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Sirius, Katzenkönig und Co.

Fünf Fälle aus der Strafrechtsgeschichte

von Ernst Reuß (Autor:in)
73 Seiten

Zusammenfassung

Ein angeblicher Außerirdischer überredet eine Frau zum Selbstmord. Ein Mann ist bereit, zum Schutz der Menschheit ein Menschenopfer darzubringen ... Von tragischen, skurrilen und bizarren Strafrechtsfällen aus dem Bereich Mord und Totschlag handelt das Buch von Ernst Reuß. Jeder Fall hat seine besondere juristische Eigentümlichkeit. In kurzweiligen verständlichen Texten kommentiert der Autor Urteilsbegründungen aus Originalquellen. Er spürt der Frage nach: Warum wurde so und nicht anders geurteilt? Überaus spannend sind diese Fälle, die Strafrechtsgeschichte schrieben. Interessant für den Jurastudenten wie für den juristischen Laien, doch nichts für schwache Nerven.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Es muss wohl Mitte der 90er Jahre gewesen sein, als ich das erste Mal vom Sirius-Fall hörte, während einer Strafrechtsvorlesung in meinen Anfangssemestern an der Universität. Ein Mann hatte seine Bekannte überredet sich umzubringen, damit sie mit ihm, ohne ihren dafür hinderlichen Körper, zum Planeten Sirius reisen kann, um dort eine gemeinsame glückliche Zukunft haben zu können.

Mich elektrisierte dieser Fall sofort. Wie konnte so etwas Absurdes geschehen? Als angehenden Juristen interessierte mich natürlich noch mehr, ob man jemanden wegen solch einer Tat juristisch belangen könnte. Ein Selbstmord ist nun mal nicht strafbar.

Häufig wurde ich gefragt, wie ich so etwas „Trockenes“ wie Jura studieren könnte. Ich konterte gern, indem ich einen solch grotesken Fall schilderte. Meist erntete ich von meinen Zuhörern ein verwundertes Kopfschütteln und die Bemerkung, warum sie noch nie davon gehört hätten.

Schon damals hatte ich die vage Idee, eines Tages diese Geschichten aufzuarbeiten. Es gibt vermutlich ein breites Publikum, das sich für derartig merkwürdige und juristisch brisante Fälle interessiert. Nun endlich erscheint eine Auswahl davon in Buchform.



Berlin, April 2017 Ernst Reuß



Der Sirius-Fall

Lag ein versuchter Mord vor?

Vor dieser äußerst kniffligen Frage stand im Juli 1983 der erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. Im Juristendeutsch lautet das Problem, über das das Gericht zu urteilen hatte:

„Abgrenzung von strafbarer Tötungstäterschaft und strafloser Selbsttötungsteilnahme in Fällen, in denen der Suizident durch Täuschung zur Vornahme der Tötungshandlung bewogen wird.“

Was war geschehen?

Das Landgericht Baden-Baden hatte am 3. November 1982 in einem fünftägigen Prozess den zu diesem Zeitpunkt 35-jährigen Angeklagten Fred G. – Mitinhaber eines Galvanobetriebes in Bayern – wegen versuchten Mordes, wegen Betruges, wegen vorsätzlicher Körperverletzung, wegen unbefugten Führens akademischer Grade und wegen eines Vergehens gegen das Heilpraktikergesetz zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Dagegen hatte Fred G. – beziehungsweise dessen Anwalt – Revision eingelegt.

G. soll „einen Suizidenten“ dazu überredet haben sich selbst umzubringen. Abgesehen davon, dass es sich bei „dem Suizidenten“ um eine Frau namens Heidrun T. handelte, mit der Fred G. seit mehreren Jahren eng befreundet gewesen war und ein Selbstmord möglicherweise moralisch verwerflich, beziehungsweise aus religiösen Gründen nicht erlaubt sein mag, ist eine solche Tat nach unserem Strafgesetzbuch definitiv nicht strafbar. Für sein eigenes Leben ist jeder immer noch selbst verantwortlich.

Es war also die Frage zu klären, ob man wegen massiver Beeinflussung eines Selbstmordkandidaten als Mörder verurteilt werden kann. Genau das versuchte das Gericht zu klären.

Weil der Selbstmordversuch der damals 29-Jährigen am 1. Januar 1980 erfreulicherweise nicht klappte, blieb es allerdings lediglich bei einer Anklage wegen versuchten Mordes.

Kann man also jemanden wegen des Selbstmordversuches eines anderen verurteilen?

Doch eher nicht, oder?

Anstiftung zu einem Selbstmord ist nicht strafbar, denn wer zu einer straflosen Tat anstiftet, kann deswegen nicht verurteilt werden.

Klingt einfach. Aber dieser Fall war speziell.

Ein vollkommen wirres Knäuel nicht nachvollziehbarer Phantastereien und menschlicher Abgründe wurde erneut einem Gericht vorgelegt. Der Bundesgerichtshof hatte die schwierige Aufgabe darüber zu entscheiden, ob wirklich ein versuchter Mord vorlag, wie das Landgericht Baden-Baden zuvor geurteilt hatte. Folgendes war geschehen:

Anfang der 70er Jahre lernte der Angeklagte in einer Diskothek in der Nähe von Aalen die vier Jahre jüngere Heidrun T. kennen. Diese war laut Schilderung von Zeugen damals noch eine unselbstständige junge Frau von Anfang 20, die ziemlich komplexbeladen gewesen sein soll. Der anscheinend umwerfende Charmeur Fred G. hatte sich als Heilpraktiker, Privatdozent und Doktor der Psychologie vorgestellt. Heidrun war stark beeindruckt von seinen Hochstapeleien und verliebte sich heftig, obwohl sie gewiss war, dass ihre Liebe von diesem aus ihrer Sicht großen, weisen – aber mit anderen Frauen liierten – unerreichbaren Mann nicht erwidert werden konnte. So entwickelte sich eine äußerst intensive, aber doch nur platonische Freundschaft.

Man diskutierte sich hauptsächlich die Köpfe heiß.

Die Gespräche gingen meist um Psychologie und Philosophie. Fred – der angeblich promovierte Psychologe – wusste einfach auf alles eine Antwort. Die ausgebildete Chefsekretärin Heidrun T., die inzwischen zur Tageszeitung „Welt“ nach Bonn gegangen war, befand sich in einer Selbstfindungsphase und war gerade dabei den Sinn des Lebens zu ergründen. Fred G. stand ihr zur Seite. Da sie nicht in derselben Ortschaft wohnten, wurden diese Diskussionen oft in mehrere Stunden dauernden Telefongesprächen geführt.

Laut Auffassung des Landesgerichtes Baden-Baden wurde Fred G. für die Heidrun T. im Laufe der Zeit zum Lehrer und Berater in allen Lebensfragen. Sie vertraute und glaubte ihm blindlings. Er war immer für sie da.

Zumindest telefonisch!

1978 verließ sie schließlich Bonn und zog in eine Fred gehörende Eigentumswohnung in die Nähe von Baden-Baden.

Die Nähe zwischen ihr und ihrem Freund in allen Lebenslagen nahm noch mehr zu. Ihre Abhängigkeiten und ihre persönlichen Probleme allerdings auch. Fred wusste natürlich Rat, auch wenn der sich letztendlich als teuer herausstellen sollte.

Damit sie ihre Probleme überwinden könne, meinte G., benötige sie einer geistigen und philosophischen Weiterentwicklung. Einer vollkommenen Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu bedürfe es natürlich größter geistiger Anstrengung zu denen selbst er – der große Lehrmeister Fred G. - nicht in der Lage sei. Er könne allerdings Hilfe anbieten, denn er kenne einen Mönch namens „Uliko vom Volke der Dogen“.

Der wäre ein noch größerer Lehrmeister als er selbst. Er würde für sie meditieren, was allerdings nicht ganz billig wäre, denn das Kloster, in dem dieser leben würde, brauche Geld. Sehr viel Geld selbstredend! Das verstand Heidrun.

Im guten Glauben überreichte sie dem wahrscheinlich innerlich glucksenden Fred G. einen Scheck. Sie hatte zuvor einen Bankkredit aufgenommen.

Dass es sich bei „Uliko“ schlicht um ein Fantasieprodukt des Angeklagten handelte, braucht hier nicht näher dargelegt werden. Dass Heidrun T. keine Zweifel an Fred hatte, braucht wohl auch nicht erläutert zu werden. Und, dass Fred G. das ganze Geld mit dem ihm eigenen Selbstverständnis seinem eigenen Konto gut schreiben ließ, sicherlich erst recht nicht!


Laut dem etwas trockenen Deutsch des Bundesgerichtshofs spielte sich die Geschichte wie folgt ab:

„Als der Angeklagte erkannte, daß ihm die Zeugin vollen Glauben schenkte, beschloß er, sich unter Ausnutzung dieses Vertrauens auf ihre Kosten zu bereichern. Er legte der Zeugin dar, sie könne die Fähigkeit, nach ihrem Tode auf einem anderen Himmelskörper weiterzuleben, dadurch erlangen, daß sich der ihm bekannte Mönch Uliko für einige Zeit in totale Meditation versetze. Dadurch werde es ihrem Körper möglich, während des Schlafes mehrere Ebenen zu durchlaufen und dabei eine geistige Entwicklung durchzumachen. Dafür müßten allerdings an das Kloster, in dem der Mönch lebe, 30000 DM gezahlt werden. Die Zeugin glaubte dem Angeklagten. Da sie nicht genügend Geld besaß, beschaffte sie sich die geforderte Summe durch einen Bankkredit.“

Deswegen wurde Fred G. dann auch später vom Landgericht Baden-Baden zu Recht wegen Betrugs verurteilt.

So weit, so klar.

Aber versuchter Mord?

Es musste also noch mehr vorgefallen sein.

So war es auch. Mit ihrer geistigen Weiterentwicklung war Heidrun nicht ganz zufrieden, und das trotz der pünktlich übergebenen 30.000 DM. Der Erfolg der Meditation des Mönches „Uliko vom Volke der Dogen“ stellte und stellte sich nicht ein. Heidrun fühlte sich kein bisschen verändert. Die skurrile Geschichte ging also weiter. Das Gericht stellte später fest:

„Sooft sich die Zeugin in den folgenden Monaten nach den Bemühungen des Uliko erkundigte, vertröstete sie der Angeklagte. Später erklärte er ihr, der Mönch habe sich bei seinen Versuchen in große Gefahr begeben, gleichwohl aber keinen Erfolg erzielt, weil ihr Bewußtsein eine starke Sperre gegen die geistige Weiterentwicklung aufbaue. Der Grund dafür liege im Körper der Zeugin; die Blockade könne nur durch die Vernichtung des alten und die Beschaffung eines neuen Körpers beseitigt werden.“

Aha! Heidrun T. war also selbst schuld! Ihr Körper war ihr im Weg. Ein Missgeschick, dem „leicht“ abgeholfen werden konnte!

Ganz schön dreist von unserem Angeklagten!

Und ziemlich durchsichtig, doch die arglose Frau schöpfte keinen Verdacht. Sie war Fred G. vollkommen verfallen.

Eines Tages hatte Fred ihr in einem ihrer unzähligen esoterisch angehauchten Gespräche überraschenderweise erzählt, dass er ja, um ehrlich zu sein, eigentlich gar kein Mensch sei, sondern von einem fremden Stern stamme. Er sei Sirianer, also ein Bewohner des weit, weit entfernten Sternes Sirius.

Vom Sirius?

Ja!

Und Heidrun T., der offensichtlich keine von Freds Storys zu albern war, glaubte ihm unvorstellbarerweise tatsächlich auch diese Geschichte.

Fred G. erzählte ihr in den folgenden Tagen einiges von „seinem“ Planeten. Unter anderem berichtete er davon, dass die Sirianer eine Rasse seien, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe stehen als die Menschen und er deswegen zur Erde gesandt worden sei, weil er den Auftrag habe es einigen besonders brillanten Menschen zu ermöglichen auf dem Sirius weiterzuleben. Selbstverständlich gehörte auch die leichtgläubige aber geschmeichelte Heidrun T. zu dieser Elite. Freilich gab ein klitzekleines Problemchen. Ein Weiterleben auf dem Sirius sei erst nach dem völligen Zerfall des eigenen Körpers möglich.

Ihr Körper war also erneut im Weg, denn nur mit ihrer Seele könne sie auf einem fremden Planeten und natürlich auch auf dem Sirius weiterleben.

Nun hatte Fred G. offensichtlich „Blut geleckt“. Voller Freude, dass ihm die junge Frau auch diese völlig aberwitzige Münchhausengeschichte glaubte, fasste er einen perfiden Plan. Laut Bundesgerichtshof lautete der wie folgt:

„Der Angeklagte spiegelte ihr vor, in einem roten Raum am Genfer See stehe für sie ein neuer Körper bereit, in dem sie sich als Künstlerin wiederfinden werde, wenn sie sich von ihrem alten Körper trenne.“

Heidrun T. sollte sich also „von ihrem Körper trennen“. Für Außenstehende schwer verständlich, erklärte er ihr auch noch, dass sie eine Lebensversicherung zu seinen Gunsten abschließen solle.

Unglaublich, aber auch das schluckte das vertrauensselige Mädchen, denn es würde sich ja nicht wirklich umbringen, sondern sofort in einem neuen Körper aufwachen.

Dem Körper einer Künstlerin!

Auch in diesem neuen Leben bräuchte sie ja Geld, und Kunst ist bekanntlich brotlos.

In welchen schillernden Farben Fred unserer leichtgläubigen Heidrun diesen neuen Körper vorher schilderte, geht aus dem Urteil leider nicht hervor. Es muss auf jeden Fall sehr überzeugend gewesen sein. Heidrun T. glaubte ihrem Sirianer ohne den Hauch eines Zweifels und ließ sich darauf ein, eine Lebensversicherung über 250.000 DM abzuschließen. Bei Unfalltod sollte sich die Summe auf 500.000 DM erhöhen. Daher musste der „Übergang in den neuen Körper“ wie ein Unfall aussehen. Jemanden zum Selbstmord zu überreden, um dann auch noch davon finanziell zu profitieren – schon der gesunde Menschenverstand findet es unverschämt habgierig, was sich unser Fred hier ausgeklügelt hat!

Er allerdings schien nicht zu wissen, dass Habgier – neben Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Heimtücke, Grausamkeit, Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln oder aus niedrigen Beweggründen – eines der Mordmerkmale im Sinne des § 211 Strafgesetzbuch ist. Eines davon genügt, um jemanden wegen Mordes zu verurteilen.

Fred G. hatte mit Sicherheit nicht mit einer Anklage wegen Mordes gerechnet.

Der Versicherungsschutz von Heidrun T. begann ab 1. Dezember 1979. Ihre monatliche Versicherungsprämie belief sich auf 587,50 DM. Ein ganz schöner Batzen Geld bei ihren Einkommensverhältnissen. Aber bald wäre sie ja Künstlerin und die Versicherungsprämie wäre dann hinfällig. Ihr konnte es zu diesem Zeitpunkt egal sein.

Heidrun T. bestimmte Fred G. zum Bezugsberechtigten und bereitete sich auf ihr neues Leben vor. Das Geld – so versprach Fred – werde er ihr nach Auszahlung der Versicherungssumme und sie sofort nach dem Unfall – den sie in Bälde erleiden würde – sofort überbringen. Sie glaubte ihm, bedingungslos.

Vorab gab sie ihm schon mal ihre Ersparnisse in Höhe von 4000 DM.

„… weil sie, wie er ihr sagte, nach dem Erwachen am Genfer See das Geld, das er ihr sofort überbringen werde, als »Startkapital« benötige. Die Auszahlung der Versicherungssumme könne sich verzögern. Ihr »jetziges Leben« sollte die Zeugin nach einem ersten Plan des Angeklagten durch einen vorgetäuschten Autounfall (…) beenden.“

Beide gemeinsam fanden den günstigsten Platz für den Autounfall: den Brückenpfeiler eines Autobahnzubringers. Der „Unfall“ sollte Weihnachten 1979 stattfinden. Heidrun war zu diesem Zeitpunkt gerade 28 Jahre alt.

Ihr Plan ging allerdings nicht sofort auf, denn tragischerweise durchkreuzte Freds Ehefrau Heike den Plan, indem sie sich kurz zuvor am 3. Dezember selbst erschoss. Fred hielt sich während des Selbstmordes seiner Frau in der Wohnung auf und hatte wegen der nachfolgenden Ermittlungen der Polizei erst einmal ganz andere Probleme zu bewältigen. Es liefen Ermittlungen gegen ihn, denn schon zuvor sollen Freundinnen von ihm auf recht dubiose Weise ums Leben gekommen sein.


Ob seine Ehefrau Heike sich von ähnlichen Motiven wie Heidrun zu ihrem Selbstmord leiten ließ, blieb im Dunkeln, obwohl deren Mutter im späteren Gerichtsprozess die Ansicht vertrat, dass nur Fred an ihrem Tod schuldig sein konnte.

Doch dem G. war vorerst nichts nachzuweisen.

Fred bastelte schon bald wieder munter an seinen Plan, wie sich Heidrun am besten selbst umbringen könnte. Beide nannten es verniedlichend „Körpervernichtung“.

Da sich Fred und seine ihm hörige platonische Beziehung nicht sicher waren, ob Heidrun bei einem Autounfall dann möglicherweise doch „nur“ schwer verletzt sein würde und die Familie seiner gerade erst verstorbenen Ehefrau von den Plänen Wind bekommen hatte, entschlossen sich die beiden es mit einem eingeschalteten Fön in der Badewanne zu versuchen. Anfang der 80er Jahre war das wohl noch eine sehr „angesagte“ Suizidart.

Mit einem Stromstoß in ein neues Leben – mit einem neuen Körper.

So sollte es geschehen!

„Evakuieren“ nannte Fred das. Evakuieren auf den Planeten Sirius.

Weit, weit weg in ferne Galaxien sozusagen.

Zuvor sollte Heidrun – damit es auch wirklich nach einem Unfall aussah – Wäsche waschen, einen Kuchen backen, eine Bekannte für den Abend einladen und das Telefon neben die Badewanne stellen.

Fred gab telefonisch den Startschuss.

Das Gericht fährt in seiner Tatbestandsschilderung unnachahmlich fort:

„Auf Verlangen und nach des Anweisungen des Angeklagten versuchte die Zeugin, diesen Plan am 1. Januar 1980 in ihrer Wohnung in Wildbad zu realisieren, nachdem sie zuvor, einer Anregung des Angeklagten folgend, einige Dinge getan hatte, die darauf hindeuten sollten, daß sie ungewollt mitten aus dem Leben gerissen worden sei. Der tödliche Stromstoß blieb jedoch aus. Aus »technischen Gründen« verspürte die Zeugin nur ein Kribbeln am Körper, als sie den Fön eintauchte.“

Blöd gelaufen! Doch Fred G. gab nicht auf! Er, der sich nach dem Tod der Gattin diesmal nicht am Tatort eines Selbstmordes aufhalten wollte, wartete am Telefon auf das nahende Ende seiner Freundin und war hörbar überrascht als Heidrun T. bei seinem Kontrollanruf den Hörer abnahm. Sie saß immer noch mit ihrem Fön in der Badewanne und versuchte verzweifelt damit ihren Körper zu vernichten. Fred half ihr mehr oder weniger „uneigennützig“ dabei:

„Etwa drei Stunden lang gab er ihr in etwa zehn Telefongesprächen Anweisungen zur Fortführung des Versuchs, aus dem Leben zu scheiden. Dann nahm er von weiteren Bemühungen Abstand, weil er sie für aussichtslos hielt.“

Nach stundenlangem erfolglosen Experimentieren also, doch noch mittels Stromschlag in der Badewanne ihr Leben auszuhauchen, stieg Heidrun aus dem – inzwischen wohl kalt gewordenen – Wasser und ging vermutlich frustriert ins Bett. Fred hatte zuvor den Befehl gegeben „Aufhören jetzt“, was sein Anwalt später in der Revision als Rücktritt von der geplanten Tat gewertet sehen wollte. Damit hatte er allerdings keinen Erfolg.

Der Gutachter des TÜV Karlsruhe hatte im Prozess festgestellt, dass Heidrun ihr Überleben einer Bauschlamperei zu verdanken hatte, denn die Badewanne war nicht geerdet!


Möglicherweise wollte Heidrun T. im tiefsten Inneren ja denn doch nicht aus dem jetzigen Leben scheiden? Weitere Versuche sich das Leben zu nehmen – um auf dem Sirius weiter zu existieren – sind nämlich nicht gerichtsbekannt.

Wie der Vorfall dann zur Polizei gelangte, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise hatte jemand aus der Familie von Freds Ehefrau gepetzt. Sie hatte ihrem Leben ja kurz zuvor mit einer Pistole ein Ende gesetzt und wohl über Freds Pläne familienintern geplaudert. Jedenfalls hatte Heidrun bei einer ersten richterlichen Vernehmung im Februar 1980 noch wahrheitswidrig ausgesagt, dass nichts dergleichen am 1. Januar 1980 geplant war.

Erst am 23. August 1980 ging Heidrun zur Polizei und brachte damit den ganzen Fall ins Rollen. Aus welchen Motiven dies geschah, blieb im Dunkeln. Wahrscheinlich war es der jungen Frau einfach unmöglich, die monatliche Versicherungsprämie von 587,50 DM zu zahlen, und sie plauderte ihre Problemlage aus.

Die Polizei ermittelte, doch das größere Problem hatte die Justiz. Fred G. lachte sich wahrscheinlich erst einmal ins Fäustchen. Vielleicht war ihm auch ein bisschen mulmig zumute.

Aber ein Selbstmord ist nun mal nicht strafbar. Da beißt die Maus keinen Faden ab!

Betrug? Okay! Ein gewisses Sümmchen hatte er sich von der Heidrun ergaunert.

Aber versuchter Mord?

Nein, da war er sich sicher!

Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Fred und warf der Kriminalpolizei einen „wüsten Amoklauf“ gegen seine Person vor und titulierte den gegen ihn ermittelnden Kriminalbeamten frech als „Zombiejäger“. Sein Anwalt trug vor, dass nur straflose Beteiligung am versuchten Selbstmord in Betracht gezogen werden könnte. Das war natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen.

Da stand die Justiz erst mal da. Doch ein Mann mit solch großer krimineller Energie und dieser dubiosen Vorgeschichte musste verurteilt werden. Straflos sollte so einer nicht ausgehen!

Das war doch zu dreist gewesen.

Das Gericht begründete:

„Die Zeugin handelte in völligem Vertrauen auf die Erklärungen des Angeklagten. Sie ließ den Fön in der Hoffnung ins Wasser fallen, sofort in einem neuen Körper zu erwachen. Der Gedanke an einen »Selbstmord im eigentlichen Sinn«, durch den »ihr Leben für immer beendet würde«, kam ihr dabei nicht. Sie lehnt eine Selbsttötung ab. Der Mensch habe dazu kein Recht. Dem Angeklagten war bewußt, daß das Verhalten der ihm hörigen Zeugin ganz von seinen Vorspiegelungen und An­weisungen bestimmt wurde.“

Soll heißen, dass allein Fred G. eine mögliche Tötung zu verantworten hatte. Die leichtgläubige Heidrun T. dachte ja nicht mal an Selbstmord, sie glaubte ohne Weiteres tatsächlich, im Körper einer Künstlerin in einem roten Raum in Genf zu erwachen und mit diesem Körper dann endlich zum Sirius zu entfleuchen.

Das Gericht war der Ansicht, dass die Abgrenzung einer „strafbaren Tötungstäterschaft von einer straflosen Selbsttötungsteilnahme“, die allein durch eine Täuschung zustande kam, nicht abstrakt beantwortet werden kann, sondern im Einzelfall bewertet werden muss.

„Die Abgrenzung hängt im Einzelfall von Art und Tragweite des Irrtums ab. Verschleiert er dem sich selbst ans Leben Gehenden die Tatsache, daß er eine Ursache für den eigenen Tod setzt, ist derjenige, der den Irrtum hervorgerufen und mit Hilfe des Irrtums das Geschehen, das zum Tod des Getäuschten führt oder führen soll; bewußt und gewollt ausgelöst hat, Täter eines (versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts kraft überlegenen Wissens, durch das er den Irrenden lenkt, zum Werkzeug gegen sich selbst macht.“

Aha!

So ist das also!

Übersetzt für den Nichtjuristen bedeutet es: Soweit der potenzielle Selbstmörder beziehungsweise in diesem Fall die potenzielle Selbstmörderin sich gar nicht bewusst ist, dass sie gerade im Begriff ist sich umzubringen und der Hintermann, der sie zu dieser Tat anleitet, dieses hohe Maß an Einfältigkeit ausnutzt, ist der Hintermann als Täter anzusehen, denn er benutzt ein willenloses Werkzeug gegen sich selbst.

Klar?

Deshalb, und nur deshalb, kam das Gericht zum Ergebnis, dass in diesem Fall Fred G. wegen versuchten Mordes zu verurteilen war, obwohl er gar nicht persönlich Hand angelegt hatte – ja nicht einmal anwesend war – und Selbstmord nicht strafbar ist.

Das Gericht sagte also:

„Nach den Feststellungen des Tatgerichts spiegelte der Angeklagte seinem Opfer nicht vor, es werde durch das Tor des Todes in eine transzendente Existenz eingehen, sondern versetzte es in den Irrtum, es werde – obgleich es scheinbar als Leichnam in der Wanne liege – zunächst als Mensch seinen irdischen Lebensweg fortsetzen, wenn auch körperlich und geistig so gewandelt, daß die Höherentwicklung zum astralen Wesen gewährleistet sei. Die Überzeugung, daß ihre physisch-psychische Identität und Individualität lediglich Modifikationen erfahre, ergab sich für Frau T. nicht nur daraus, daß sie, wie ihr der Angeklagte sagte, auf diesem Planeten verblieb und Geld zur Deckung ihres Lebensbedarfs brauchte, sondern auch daraus, daß er ihr vormachte, sie werde im roten Raum am Genfer See Beruhigungspillen und im Nebenzimmer die erforderlichen Papiere finden. Was Frau T. nicht ahnte und wollte, erstrebte der Angeklagte: Der von beiden als sicher erwartete Stromstoß sollte dem Leben der Getäuschten ein Ende setzen und dem Angeklagten die Versicherungssumme verschaffen, von der sein Opfer annahm, sie sei die wirtschaftliche Grundlage des neuen Lebensabschnitts. Der Angeklagte, der auch das eigentliche Tatgeschehen durch stundenlang erteilte Anweisungen maßgeblich steuerte, beging infolgedessen ein Verbrechen der versuchten mittelbaren Fremdtötung.“

Dem Anwalt des Angeklagten, der versuchte, der Geschädigten – immerhin eine zwar noch junge, aber erwachsene Frau – einen Teil der Verantwortung zuzuweisen, weil sie so unbegreiflich leichtgläubig war, entgegnete das Gericht:

„Diese rechtliche Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß Frau T. völlig unglaubhaften Suggestionen erlag, obwohl sie keine psychischen Störungen aufwies. Der Angeklagte hatte sich die Psyche seines Opfers für diese Suggestion erschlossen. Das Erstaunliche dieses Vorgangs entlastet ihn nicht.“

Das Gericht fügte sogar noch an:

„Auch wenn Frau T. angenommen hätte, daß dem ‚Erwachen’ in einem roten Raum am Genfer See ihr Tod vorausgehen müsse (…) bestünde die Verurteilung des Angeklagten zu Recht.“

Denn – um es salopp zu sagen – Fred G. war der kritiklosen und naiven Heidrun T. weit überlegen, und nur seine Täuschungen führten dazu, dass sie arglos Hand an sich selbst legte. Von allein hätte sie es nie getan.

Dafür sprach auch, dass sie selbst in der Gerichtsverhandlung ein Recht auf Selbsttötung ausdrücklich negierte und ja eigentlich ernsthaft beabsichtigt hatte in einem neuen Körper weiterzuleben.

So kann also jemand, der im wörtlichen Sinn eigentlich keine Tat begangen hatte, als mittelbarer Täter für die Handlung eines anderen verantwortlich sein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739393308
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Mord Justiz Staschynskij Gericht Strafe Totschlag Urteil Mörder Recht Gefängnis

Autor

  • Ernst Reuß (Autor:in)

Ernst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin. Publikationsauswahl: Berliner Justizgeschichte, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Mord? Totschlag? Oder was?, Sirius, Katzenkönig und Co.
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Titel: Sirius, Katzenkönig und Co.