen oder mit ihnen sympathisieren, sind zu vernichten.“

Dort kam es auch zu einem schrecklichen Massaker an Kindern, das von ukrainischen Hilfswilligeneinheiten durchgeführt wurde, weil man den regulären deutschen Einheiten die Belastung ersparen wollte. Bei dieser abscheulichen Mordaktion am 3. Oktober 1941 in Mogiljow in der Nähe von Minsk wurden – nach mehreren Aussagen deutscher Soldaten – Säuglinge in die Luft geworfen und wie Tontauben abgeschossen82.

Ein ähnliches Verbrechen gab es auch in der ukrainischen Stadt Balaja-Zerkow im August 1941. Dort wurden 90 jüdische Kinder, deren Eltern zuvor von ukrainischen Hilfswilligen umgebracht worden waren, von den Einsatzgruppen exekutiert, nachdem Generalfeldmarschall von Reichenau ausdrücklich befohlen hatte, die Aktion durchzuführen83.

Später, als Partisanen – aus Propagandagründen beziehungsweise aus „psychologischen“ Gründen – nicht mehr Partisanen, sondern „Banditen“ hießen, nannte Himmler am 29. Dezember 1942 eine Zahl von über 350 000 erledigten „Banditen, Bandenhelfern oder Bandenverdächtigen“ und Juden in vier Monaten. Nach einer Meldung an den Führer waren es 737 sofort exekutierte „Banditen“, 7 828 nach längerer Vernehmung exekutierte „Banditen“, 14 257 exekutierte „Bandenhelfer oder Bandenverdächtige“ und 363 211 exekutierte Juden84.

Auch noch beim Rückzug der deutschen Truppen Ende 1943 wurden angebliche „Banditen“ gejagt und erschossen, wobei ganze Dörfer vernichtet wurden. So hieß es in der kurzen Morgenmeldung an den Kommandanten des rückwärtigen Armeegebiets 582 vom 1. Weihnachtsfeiertag 194385:

„Durchkämmung der Ortschaft Thälmann (4 km südostw. Lobatschoew), 13 km s. Wolodarka, durch SD. 250 Ortseinwohner, die bandenverdächtig waren, erschossen. Ortschaft vernichtet.“

Schon am 15. Mai 1941 hatte der Chef des OKW Keitel im „Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet ‚Barbarossa‘ und über besondere Maßnahmen der Truppe“ befohlen86:

„Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.“

Er begründete die angeordnete Immunität damit87,

„daß der Zusammenbruch im Jahre 1918, die spätere Leidenszeit des deutschen Volkes und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern der Bewegung entscheidend auf bolschewistischen Einfluss zurückzuführen war und daß kein Deutscher dies vergeben darf.“

Keitels Erlass hatte offensichtlich noch nicht die gewünschte Wirkung, denn die „unsoldatische“ Behandlung von Verdächtigen, der auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen, führte zu Unstimmigkeiten innerhalb der Wehrmacht. Einzelne Angehörige des Heeres wurden nicht gedeckt und sollten wegen ihrer Verbrechen bestraft werden.

Beispielsweise hinterließ der Kommandeur des Polizeibataillons 304 in der Ukraine am 29. November 1941 ein sehr aussagekräftiges Schreiben an den Kommandeur der Ordnungspolizei für den Distrikt Warschau:

„Ich kann als Einheitsführer heute nicht den Befehl geben, 10, 50, 100, 600, 1000 ja 5000 Juden auf einmal zu erschießen und am nächsten Tage vielleicht den gleichen Wachtmeister zur Vernehmung schicken, weil er in Warschau gelegentlich einen Juden angeschossen hat. Hier wird der gleiche Wachtmeister von mir bestraft, wenn er einem Schießbefehl nicht nachkommt, dort in Warschau ebenfalls, weil er geschossen hat. Dieses Verfahren muß meine Männer verwirren und unsicher machen, und unter Umstän­den dürfte dieses Verfahren gerade dazu angetan sein, eine Lockerung der Manneszucht herbeizuführen. (…) Wir sind in einem Krieg, den uns Judäa aufgezwungen hat und in dem es für unser Volk um Sein oder Nichtsein geht. Da müssen Erwägungen menschlicher Milde zurücktreten. Es gilt nun einmal in diesem Krieg reinen Tisch zu machen und unser Großdeutsches Reich für künftige Jahrhunderte von der jüdischen Weltpest und der asiatischen Gefahr aus dem Osten zu sichern. Meines Erachtens dürfte es noch andere Wege geben, zum formalen Abschluß eines Juden betreffenden Vorganges zu gelangen. Was würde mit der Akte geschehen, wenn z.B. rein zufällig der in Rede stehende Wachtmeister im fernen Osten inzwischen meuchlings von einem jüdischen Partisan ermordet worden wäre?“88

Diesen Unstimmigkeiten wurde allerdings, spätestens durch einen erneuten Erlass Keitels vom 16. Dezember 1942, ein Riegel vorgeschoben89:

„Der Feind setzt im Bandenkampf fanatische, kommunistisch geschulte Kämpfer ein, die vor keiner Gewalttat zurückschrecken. Es geht hier mehr denn je um Sein oder Nichtsein. Mit soldatischer Ritterlichkeit oder mit den Vereinbarungen der Genfer Konvention hat das nichts mehr zu tun. Wenn dieser Kampf gegen die Banden sowohl im Osten wie auf dem Balkan nicht mit den allerbrutalsten Mitteln geführt wird, so reichen in absehbarer Zeit die verfügbaren Kräfte nicht mehr aus, um dieser Pest Herr zu werden.“

Auch Frauen und Kinder durften auf keine Gnade mehr hoffen90:

„Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt. Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk und den Soldaten an der Front, der die Folgen der Bandenanschläge zu tragen hat und keinerlei Verständnis für irgendwelche Schonung der Banden oder ihrer Mitläufer haben kann.“

Den Naziführern war es inzwischen durch Befehle und Einschüchterungen gelungen, auch ihre Anhänger davon zu überzeugen, dass Slawen tatsächlich „Untermenschen“ seien. Nur mit härtester Gangart seien die „Bestien“ zu bändigen. Nur die, die man als Arbeitssklaven brauchen konnte, waren vor Barbareien der Soldateska momentan noch halbwegs geschützt. Ansonsten wurde der deutsche Soldat geradezu dazu aufgefordert, mittels brutalsten Morden Furcht und Schrecken bei den Besetzten zu verbreiten. Dazu war eine entsprechende Indoktrinierung und Ausbildung deutscher Soldaten und deren ziviler Helfer erforderlich, wie der sowjetische Ankläger in den Nürnberger Prozessen erläuterte91:

„Es ist selbstverständlich, daß es nicht genügte, chemische Rezepte für ,Zyklon A‘ (ein Giftgas) auszuarbeiten, Gaskammern und Krematoriumsöfen zu konstruieren oder Spezialverfahren der Massenerschießung in allen Einzelheiten festzulegen, um Millionen unschuldiger und hilfloser Menschen zu vernichten, sondern man musste zu diesem Zwecke viele Tausende von Befehlsvollstreckern ausbilden, die diese Politik nicht ,ihrer Form, sondern ihrem Geiste nach‘, wie sich Himmler einst ausdrückte, ausführten. Man musste Menschen ohne Herz und Gewissen, mit perversen Neigungen, solche die mit den Grundsätzen der Moral und des Rechts bewusst gebrochen hatten, erziehen.“

Als Beleg dafür galt in den Nürnberger Prozessen ein Dokument, das den Titel trug „12 Gebote für das Verhalten der Deutschen im Osten und die Behandlung der Russen“, unterzeichnet von Herbert Backe, dem ehemaligen Ernährungsminister, der seine Leser ermahnte92:

„Ihr müsst Euch bewusst sein, daß Ihr Repräsentanten Großdeutschlands und Bannerträger der nationalsozialistischen Revolution und des neuen Europa für Jahrhunderte seid. Ihr müsst daher auch die härtesten und rücksichtslosesten Maßnahmen, die aus Staatsnotwendigkeiten gefordert werden, mit Würde durchführen. Charaktermängel des Einzelnen werden grundsätzlich zu seiner Abberufung führen.“

Ähnlich waren auch die „Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Russland“ 93.

„Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägern gilt Deutschlands Kampf.

Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes.

Gegenüber allen Angehörigen der Roten Armee – auch den Gefangenen – ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Achtsamkeit geboten, da mit heimtückischer Kampfweise zu rechnen ist. Besonders die asiatischen Soldaten der Roten Armee sind undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos.“

Und der sogenannte Reichenau-Befehl vom 10. Oktober 194194:

„Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben (...) Fern von allen politischen Erwägungen der Zukunft hat der Soldat zweierlei zu erfüllen:

1) die völlige Vernichtung der bolschewistischen Irrlehre, des Sowjetstaates und seiner Wehrmacht,

2) die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit und damit die Sicherung der deutschen Wehrmacht in Russland.

Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.“

Zur Veranschaulichung der Ergebnisse solcher Anweisungen wurden in den Nürnberger Prozessen viele Augenzeugen aufgeboten. Beispielsweise sagte ein Gefangener aus, der Leichen verbrennen musste95:

„Ein Mensch wurde am Hals, an den Händen oder Füßen aufgehängt, dann wurden die Hunde auf ihn gehetzt und rissen ihn in Stücke. Der Mensch wurde als Zielwand bei Schießübungen verwendet. Mit diesen Dingen beschäftigten sich am meisten die Gestapoleute H., M., B., der Chef des Lagers, W., und andere, an deren Namen ich mich nicht erinnere. (...) Die Menschen wurden an den Beinen angefasst und auseinandergerissen; Kinder im Alter von einem Monat bis zu drei Jahren wurden in Fässern, die mit Wasser gefüllt waren ertränkt. (...) Die Frauen wurden an den Haaren aufgehängt, dabei wurden sie ausgezogen, hin und her geschaukelt, und so hingen sie, bis sie starben.“

Ein Historiker schreibt96:

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739393230
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Stalag Krieg Russland Lager Soldat Nazi Ukraine Krim Weltkrieg Großväter Kulturgeschichte Recht Jura

Autor

  • Ernst Reuß (Autor:in)

Ernst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin. Publikationsauswahl: Berliner Justizgeschichte, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Mord? Totschlag? Oder was?, Sirius, Katzenkönig und Co.
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Titel: Gefangen!