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Mord und Totschlag in Berlin

Neue spektakuläre Kriminalfälle

von Ernst Reuß (Autor:in)
248 Seiten

Zusammenfassung

Mehr als eine halbe Million Straftaten wurden 2016 in Berlin angezeigt. Das Spektrum reicht von Taschendiebstahl über Drogenhandel und Schlägereien bis zu Mord. Der Autor, einer der besten Kenner der Berliner Justizgeschichte, hat spektakuläre Fälle aus den beiden letzten Jahrzehnten ausgewählt. Es handelt sich ausschließlich um Tötungsdelikte – darunter der Mord an Hatun S., die 2005 mitten auf der Straße erschossen wurde, ein „Ehrenmord“, der eine politische und gesellschaftliche Debatte auslöste, wie auch der Fall eines Dänen, der 2011 seine beiden minderjährigen Töchter bei lebendigem Leibe verbrannte, um sie nach verlorenem Sorgerechtsstreit nicht seiner Ex-Frau überlassen zu müssen. Zwei weitere Fälle haben die Öffentlichkeit 2012 monatelang beschäftigt: der von Jonny K., der am Alexanderplatz von einer Gruppe Jugendlicher zu Tode geprügelt wurde, und das Mordkomplott, dem die junge Pferdewirtin Christin R. aus Lübars zum Opfer fiel. Ernst Reuß ruft Kriminalfälle ins Gedächtnis, die illustrieren, dass Berlin nicht nur im politischen Sinne Hauptstadt ist …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Ernst Reuß, Mord und Totschlag in Berlin, Neue spektakuläre Kriminalfälle

Texte © Copyright by erma Verlag, Neue Straße 14, 97493 Bergrheinfeld, mordtotschlagoderwas@gmx.de

Alle Rechte vorbehalten.

Titelfoto: kaibieler/photocase.de

ISBN: 9783739483108

Vorwort

Schon Mitte der Neunziger als junger Jurastudent war ich fasziniert von Strafrechtsfällen, die wir allerdings immer nur rein rechtlich betrachteten. Schon damals hatte ich die vage Idee, eines Tages die Geschichten hinter den Fällen ein wenig aufzuarbeiten, damit auch die Allgemeinheit von solch äußerst merkwürdigen und juristisch interessanten Fällen Kenntnis erlangen kann. Viele Jahre später ist mir das nun schon zum zweiten Mal gelungen.

Häufig wurde ich gefragt, wie ich so etwas „Trockenes“ wie Jura studieren könne. Ich konnte das nie so ganz nachempfinden. Manche, denen ich einen Fall und dessen Hintergründe schilderte, schüttelten meist verwundert den Kopf und fragten sich, warum sie noch nie davon gehört hatten.

Die Fälle dieses Buches drehen sich um Mord und Totschlag –alle sind in der jüngsten Zeit in Berlin und Brandenburg geschehen. Abseits von dem, was in der Presse stand, werden die Urteilsbegründungen kritisch erläutert, um ein tieferes Verständnis der Abwägungskriterien bei solchen Urteilen zu wecken.

Mehr als eine halbe Million Straftaten kam 2016 in Berlin zur Anzeige. Fast 45 000 Straftäter wurden verurteilt, mehr als 3 000 sitzen in Berlin im Gefängnis. Das Spektrum reicht von Schwarzfahren, Taschendiebstahl über Drogenhandel, U-Bahn-Schlägereien bis zu Mord. Vor allem die größte deutsche Stadt Berlin ist und bleibt ein Brennpunkt der Kriminalität. Angesichts dieser Herausforderungen ist es der überlasteten Polizei und Justiz hoch anzurechnen, dass sie in der Lage sind, dennoch für Recht und Ordnung zu sorgen.

Das Buch geht der Frage nach, warum jemand als Mörder oder „nur“ als Totschläger verurteilt wird? Mordmerkmale wie „Habgier“, „niedrige Beweggründe“, „Heimtücke“, „Mordlust“ und „Grausamkeit“ spielen in den Urteilen und deshalb natürlich auch in diesem Buch eine große Rolle. Vielleicht ein letztes Mal, denn bald wird es diese Mordmerkmale wohl nur noch in den Geschichtsbüchern geben. Eine Gesetzesänderung ist in Planung. Mord und Totschlag sollen im Strafgesetzbuch neu geregelt werden.

So ist ein Buch entstanden, welches sowohl das juristisch interessierte Publikum als auch die Leserinnen und Leser von Tageszeitungen anspricht, die schon immer wissen wollten, warum das Urteil genau so ausgefallen ist, wie es in den Zeitungen berichtet wurde.

Mitunter gehen die Tateinzelheiten schon über das hinaus, was ein schwächerer Magen vertragen kann, und wurden daher nur insoweit so detailliert wiedergegeben, wie das zur Erläuterung der juristischen Wertung notwendig ist.


Ku’damm-Raser

Am 1. Februar 2016 starb bei einem Autounfall in Berlin der 69-jährige Rentner Michael W., ein pensionierter Arzt, der auf dem Heimweg zu seiner Wohnung in der Nähe des Kurfürstendamms war. Sieben Monate danach mussten sich deswegen Marvin N. und Hamdi H. vor der 35. Strafkammer des Landgerichts Berlin verantworten. Sie waren wegen Mordes angeklagt. Mord? Das verwunderte viele unabhängige Prozessbeobachter.

Bei ähnlichen Fällen waren die Unfallverursacher bisher immer nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Das Strafmaß war dabei wesentlich niedriger als bei Totschlag oder gar Mord. Meist kamen die Täter mit einer Bewährungsstrafe davon. Aber dieser Unfall hatte hohe Wellen geschlagen und wurde medial in ganz Deutschland beachtet. Wieder einmal hatten verantwortungslose, testosterongesteuerte Raser einen Unfall gebaut und ein Unschuldiger war gestorben. Es war nicht der erste Fall dieser Art und es wird wohl nicht der letzte bleiben. Im ganzen Land beobachteten Politiker, Richter und Staatsanwälte den Berliner Prozess.

Die Berliner Zeitung schrieb: „Der Unfall wirkt wie der sprichwörtliche letzte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Über 50 illegale Autorennen auf Berliner Straßen hat die Polizei im vergangenen Jahr registriert. Unfälle wurden dadurch verursacht und Menschen verletzt. Überall in der Republik gibt es diese Problemgruppe: junge Männer mit zu viel PS, Männer, die hochmotorisierte Autos brauchen, um sich größer und bedeutender zu fühlen. Sie messen sich auf deutschen Straßen. Wer kann schneller, wer ist geiler? Manchmal passiert es, dass bei diesen Rennen Menschen sterben.“

Die Polizei hatte zunächst wegen fahrlässiger Tötung ermittelt und weitete dann die Ermittlungen auf Totschlag aus, woraufhin die beiden Unfallverursacher am 1. März 2016 in Untersuchungshaft landeten. Möglicherweise war dies aber auch dem Umstand geschuldet, dass die Öffentlichkeit nach erzürnten Presseberichten kein Verständnis dafür hatte, dass der 24-jährige Marvin und der 27-jährige Hamdi weiterhin frei herumliefen. Die Boulevardpresse und deren Paparazzi waren ihnen jedenfalls hart auf den Fersen.

Während der Untersuchungshaft änderte dann die Staatsanwaltschaft den Tatvorwurf ein drittes Mal. Man warf den beiden Männern nun vor, den Tod von Michael W. billigend in Kauf genommen zu haben. Das war ein Mordvorwurf. Doch kann man eine solche Tat wirklich als Mord werten oder war das nur der öffentlichen Entrüstung geschuldet? Die Empörungsmaschinerie lief jedenfalls in der ganzen Bundesrepublik über alle Kanäle. Zu Recht – bei dieser Tat, angesichts derer sich jedermann als potenzielles Opfer sehen konnte.

Folgendes war ermittelt worden: Marvin N. und Hamdi H. hatten mit ihren aufgemotzten Autos offenbar ein Rennen am Kurfürstendamm veranstaltet, das vor dem berühmten Kaufhaus des Westens auf der Tauentzienstraße abrupt endete. Sie waren über den Ku’damm gerast. Links der weiße Mercedes von Marvin mit 380 PS, rechts der weiße Audi von Hamdi mit 225 PS. Es war 0.45 Uhr, als Hamdi H. mit mindestens 160 Stundenkilometern seitlich auf den bei Grün abbiegenden pinkfarbenen Jeep von Michael W. prallte. Der pensionierte Arzt hatte keine Chance zu reagieren. Der Jeep hob ab, flog 72 Meter weit und blieb auf der Seite liegen. Für den Fahrer des Jeeps kam jede Hilfe zu spät. Der Aufprall riss bei seinem Auto das komplette Dach fort, und eine Stange bohrte sich in seinen Kopf. Der Audi streifte Marvins Mercedes, der daraufhin eine Fußgängerampel umfuhr, dann gegen eine Mauer prallte und schließlich sechzig Meter weiter stehen blieb. Der Mercedes flog ein paar Meter und blieb ebenfalls liegen.

Täter waren der 1989 im Kosovo geborene, aber seit 1990 in Berlin lebende Hamdi H. und der 1991 in Berlin geborene Marvin N. Sie gehörten zu einer Szene von Autonarren, die nachts in Berlin in verschiedenen Shisha-Bars verkehrten.

Hamdi H. wuchs in Berlin als ältestes Kind gemeinsam mit fünf Geschwistern bei seinen Eltern auf. Dort lebte er zum Zeitpunkt des Tatgeschehens immer noch. Die Schule hatte er ohne Abschluss verlassen, den er später nachholte. Eine Lehre als Kfz-Mechaniker beendete er nicht. Er lebte in den Tag hinein. Manchmal hatte er einen Job, zuletzt lebte er jedoch von Hartz IV. Seit sechs Jahren war er in einer festen Beziehung und seit Kurzem auch verlobt.

Schon früh zeigte sich Hamdis fataler Hang zur Raserei. Seine Kumpels nannten ihn „Transporter“, nach dem Titelhelden einer Actionfilmreihe. Hamdi trug seinen „Kampfnamen“ mit Stolz nach dem Motto „nomen est omen“, denn in den Transporter-Filmen geht es vor allem um wilde Verfolgungsfahrten in schnellen Wagen, bei denen ein großes Trümmerfeld hinterlassen wird – genauso wie am 1. Februar 2016 vor dem KaDeWe. 2009 hatte Hamdi H. den Führerschein erworben, bestand aber nicht die zweijährige Probezeit. Er hatte bald danach einen schweren Verkehrsunfall verursacht, sodass die Probezeit verlängert wurde. 2013 wurde ihm der Führerschein zunächst endgültig entzogen, am 3. Februar 2014 jedoch schon wieder erteilt. Erst nach dem späteren Gerichtsverfahren wurde beiden Unfallverursachern gemäß § 69 StGB lebenslang die Fahrerlaubnis entzogen. Das Gericht urteilte über Hamdi: „Der Angeklagte verstößt bereits seit langem konsequent und beharrlich gegen bestehende Verkehrsregeln, setzt sein Fahrzeug nach Belieben als nötigendes, behinderndes oder im hiesigen Fall gefährliches Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen und in Selbstüberhöhungstendenz ein und gefährdet insbesondere in seiner Eigenschaft als Schnellfahrer in Permanenz andere an Leib und Leben.“

Wie sein großes Vorbild Transporter hielt er sich an keine Verkehrsregeln. Hamdis Liebe zu seinem Auto müsse man sich vorstellen wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, sollte später die Gutachterin erklären. Es habe massiv dazu beigetragen, sein Selbstwertgefühl zu steigern. Hamdi hatte wie erwähnt schon Unfälle gebaut und war bereits wegen fahrlässiger Körperverletzung und wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort bestraft worden. Zwar war er immerhin auch zweimal wegen Einbrüchen auffällig geworden, aber mehr als zwanzig Mal musste er ein Bußgeld wegen überhöhter Geschwindigkeit und Falschparken zahlen. Seine Strafzettel kassierte er mitunter innerhalb von wenigen Stunden. Hamdi schien sich nicht großartig an den Bußgeldern zu stören. Vielleicht hatte er ja auch andere Einnahmequellen. Zumindest der Staatsanwalt vermutete, dass er das Geld für den gebrauchten Audi zusammengeraubt habe. Dafür gab es aber keine Beweise.

Marvin N., der andere Unfallverursacher, war Einzelkind und wohnte noch bei seinen Eltern. Er hatte den Mittleren Schulabschluss und trat 2011 einen vierjährigen Dienst bei den Fallschirmjägern als Zeitsoldat an, kam dort aber nicht klar. Danach war er Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma, womit er zuletzt etwa 1 600 Euro brutto pro Monat verdiente. Dennoch leistete er sich ein teures Hobby, denn auch er war versessen auf schnelle Autos, insbesondere auf Mercedes-Benz. Zuletzt hatte er einen Mercedes-Benz CLA AMG 45 4Matic geleast – für monatlich 651,54 Euro, immerhin fast die Hälfte seines monatlichen Nettoverdienstes. Keine zwei Monate vor dem Unfall hatte er ihn schließlich für 50 500 Euro gekauft. Was sein Fahrzeug betraf, war Marvin N. ausgesprochen pingelig, denn seine Freundin durfte sich im Auto nicht schminken, damit kein Puder auf die „Alcantara-Sitze“ gelangen konnte. Essen im Auto war selbstverständlich auch nicht erlaubt. Auch Markenklamotten, insbesondere von Gucci, hatten es Marvin angetan. Er trug teure Sonnenbrillen, fuhr gern mit heruntergelassenen Fenstern und dröhnender Musik. An Ampeln ließ er mit großem Vergnügen den Motor aufheulen. Fast jeder hat dieses Gehabe schon erlebt, und wahrscheinlich haben die meisten resigniert mit dem Kopf geschüttelt, für die Fahrer selbst bedeutet diese Effekthascherei jedoch unverständlicherweise eine Steigerung des Selbstwertgefühls.

Marvin N. war zwar nicht vorbestraft, aber auch mehr als zwanzig Mal wegen Falschparkens und Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit aufgefallen. Einmal, ein halbes Jahr vor dem Unfall, musste er ein Aufbauseminar absolvieren. Genutzt hatte es offensichtlich nichts. Wie seinem Mittäter wurde ihm später lebenslang die Fahrerlaubnis entzogen. Das Gericht stellte fest: „Der Angeklagte ist (…) autoverliebt, protzt mit dem Fahrzeug, steigert über dieses sein Selbstwertgefühl und erachtet es im Wertesystem nach den Bekundungen seiner in der Hauptverhandlung gehörten Freundinnen als über diesen stehend.“ In bemerkenswerter Diktion fuhr das Gericht fort: „In diesem Sinne setzt er es auch ein, ‚fickt die Straße‘, ‚brettert im Highway-Modus‘ über den Kudamm, lässt sich nur von ‚Bastardampeln‘ (bedauerlicherweise nicht im hiesigen Fall) stoppen, fordert andere Fahrer zu einem Stechen heraus und schafft es auch an nur einem Tag, zwei oder drei (festgestellte) Verkehrsordnungswidrigkeiten zu begehen. Bei wertender Gesamtbetrachtung kam daher auch bei diesem Angeklagten nur die Anordnung einer unbefristeten Sperre in Betracht.“ Zu dieser Einschätzung kam das Gericht, weil Marvin auch Videos seiner Fahrten ins Netz gestellt hatte, wo er sie mit markigen Sprüchen derart kommentierte, dass bei einem Daimlerfahrer das Portemonnaie immer voll sei, weil die Nutten das Geld liefern. War dies ernst zu nehmen? Eher nicht, wohl Geprotze zur Steigerung des Selbstwertgefühls. Jedenfalls nahm das Gericht die Videos ernst genug, um dadurch auf Marvins Persönlichkeit und seine zukünftige Fahrtauglichkeit zu schließen.

Marvin wollte am Abend der Tat um 0.30 Uhr seine 22-jährige Freundin Olesya nach Hause bringen, mit der er erst seit Kurzem liiert war. Beide wohnten in Marzahn. Der Weg sollte über den Kurfürstendamm, die Tauentzienstraße und den Wittenbergplatz führen. Jeder Berliner kennt diese „Rennstrecke“, an der nach Geschäftsschluss oft laut dröhnende, getunte Luxuskarren und ihre testosterongesteuerten Fahrer ihr Unwesen treiben. An Geschwindigkeitsbegrenzungen halten die sich für gewöhnlich nicht. Wenn man einen potenziellen Rennpartner ausspäht, verständigt man sich spontan an einer Kreuzung durch Spielen mit dem Gaspedal im Leerlauf und Handzeichen durch die Seitenfenster, um dann bis zur nächsten Kreuzung um die Wette zu fahren. So geschah es auch an diesem Abend.

Die beiden Autonarren kannten sich flüchtig, sie hatten sich bereits vorher in einer Shisha-Bar, in der sich Gleichgesinnte trafen, über ihr Hobby unterhalten. Man wusste also von den gemeinsamen Neigungen, als Hamdi sich am Adenauerplatz von hinten näherte und an der roten Ampel mit heruntergelassener Beifahrerscheibe direkt neben Marvin hielt. Mit Gaspedal und Handzeichen machte er auf sich aufmerksam und lud so zu einer Wettfahrt – einem sogenannten Stechen – ein. Die beiden unterhielten sich kurz durch das geöffnete Autofenster, während Olesya Nachrichten in ihr Smartphone tippte und nicht auf das Gespräch achtete. Offenbar nahm Marvin nach kurzem Zögern die Herausforderung an und beide rasten los. Da Marvin noch an zwei Ampeln gehalten hatte, versuchte er ab Olivaer Platz seinen Konkurrenten einzuholen, der offensichtlich keinen Gedanken daran verschwendete, sich an diese Verkehrsregel zu halten. Von nun an tat Marvin das auch nicht mehr. Olesya sagte später vor Gericht aus: „Ich war schockiert von der Geschwindigkeit. Es war wie in der Achterbahn“. Marvin beschleunigte seinen mit 380 PS ausgestatteten Mercedes so stark, dass er Hamdi in Höhe der U-Bahnstation Uhlandstraße einholte. Zwei Fußgängerinnen sprangen hinter das Geländer des U-Bahneingangs zurück, um nicht von den Rasern erfasst zu werden. Erst hintereinander, dann nebeneinander jagten sich die Möchtegern-Rennfahrer in Richtung Wittenbergplatz. Um die Kurve vor der Gedächtniskirche rasten sie – wie der Gutachter später feststellte – mit Vollgas, ohne die seit mindestens 17 Sekunden rote Ampel an der Kreuzung zu beachten. Hamdi, dessen Audi „nur“ auf 225 PS kam, versuchte, Schritt zu halten. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit durchgetretenem Gaspedal. Eine Zeugin sollte später aussagen, dass sie die Geräusche an die eines startenden Sportflugzeugs erinnerten. Das Gericht dazu in seinem Urteil: „Mit einem noch leichten Vorsprung von wenigen Metern und einer Geschwindigkeit von 139 bis 149 km/h fuhr der Angeklagte N. bei Rot in den Kreuzungsbereich Tauentzienstraße / Nürnberger Straße ein. Auch der Angeklagte H. fuhr bei Rot in den Kreuzungsbereich ein, wobei dieser aufgrund des vollständig durchgetretenen Gaspedals zwischenzeitlich eine Geschwindigkeit von mindestens 160 bis 170 km/h erreicht hatte.“ Spätestens da soll laut Gericht beiden bewusst gewesen sein, dass „ein die Nürnberger Straße befahrender, bei grüner Ampelphase berechtigt in die Kreuzung einfahrender Fahrzeugführer und etwaige Mitinsassen bei einer Kollision mit den von ihnen gelenkten Pkw nicht nur verletzt, sondern aufgrund der von ihnen im Rahmen des vereinbarten Rennens gefahrenen sehr hohen Geschwindigkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit zu Tode kommen würde.“ Den Tod anderer Verkehrsteilnehmer nahmen sie bei ihrer Irrsinnsraserei billigend in Kauf, so sah es jedenfalls das Gericht.

Es kam wie es kommen musste. Der Jeep von Michael W. wurde durch den Aufprall „um die eigene Längs-, Hoch- und Querachse gedreht und mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 km/h rund 70 m durch die Luft in Richtung Wittenbergplatz geschleudert, so dass es auf der Fahrerseite liegend zum Stillstand kam“, so das Gericht. Hamdis Audi drehte sich, kollidierte mit Marvins Mercedes und prallte mit 140 Stundenkilometern gegen die aus Granit bestehende Hochbeeteinfassung des Mittelstreifens. Eine Frau wurde nur um wenige Zentimeter von an ihrem Kopf vorbeifliegenden Auspuffteilen verfehlt. Der Audi selbst kam erst rund 60 Meter nach dem Aufprall zum Stehen. Marvin krachte frontal in eine Fußgängerampel, fällte diese und prallte im weiteren Verlauf frontal ebenfalls gegen eine Hochbeeteinfassung – da hatte er immer noch 149 Stundenkilometer auf dem Tacho. Eine Zeugin des Unfalls ging angesichts der überall herumfliegenden Trümmerteile von einem Bombenattentat aus. Die eintreffenden Polizeibeamten sprachen von einem „Schlachtfeld“.

Laut Verkehrsgutachter war Hamdis Auto mit einer Geschwindigkeit von rund 160 bis 170 Kilometern pro Stunde frontal gegen die linke Seite des Jeeps geprallt. Hamdi, Marvin und dessen Freundin konnten ohne fremde Hilfe ihr Fahrzeug verlassen, sie hatten nur leichte Schrammen. Michael W. jedoch erlag noch am Unfallort seinen multiplen Verletzungen. Die Schädel- und Hirnverletzungen, die mannigfaltigen Knochenbrüche und die Verletzung von Lunge, Leber, Herz, Milz und des Darms, die mit erheblichen inneren Blutungen einhergingen, hatten zu einem schnellen Tod geführt.

Marvin irrte nach der Tat umher und suchte sein Handy. Er stand unter Schock und hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisiert, dass ein drittes Fahrzeug am Geschehen beteiligt war. Hamdi erlitt angeblich eine Amnesie. Er hockte blutüberströmt und in Socken auf dem Asphalt. „Wie konnte das nur passieren?“, wimmerte er Zeugenaussagen zufolge. Die Wucht des Aufpralls hatte seine teuren Markensneakers ausgezogen, die im Trümmerfeld lagen. Immer wieder soll er sich bei Polizisten und Rettungskräften nach dem Zustand seines heiß geliebten Wagens erkundigt haben. So stand es zumindest in der empörten Boulevardpresse, die die angebliche Gefühllosigkeit der Täter anprangerte. Hamdis Verteidiger wiederum wollte dann im Prozess das Wimmern seines Mandanten als Beweis für das Nichtvorhandensein eines Vorsatzes gewertet wissen. Das Gericht sah dies jedoch anders und meinte, dass das Verhalten des Angeklagten nur geringe Aussagekraft habe, und urteilte: „Unabhängig davon, dass diese Frage von vielen Menschen nach Ereignissen wie dem vorliegenden oft rein rhetorisch gestellt wird, lässt sich aus ihr kein wie immer gearteter Schluss auf das Vor- bzw. Nichtvorliegen des Wissens- oder Wollenselements des bedingten Tötungsvorsatzes ziehen; denn der Angeklagte litt nach dem Unfall an einer Amnesie und musste sich diese Frage, auf die er keine Antwort fand, naturgemäß stellen.“

Sympathiepunkte hatten die Angeklagten mit ihrem Verhalten vor, während und nach der Tat jedenfalls nicht gemacht. Sie sagten nicht aus und hatten sich bisher auch nicht entschuldigt. Voll schuldfähig waren sie auf jeden Fall, denn beide hatten keinen Alkohol getrunken oder Drogen genommen. Auch andere Persönlichkeitsdefizite tangierten laut Gericht die Schuldfähigkeit nicht: „Die (…) narzisstische Selbstüberhöhungstendenz und Opferhaltung bewegen sich auf der Skala menschlicher Persönlichkeitsvielfalten und unterfallen nicht den Eingangsmerkmalen der §§ 20, 21 StGB.“

Das Urteil wurde schließlich nach 17 Verhandlungstagen am Montag, dem 27. Februar 2017, ein Jahr nach dem Tod von Michael W. gefällt. Es war eine juristische Sensation und hochumstritten, denn Hamdi und Marvin wurden tatsächlich wegen „Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs“ zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sie hätten gemeinschaftlich, also in Mittäterschaft gemäß § 25 Abs. 2 StGB, bedingt vorsätzlich mit gemeingefährlichen Mitteln einen Mord begangen. Eine gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB gegen Marvins Freundin, die Nebenklägerin war und eine Lungenquetschung erlitten hatte, sowie vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 2 a) und d) StGB kamen hinzu.

Im Gegensatz zur bewussten Fahrlässigkeit, bei der darauf vertraut wird, dass „schon nichts passieren wird“, nimmt der bedingt vorsätzlich Handelnde das Ergebnis billigend in Kauf. War das in diesem Fall wirklich so? War es Marvin und Hamdi vollkommen egal gewesen, ob bei ihrem Geschwindigkeitsrausch ein Dritter stirbt? Das Gericht bejahte das und begründete es damit, dass dies bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen naheliege. Schon eine Gleichgültigkeit gegenüber dem zwar nicht erstrebten, wohl aber hingenommenen Tod des Opfers rechtfertige die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes. Bedingt vorsätzlich handelt derjenige, der erkennt hat, dass genau das geschehen könnte, was dann auch geschieht. Es genüge ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, sodass vernünftige Zweifel nicht aufkommen können. Das muss bei jedem Täter selbst vorliegen, und das erkannte das Gericht auch bei den beiden Unfallverursachern.

Die Verteidigung brachte verschiedene ähnliche Fälle aus der jüngsten Vergangenheit vor, bei der nur von einer fahrlässigen Tötung ausgegangen worden war, was das Gericht allerdings nicht besonders beeindruckte, denn es sei immer der konkrete Fall zu bewerten und man könne diese Fälle nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichen. Auch das von der Verteidigung vorgebrachte Argument, dass in der Welt der Raserszene die Risiken des Fahrens mit hoher Geschwindigkeit grundsätzlich ausgeblendet seien und so auch kein bedingter Vorsatz möglich sei, verfing beim Gericht nicht. Man könne nicht eine ganze Menschengruppe aus der Verantwortung entlassen, nur weil sie jegliche Gefahr ihres Handelns generell negiere, argumentierten die Richter. Die bedingt vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen ließe sich nur nach einheitlichen Maßstäben beurteilen. Das Gericht meinte, dass sowohl Hamdi als auch Marvin alt und reif genug gewesen seien, um dies zu erkennen. Beide hätten ihr Selbstwertgefühl über ihre Autos und den Fahrstil gesteigert, ohne sich dabei um die Straßenverkehrsordnung zu kümmern: „Auch (…) der an einem Rennen Teilnehmende bleibt eine Person, die ihren Verstand benutzen kann, Lebens- und Verkehrserfahrung gesammelt hat, eine theoretische und praktische Führerscheinprüfung abgelegt und bestanden hat, und die grundsätzlich weiß und erkennen kann, dass ein höchstgefährlicher Fahrstil geeignet ist, den Tod und die Verletzung anderer Menschen zu verursachen.“

Hamdi H., dessen Anwalt sich von einer verkehrspsychologischen Begutachtung viel versprach, ließ sich im Gegensatz zu Marvin N., untersuchen. Die Gutachterin kam dabei zum Schluss, dass er kein realistisches Bild des Gefahrenpotenzials entwickelt habe. Kurz gesagt: Hamdi hielt sich für unverwundbar, weil er am Ku’damm angeblich „kilometerweit voraussehen konnte“. Die Gutachterin meinte, dass die unrealistische Einschätzung des Fahrvermögens nicht auf ein grundsätzliches Unvermögen beruhe, sondern darauf, dass er trotz der vielen Regelverstöße nie ausreichend sanktioniert worden sei und die Freude darüber den negativen Lernprozess noch verstärkt habe. Außerdem sehe er die Ursache in Straßenverkehrskonflikten immer nur bei anderen Autofahrern, die ihm nicht ausweichen, mache Gesetze verantwortlich oder schlechte Bremsen. Auch nach dem Unfall sei das noch so. Er lebe immer noch in dem Glauben, er könne – eigentlich – niemanden gefährden.

Darauf hatte der Verteidiger auch hinausgewollt, denn das würde ja bedeuten, dass sich Hamdi H. keiner Gefahr bewusst gewesen war und den Unfall daher auch nicht billigend in Kauf nehmen konnte. Die Verteidigung argumentierte, dass jemand, der sich für einen übermenschlichen Fahrer hält, gar nicht daran denke, dass er andere umbringen könnte. Dies klingt zumindest nachvollziehbar. Also doch kein bedingter Vorsatz?

Das Gericht widersprach den Argumenten der Sachverständigen und billigte dem Gutachten, das in den Gesamtkontext eingebunden werden müsse, nur „eine indizielle Aussagekraft“ zu. Die verkehrspsychologische Beurteilung eines Geschehens sei für die juristische Vorsatzfeststellung nicht bindend, da der „psychische Sachverhalt“ mit dem „juristischen Psychogramm“ wenig gemein hat. Bei Grundsatzproblemen der Vorsatzdogmatik spreche man nicht dieselbe Sprache. Nun ja, das könnte man auch anders sehen.

Das Gericht war der Auffassung, Raserei stelle keine seelische Krankheit dar, womit es wahrscheinlich durchaus Recht hatte. Jeder Autofahrer könne „schon bei durchschnittlicher Sinnes- und Geistesanspannung“ erkennen, dass ein Unfall bei einem derartigen Rennen passieren kann – selbstverständlich auch in diesem Fall. Dies alles ergab aus Sicht des Gerichts das Bild von unbelehrbaren Verkehrsrowdys.

Marvin, der ein ähnliches Bußgeldregister aufzuweisen hatte und laut Aussagen von Freundinnen als arroganter, selbstgefälliger „Protzer“ galt, den es nicht interessierte, wenn die Beifahrerin von einem „Stechen“ nicht sonderlich begeistert war, wurde auch ohne Sachverständigengutachten ähnlich beurteilt. Im Vordergrund stand für beide Angeklagte der Sieg bei dem Rennen um jeden Preis zum Zwecke der Selbstbestätigung. Sie durchfuhren dabei eine „Rennstrecke“ von etwa 2,5 Kilometern und passierten elf Ampeln, die teilweise auf Rot standen.

Nach Abwägung aller Umstände, hätte – laut Gericht – jedermann wissen müssen, dass ein solches Verhalten tödliche Folgen zeitigen konnte. Aber haben sie es auch wirklich gewollt? Das Gericht bejahte auch dies, denn Marvin N. und Hamdi H. hätten den Tod eines Dritten zwar nicht gewünscht, sich jedoch mit der tödlichen Tatbestandsverwirklichung abgefunden und sich diesbezüglich gleichgültig verhalten. Sie waren bereit, für eine hirnrissige Raserei schwerwiegendste Folgen in Kauf zu nehmen. Auch Marvins Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen seiner Beifahrerin und der Gesundheit und dem Leben anderer Verkehrsteilnehmer zeige das mehr als deutlich. Die Tatsache, dass das Rennen nachts bei niedrigerem Verkehrsaufkommen stattfand, spiele dabei keine Rolle, denn gerade der Ku’damm zwischen der Gedächtniskirche und dem KaDeWe sei ein sehr zentraler Bereich Berlins.

Das Argument der Verteidigung, dass keiner der Täter sein „Heiligtum“ Auto beschädigen wollte, zog vor dem Gericht nicht. Es urteilte: „Die Fahrer dieser Fahrzeuge fühlen sich in ihren tonnenschweren, stark beschleunigenden, mit umfassender Sicherheitstechnik ausgestatteten Autos geschützt, stark und überlegen wie in einem Panzer oder in einer Burg und blenden jegliches Risiko für sich selbst aus.“ Die Beschädigung ihrer eigenen Fahrzeuge hatten Hamid und Marvin während des Rennens also ausgeblendet. Gewinnstreben, die Selbstbestätigung, die Dominanz und das Ansehen unter Gleichgesinnten hätten demnach im Vordergrund gestanden. Mögliche Ängste um das „schöne Auto“ seien im Adrenalinrausch und im „Kick“ des Rennens untergegangen, so das Gericht.

Allerdings sei nicht jeder zu schnell fahrende Autofahrer ein potenzieller Mörder. Es seien immer die Gesamtumstände der Tat zu werten. Dem konnte man nicht widersprechen. Nach all dem kam die Schwurgerichtskammer zum Schluss: „Den möglichen Tod eines querenden Fahrzeugführers wünschten sie nicht, nahmen ihn aber angesichts ihres Gewinnstrebens gleichgültig hin. Ihre extreme Geschwindigkeit, Vollgas, die Missachtung roten Ampellichts, ihre ‚Blindfahrt‘ und die Tatörtlichkeit als innerstädtischer Großstadtbereich beließen dem Geschädigten keine Überlebenschance, zumal auch die Angeklagten selbst keine Möglichkeit mehr hatten, das Unfallgeschehen durch ein Brems- oder Lenkmanöver zu vermeiden.“

Bedingter Vorsatz also und damit keine fahrlässige Tötung. War es aber auch Mord? Passte ein Tatbestandsmerkmal des § 211 StGB. Das Gericht bejahte auch dies. Es verneinte zwar niedrige Beweggründe, also Motive „die nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert waren und auf tiefster Stufe standen“, was bei dem islamistischen LKW-Attentäter vom Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz sicherlich anders ausgesehen hätte, wenn es da zu einem Prozess gekommen wäre. Das Gericht sah aber das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln als erfüllt an. Das Auto konnte als ein gemeingefährliches Mittel angesehen werden. Zwar nicht grundsätzlich, aber in dieser konkreten Situation schon. Erforderlich bei diesem Mordmerkmal ist die Tatsache, dass für einen vom Täter nicht eingrenzbaren größeren Personenkreis eine konkrete Lebensgefahr bestand. Das war hier der Fall. Durch ihre Amokfahrt und dem dadurch entstandenen „Trümmerfeld“ bestand für jedermann, der sich zu dieser Zeit am Ort des Geschehens aufhielt, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben. Es ist lediglich glücklichen Umständen zu verdanken, dass zum Unfallzeitpunkt nur das Auto des Opfers die Unfallkreuzung befuhr. Das Gericht dazu: „Dass ihnen dies bewusst war, ist offensichtlich. Ihre Wegstrecke und insbesondere der nähere Tatortbereich waren eben nicht auto- und menschenleer. Wie (…) ausgeführt worden ist, herrschte ein mäßiger, der Nachtzeit entsprechender Verkehr vor, an dem zumindest die benannten Zeugen als Fußgänger teilnahmen. Auf den inner- bzw. hauptstädtischen Charakter des fraglichen Kreuzungsbereichs zwischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche / Europacenter und Wittenbergplatz / KaDeWe ist bereits hingewiesen worden. Dass dort auch zur Nachtzeit Menschen in welcher Form auch immer am Verkehrsgeschehen teilnehmen würden, lag auf der Hand und war den Angeklagten für ihre Lieblingsstrecke und den „Lifestyle-Kudamm“ auch bekannt.“

Sowohl Marvin, als auch Hamdi wurden zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Bei einem Mord gibt es eben nur diese eine Strafe! Weniger gibt das Strafgesetzbuch nicht her. Eine strikte Systematik. Die Richter stecken in solch einem Fall im Dilemma. Fahrlässige Tötung mit einer Höchststrafe von fünf Jahren ist vielen bei solchen Taten zu niedrig. Totschlag aber wird bei einem Autounfall wegen der Gemeingefährlichkeit schnell zum Mord, was ein wesentlicher Grund dafür ist, weshalb die Justiz für gewöhnlich zurückhaltend ist, bei rücksichtslosen Rasern einen Tötungsvorsatz anzunehmen.

Das Urteil war in juristischer Hinsicht eine Sensation, wurde in der Boulevardpresse stürmisch gefeiert, erfuhr aber in Fachkreisen heftige Kritik.

Das Verfahren sei ein „populistisches Pilotprojekt“, monierte der Anwalt von Marvin N. In der Zeit schrieb ein Professor für Strafrecht unter der Überschrift „Raser sind Verbrecher, aber keine Mörder“: „Nichts ist einfacher, als die Berliner Raser zu Mördern zu machen. Juristisch einfach, weil ihr Verhalten so schreiend lebensgefährlich war, dass sie doch wirklich nicht darauf vertrauen konnten, es werde schon gut gehen. Dann liegt das vor, was Juristen Eventualvorsatz nennen – auch bedingten Vorsatz – und der reicht für den Mordtatbestand (…) Außerdem lässt sich die Wahnsinnsfahrt ohne Weiteres als gemeingefährlich bezeichnen. Und schon ist alles beisammen, was einen der insgesamt neun Fälle ausmacht, in denen das Gesetz eine Tötung zum Mord erklärt: das vorsätzliche Töten mit einem gemeingefährlichen Mittel. Auch moralisch und politisch ist es einfach, die Berliner Raser zu Mördern zu stempeln. Denn ihre Tat ist so empörend, weckt so viel Wut, dass jeder auf Applaus rechnen kann, der ruft: ‚Das ist Mord! Höchststrafe her!‘“ Aber dies sei nicht gerecht, da bei einem Mord nur eine lebenslange Strafe in Betracht käme. Selbst eine so rücksichtslose und tödliche Raserei sei noch etwas anderes als ein Auftrags-, ein Lust- oder ein Giftmord, meinte der Autor. Der Tagesspiegel kommentierte: „Die Höchststrafe anzuwenden auf Männer und ihre Tat, die erst aufgrund eines Zufalls – weil ihnen ein anderer Fahrer in die Quere kam – zu einer ebensolchen werden konnte, wirft Widersprüche auf. Zum Mörder wird man nicht aus Zufall.“

Viele Juristen waren daher der Ansicht, es bedürfe eine Reform des Strafgesetzbuches, insbesondere der aus dem „Dritten Reich“ stammenden Mordmerkmale. Daran arbeiteten Juristen und die Politik schon lange, ohne nennenswerten Erfolg – bisher. Der Autor des oben erwähnten Zeit-Artikels kritisierte die Anwendung des Mordmerkmals Gemeingefährlichkeit. Als der Gesetzgeber von Gemeingefährlichkeit sprach, habe er Bomben vor Augen gehabt und an vergiftetes Trinkwasser oder Brandstiftung gedacht, an Autorennen dagegen gewiss nicht. Außerdem bezweifelte der Strafrechtler das Vorhandensein des bedingten Vorsatzes. Er machte das an einer Testfrage fest: „Haben die Täter versucht – im Rahmen ihrer Wahnsinnsfahrt – Unfälle zu vermeiden? Oder waren sie ihnen egal?“ Kein Eventualvorsatz sei es aber, wenn jemand darauf vertraut, dass es schon gutgehen werde. Für die Gerichte kommt es dabei nicht darauf an, ob jemand vernünftigerweise darauf vertrauen durfte, dass es gutgehen werde. Sondern es kommt nur darauf an, ob er tatsächlich darauf vertraut hat. Dabei komme es nicht darauf an, was ein vernünftiger Mensch hätte denken müssen, sondern nur, „was diese beiden in ihren beschränkten Hirnen tatsächlich gedacht haben“. Daher dürfte es juristisch der ehrlichere Weg sein, den Vorsatz zu verneinen, so der Zeit-Autor. Dies führe aber wiederum zu einem anderen Problem, da derartige Taten nach der momentanen Gesetzgebung zu gering bestraft würden. Fahrlässige Tötung gemäß § 222 StGB und Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c StGB sehen eine Höchststrafe von fünf Jahren vor. Der Gesetzgeber sei nun gefordert, meinte der Autor und den Gerichten gab er den Rat, „nicht einen Mord zu fingieren, der keiner war.“ Starker Tobak.

Der Tagesspiegel resümierte: „Sollte der Schuldspruch vor dem Bundesgerichtshof Bestand haben, wird der Druck auf Staatsanwaltschaften wachsen, solche Taten als Mord oder Totschlag anzuklagen. Häufigere Anklagen wegen Mordes werden vielleicht, wie gewünscht, einige abschrecken. Verurteilungen wegen Mordes werden dennoch nicht immer der tatsächlichen Schuld angemessen sein.“

Am 1. März 2018 entschied schließlich der Bundesgerichtshof und es kam wie es kommen musste, denn der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und wies die Sache zur Neuverhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts zurück. Der 4. Strafsenat war der Ansicht, dass die Verurteilung wegen Mordes keinen Bestand haben kann, „weil sie auf einer in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaften Grundlage ergangen ist.“

Schon der vom Landgericht Berlin festgestellte Geschehensablauf trage den Vorsatzvorwurf nicht, denn laut Urteil des Landgerichts hätten Marvin und Hamdi die Tötung eines anderen Verkehrsteilnehmers erst dann billigend in Kauf genommen, als sie in die Unfallkreuzung einfuhren. Gleichzeitig habe das Landgericht jedoch festgestellt, dass die beiden Verurteilten zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr hatten, den Unfall zu verhindern; weil sie zu dem Zeitpunkt absolut unfähig gewesen waren, noch zu reagieren. Laut BGH ein Widerspruch, denn ein Tötungsvorsatz kann ja dann nicht mehr gefasst werden, wenn man auf das weitere Geschehen sowieso keinen Einfluss hat. Dementsprechend sei das Urteil des Landgerichts insoweit unlogisch und musste daher aufgehoben werden.

Im Übrigen gibt der BGH zu bedenken, dass die vom Landgericht aufgestellte Behauptung, dass sich die beiden Fahrer „wie in einem Panzer oder in einer Burg“ absolut sicher fühlten und jegliches Risiko ausgeblendet hatten, nicht belegt sei. Einen Erfahrungssatz dieses Inhalts gäbe es nicht. Man hätte zumindest prüfen müssen ob die etwaige Eigengefährdung einen Vorsatz ausschließe. Das Landgericht habe das aber nicht mal geprüft, da es die nicht belegte Behauptung aufstellte.

Widersprüchlich habe das Landgericht auch insoweit geurteilt, weil es Marvin gleichzeitig vorwarf den Tod seiner mitfahrenden Freundin billigend in Kauf genommen zu haben. Wie könne das sein, wenn er sich „sicher, wie in einer Burg“ gefühlt habe?

Zuletzt kritisiert der BGH, dass das Landgericht Marvin, dessen Auto ja nicht in Michaels Jeep raste, so ohne weiteres als Mittäter behandelt worden sei, da die Verabredung, gemeinsam ein illegales Straßenrennen auszutragen, alleine für die Annahme eines mittäterschaftlichen Tötungsdelikts nicht ausreichen würde.

Das waren schon einige Ohrfeigen für die Richter am Landgericht Berlin.

Marvin und Hamdi können nun auf eine mildere Strafe hoffen, aber auch da wird man sehen, wie die neue Kammer des Landgerichts entscheiden wird. Ein Persilschein für Raser ist das Urteil nämlich nicht, denn Raser können weiterhin als Mörder verurteilt werden. Es kommt jedoch immer auf den Einzelfall an.

Es wird daher auf jeden Falls spannend bleiben. So einfach wie zuvor werden uneinsichtige Raser sicherlich nicht mehr davonkommen.

Inzwischen hat nämlich der Gesetzgeber an einem Gesetz gearbeitet, welches derartige Taten härter bestrafen kann, ohne sie gleich als Mord zu klassifizieren. Ende Juni 2017 beschloss der Bundestag den neu eingefügten § 315d StGB „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“. Veranstalter und Teilnehmer von illegalen Rennen sollen von nun an mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. Ihre Fahrzeuge, auf die sie so stolz sind, können nun eingezogen werden. Bis zu zehn Jahren Gefängnis gibt es dann, wenn jemand bei einem derartigen Rennen schwer verletzt oder getötet wird. Das könnte ein Weg aus dem strafrechtlichen Dilemma zwischen „fahrlässiger Tötung“ und „Mord“ sein. Zuvor war die Teilnahme an solchen Rennen mit 400 Euro Bußgeld und einem Monat Fahrverbot geahndet – ein Witz angesichts der Gemeingefährlichkeit derartigen Tuns!

Tragischerweise hatte sich auch das Opfer der Tat mit diesem Thema beschäftigt und sich nicht allzu lange vor seinem Tod in einem Leserbrief an eine Tageszeitung gewandt, in dem er sich über die milde Strafe von derartigen Rasern beschwerte. Ihm nützt das Urteil und das neue Gesetz leider nichts mehr, aber vielleicht hat sein schrecklicher Tod etwas in den Köpfen geändert und offensichtlich den Gesetzgeber endlich zum Handeln bewegt. Abschreckend könnten das Urteil und der neue Paragraf allemal wirken, auch wenn „testosterongesteuerte“ Raser nicht unbedingt vernunftbegabt sind. Unbelehrbare wird es immer geben, so wie der Mercedes- und der Audifahrer, die nur kurz nach dem Kudamm-Urteil des Landgerichts bei einem Wettrennen in Berlin-Kreuzberg ebenfalls einen Unfall mit hohem Sachschaden verursachten, der Gott sei Dank kein Menschenleben kostete.

Quellen

Berliner Morgenpost vom 24.08.2016

Berliner Zeitung vom 26.01.2017

Der Tagesspiegel vom 27.02., 05.07.2017

Die Zeit vom 28.02.2017 (Gastbeitrag von Tonio Walter)

Welt am Sonntag vom 26.02.2017

rbb online vom 08.09.2016, http://www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2016/09/warum-mord-kudamm-raser-kurfuerstendamm-prozess-.html (abgerufen am 26.09.2016)

Landgericht Berlin, Urteil vom 27.02.2017, Az: (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16)

Bundesgerichtshof Mitteilung der Pressestelle Nr. 045/2018 vom 01.03.2018


Jonny K.

Im Oktober 2012 erschütterte Berlin ein Gewaltverbrechen wie noch kaum eines zuvor. Der 20-jährige Jonny K., Sohn einer Thailänderin und eines Berliners, starb, nachdem er am Berliner Alexanderplatz von einer Gruppe Jugendlicher massiv geprügelt worden war. Das Rote Rathaus, Dienstsitz des Regierenden Bürgermeisters, der zu diesem Zeitpunkt Klaus Wowereit hieß, war nur gut 200 Meter vom Tatort entfernt.

Jonny, der noch bei seinen Eltern in Spandau lebte und gerade dabei war, sein Fachabitur zu machen, starb an Blutungen im Gehirn. Nachdem sich seine Angehörigen von ihm verabschiedet hatten, wurden die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet. Die Ärzte waren zur Auffassung gekommen, dass dem jungen Mann nicht mehr zu helfen war.

Wieder einmal wurde das Thema jugendliche Gewalt heftig und sehr erregt diskutiert. Die Berliner Zeitung schrieb am 15. Oktober unter der Überschrift „Mord am Alexanderplatz“: „Der am Wochenende am Alexanderplatz in Berlin zusammengeschlagene 20-Jährige ist tot. Die Maschinen, die den Mann im Krankenhaus am Leben hielten, wurden abgeschaltet. Von den Tätern fehlt weiterhin jede Spur.“ Doch was war zuvor geschehen?

Jonny K. war am Abend des 13. Oktober 2012 mit Freunden feiern, wie es junge Leute vor allem am Wochenende so zu tun pflegen. Es galt, den Geburtstag zweier gemeinsamer Freunde zu begehen. Die Feier fand am Alexanderplatz in einem unterhalb des Fernsehturms gelegenen Lokal statt. Sturztrunk war anscheinend angesagt, denn die Freunde tranken so viel, dass sie letztendlich aus dem Lokal geworfen wurden. Einer von ihnen hatte sich in den Räumlichkeiten übergeben. Man beschloss daher, den besoffenen Kumpel in ein Taxi nach Hause zu setzen. Es wurde auch Zeit, denn es war schon fast 4.00 Uhr morgens. Ihr Gefährte war sogar so betrunken, dass er nicht mehr gehen konnte. Gerhardt C., wohl der Stärkste aus der Truppe, schleppte ihn daraufhin huckepack aus dem Lokal. Ein weiterer Begleiter machte sich auf den Weg, um ein Taxi zu besorgen. Nachdem ihm sein betrunkener Freund zu schwer geworden war und er ihn auf einem Stuhl vor einem bereits geschlossenen Café absetzen wollte, schien genau dies offensichtlich eine andere Gruppe von sechs jungen Männern zu provozieren, die zuvor in der Nähe eine andere Party besucht hatten und auch auf dem Heimweg waren. Einer von ihnen machte sich einen Spaß daraus, dem Volltrunkenen den Stuhl wegzuziehen, sodass er hilflos am Boden lag. Als Jonny seinem Freund helfen wollte, wurde er brutal zusammengeschlagen und getreten, bis er bewusstlos war. Die Situation war in weniger als einer Minute eskaliert und dauerte nicht lang, dann lag Jonny im Koma. Den Ermittlungen zufolge standen die Täter in einem Kreis um ihr am Boden liegendes Opfer und traktierten es mit Tritten. Auch Jonnys 29-jähriger Freund Gerhardt C. wurde von der Tätergruppe verprügelt und erlitt, nach mindestens zehn Boxhieben ins Gesicht, einen Bruch des linken Jochbeins, des linken Augenhöhlenbodens und des linken Handwurzelknochens. Im Spiegel konnte es so gelesen werden: „Es kommt zum Gerangel zwischen Onur U. und Gerhard[t] C. Wie von Sinnen soll U., ein ehemaliger Amateurboxer, auf den anderen eingeprügelt haben. So heftig, dass sich noch heute alle daran erinnern können, wie sie durch die Menge schrien: ‚Onur, es reicht!‘, ‚Hör auf! Hör auf!‘ und ‚Willst du ihn umbringen?!‘ Gerhard[t] C. sei danach trotzdem wieder aufgestanden.“

Jonny jedoch stand nicht wieder auf. Das Gericht sollte später in seinem Urteil feststellen: „Am Morgen des 14. Oktober 2012 gegen 4.00 Uhr kam es infolge von Gewalteinwirkungen aus der Gruppe der Angeklagten gegen den Kopf oder einen durch Gewalt verursachten Sturz mit dem Kopf auf das Straßenpflaster des 20 Jahre alt gewordenen Jonny K. zu massiven Subarachnoidalblutungen (Hirnblutungen) bei diesem. Am Morgen des 15. Oktober 2012 wurde um 9.57 Uhr sein Hirntod festgestellt.“

Ein Motiv war nicht ersichtlich. Laut Berliner Zeitung sprachen die Fahnder von „reiner Mordlust“. Von den Schlägern fehlte jede Spur, sodass von der Staatsanwaltschaft „aufgrund der Brutalität dieses Verbrechens auf öffentlichem Straßenland“ eine Belohnung von bis zu 15 000 Euro für Hinweise auf die Täter ausgelobt wurde.

Die Öffentlichkeit war sehr empört, denn auch diesmal konnten sich viele vorstellen, selbst Opfer einer derart sinnlosen Gewalttat zu werden. Ähnlich war es zuletzt 2009 beim Fall Dominik Brunner in München gewesen. Auch da kochte die Volksseele und das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit war massiv beeinträchtigt. Wieder waren es brutale jugendliche Schläger! Früher hat es so etwas nicht gegeben! Es wird immer schlimmer. Diese und ähnliche Sätze konnte man in den Medien und in den Gesprächen der Menschen vernehmen. Die Öffentlichkeit, Medien und Politiker waren sich wieder mal einig, auch wenn die Kriminalitätsstatistiken diese Wahrnehmungen nicht bestätigten. Selbstverständlich wurden schärfere Gesetze gefordert und einige Politiker sonnten sich mit „Law and Order“ - Forderungen in der medialen Öffentlichkeit. Wie immer, wenn etwas derart Unbegreifliches geschieht.

Die Polizei ermittelte fieberhaft, es gab Hinweise auf eine Gruppe Jugendlicher, die in einem nahe gelegenen Lokal gefeiert haben sollen. Dort fand die After-Show-Party eines in türkischen Kreisen bekannten Sängers statt. Die Polizei wertete Fotos aus, die dort von dem Event für eine Zeitschrift gemacht wurden. Schon fünf Tage später war ein gewisser Onur U. mehr als verdächtig. Sein Name war bei Vernehmungen öfters gefallen. Onur U. war früher ein talentierter Boxer gewesen und hatte einen bekannten Onkel, der es bei den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 als Boxer sogar zu einer Silbermedaille für Deutschland gebracht hatte.

Onur war bereits in die Türkei abgehauen und hatte schleunigst sein Facebookprofil gelöscht, wie die Polizei feststellte. Wie die Polizei später ermittelte, hatten auch seine später festgenommenen Mittäter ihre Facebookprofile gelöscht und einige sogar ihre SIM-Karte weggeworfen. Man hatte sich offenbar abgesprochen. Aber das nützte nichts, denn ein Mitwisser hatte geplaudert, was ein anderer zufällig in einem Friseurladen aufschnappte. Dieser wiederum ging mit seinem Wissen zur Polizei.

Nachdem von Jonnys Tod in den Zeitungen berichtet wurde, gab es viel Klatsch. Einige kannten die Täter, die sich anfangs noch mit ihrem „Kampf“ gebrüstet hatten. Nun – nach der Todesmeldung – waren sie bestürzt und wussten nicht so recht weiter. Ein gemeinsamer Ratschlag der Väter der Beteiligten führte erst einmal nicht weiter. Nicht alle Väter waren dafür, dass sich ihre männlichen Nachkommen freiwillig der Polizei stellen sollten. Die Polizei suchte inzwischen weiter nach Onurs Mittätern. In abgehörten Telefonaten eines Intensivtäters fielen noch mehr Namen, und bereits am 23. Oktober 2012 nahm die Polizei in Berlin-Wedding den 19-jährigen Osman A. fest, der zu der sechsköpfigen Tätergruppe gehört haben soll. Am nächsten Tag schon berichtete die Presse über zwei weitere Festnahmen. Der Fahndungsdruck war offenbar zu groß geworden, denn die beiden Mittäter Memet E. (19) und Melih Y. (21) meldeten sich schon am Tag nach Osman A.s Festnahme in Begleitung ihrer Rechtsanwälte bei der Mordkommission in der Schöneberger Keithstraße. Hüseyin O. (21), ein weiterer Täter, stellte sich einen Monat später freiwillig der Polizei. Auch er hatte wohl die letztendliche Vergeblichkeit des Versteckspiels eingesehen. Auch die letzten beiden Täter, die sich zwischendurch in die Türkei abgesetzt hatten und dort provokant einem Bildzeitungsreporter Rede und Antwort gestanden hatten, stellten sich einige Monate später. Sie hatten mittlerweile ebenfalls die Aussichtslosigkeit ihrer Flucht eingesehen. Onur U. (19) und Bilal K. (24) kehrten im März bzw. April 2013 mehr oder weniger freiwillig zurück, nachdem sich sogar Bundeskanzlerin Merkel eingeschaltet und mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan über die Auslieferung verhandelt hatte. Da rechneten sie sich dann wohl doch keine Chance mehr aus, ungeschoren davon zu kommen.

Der Tagesspiegel, der die Gruppe als „fünf harmlose Typen und ein bekannter Schläger“ charakterisierte, beschrieb die Täter später folgendermaßen: „Sie alle sind in Berlin geboren und aufgewachsen, haben türkische und griechische Pässe, Onur U. auch einen deutschen: Sechs junge Männer, die noch bei ihren Eltern leben, sich gern gestylt in Bars amüsieren, dafür aber überwiegend auf Taschengeld angewiesen sind. Sie waren in der Schule angeblich nicht schlecht, danach aber fielen ihre Bemühungen um Beruf und Job eher gering aus.“ Als „harmlose“ Typen wollte die Öffentlichkeit die Täter jedoch nicht sehen. Groß war die Wut! Dennoch: Intensivtäter war keiner von ihnen.

Osman A. und Bilal K. waren nicht vorbestraft und gingen einer Tätigkeit nach. Letzteres widersprach dem Bild, das sich die Öffentlichkeit und die Medien gemacht hatten. Bilal war als Fahrer bei DHL beschäftigt, während Osman eine Ausbildung zum Metallbauer machte, die er jedoch wegen des Verfahrens abbrechen musste. Auch Memet E. musste seine Ausbildung zum Industriemechaniker wegen des Verfahrens abbrechen. Zwar war er vorbestraft, allerdings lediglich wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort. Melih Y. hatte bei der Deutschen Bahn eine Ausbildung zur Fachkraft im Gastronomiegewerbe absolviert und war seitdem in verschiedenen Servicestores der Deutschen Bahn tätig. 2007 war er wegen Raubes zu 80 Stunden Freizeitarbeit verurteilt worden. Er hatte dabei geholfen, zwei Mädchen „abzuziehen“. Seitdem war er nicht mehr auffällig gewesen. Seine damalige Tat war wohl eher eine Jugendsünde gewesen. Lediglich Hüseyin O. hatte keinen Schulabschluss und lebte laut Gericht „beschäftigungs- und orientierungslos in den Tag hinein“. Wegen einer Urkundenfälschung war er schon mal strafrechtlich aufgefallen. Sonst nicht. Also doch, „fünf harmlose Typen“? Nicht ganz, denn für andere Delikte gab es zumindest Verdachtsmomente.

Der laut Tagesspiegel „bekannte Schläger“ Onur U. war zwischen 2005 und 2007 dreimal Berliner Meister in seiner Gewichtsklasse gewesen. Er wollte Profiboxer werden, verlor allerdings 2010 die Berliner Meisterschaft aufgrund eines Kapselrisses an der rechten Hand. Danach waren seine Karrierepläne gestorben und er entschloss sich, den Profiboxsport aufzugeben. Er begann eine Berufsausbildung zur Fachkraft Lager und Logistik bei der Bundeswehr, die er jedoch nach kurzer Zeit wieder abbrach. Seitdem jobbte er in verschiedenen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Onur war in den zwei Jahren vor der Tat vier Mal strafrechtlich aufgefallen, davon dreimal wegen Körperverletzung. Zuletzt war er im Juni 2012 zu einem Dauerarrest von zwei Wochen verurteilt worden. Er hatte einen Fahrradfahrer verprügelt, der ihm bei einer rasanten Autofahrt in die Quere kam. Als Auflage musste Onur an einem Anti-Gewalt-Seminar teilnehmen, was anscheinend nicht allzu viel gebracht hatte. Mit all den Vorstrafen war er der „perfekte“ Täter. Ein gewaltbereiter jugendlicher Rowdy, der sich gerne prügelte.

War Onur U. auch der Alleinschuldige? Seine Mittäter sagten aus, dass er zwar den Streit angefangen, aber Jonny K. nicht geschlagen habe. Wie passte das zusammen? Onur U. hatte Gerhardt C. geschlagen, was er unumwunden zugab. Aber Jonny K.? Das bestritt er vehement! War Onur vielleicht doch nur der Sündenbock? Die Öffentlichkeit war sich jedenfalls sicher und die Empörung war immer noch ausgesprochen groß.

Am Montag, dem 13. Mai 2013, kurz nach der Rückkehr der „Türkeiflüchtlinge“, begann schließlich der Prozess vor der 9. Jugendstrafkammer des Berliner Landgerichts. Onur U. wies jegliche Schuld am Tod Jonnys von sich. Die Schlägerei mit Gerhardt leugnete er nicht. Der dreimalige Berliner Boxmeister hatte offensichtlich die Benimmregeln außerhalb des Boxrings nicht sonderlich verinnerlicht. Zumindest bei ihm war das Boxtraining, das vielfach als Therapie für aggressive Jugendliche gepriesen wird, wohl eher kontraproduktiv.

Zwar habe er einem anderen ins Gesicht geschlagen, als er nach der Party auf dem Weg nach Hause gewesen sei, sagte er aus und meinte damit die Schläge in Gerhardts Gesicht, aber das sei eben nicht Jonny gewesen. Er sei danach an einem jungen Mann vorbeigekommen, der dalag, als ob er schlief. Das müsse wohl Jonny gewesen sein. Damit habe er jedoch nichts zu tun. In die Türkei abgehauen sei er nur, weil er „Paranoia“ gehabt habe. War es wirklich so gewesen? Die Zuschauer, Richter und Schöffen müssen die Aussage wohl als ziemlich durchsichtig empfunden haben. Seltsamerweise bestätigten jedoch auch die Mitangeklagten im Prozess diese Version – sie, die eigentlich ein Interesse daran hätten haben müssen, einen Schuldigen zu finden. Die Jugendlichen bezichtigten sich gegenseitig und zeigten keine Reue. Stattdessen waren Feixen und Grinsen angesagt. Zuschauer des Prozesses empörten sich mitunter mit wütenden Zwischenrufen. Im Spiegel hieß es zu Prozessbeginn: „Ja, er habe ihm ins Gesicht geschlagen, räumt Hüseyin O. ein. ‚Ich schäme mich dafür.‘ Aber umgefallen sei Jonny K. nach einem Tritt von Bilal K., der habe dann sogar noch einmal nachgetreten, als das Opfer längst am Boden lag, behauptet Hüseyin O. Bilal K. habe auf Jonny K.s Kopf eingetreten, sagt auch Mehmet E. Er sei sich ganz sicher. Auch Osman A. will sich in diesem Punkt sicher sein: Mindestens zweimal, vielleicht sogar dreimal habe Bilal K. zugetreten. ‚Ich hatte Angst, dass das weiter eskaliert‘, so Osman A. Bilal K. streitet die Vorwürfe ab und belastet Melih Y. Dieser selbst gibt zwar zu, ‚ein einziges Mal‘ auf Jonny K. eingetreten zu haben, ‚aber nur auf das Schienbein‘. Osman A. bestätigt diesen einmaligen Tritt.“

Höhepunkt war die Aussage von Gerhardt C., dem anderen Opfer, der in der dreistündigen Befragung in Tränen ausbrach und sich Vorwürfe machte, dass er den kleinen Bruder seiner Freundin nicht beschützen konnte. Gerhardt war nicht nur ein enger Freund Jonnys, sondern auch seit inzwischen acht Jahren mit Jonnys älterer Schwester Tina liiert.

Gerhardt belastete Onur vor Gericht schwer. Als er mit seinem betrunkenen Freund wegen des weggezogenen Stuhls hingefallen war, soll Onur Jonny, der sich empört einmischte, den ersten Schlag versetzt haben. Der Spiegel beschrieb es am 27. Mai 2013 so: „Gerhard[t] C. kämpft mit den Tränen und zeigt auf Onur U.: ‚Dieses Gesicht, der war’s!‘ Gerhard[t] C. ist sicher: Onur U. hat seinem Freund Jonny den ersten Schlag versetzt.“

Problematisch war allerdings, dass Gerhardt zuvor bei der Vernehmung durch die Polizei davon gar nichts gesagt und dort vielmehr größere Erinnerungslücken hatte. Dementsprechend hellhörig wurde der Anwalt von Onur. Auch der Richter wunderte sich, weil die anderen Angeklagten alle etwas anderes ausgesagt hatten. Er befragte daraufhin Gerhardt genauer, aber der blieb bei seiner Aussage: „Es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, soll er gesagt haben, wie der Spiegel berichtete.

Auch die Tatsache, dass Osman sich selbst bezichtigte, als Erstes auf Jonny losgegangen zu sein, ließ Gerhardt nicht davon abbringen, seine Aussage zu wiederholen. Er sei bei der polizeilichen Vernehmung eben durcheinander gewesen und wollte dort nur alles so schnell wie möglich zu Ende bringen. Nun erinnere er sich, dass nach dem ersten Schlag durch Onur alle anderen auf Jonny losgegangen seien und diesen getreten und geschlagen hätten.

Laut gerichtsmedizinischem Gutachten hatte Jonny jedoch nur vier Verletzungen: am Hinterkopf, am Scheitel, an einer Augenbraue und an der Lippe. Jede der vier Kopfverletzungen konnte Auslöser für die Blutung im Gehirn gewesen sein, die letztendlich zum Tod führte, sagte der Rechtsmediziner laut Spiegel. Er sei allerdings nach der medialen Fallberichterstattung überrascht gewesen, wie unversehrt Jonnys Leichnam gewesen war, denn normalerweise sähen die Opfer nach solchen Prügelattacken, wie sie in der Presse beschrieben worden seien, „meist schlimmer“ aus.

Der Richter bemerkte folgerichtig, dass es schwer sei auseinanderzuhalten, was für Gerhardt C. Erinnerung sei und was Rekonstruktion. Es schien so, dass sich Gelesenes und Erinnertes bei seiner Aussage vermischten. Schließlich wurde tagtäglich ausführlich und nicht immer auch sachlich in der Presse und im Fernsehen von der Tat berichtet. Umso überraschender war später, dass das Urteil der Aussage von Gerhardt C. folgte: „In diesem Moment trat der Angeklagte Onur U. an den Zeugen Conrad heran (…) um (…) zu provozieren. (…) Jonny K. trat mit dem Ausruf ‚Hey‘ (…) an den Angeklagten Onur U. heran und griff mit der rechten Hand nach dessen Schulter. Spätestens jetzt entschloss der Angeklagte U. sich, die beiden zuvor provozierten Personen anzugreifen, und versetzte Jonny K. für diesen unerwartet mit der rechten Faust mit Verletzungsabsicht einen wuchtigen Schlag in das Gesicht, wobei er als ausgebildeter Boxer, der von seinen Trainern gewarnt worden war, sich nicht außerhalb des Boxringes zu schlagen, hätte erkennen können, dass ein einziger Faustschlag in das Gesicht einer anderen Person zu schwerwiegenden und eventuell tödlichen Verletzungen führen kann. Es lässt sich nicht ausschließen, dass bereits dieser Faustschlag todesursächlich war, wobei die Kammer aber insoweit zu Gunsten des Angeklagten Onur U. davon ausgeht, dass der Faustschlag und die hierdurch verursachte Verletzung noch nicht zu der späteren Hirnblutung geführt hat.“

Die Stimmung war aufgeladen in Saal 700 des Landgerichts in der Turmstraße in Berlin-Moabit. Der Richter hatte immer wieder empörte Zwischenrufe zu moderieren. Die meisten Zuschauer waren unter 30 Jahre alt, darunter viele Freunde der Opfer, aber auch Freunde der Angeklagten. Einem der Schöffen platzte ob der aufgeladenen Stimmung schon am vierten Verhandlungstag der Kragen, als er einem aussageunwilligen Zeugen vorwarf: „Sind Sie zu feige, eine Aussage zu machen, oder wollen Sie das Gericht verarschen?“ Schon das hatte einen umgehenden Befangenheitsantrag zur Folge. Als derselbe Schöffe kurz danach einem Berliner Boulevardblatt ein Interview gab, was Schöffen während eines laufenden Verfahrens strikt untersagt ist, war der Prozess erst mal geplatzt. Seine Befangenheit gegenüber den Angeklagten war nun mehr als deutlich geworden. Der entsprechende Zeitungsartikel war pünktlich zum fünften Prozesstag in der Montagsausgabe erschienen. Dem sichtlich konsternierten Richter, der nicht nur den Schöffen, sondern auch das Boulevardblatt kritisierte, blieb nichts anderes übrig, als den Schöffen zu entlassen. Da kein Ersatzschöffe bestellt war, mussten neue Laienrichter eingesetzt werden. Die Verhandlung wurde abgebrochen, sodass die vier vorhergehenden Verhandlungstage wertlos waren. Schöffen wie Richter müssen die komplette Beweisaufnahme miterleben, sonst wäre das Urteil anfechtbar gewesen. Also alles wieder auf Anfang.

Osman A., Hüseyin O. und Melih Y. wurden vorerst aus der Untersuchungshaft entlassen. Memet E. war schon zuvor auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem er umfassend ausgesagt hatte. Nur Bilal K. und Onur U. blieben in U-Haft, weil weiterhin Fluchtgefahr bestand. Immerhin waren sie ja schon mal in die Türkei ausgebüxt. Am 6. Juni 2013 begann der Prozess nochmals, mit vier neuen Laienrichtern – wovon diesmal zwei Schöffen sicherheitshalber als Ergänzung vorgesehen waren, falls es erneut zu einem Vorfall wie mit dem abberufenen Schöffen gekommen wäre. Die Zeugen der ersten vier Prozesstage mussten erneut aussagen.

Das Gericht kam nach allen Zeugenaussagen zu dem Schluss, dass erst, nachdem Onur zugeschlagen hatte, alle anderen sich an der Schlägerei beteiligten. Das Gericht urteilte: „Im Verlauf dieses Angriffs, dessen Einzelheiten sich in der Hauptverhandlung nicht sicher aufklären ließen, (…) stürzte Jonny K., ohne sich dabei noch abstützen zu können, zu Boden, schlug mit dem Kopf auf dem Straßenpflaster auf und blieb dort regungslos liegen. Auf dem Boden liegend, ohne sich wehren oder auch nur schützen zu können, wurde er aus der Gruppe der Angeklagten, ohne dass die Anzahl und Identität der jeweils aktiv Tätigen im einzelnen feststellbar war, wobei die Kammer jedoch insoweit von mehr als zwei Personen ausgeht, im wechselseitigen Einverständnis aller Angeklagter mit Verletzungsabsicht mehrfach wahrscheinlich auch gegen den Körper, jedenfalls aber mindestens zweimal gegen den Kopf getreten.“

Laut den im Prozess tätigen Sachverständigen war nicht endgültig festzustellen, ob ein Tritt, ein Schlag oder der Sturz todesursächlich gewesen war. Anzeichen für andere Ursachen der Hirnblutung, wie ein Aneurysma, eine Fehlbildung oder ein Tumor, konnten jedenfalls ausgeschlossen werden. Weil bei der Obduktion keine Frakturen und zerrissenen Nervenfasern im Hirnmantel gefunden wurden, war ein Sturz allerdings als die unwahrscheinlichste Todesursache anzusehen. Wahrscheinlicher war, dass ein Tritt oder ein Schlag zum Tod Jonnys geführt hatte. Das Gericht führte weiter aus, dass alle Angeklagten hätten erkennen können, dass die Schläge und Tritte gegen Jonnys Kopf lebensgefährlich waren. Jedem von ihnen hätte klar sein müssen, dass Jonny dabei hätte sterben können, was ja tragischerweise auch geschah. So viel Alkohol hatten sie jedenfalls nicht getrunken, als dass dies eine entschuldigende Wirkung gehabt hätte.

Nachdem mehrere Passanten auf die Schlägerei aufmerksam geworden waren und in Richtung des Tatorts liefen, entfernten sich die sechs jungen Männer schnell, aber nicht rennend, vom Tatort in Richtung U-Bahnhof Alexanderplatz, von wo sie mit der U-Bahn der Linie 8 nach Hause in den Wedding fuhren. Einer von ihnen rief laut Gericht noch drohend: „Uns fickt keiner.“ Um den am Boden liegenden Jonny kümmerte sich keiner von den Schlägern. Im Gegenteil, Onur U. wurde von seinen Kumpels mit den Worten „Krass, hast du gut gemacht“ gelobt, sagten später Zeugen aus. Nachdem Polizei, Krankenwagen und Notarzt bereits wenige Minuten nach der Tat am Tatort eingetroffen waren, wurde Jonny K. reanimiert und in ein Klinikum gebracht. Leider ohne Erfolg. Er erlangte das Bewusstsein nicht wieder. Offizieller Todeszeitpunkt war der 15. Oktober 2012 um 9.57 Uhr morgens.

Wie bereits beschrieben, ging das Gericht davon aus, dass Onur U. der Erste war, der zugeschlagen hatte. Es folgte damit der Aussage des Hauptbelastungszeugen, die durchaus widersprüchlich gewesen war. Die gegenteiligen Aussagen der fünf Mittäter wurden nicht berücksichtigt. Dies mutet in der Tat seltsam an. Das Gericht führte zum Tatgeschehen weiter aus: „Der Angeklagte U. versetzte entsprechend seinem Entschluss, sowohl Jonny K. als auch Gerhardt C. anzugreifen, diesem zunächst mindestens einen massiven Faustschlag in das Gesicht. Diesen massiven Schlag billigend und entsprechend dem Tatentschluss, die Gruppe um den Betrunkenen ebenfalls anzugreifen und zu verletzen, versetzte dann der Angeklagte O. dem Geschädigten C. ebenfalls einen kräftigen Schlag mit der Faust in das Gesicht. Der Zeuge C. ging im Verlauf dieser Tätlichkeiten zu Boden, wo ihm dann auch der Angeklagte E. im wechselseitigen Einverständnis mit den übrigen Mitangeklagten und entsprechend dem Tatentschluss, die Gruppe um den Betrunkenen anzugreifen und zu verletzen, einen Fußtritt gegen den Körper versetzte. Dem auf dem Boden liegenden C. versetzte der Angeklagte U. im wechselseitigen Einverständnis mit seinen Mittätern mit Verletzungsabsicht dann noch mindestens zehn Faustschläge abwechselnd mit der rechten und linken Faust in das Gesicht, wobei der Zeuge C. sich, zusammengekrümmt auf dem Boden liegend, mit vorgehaltenen Armen zu schützen versuchte.“

Den Streit hatte Onur U. augenscheinlich vom Zaun gebrochen, aber hatte er wirklich bei Jonny K. gleich zugeschlagen? Eigentlich hätte man durchaus Zweifel haben können, ob Onur wirklich den ersten Schlag ausgeführt hatte. Zumindest wenn man den ehernen strafrechtlichen Grundsatz „in dubio pro reo“ ernst nimmt. Man fragt sich unwillkürlich, ob das Gericht nicht auch nun „im Zweifelsfall für den Angeklagten“ hätte entscheiden müssen. Dies tat das Gericht allerdings nicht! Es muss sich also diesbezüglich absolut sicher gewesen sein. Dem war auch so. Für das Gericht war Onur U. zweifelsohne derjenige, der Jonny K. geschlagen hatte. Er passte ja auch gut ins Gesamtbild von mit Testosteron vollgepumpten südländischen Schlägern, das sich die Öffentlichkeit von den Tätern machte. Onur dagegen sagte vor Gericht aus, dass er die anderen überreden wollte, mit ihm in einen Club am Treptower Park zu gehen, da dort mehr Mädchen seien: „Er habe die drei Cousins [Hüseyin, Osman und Memet, E. R.] gefragt, ‚Wollt Ihr wissen, ob mit den Mädchen am Treptower Park was läuft? Da sind deutsche Mädchen!‘ Während er dies gesagt habe, sei er zu dem dunkelhäutigen Typen gelaufen, der gerade die andere Person auf dem Stuhl abgesetzt habe. Er habe den Stuhl an der Rückenlehne angefasst und den drei Cousins zugerufen: ‚Wisst Ihr, wie die deutschen Mädchen da tanzen? Da braucht Ihr nur zu sitzen und dann kommen die Mädchen von allein und tanzen Euch so an.‘ Dabei habe er gekreischt wie ein (deutsches) Mädchen und habe die Hüften gekreist. Er habe dabei den Stuhl nicht weggezogen und es sei auch niemand zu Boden gegangen. Der dunkelhäutige Junge habe mitbekommen, was er da ‚abgezogen‘ habe, habe das Ganze wohl als Beleidigung für sich oder seinen Freund aufgefasst und ihn – den Angeklagten – dann so heftig vor die Brust gestoßen, dass er ins Stolpern gekommen sei. Dabei habe er geäußert ‚Ey verpiss Dich‘ oder ‚Ey, lass den.‘ In diesem Moment habe schon Hüseyin dem Dunkelhäutigen einen Schlag ins Gesicht versetzt. Er selbst habe dann Hüseyin weggezogen, um selbst auf den Dunkelhäutigen losgehen zu können. (…) Er sei dann irgendwie von dem Jungen weggezogen worden. Als er wieder gestanden habe, hätten die drei Cousins um ihn herum gestanden. Sie seien dann gemeinsam zum Bahnhof gegangen. Auf dem Weg dorthin habe er einen weiteren Jungen, von dem er heute wisse, dass es sich um Jonny K. gehandelt habe, wahrgenommen, der auf dem Boden gelegen und ausgesehen habe, als ob er schliefe. Den habe er mit der Schlägerei nicht in Zusammenhang gebracht. Diesen Jungen habe er zuvor überhaupt nicht wahrgenommen.“

Der Richter glaubte dieser nach seiner Meinung „befremdlichen Geschichte“ nicht. Er war sich sicher, dass Onur nur provozieren wollte und daher den Stuhl wegzog. Nachvollziehbar! Seine Version des Geschehens klang wirklich etwas „an den Haaren herbeigezogen“. Memet hatte ausgesagt, dass Onur zu keinem Zeitpunkt auf Jonny losgegangen sei. Onur habe Gerhardt auf den Boden geworfen und dort richtig auf ihn eingeschlagen. Er selbst und Hüseyin hätten Onur dann zurückgezogen. Anschließend habe er sich umgesehen und bemerkt, dass eine weitere Person, nämlich Jonny, am Boden gelegen habe, diese Person sei dann noch von Bilal gegen den Kopf getreten worden. Osman hatte ebenfalls ausgesagt, dass Onur das spätere Todesopfer nicht geschlagen habe. Er räumte aber ein, dass er selbst Jonny an den linken Oberschenkel getreten habe. Melih habe das ebenfalls getan und ihn im Hüftbereich getroffen. Wenig später habe Jonny am Boden gelegen und Bilal habe Jonny zwei- bis dreimal in Richtung Oberkörper getreten und dabei möglicherweise auch am Kopf getroffen. Melih wiederum hatte Osmans Schläge gegen Jonny gesehen. Onur habe er nur im Kampf mit Gerhardt gesehen. Hüseyin hatte Onur auch nur dabei gesehen, wie er sich mit Gerhardt schlug. Er sah Melihs Tritte gegen Jonny und Bilal, der Jonny vor die Brust getreten habe, woraufhin dieser zu Boden gegangen und mit dem Kopf auf das Straßenpflaster geprallt sei, ohne sich vorher noch abstützen zu können. Bilal gab zu, Jonny gegen den Oberschenkel getreten zu haben. Melih habe ihm dann einen Tritt verpasst.

Soweit die Aussagen der Täter, die recht plausibel klangen. Osman, Bilal und Melih hatten Jonny verprügelt, die anderen drei waren mit Gerhardt beschäftigt. Warum sollten die Angeklagten lügen, Onur ent- und sich selbst belasten?

Wie erwähnt, sah es das Gericht anders. Es glaubte den Angeklagten nur bedingt und urteilte: „Die von diesen Einlassungen abweichenden Feststellungen zum Tatbeginn und der Rolle des Angeklagten Onur U. und die weitere Feststellung, dass Jonny K. zuletzt reglos am Boden liegend von mehreren der Angeklagten mehrfach, zumindest zweimal gegen den Kopf und eventuell auch gegen den Körper getreten wurde, beruhen im Wesentlichen auf den insoweit glaubhaften Bekundungen des Zeugen Gerhardt C. und den mit diesen Angaben übereinstimmenden glaubhaften Aussagen der Zeugen.“

Zwar war sich das Gericht tatsächlich des Grundsatzes „in dubio pro reo“ bewusst und sah durchaus die Problematik, die darin bestand, dass der Hauptbelastungszeuge anders als in seinen polizeilichen Vernehmungen und auch in der ausgesetzten Hauptverhandlung nun auf einmal den Angeklagten einzelne aktive Tatbeiträge zuordnen konnte. Vorher hatte er sie auf Bildern nicht erkennen können. Nun war er sich sicher, dass der später in der Bild abgebildete Onur der Haupttäter gewesen sei, der Jonny den ersten Schlag versetzt habe Gerhardt C. behauptete nun, sich inzwischen erinnern zu können. Erst habe Onur, dann Melih zugeschlagen, „und als Jonny am Boden gelegen habe, hätten die Angeklagten Hüseyin O., Melih Y. und Memet E. am Kopf gestanden, der Angeklagte Hüseyin O. habe den bereits beschriebenen Fußballtritt gegeben, der Angeklagte Melih Y. habe gestampft und einer habe einen Sprung auf Beinhöhe gemacht, wobei er sich erinnern könne, dass auf dieser Höhe die Angeklagten Osman A. und Bilal K. gestanden hätten. Auch der Angeklagte Onur U. sei irgendwie am Kopf von Jonny gewesen.“ Erstaunlich, wie konkret Gerhardt C. sich nun erinnern konnte. Im Urteil hieß es dazu: „Die Kammer verkennt nicht, dass trotz dieser für die Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Zeugen C. zum Tatbeginn sprechenden Umstände an seine Bekundungen angesichts der zum weiteren Tatgeschehen inkonstanten und wechselnden Aussagen (…) hinsichtlich ihres Beweiswerts erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Isoliert betrachtet könnte ihnen trotz ihrer Glaubhaftigkeit insoweit nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit gefolgt werden.“ Ist dies doch ein Rückzieher des Gerichts? Weit gefehlt, denn sofort folgt der entscheidende Satz: „Entscheidend ist jedoch, dass diese Angaben des Zeugen C. in wesentlichen Teilen durch die Bekundungen der Zeugen (…) bestätigt werden, so dass die Kammer ihnen in Verbindung mit diesen Aussagen im Umfang der getroffenen Feststellungen mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit gefolgt ist und sie zur Grundlage ihrer Feststellungen gemacht hat.“

Es gab also noch andere Zeugen, die etwas gesehen hatten. Dabei handelte es sich um drei junge Männer, die ebenfalls auf der Party waren. Der erste Zeuge hatte bei einer polizeilichen Vernehmung angegeben, er habe aus einer Entfernung von etwa dreißig Metern beobachtet, dass ein junger Mann von einer Person aus einer Gruppe von sechs bis sieben Personen unvermittelt einen Boxschlag ins Gesicht versetzt bekommen habe. Nach dem Schlag habe diese Person dann auf dem Boden gelegen und sei dort mehrmals von etwa vier Personen getreten und auch noch geschlagen worden. Nur wollte dieser Zeuge seine Beobachtung vor Gericht nicht mehr bestätigen, er berief sich auf Erinnerungslücken. Das Gericht behalf sich daher eines Kunstgriffs und lud den Polizeibeamten vor, der den Zeugen während der Ermittlungen vernommen hatte. Der zweite Zeuge hatte wegen seiner Kurzsichtigkeit viele Einzelheiten nicht mitbekommen, aber dennoch aus derselben Entfernung beobachten können, dass eine Person, die zuvor – am Boden liegend – geschlagen und von mehreren Personen getreten worden sei, am Ende nicht wieder aufgestanden war. Der dritte Zeuge hatte aus einer Entfernung von 50 bis 100 Metern beobachten können, wie mehrere Personen auf eine am Boden liegende Person eingetreten haben. Für das Gericht hieß das, dass die Angeklagten durchaus mehr gemacht haben konnten, als sie zugegeben hatten.

Ob Onur U. den ersten Schlag wirklich ausgeführt hatte, bewies das jedoch eigentlich noch nicht. Gerhardt C. hatte im Ermittlungsverfahren auf Fotos keinen der Angeklagten erkannt. Nun behauptete er, dass er Onur U. auf einem Bild auf der Titelseite der Bild als den „Haupttäter“ wiedererkannt hatte. Das Gericht daher weiter: „An der Identität des Angeklagten Onur U. als diesem ersten Täter bestehen auch angesichts der kritisch zu bewertenden Angaben des Zeugen C. (…) keine Zweifel. (…) Es ist insoweit auch unerheblich, dass der Zeuge C. bekundet hat, der erste Täter habe ein gelbliches oder rosafarbenes Hemd getragen, obwohl die Kammer es (…) als erwiesen ansieht, dass er zur Tatzeit eine schwarze Lederjacke und darunter ein weißes T-Shirt trug.“ Ein klein wenig kann man sich da schon wundern.

Laut Gericht mussten das Wegziehen des Stuhles und der erste Faustschlag gegen Jonny (der nur von Onur gekommen sein konnte) unmittelbar zusammenhängen. Wie ein Mantra wurde daher im Urteil wiederholt: „Der nun folgende Faustschlag des Angeklagten Onur U. kam für die übrigen Angeklagten zur Überzeugung der Kammer zwar unerwartet, war aber Auslöser für den nun konkludent von allen gefassten Entschluss, sich an der von Onur U. provozierten und begonnenen körperlichen Auseinandersetzung in Billigung dieses Faustschlages gleichzeitig oder jeweils nacheinander zu beteiligen. (…) Der Faustschlag ist zur Überzeugung der Kammer bewiesen und es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass ein anderes Geschehen Anlass dafür gewesen sein könnte, dass sofort und gemeinsam (nach diesem Faustschlag) gleichzeitig oder nacheinander innerhalb weniger Sekunden und aufgrund eines einheitlichen Geschehens zunächst auf den später Verstorbenen und dann auf den Zeugen C. eingewirkt wurde, zumal die Angeklagten Melih Y., Bilal K. und Osman A. auch keinerlei nachvollziehbare andere Erklärung dafür abgegeben haben, warum sie Jonny K. überhaupt angegriffen haben.“

Das Gericht, dass sich seiner Sache in Bezug auf Onur so sicher war, schloss mithilfe des Sachverständigen zudem nicht aus, „dass bereits dieser Schlag der Auslöser für dessen Hirnblutung und damit den Tod Jonny K.s war. Hierbei konnte er als ausgebildeter Boxer, der – wie er selbst eingeräumt hat – von seinen Trainern gewarnt worden war, sich nicht außerhalb des Boxringes zu schlagen, erkennen, dass ein einziger Faustschlag in das Gesicht einer anderen Person zu schwerwiegenden Verletzungen und zu dessen Tod führen kann.“ Erst nach diesem Faustschlag beteiligten sich die anderen Täter an der Auseinandersetzung.

Die Tatbeteiligung jedes Einzelnen war zweifelsfrei, jedoch nicht mehr aufzuklären, da die drei Zeugen aus der Entfernung keine Angaben machen konnten, wer wann zugeschlagen oder zugetreten hatte. Da das Gericht Gerhardt C. – zumindest diesbezüglich – aufgrund seiner vorhergehenden Widersprüche in seinen Aussagen auch nicht zweifelsfrei folgen konnte, wurden daher nur jeweils die Tatbeiträge in das Urteil einbezogen, die die einzelnen Täter selbst zugegeben hatten. Osman, Bilal und Melih wollten dem noch stehenden Jonny jeweils einen Tritt gegen den Oberschenkel bzw. Hüftbereich versetzt haben. Hüseyin und Memet hatten zugegeben, zumindest Gerhardt geschlagen beziehungsweise getreten zu haben. Das sah der Staatsanwalt genauso. Auch er meinte, dass eine Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) nur Onur nachgewiesen werden konnte, und forderte fünfeinhalb Jahre Haft. Die Mitangeklagten seien lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Beteiligung an einer Schlägerei zu bestrafen. Der Staatsanwalt forderte daher drei Jahre Haft für Melih, je zwei Jahre und acht Monate für Hüseyin und Osman und zweieinhalb Jahre für Memet.

Der Bundesgerichtshof hatte schon 2009 entschieden, dass ein Täter auch dann gemäß § 227 StGB bestraft werden kann, wenn er die letztlich zum Tode führende Verletzungshandlung möglicherweise gar nicht selbst ausgeführt hat, denn: „Wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung kann für deren Todesfolge, die ein anderer unmittelbar herbeigeführt hat, auch derjenige bestraft werden, der die Verletzung nicht mit eigener Hand ausführt, jedoch aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses mit dem Willen zur Tatherrschaft zum Verletzungserfolg beiträgt, sofern die Handlung des anderen im Rahmen des beiderseitigen ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnisses lag und dem Täter hinsichtlich des Erfolges Fahrlässigkeit zur Last fällt.“ Soll heißen, Onur hat zumindest Jonnys Tod mit verursacht, weil er die Prügelei angezettelt hatte und er schon da die möglichen Folgen hätte absehen können. Somit hatte er zumindest fahrlässig gehandelt, also „die im Verkehr erforderliche Sorgfalt pflichtwidrig vernachlässigt“, wie es im Juristendeutsch heißt. Gerade als Boxer hätte er das Verletzungspotenzial von Schlägen auf den Kopf bedenken müssen. Das konnte man so sehen und die Staatsanwaltschaft sah es auch so.

Onurs Verteidiger sah das freilich anders. Er war entsetzt, dass den widersprüchlichen Aussagen des Hauptbelastungszeugen Glauben geschenkt wurde. Nach seiner Auffassung hätte „in dubio pro reo“ gelten müssen, also im Zweifel für den Angeklagten Onur U. Wie es im Spiegel hieß, drückte er sich folgendermaßen aus: „‚Warum sollten die Mitangeklagten nicht den einfachen Weg gehen und Onur U. beschuldigen?‘, rief W. und schob die Antwort prompt nach: ‚Weil es so nicht war.‘ Onur U. habe von einer Auseinandersetzung mit Jonny nichts mitbekommen und erst recht nicht daran mitgewirkt.“ Er forderte daher Bewährung für Onur. Dasselbe verlangten auch seine Verteidigerkollegen für ihre jeweiligen Mandanten. Das Gericht gab diesen Forderungen jedoch nicht nach. Man sah es genauso wie der Staatsanwalt: „Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte Onur U. der Körperverletzung mit Todesfolge gemäß §§ 223, 227 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit einer Beteiligung an einer Schlägerei gemäß § 231 Abs. 1 StGB (zum Nachteil des Verstorbenen Jonny K.) in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 und 5, 25 Abs. 2, 52 StGB mit anderen Beteiligten gemeinschaftlich und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (zum Nachteil des Geschädigten C.) schuldig gemacht. Er hat dem später verstorbenen Jonny K., in der Absicht, ihn zu verletzen, zumindest einen Faustschlag in das Gesicht versetzt.“

Zu Gunsten von Onur U. ging die Kammer allerdings davon aus, dass er die Verletzung, die ursächlich für den Tod Jonnys war, nicht eigenhändig verursacht hatte, was seiner Strafbarkeit nach § 227 StGB jedoch – aus den genannten Gründen – nicht entgegenstand. Dem Angeklagten waren auch sämtliche Verletzungen, die seine Kumpels verursacht hatten, zuzurechnen. Eine dieser Verletzungen war letztlich die Ursache für Jonnys Tod.

Die Angeklagten Melih, Bilal, Memet, Osman und Hüseyin wurden lediglich der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit einer Beteiligung an einer Schlägerei nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 und 5, 231 Abs. 1, 25 Abs. 2, 52 StGB schuldig gesprochen. Ihnen konnten ja nur die Taten nachgewiesen werden, die sie selbst zugegeben hatten. Sie kamen glimpflich davon, da laut Gericht schon der erste Faustschlag von Onur, den das Gericht als bewiesen ansah, der tödliche Schlag gewesen sein könnte. Dieser Faustschlag war den Mittätern nicht zuzurechnen, da er selbst für sie überraschend kam. Hier galt „in dubio pro reo“ für die fünf jungen Schläger. Eine aufgrund des genossenen Alkohols schuldmindernde fehlende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit billigte das Gericht allen sechs Angeklagten nicht zu. Nach § 105 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) kann das Jugendstrafrecht auch auf unter 21-Jährige angewandt werden, wenn die Täter zur Zeit der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung noch Jugendlichen gleichstehen. Meist verfahren die Gerichte so – wie auch hier. Beim 19-jährigen Onur wurden derartige Entwicklungsdefizite nicht ausgeschlossen, sodass er unter das Jugendstrafrecht fiel. Strafverschärfend kam jedoch hinzu, dass er einschlägig vorbestraft und Initiator der Tat war. Außerdem hätte ihm als ausgebildetem Boxer die besondere Gefährlichkeit seines Handelns bewusst sein müssen. Auch auf den gleichaltrigen Memet und Osman, der kurz nach der Tat 19 geworden war, wurden die Vorschriften des Jugendstrafrechts angewendet. Bewährung kam wegen der Schwere der Schuld jedoch auch bei ihnen nicht in Betracht. Melih, Bilal und Hüseyin hatten bereits das 21. Lebensjahr überschritten, sodass § 105 JGG für sie nicht mehr in Betracht kam.

Unter der Überschrift „Mischung aus Dummheit, Arroganz, Unverschämtheit und Aggressivität“ berichteten die Gerichtsreporterinnen des Tagesspiegels vom Schlusswort des Vorsitzenden Richters bei der Urteilsverkündung: „Der damals 19-jährige Onur U. habe das Geschehen in der Nacht zum 14. Oktober 2012 am Alexanderplatz ausgelöst. ‚Aus einer Mischung aus Dummheit, Arroganz, Unverschämtheit und Aggressivität‘, sagte der Vorsitzende Richter (…). In der Folge habe sich eine Tragödie abgespielt, ‚bei der ein hilfsbereiter junger Mann ohne Anlass sein Leben verlor‘. Der gelernte Boxer U. habe Jonny K. den ersten Faustschlag versetzt. Das sei für die anderen Angeklagten überraschend gewesen. Dennoch hätten sie anschließend ‚bedenkenlos mitgemacht‘. ‚Alles, was danach passierte, ist allen zuzuordnen.‘“

Das Urteil vom 15. August 2013 lautete daher wie folgt: „Der Angeklagte U. ist der Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Beteiligung an einer Schlägerei schuldig. Die Angeklagten A., Y., O., E. und K. sind jeweils der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei schuldig. Der Angeklagte U. wird zu einer Jugendstrafe von vier (4) Jahren und sechs (6) Monaten verurteilt. Die Angeklagten Y., O. und K. werden jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zwei (2) Jahren und acht (8) Monaten verurteilt. Die Angeklagten A. und E. werden jeweils zu einer Jugendstrafe von zwei (2) Jahren und drei (3) Monaten verurteilt.“

Nach der Urteilsverkündung schrieb ebenfalls der Berliner Tagesspiegel: „Onur U. macht nicht den Eindruck, als treffe ihn der Schuldspruch. Entspannt zurückgelehnt sitzt er während der dreiviertelstündigen Urteilsbegründung im großen Saal 700. Er trägt ein weißes Hemd mit offenem Kragen und eine auffällige weiße Armbanduhr. Die modische Frisur, der kurz rasierte dichte Bart – ein ganz normaler junger Mann mit Migrationshintergrund. Dass er mal richtig Boxen gelernt hat, ist ihm nicht unbedingt anzusehen. Dass er einer Auseinandersetzung nicht aus dem Weg geht, lassen seine Körpersprache und seine selbstbewussten Blicke in die Menge aber ahnen. Immer mal wieder grinst er vor sich hin, oft sucht er mit den Augen Kontakt zu seinen Leuten im Publikum.“

Knapp anderthalb Jahre nach der tödlichen Prügelattacke bestätigte der Bundesgerichtshof die Gefängnisstrafen und verwarf die Revision als offensichtlich unbegründet. Da die präventive Wirkung derartiger Verfahren oftmals größer ist als die Sanktionierung selbst, wäre es zu wünschen, dass das auch in diesem Fall so ist und andere Jugendliche von solch sinnlosen Taten abgehalten werden. Die ausgiebige und mitunter unsachliche mediale Begleitung des Falles könnte so durchaus eine positive Wirkung gehabt haben.

Auch dem von Jonnys Schwester Tina K. und anderen gegründeten Verein „I am Jonny“ wurde medial sehr viel Aufmerksamkeit zuteil. Bleibt zu hoffen, dass der Verein seinem Anspruch auch nach dem medialen Hype gerecht wird, „die Öffentlichkeit im Sinne eines friedlichen Miteinanders zu prägen“ und „das multikulturelle Leben, individuelle Freiheit in sozialer Gemeinschaft und Toleranz“ zu fördern, wie der Verein auf seiner Homepage verkündet. 2014 wurde sogar ein Musical „I Am Jonny“ uraufgeführt.

Tina K. selbst schrieb auf der Homepage in einem bewegenden offenen Brief:

„Ich war die ganze Zeit im Krankenhaus an seiner Seite, ich habe seine Hand gehalten, jeden Herzschlag gezählt, jeden Atemzug gespürt. (…)

Ich habe mich in diesem Moment entschieden, etwas tun zu wollen und tun zu müssen. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu bewegen, aufzustehen, den Menschen zu sagen und zu zeigen, dass man mir meinen Bruder genommen hat. Dass man mir mein schlagendes Herz aus der Brust gerissen hat. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne Grund …

Es war nicht mein erster Impuls, den Weg in die Öffentlichkeit zu gehen. Nachdem ich den Medien gegenüber jeglichen Kommentar zunächst verweigert hatte, las ich in Zeitungen zu vieles, das nicht stimmte. Ich hatte das Gefühl, das richtig stellen zu müssen, in meiner Verantwortung als große Schwester meinem kleinen Bruder gegenüber. Ich bin nicht da gewesen, als das alles passierte. Sonst war das immer der Fall, wenn Jonny feiern ging – nur dieses eine Mal nicht.

Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich das tue, was ich tue. Mir ist bewusst, dass die Möglichkeiten, die ich durch das große Interesse der Öffentlichkeit bekommen habe, nicht jedem von einer Gewalttat Betroffenen zuteilwerden. Und mit jedem Tag ist der Wunsch in mir gewachsen, stellvertretend etwas für all diese Menschen bewegen zu können. Schritt für Schritt gehe ich nun diesen Weg, den ich mit und durch Jonny gehen muss. Sein letzter Herzschlag ist wie ein Motor für mich, der nun einem neuen Herzen Kraft gibt und es weiter wachsen lässt. Dem Verein I AM JONNY.“

Tina K. musste danach einiges über sich ergehen lassen. Sie hatte nicht nur den Tod ihres Bruders zu verkraften, sondern wurde von einzelnen Tätern und deren Sympathisanten für ihr Engagement in den sozialen Medien auch noch auf übelste Weise beschimpft.

Quellen

Spiegel online vom 28.10., 29.10.2012, 13.05., 27.05., 03.06., 20.06., 12.08., 15.08.2013, 31.03., 15.04.2014

Berliner Zeitung vom 15.10., 24.10.2012, 23.05.2013

Der Tagesspiegel vom 16.10., 20.10., 23.10.2012, 13.05., 12.08., 15.08.2013

Landgericht Berlin, Urteil vom 15.08.2013, Az: (509) 234 Js 83/13 KLs (13/13)

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.03.2014 – 5 StR 38/14

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.06.2009 – 4 StR 164/09

http://www.iamjonny.de/


Drogen, Sex und dunkle Räume

Am 6. Mai 2012 berichteten die örtlichen Zeitungen von einem Toten in einer Schwulenkneipe namens „Große Freiheit“ in Berlin-Friedrichshain. Ein Angestellter, der am Tag zuvor nach Schließung des Lokals die Räumlichkeiten reinigen wollte, hatte die Leiche um 6.10 Uhr im Darkroom entdeckt. In diesem abgedunkelten Raum traf man sich normalerweise zum anonymen Sex. In der „Großen Freiheit“ waren ausschließlich Männer geduldet, daher hatte man die Damentoilette für derartige Zwecke umfunktioniert.

Die Polizei veröffentlichte ein Foto des Opfers und erhoffte sich Hinweise zur Person und zur Tat. Wie sich schnell herausstellte, war der Ermordete der 32-jährige Niki M., ein Abteilungsleiter einer großen Handelskette. Man fand ihn mit heruntergelassener Hose auf den Knien und abgestützt auf den Unterarmen auf dem Fußboden des Darkrooms. Im Urteil des Gerichts hieß es später, dass diese Stellung nicht sexuellen Praktiken geschuldet war, sondern dass Niki M. bei einem Kampf vom Täter auf die Knie gezwungen worden war, wo er schließlich das Bewusstsein verloren hatte. Dies nutzte der Täter dazu, sein Opfer zu durchsuchen und ihm das Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen.

Die Ermittlungen ergaben, dass sich kurze Zeit nach diesem Geschehen, etwa um 5.45 Uhr, ein weiterer Gast auf der Suche nach schnellem, anonymem Sex in den Darkroom begeben hatte. Durch das Guckloch in der gegenüberliegenden Kabine hatte er zuvor schemenhaft zwei Personen wahrgenommen und dann im Gastraum gewartet, bis die Kabine wieder frei war. In der ehemaligen Damentoilette fand er dann Niki M. in der zuvor beschriebenen Lage vor. Selbst erheblich alkoholisiert, ging er davon aus, dass M. sich – was in solchen Darkrooms nicht unüblich sein soll – in dieser Stellung gezielt für anonyme sexuelle Handlungen anbot. Doch als er das Opfer von hinten an seine Geschlechtsteile fasste, gab es keine Reaktion. Er ließ daher verwundert von ihm ab und nutze die Gelegenheit, um dem aus seiner Sicht besinnungslos betrunkenen Niki M. das Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen und mitzunehmen. Das Opfer war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits an den Folgen der Einnahme von „Liquid Ecstasy“ verstorben. Das Smartphone gab der Dieb kurz danach beim Fundamt ab, als ihn – wieder nüchtern – die Reue packte. Glück für ihn, denn so wurde er später – nach einer kurzen Vernehmung – von der Verdächtigenliste gestrichen. Mit den wahren Umständen der nächtlichen Begegnung mit einem Toten konfrontiert, verließ er laut Ermittlungsakte sichtlich geschockt das Polizeirevier. Möglicherweise hatte er durch das Guckloch einen Mord beobachtet, ohne die Situation richtig zu erfassen.

Die Ermittlungen ergaben, dass beim Tod von Niki M. die als K.-o.-Tropfen bekannte Droge GHB eine Rolle spielte. Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB) wird auch als „Liquid Ecstasy“ bezeichnet, hat aber nichts mit dem künstlich hergestellten Aufputschmittel Ecstasy zu tun. GHB ist ein Mittel, das bei Leberschäden, zur Behandlung der Narkolepsie oder als Narkotikum bei Kaiserschnittgeburten eingesetzt wird, aber inzwischen auch als Partydroge ziemlich populär ist. Es wirkt in sehr geringen Mengen euphorisierend und wurde in der Schwulenszene als Sex-Droge genutzt, wovor allerdings – wegen der schlechten Dosierbarkeit – von AIDS-Hilfsorganisationen und Gesundheitseinrichtungen eindringlich gewarnt wurde. Vor allem Alkohol verstärkt mitunter die Wirkung dieser Droge unkontrollierbar. Ein paar Tropfen der farb- und geruchlosen Flüssigkeit werden in Getränke gegeben. Die Lösung setzt sich schnell am Boden der Flaschen oder Gläser ab. Sie hat einen seifigen und leicht stechenden Geschmack, ähnlich wie Lakritz. Getränke wie Bitter Lemon oder Grapefruitsaft überdecken GHB sehr gut. Die Droge wirkt aufputschend und enthemmend, allerdings in größeren Mengen stark einschläfernd. Insbesondere in Verbindung mit anderen Rauschmitteln kommt es im Körper zu Vergiftungserscheinungen. Überdosiertes „Liquid Ecstasy“ kann zu Bewusstlosigkeit, Atemstillstand, Koma und Herz-Kreislauf-Versagen führen, so wie es bei Niki M. der Fall gewesen war. In vielen Berliner Bars und Kneipen hingen deswegen im Sommer 2012 Schilder mit der Aufforderung: „Achten Sie auf Ihr Getränk“ oder „Akzeptieren Sie keine Drinks von Fremden“. Wegen seiner Wirkung wurde und wird die Droge von Kriminellen als Betäubungsmittel eingesetzt, um ein Opfer auszurauben oder zu vergewaltigen. 2008 wurden in den Niederlanden zwei Täter verurteilt, weil sie mindestens 14 Männer bei Sexpartys betäubt und ihnen unbegreiflicherweise HIV-positives Blut injiziert hatten.

GHB fiel bereits seit März 2002 unter das Betäubungsmittelgesetz und war deswegen nicht auf legalem Weg erhältlich. Doch das chemisch verwandte Vorläuferprodukt Gamma-Butyrolacton (GBL) ließ sich weiterhin problemlos ordern. Im Internet blühten die Onlineshops, die offiziell nur Felgenreiniger verkauften. Der Handel mit GBL ist nicht generell untersagt, es wird nach wie vor zur Herstellung von Reinigungsprodukten verwendet. GBL ist ein weitverbreitetes Lösungsmittel und wird auch als Farbentferner, Graffitientferner, Reinigungsmittel und Nagellackentferner oder zur Reinigung von Metallflächen verwendet. Doch mehr und mehr private Besteller hatten eher den Rausch statt glänzender Autofelgen im Sinn. GBL ist chemisch mit GHB verwandt und wird im Körper nach der Resorption komplett zu GHB umgewandelt.

Zwei Wochen nach dem Todesfall im Darkroom suchte die Polizei per veröffentlichter Videosequenz einer Überwachungskamera vom Berliner Ostbahnhof einen Tatverdächtigen. An einem Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn hatte ein Mann am 5. Mai 2012 kurz vor 6.00 Uhr versucht, mit der gestohlenen Kreditkarte von Niki M. eine Fahrkarte nach Saarbrücken zu kaufen. Wenig später wurde er gefasst und legte ein Geständnis ab. Gegen den 1974 im Saarland geborenen Berliner wurde Haftbefehl erlassen.

Der festgenommene Dirk P. führte eine relativ bürgerliche Existenz, arbeitete in seinem Wunschberuf an einer Grundschule im brandenburgischen Falkensee und unterrichtete dort auch katholische Religionslehre. Mit seinem langjährigen Lebensgefährten wollte er gerade die erste gemeinsame Wohnung beziehen. Seine berufliche und private Situation schien bestens zu sein. Zuvor war er gelernter Krankenpfleger gewesen und hatte nach Handelsschulabschluss und Fachhochschulreife bis 2006 in einer Klinik im Saarland gearbeitet. Wohl unzufrieden mit seinem damaligen Job, ließ er sich krankschreiben und ging dann einfach nicht mehr zur Arbeit, obwohl ihm ein Amtsarzt seine Arbeitsfähigkeit attestiert hatte. Dirk beharrte aber auf einem Burn-out-Syndrom, das gerade durch einige prominente Fälle in den Medien ziemlich populär war. An der Universität Saarbrücken hatte er bereits zuvor mit einem gefälschten und von seiner heimischen katholischen Kirchengemeinde beglaubigten Abiturzeugnis ein Psychologiestudium begonnen. Da das Studium nicht so lief, wie er es sich vorstellte, wollte er sich möglicherweise verändern und war 2006 seinem langjährigen Partner S. nach Berlin gefolgt, wo dieser als Ingenieur eine Stelle angenommen hatte. Dirk P. hatte sich in der Hauptstadt mit dem gefälschten Zeugnis Anfang Juni desselben Jahres für ein Studium der Grundschulpädagogik beworben.

Diesem Mann warfen die Ermittler nun vor, sein Opfer in dem völlig abgedunkelten Darkroom der Kneipe nicht nur mit der Droge „Liquid Ecstasy“ betäubt und beraubt, sondern auch erwürgt zu haben. Nach der toxikologischen Untersuchung machte der Sachverständige jedoch klar, dass Niki M. an einer Überdosis GHB gestorben war. Juristisch war es unerheblich, woran das Opfer gestorben war, falls Dirk P. mit bedingtem Vorsatz gehandelt hatte.

Der Grundschulreferendar war im Wesentlichen geständig. Zur Überraschung der Ermittler stellte sich dabei heraus, dass er für zwei weitere Tötungen verantwortlich war. Er gab Anschläge mit K.-o.-Tropfen zu, bestritt aber vehement eine Tötungsabsicht. Es seien jeweils Unfälle gewesen, meinte er. Dirk P. sagte später aus, dass er ebenfalls „Liquid Ecstasy“ zu sich genommen habe, um die aphrodisierende Wirkung zu genießen. Der Rauschzustand habe ihm geholfen, beim Sex mit anderen Männern sein schlechtes Gewissen auszublenden – weil er ja einen festen Lebenspartner gehabt habe. Das Landgericht glaubte ihm dies jedoch nicht, da er sich zuvor mehrfach widersprochen hatte. Laut Gericht wirkten seine Aussagen „taktisch geprägt“. Außerdem hatte man sich in der Beziehung derartige sexuelle Freiheiten zugestanden, wie der Lebensgefährte aussagte.

Klar war jedenfalls, dass sich Dirk P. im März 2012 im Internet eine 500-Milliliter-Flasche eines Reinigungsmittels namens „Cleanmagic“ bestellt hatte, das auch als „Liquid Ecstasy“ missbraucht wurde. 500 Milliliter für 47,60 Euro. Ab einer Dosis von etwa drei Milliliter kann es bereits zur Bewusstlosigkeit kommen. Vier Milliliter sind eine letale Dosis. Mehr als 100 Menschen hätte Dirk mit seinem Reinigungsmittel also umbringen können. Er hatte also gut vorgesorgt.

Bereits im April 2012 war es in einer Wohnung in der Holzmarktstraße in Berlin-Mitte zum ersten Einsatz des Mittels gekommen. Den 34-jährigen früheren langjährigen Freund seines Lebenspartners hatte Dirk P. mit dem Drogenmix tödlich vergiftet und danach beraubt. Mit der Begründung, er wolle mit ihm über seinen Ex-Freund sprechen, vereinbarte er mit Alexander M. für den 26. April 2012 abends ein Treffen. Bevor er aufbrach, gab er GBL aus der „Cleanmagic“-Flasche in ein Fläschchen des Feigenlikörs „Kleiner Feigling“ und füllte es mit Wasser auf. Wie sich der Abend im Einzelnen weiter gestaltete, konnte nicht sicher festgestellt werden. Dirk behauptete, sie hätten Oralverkehr gehabt, bevor Alexander unwissentlich vom GBL trank, das er ihm als sexuelles Stimulans hingestellt hatte. Er wollte Alexander M., den erklärten Drogengegner, von den positiven Seiten des Mittels überzeugen. Anschließend sei die Stimmung gekippt. Alexander soll dann ins Schlafzimmer gegangen und eingeschlafen sein, während er selbst noch dessen Smartphone, Geldbörse, Rucksack und Jacke eingepackt habe, bevor er ging. Dass es zwischen Dirk P. und Alexander M. zu sexuellen Handlungen gekommen sei, hielt das Gericht für unwahrscheinlich. Laut Gericht wollte Dirk mit dieser Aussage nur von seinem Motiv ablenken. Er habe mit dem GBL Alexander nicht sexuell stimulieren, sondern wohl eher für den Raub außer Gefecht setzen wollen. Nach Zeugenaussagen sei Dirk überhaupt nicht dessen Typ gewesen. Alexander ging wahrscheinlich nur aus alter Verbundenheit zu Dirks Lebensgefährten auf das Gesprächsangebot ein. Das sollte ihn das Leben kosten.

Das Gericht stellte fest: „Als die sedierende Wirkung des GBL einsetzte, begab sich Alexander M. – ob mit oder ohne Zutun des Angeklagten, ist unklar geblieben – ins Schlafzimmer, wo er sich schließlich, nur mit T-Shirt und einer Unterhose bekleidet, aufs Bett legte und im weiteren Verlauf zunächst das Bewusstsein verlor. Zu diesem Zeitpunkt begann der Angeklagte, sich in Umsetzung seines Tatplans in der Wohnung nach Beute umzusehen, und nahm schließlich zumindest das Mobiltelefon (iPhone), eine Jacke der Marke ‚Jack & Jones‘ und den Rucksack des Geschädigten mit dessen Portemonnaie an sich, in dem sich unter anderem eine auf den Geschädigten ausgestellte Kreditkarte befand. Alexander M. starb in der Folge zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt, sehr wahrscheinlich aber noch am 26. April 2012, an den Folgen der Wirkung des ihm verabreichten GBL.“

Bevor Dirk P. schließlich die Wohnung verließ, deckte er den auf dem Bauch liegenden Alexander M. noch bis unter die Arme zu und strich die Decke glatt. Mit der Dosis GHB im Blut, die vom Sachverständigen später konstatiert worden war, wäre Alexander dazu wohl nicht mehr selbstständig in der Lage gewesen.

Dirk P., der immer noch ein enges Verhältnis zu seiner Familie im Saarland pflegte, kaufte mit der Kreditkarte seines Opfers noch am Morgen nach seiner Tat eine Bahnfahrkarte, um seine Familie – wie bereits länger geplant – zu besuchen.

Alexander M. wurde am nächsten Tag gefunden. Seine Mutter und der Stiefvater waren misstrauisch geworden, weil er einen beruflichen Termin nicht eingehalten hatte. Zunächst war im Zusammenhang mit seinem Tod kein Verbrechen vermutet worden. Zwar war der Leichnam obduziert, aber nicht toxikologisch auf GHB untersucht worden. Erst einen Monat später, nachdem die Polizei die Videoaufnahmen des „Darkroom-Mörders“, wie er von nun an in der Presse hieß, veröffentlicht und Alexanders Großmutter am 25. Mai 2012 die Polizei darauf aufmerksam gemacht hatte, dass auch ihr Enkel unter nicht geklärten Umständen gestorben sei, stellte die Kripo einen Zusammenhang her und ermittelte ernsthaft auch im Fall Alexander M.

Anfang Mai 2012 war Dirk P. von seinem Familienbesuch wieder zurück in Berlin. Nur kurz danach geschah der besagte Mord im Darkroom der Schwulenkneipe in Friedrichshain. Das Gericht beschrieb die Räumlichkeiten folgendermaßen: „Im vorderen Bereich des Lokals befindet sich ein gewöhnlicher Gastraum, die hinteren, zumeist spärlich beleuchteten und labyrinthartig angelegten Räumlichkeiten, zum Teil mit abgetrennten sogenannten Darkrooms, werden von den Gästen als Ort für sexuelle Handlungen genutzt. Hinter diesem Bereich befinden sich noch die Toilettenräume, darunter die ehemalige Damentoilette, in der sich neben einer einzelnen WC-Kabine eine weitere Kabine befindet, die mit einem Barhocker und einem Papierhandtuchspender ausgestattet ist und ebenfalls für die Ausübung von sexuellen Handlungen genutzt wird. Ein Guckloch ermöglicht es, von einer Kabine in die andere zu schauen.“

Am Samstag, dem 5. Mai 2012, etwa um 4.00 Uhr früh, hatte sich Dirk entschlossen, in die nur wenige Minuten entfernte Schwulenbar „Große Freiheit“ aufzubrechen. In der Tasche hatte er mindestens ein mit GBL gefülltes Fläschchen „Kleiner Feigling“. Er selbst setzte sich zunächst auf eine Bank vor den Toiletten und trank von seinem Bier. Dann kam Niki M., dem er in die „Damentoilette“ folgte. Nachdem sie sich taxiert hatten, fingen sie an, sich zu küssen und zu befummeln. Offenbar war Dirk in dem völlig abgedunkelten Raum mit seinem 32-jährigen Opfer allein und befriedigte ihn – nach eigenen Angaben – oral. Da in der Toilette ein Barhocker stand, habe er, so sagte Dirk aus, dort sein Bierglas abgestellt. Zum Eigengebrauch habe er etwas vom GBL in sein Glas geschüttet und die Flasche „Kleiner Feigling“ daneben gestellt. Dann sei – laut seiner Version – Folgendes geschehen: Als er bemerkte, dass Niki aus der Flasche trank, habe er ihn umgehend gewarnt. Anschließend habe Niki versucht, ungeschützten Analverkehr durchzuführen. Dagegen habe er sich gewehrt, keine Lust mehr gehabt und die Räumlichkeit verlassen. Danach sei ein anderer Mann in die Kabine gegangen – nach Meinung des Gerichts eine reine Schutzbehauptung. Offenbar versuchte Dirk P., den Verdacht auf einen unbekannten Dritten zu schieben, denn bei der polizeilichen Vernehmung hatte sich alles noch anders angehört. So hatte er in seiner Vernehmung vom 29. Mai 2012 geäußert, er habe das Fläschchen als „Aufforderung“ neben sein Bierglas gestellt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739483108
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Mord Justiz Kudammraser Gericht True Crime Berlin Totschlag Täter Recht Kriminalität

Autor

  • Ernst Reuß (Autor:in)

Ernst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor und Publizist in Berlin. Publikationsauswahl: Berliner Justizgeschichte, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Mord? Totschlag? Oder was?, Sirius, Katzenkönig und Co.
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Titel: Mord und Totschlag in Berlin