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Festtagsbekenntnisse

von Hanna E. Lore (Autor:in)
547 Seiten

Zusammenfassung

Weihnachten allein zu verbringen, kommt für Mary nicht in Frage. Es gibt nichts und niemanden mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Bis sie auf einen Mann trifft, dessen Feiertage, Familie und Leben sie gehörig durcheinander wirbelt. Eine romantische Komödie rund um Weihnachten und den Jahreswechsel, Familiengeheimnisse und die Liebe, die einem völlig unerwartet begegnet, wenn man schon längst mit allem abgeschlossen hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Hanna E. Lore

hanna.lore@gmx.at

KAPITEL 1

Das war es also. Das Ende.

Karl faltete das letzte, unsorgfältig herausgerissene A5-Blatt und schob es zu den anderen Zetteln ins Handschuhfach. Dabei fiel sein Blick auf die bedruckte Rückseite: Dienstag, 14. Jänner – Zahnarzt Dr. Weimar 11:30 Uhr! Welche Ironie des Schicksals!, dachte er, Vor Kurzem erst gekauft, um auf die kommenden 365 Tage terminlich bestens vorbereitet zu sein, und jetzt brauche ich dieses Ding gar nicht mehr!

Zumindest hatte er doch noch eine Verwendung für das edle Papier gefunden. Milde lächelnd lehnte er sich kurz in den teuren, blitzsauberen beigen Ledersitz seines wintertauglich gemachten silbernen Porsches zurück. Dann starrte er durch die Scheibe hinaus in die vom Vollmond erhellte, klare Nacht. Karl steckte den Stift mit seinen Initialen – ein pragmatisches und liebloses Geburtstagsgeschenk seines Vaters zu seinem 29er vergangenen Juni – zurück in die dafür vorgesehene Lasche seines eleganten, ledernen schwarzen Timers, den seine stilvolle Mutter für ihn ausgesucht hatte. Schließlich schloss er den Terminkalender für immer und ließ ihn achtlos auf den Beifahrersitz fallen. Er würde dieses Utensil, ein Symbol des Stresses, nie wieder verwenden!

Ein befreiendes Gefühl!

Danach ließ er sich sein Vorhaben noch einmal durch den Kopf gehen: Sein Entschluss stand fest, doch das Wie war noch fraglich. Auf der Herfahrt hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, in den Gegenverkehr zu rasen, sobald er die Autobahn verlassen hatte. Doch erstens herrschte auf dieser Bundesstraße nachts wenig Verkehr und zweitens wollte er nicht das Leben Unschuldiger riskieren.

Karl konnte den Bahnübergang und die schmale, ungesicherte Stelle auf der Brücke direkt dahinter erkennen. Zuerst wollte er auf den Gleisen auf einen herannahenden Zug warten, aber von einer tonnenschweren Lokomotive gerammt zu werden, wäre ein zu brutaler und schmerzhafter Abgang. Also hatte er sich für das Ertrinken im Auto entschieden. Diese Variante war für seinen Geschmack spektakulär genug. Er und sein liebstes Spielzeug würden gemeinsam sterben, obwohl es ihm besonders um den Porsche Leid tat. Ein so schöner Wagen hätte ein besseres Ende verdient.

Karl startete sein Fahrzeug, dessen nasses Schicksal er heftig bedauerte, und reihte sich vom Parkplatz aus wieder in die leere Bundesstraße ein. Die Klänge von Chris Rea’s Driving Home for Christmas hallten durch das Innere des Autos. Doch die weihnachtlichen Töne raubten ihm nicht den Mut, denn er freute sich nicht darauf, die Gesichter seiner Familie zu sehen. Das alljährliche pseudo-fröhliche Getue konnte er sich endlich ersparen – bis in alle Ewigkeit!

Karl drehte das Radio noch lauter und drückte das Gaspedal ganz durch. Der Wagen beschleunigte.

„… denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. In Ewigkeit, Amen“, murmelte Mary, „Vergib’ mir! Ich weiß, dass das Leben ein Geschenk ist, aber ich will nicht mehr! Ist denn ein Umtausch ausgeschlossen?“

Dass die breite, beschädigte Stelle im Brückengeländer seit dem Unfall des Mühlhofer Gerds vor fast zehn Jahren niemals repariert worden war, sah die junge Frau als Zeichen an. Gott unterstützte ihr Vorhaben nicht nur, sondern bot ihr sogar eine Riesenchance, ihrem glücklosen Dasein ein Ende zu setzen. Jetzt war es so weit. Trotzdem entschuldigte sie sich vorsorglich für die folgenschwere Sünde. Schließlich wollte sie nicht für alle Ewigkeit im Fegefeuer der Verdammnis schmoren.

Mary musste nur noch das kalte Geländer loslassen. Zu ihrer Linken konnte sie sich nirgends festhalten, denn der Rost hatte eine große Lücke in das alte Metall gefressen. Wenn sie sich fallen ließ, würde sie in die Salzach stürzen. Dann wäre alles vorbei – endlich! Doch ihre Finger gehorchten ihr nicht und klammerten sich weiter fest. Sie schloss die müden Augen und schwor sich, loszulassen, wenn sie diese wieder öffnete.

Als Mary ihre dunkel geschminkten Lider hob, war es plötzlich hell – heller als zuvor. Vorhin hatte der Vollmond, welcher sich im schwarzen, langsam fließenden Wasser spiegelte, ihre Umgebung in sanftes Licht getaucht. Die wenigen Straßenlaternen spendeten bloß spärliche Beleuchtung. Doch nun war sie in einen grellen Schein getaucht. ER hieß sie willkommen! Wobei, womöglich handelte es sich bei Gott um eine Frau. Wer konnte das denn mit Sicherheit ausschließen?

Egal, ob Mann oder Frau, dort oben hieß sie jedenfalls jemand willkommen! Die Himmelspforten waren weit für sie geöffnet. Alles stand für sie bereit!

Das viel zitierte weiße Licht existierte tatsächlich. Es kam näher. Sie war nur noch einen simplen Schritt ins Nichts vom paradiesischen Jenseits entfernt. Ein riesiger Schuhladen, ein kulinarisches Schlaraffenland oder ein großes pinkes Himmelbett, auf dem man bis in alle Ewigkeit reglos faulenzen konnte. So könnte es aussehen, das Elysium.

„Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich hole Sie! Bleiben Sie ganz ruhig!“, rief ihr eine sympathische Männerstimme von hinten zu.

Ein seliges Schmunzeln breitete sich auf ihrem fülligen Gesicht aus, aber sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Das musste ein Engel sein. Mary war neugierig und wollte unbedingt wissen, wie ein solches himmlisches Wesen wohl aussah, doch sie wagte es nicht, den Urheber des Rufes anzuschauen. Das war ein Service, den der Vater im Himmel seinen Schäfchen bot, wenn sich die Pforten der Ewigkeit öffneten! Oder lockte sie der Teufel mit losen Versprechungen in die Hölle? Mary durchdachte ihre Verfehlungen kurz, merkte aber bald, dass sie zum Aufzählen sämtlicher Vergehen wohl länger brauchen würde: Lügen, Lästereien, Völlerei… die Liste zog sich endlos hin.

Plötzlich packte sie etwas wohlig Warmes am Handgelenk und zog sie rasch, aber sanft vom ungesicherten Brückenrand weg. Komisch, aber es würde schon wissen, was es zu tun hatte, dachte sie. Erst jetzt merkte Mary, dass sie in ihrem dünnen Kleidchen, das sie unter dem geöffneten pinken Mantel trug, fror.

Als sie der gute Engel losließ, wandte sie sich dem Wesen zu und erschrak. Vor ihr stand jemand oder etwas, das sie an einen echten Mann aus Fleisch und Blut erinnerte – einen sehr attraktiven sogar: groß; dunkelbraune, fast schwarze, dichte, kurze Locken, die nach hinten gegelt waren, um sie wenigstens ein bisschen zu bändigen; vollmichschokoladenfarbene, große Augen.

Dennoch war sie enttäuscht. „Ich dachte immer, ihr hättet langes, glattes blondes Haar“, bemängelte Mary.

Das Wesen legte verdutzt seine Stirn in Falten. „Haben Sie etwas eingeworfen oder zu viel getrunken? Vielleicht sogar beides?“

„Die Freundlichkeit ist euch im Laufe der Jahrhunderte wohl auch abhandengekommen, hm?“, meinte sie amüsiert, „Hast du einen Namen?“

„Ja, sicher!“, antwortete er oder es – was auch immer – irritiert.

Jasicha, ein schöner Name.“, philosophierte die kleine, mollige Blondine, die das Wort völlig anders betonte, und musterte ihn mit schief gelegtem Kopf näher, „Ich dachte immer, man nennt euch Gabriel oder Raphael oder…, aber Jasicha ist schön. Außerdem glaubte ich stets, ihr hättet alle langes, glattes blondes Haar. Oh, ich wiederhole mich.“ Sie kicherte verlegen. „Du bist das beste Beispiel dafür, wie wenig wir Sterblichen von eurer Welt wissen.“

„Auf die Gefahr hin, dass ich mich ebenso wiederhole: Sind Sie high?“, fragte es erneut. Mary lachte nur wirr. „Ich deute das als ein Ja. Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“

„Das weißt du nicht?!“, prustete sie zwischen winzigen Kicherpausen mühsam hervor, „Du wirst zu mir geschickt und kennst nicht einmal meinen Namen?! Eine Schande! Eigentlich heiße ich Maria, aber alle nennen mich Mary.“

„Charly“, entgegnete er kühl.

„Hah, Scherzkeks!“, brüllte Mary lachend und schlug ihrem vermeintlichen Engel auf die rechte Schulter, die sich täuschend real anfühlte, „Jasicha, du bist soooo lustig! Wir werden uns blendend verstehen!“

Wortlos näherte sich sein perfektes Antlitz ihrem und sie erhaschte einen Blick auf sein markantes, eckiges Kinn, das raue Bartstoppeln zierten, ehe er seinen Kopf ruckartig entfernte. „Ihre Pupillen sind normal. Hauchen Sie mich mal an!“

„Oh, bitte! Ich habe nichts getrunken! Darf man denn nicht rein, wenn man etwas beschwipst ist? Wieso habt ihr dann den Mühlhofer Gerd zu euch geholt, als er mit fast zwei Promille durch das Geländer gebraust ist? Oder lebt er noch? Das wäre ja eine Sensation! Ein Weihnachtswunder! Immerhin wurden weder er noch sein Wagen jemals gefunden! Ich habe das allerdings nicht nötig. Ich muss mich nicht besaufen, um mutig zu werden!“, verteidigte sie sich erbost. Der schöne Engel nervte sie inzwischen. Er sollte gefälligst seinen Job machen und sie ins Himmelreich bringen. Stattdessen spielte er sich als Moralapostel auf.

„Was hatten Sie dort drüben eigentlich vor?“ Er deutete auf die Stelle, an der sie vorhin sprungbereit gestanden war. Hätte sie nicht auf seinen Ruf reagiert, wäre sie längst gefallen. Allmählich dämmerte ihr, dass womöglich ein echter Mensch vor ihr stand und kein göttliches Wesen.

„Sie sind aus Fleisch und Blut – so wie ich, oder?“, vergewisserte Mary sich dennoch.

„Gestatten, Charly Rudolf, 29, aus der Stadt Salzburg“, stellte er sich förmlich vor, ohne ihr die Hand zur Begrüßung entgegen zu strecken, „Sie haben wohl endlich begriffen, dass ich kein…“

„Engel sind“, vervollständigte sie seinen Satz flüsternd und beschämt, weil ihr dieser Irrtum peinlich war. „Ich wollte die Aussicht genießen“, erläuterte sie und stemmte erbost beide Hände in die breiten, massigen Hüften.

Bevor er ihr Vorwürfe machte, kam sie ihm lieber zuvor.

„Natürlich“, säuselte er süffisant, „In diesem Outfit? Ist Ihnen denn nicht kalt?“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie zitterte. Schnell schloss Mary den Reißverschluss und die Zierknöpfe ihres pinken, fast knielangen Mantels und schlang ihre Arme wärmend um ihren fülligen Körper. Doch er hatte ihre festliche Kleidung längst bemerkt. Schließlich war sie lange genug in ihrem knappen, kurzen, kleinen Schwarzen, einer dunklen, dünnen Strumpfhose und ihren Lieblingsschuhen – silbern glitzernde High Heels mit Zehn-Zentimeter-Absatz und drei Zentimeter dickem Plateau – vor ihm gestanden. Die billige figurformende Unterwäsche erzielte bei so großen Größen wie ihrer leider die erwünschte Wirkung kaum, doch auf ihr perfektes, sexy Make-up und die hübsche Frisur war sie stolz. Mary sah aus, als hätte sie ein Date: mit dem Tod.

Sie schmunzelte, als ihr ein bekannter Film in den Sinn kam. Ihr Joe war zwar nicht blond, aber eine mindestens ebenso gutaussehende, dunkelhaarige Alternative zu Brad Pitt.

„Haben Sie noch etwas vor? Soll ich Sie hinfahren?“, bot er höflich an, obwohl er längst ahnte, was sie geplant gehabt hatte. Ihre Idee wich vermutlich nur geringfügig von seiner ab. Ein gewisser Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet ihr, dass er sie inzwischen durchschaut hatte und nur anstandshalber fragte. Da änderte sich ihre Stimmung schlagartig, denn die zickige Mary ließ sich nicht gern zum Narren halten. „Tun Sie nicht so scheinheilig!“, fauchte sie Furcht einflößend, „Sie wissen genau, wovon Sie mich abgehalten haben!“

„Falsch! Wovor ich Sie bewahrt habe!“, korrigierte er sie ebenso forsch, „Warum wollten Sie Ihr Leben denn so achtlos wegwerfen?!“ Seine raue Stimme klang vorwurfsvoll, obwohl er eigentlich selbst im Glashaus saß und kein Recht dazu hatte, mit Steinen zu werfen, doch das wusste sie ja nicht.

„Ich will immer noch, also mischen Sie sich nicht ein und fahren Sie weiter, damit ich endlich springen kann.“

„Das hätten Sie längst hinter sich bringen können. Sie möchten weiterleben, sonst hätte ich Sie gar nicht erst aufhalten können. Und jetzt stiegen Sie ein. Ich fahre Sie nach Hause.“ Mit einer einladenden Geste präsentierte er ihr seine protzige Karosse, aber Mary schüttelte angewidert den Kopf.

„Sie können überhaupt nicht beurteilen, wie ich mich fühle. Wagen Sie es deshalb auch nicht, mich zu verurteilen“, meinte sie etwas leiser als zuvor und schlang die Arme fester um sich.

Unschlüssig trat der junge Mann von einem Fuß auf der schneefreien Straße auf den anderen. Er hatte ihre Pläne genauso durchkreuzt wie sie seine. Inzwischen hatte er seine absurde, überstürzte Idee, sich das Leben durch einen freiwillig herbeigeführten Unfall mit dem Auto, bei dem er in der Salzach landen würde, zu nehmen, aufgegeben. Jetzt konnte er nicht einfach weiterfahren und die offensichtlich verzweifelte Mary ihrem Schicksal überlassen. Obwohl er sie nicht kannte, fühlte er sich für ihr Wohlergehen verantwortlich. Seine Gutmensch-Gene waren zwar nicht sehr ausgeprägt, aber ein wenig Moral bewohnte sogar seine dunkle Seele. Ob er wollte oder nicht: Diese Begegnung hatte ihre Schicksale miteinander verwoben. Wenn er sie jetzt springen ließ, würde Blut an ihm kleben. Er wäre ein Mörder, auch wenn er niemanden mit seinen eigenen Händen getötet hatte!

„Dann weihen Sie mich ein“, forderte Charly sanft, aber bestimmt.

„Als ob Sie das wirklich interessieren würde“, bemerkte sie abfällig.

„Ich muss nicht unbedingt hier in der Kälte herumstehen und mit Ihnen diskutieren! Eigentlich sollte ich längst bei meiner Familie im Warmen an einem reichlich gedeckten Tisch sitzen und mir den Bauch vollschlagen oder den endlosen Monologen meines fehlerlosen Bruders über sein perfektes Berufs- und Privatleben lauschen. Warum bin ich also noch hier?“

„Sie wollen nur nicht nach Hause. Ihr Bruder scheint ein echter Kotzbrocken zu sein.“

„Ach, Sie kennen ihn?“

„Zum Glück nicht.“ Sie schmunzelte.

Er freute sich, dass sie ihren Humor wiedergefunden hatte, wobei er eigentlich gar nicht wusste, was oder ob sie überhaupt etwas witzig fand. Vielleicht steckte in ihr die ernsteste und traurigste Seele des gesamten Planeten. „Ich warte“, drängte er.

Eventuell versteht er meine prekäre Situation und lässt mich springen!, versprach sich Mary von ihrem Geständnis.

Ein kurzer Abriss ihres trostlosen Daseins würde ihm hoffentlich vieles erklären, obwohl er so aussah, als ob über ihm stets die Sonne schien. Probleme kannte er wahrscheinlich gar nicht: Ein Kratzer im wohl polierten Lack seines Protzschlittens war vermutlich das schlimmste Übel, das ihm je widerfahren war. Vielleicht hatte ihn eines Tages auch seine aktuelle Freundin erwischt, als er sich am engen Rücksitz des Porsches mit einer anderen vergnügt hatte. Aber all das waren keine echten Probleme! Sie hingegen war ein Einzelkind und hatte ein inniges Verhältnis zu ihrer Familie, die genau genommen nur aus ihren Eltern bestand. Der Rest der Verwandtschaft stand ihr nicht besonders nahe. Ihre Mutter hatte sich an genau dieser Stelle erfolgreich das Leben genommen, als Mary drei war. Seither plagten ihren Vater furchtbare Schuldgefühle und er hütete seine Tochter wie einen kostbaren Schatz. Seit diesem tragischen Vorfall lebte der trauernde Michael Richter monogam: Sein einziges Kind wurde für die nächsten zwanzig Jahre zur einzigen Bezugsperson. Im August hatte der erst Zweiundfünfzigjährige seine Augen für immer geschlossen. Der Krebs hatte schlussendlich doch gesiegt.

Wieder einmal triumphierte der Tod über das Leben.

Bisher hatten die beiden immer gemeinsam Weihnachten verbracht, doch dieses Mal war sie allein und ihr war nicht nach Feiern zu Mute. Das Haus gleich neben dieser Brücke fühlte sich trotz des festlichen Dekors, Keksen und schon geschmückter Tanne leer an. Von Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung getrieben, wollte Mary deshalb springen.

„Oh.“ Dieser Ton – eine Mischung aus Überraschung und Mitleid – kam als einziger aus seinem Mund. Eine Weile standen sie sich in der kühlen, klaren, hellen Vollmondnacht schweigend gegenüber, ehe Charly die Stille durchbrach: „Dann wollen Sie also diese zweifelhafte Tradition fortsetzen und Ihrer Mutter in die eisigen, reißenden Fluten folgen. Sie halten sich vielleicht für mutig, aber in Wirklichkeit sind sie einfach bloß schwach und verachtenswert. Nur Feiglinge stellen sich ihren Problemen nicht“, urteilte er streng und richtete somit gleichzeitig gnadenlos über sich selbst.

Marys Augen weiteten sich. Sie fühlte sich von diesem Fremden beleidigt und angegriffen. „Probleme nennen Sie das?!“, giftete sie und ihre dicken Wangen zogen sich vor Zorn nach oben, bis ihre großen Kulleraugen nur noch bedrohlichen, schmalen Schlitzen glichen, „Klar, dass so ein Schnösel wie Sie das nicht versteht! So lange kein Kratzer den Porsche versaut, ist die Welt doch in Ordnung, oder? Außerdem tragen Sie teure Klamotten, sind attraktiv und schlank. Jedes Problemchen lässt sich in Ihrer Welt doch mit Geld oder einem charmanten Lächeln lösen! Bei mir ist das anders, völlig anders: Ich kann mir nicht besonders viel leisten, bin hässlich und fett!“

Was sollte ein Mann darauf erwidern? Zugeben, dass sie Recht hatte? Sie war weder recht hübsch, noch schlank und keinesfalls stilvoll. Durfte man das ehrlich aussprechen?

Da Charly nur selten ein Blatt vor den Mund nahm, entschied er sich für die unsanfte Wahrheit: „Tja, sie haben Recht. Dünn sind Sie wirklich nicht, aber manche Typen bevorzugen füllige Mädchen.“

Mary stand der Mund offen. Ihre weinroten Lippen formten ein überraschtes, ersticktes, lautloses Ah. Der Kerl besaß Mut!

„Sie stehen darauf, Frauen zu beleidigen, hm?“

Doch sie war ihm nicht böse, denn Mary sprach auch immer ungeniert aus, was sie dachte. Egal, wie sehr ihr Gegenüber ihre Ehrlichkeit schmerzen mochte. Lügen flogen früher oder später sowieso auf. Er war offenbar ihr männliches Pendant.

„Sind Sie etwa einer von denen, die dicke Frauen mögen?“, fragte sie interessiert.

Er verzog angewidert das attraktive Gesicht.

„Eben“, stellte Mary bitter fest, „Mein Liebesleben ist nicht enttäuschend, sondern seit Langem gar nicht mehr existent.“

Schlagartig wurde Charly wieder bewusst, warum er vor Kurzem einen ähnlich radikalen Entschluss wie Mary gefasst hatte: Sein Liebesleben war deprimierend. Es mangelte ihm zwar nie an Gelegenheiten oder willigen Damen, aber die eine, die er unbedingt wollte, wollte ihn nicht mehr. Das war tragisch – jetzt, momentan. Aber sollte er deswegen einer anderen Kandidatin die Chance nehmen, vielleicht doch irgendwann erneut sein selbstverliebtes, egozentrisches Herz zu erobern? Auch wenn er derzeit bezweifelte, dass jemandem diese große Aufgabe je gelingen würde, konnte er doch den Rest seines Lebens schöne Stunden mit hübschen Frauen verbringen. Er würde definitiv Spaß haben!

Das waren jedoch nicht die Hauptgründe, weshalb er gekniffen hatte. Charly war einfach zu feige gewesen, um das Gaspedal voll durchzudrücken, bis ihn kein Hindernis mehr aufhalten konnte.

„Manche Männer mögen mollige Frauen.“ Es fiel ihm sichtlich schwer, dieses abscheuliche Adjektiv über die Lippen zu bringen und wiederum verzog er dabei abgeneigt das Gesicht.

„Oh, ja!“, redete sich Mary in Rage, „Natürlich, wenn sie sich davon Vorteile versprechen: einen guten Job zum Beispiel! Als mein Ex keinen Sex mit mir haben wollte, hätte ich eigentlich merken müssen, dass er garantiert nicht meinetwegen oder aufgrund meiner üppigen Figur, die er angeblich so anziehend fand, mit mir zusammen ist. Tja, manchmal bin ich eben zu blond, um zu durchschauen, was alle anderen längst wissen.“ War es überhaupt gerechtfertigt, Gerald als ihren Ex zu bezeichnen, obwohl es nie zum Äußersten gekommen war?, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn nicht, lag ihre letzte Beziehung nämlich erschreckender Weise noch weiter als drei Jahre zurück. Als sie sechzehn war, ging sie fast zwei Jahre lang mit Richard aus, bis er für sein Medizinstudium nach Wien übersiedelte und der Kontakt langsam abbrach. Was wohl aus ihm geworden ist? Ohne Zahnspange küsst es sich bestimmt besser und unter den vielen Pickeln befand sich garantiert ein bildhübsches Gesicht. Sein Charakter war ohnehin vorbildlich. Ein großes Herz hatte der angehende Herr Doktor ja schon immer besessen! Sie schmunzelte bei dem Gedanken an den blonden Hünen im weißen Kittel mit dem nun bestimmt perfekten Zahnpastastrahlelächeln und dem freundlichen Antlitz. Brad Pitt in seinen guten Jahren konnte ihrem Richard heute garantiert nicht mehr das Wasser reichen – weder optisch noch fachlich!

„Mag sein“, urteilte er kühl, „Trotzdem sind das keine ausreichenden Gründe, um sich zu töten.“ Jetzt klang er heuchlerisch wie sein Mathe-Lehrer im Internat, der die meisten Jungs – Charly inklusive – nachsitzen ließ, weil sie heimlich die Mädchen in den Umkleidekabinen beobachtet hatten, obwohl jeder genau wusste, dass Professor Stiel demselben Vergnügen frönte.

Charly wunderte sich über ihr dümmliches Grinsen. Sie hatte seinen unsensiblen Einwand offenbar unerwartet gelassen aufgenommen. Das bestärkte ihn. Lässig fuhr er sich durch seine nach hinten gekämmte und so gebändigte, dunkle Lockenpracht, ehe er vorschlug, sie die paar Meter zu ihrem Haus zu begleiten. Dann würde er noch einige Kilometer weiter fahren, bis er das Feriendomizil seiner Familie erreichte – spät, aber doch.

„Sie wollen in den Nachbarort? Wieso fahren Sie dann diesen Umweg? Die Bundesstraße ist doch problemlos passierbar! Schnee ist derzeit noch Mangelware.“ Mit dem Kopf deutete Mary in die Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war, bevor er abgebogen war. Abschätzend löcherte sie ihn mit intensivem, zweifelndem Blick.

„Äh…ahm..ich habe Sie hier am Brückenrand stehen sehen.“

„Wow, haben Sie Adleraugen? Der Vollmond erhellt die Nacht heute zwar, aber so weit konnten Sie bestimmt nicht sehen! Also?“ Als er nicht antwortete und stattdessen schweigend an ihr vorbei auf die leere, fast schneefreie Straße starrte, fuhr sie herrisch fort: „Na, los! Sie kennen meine Geschichte! Jetzt will ich Ihre hören…Moment mal, nachts kann man nicht einmal die schönere Umgebung am Umweg genießen und im Winter sowieso nicht mit offenem Verdeck fahren. Was hat Sie dazu bewogen, abzubiegen?“ Nachdenklich senkte sie ihre stark geschminkten, schweren Lider.

„Los! Ich bringe Sie heim, damit auch ich endlich nach Hause kann“, wich er ihr aus und steuerte auf das einsame Haus unweit der Brücke zu.

Mary war zwar blond, naiv und leichtgläubig, aber definitiv nicht doof und plötzlich keimte in ihr ein schlimmer Verdacht auf. „Sie hatten dasselbe vor wie ich.“

„Oh, nein!“, erwiderte er mit einem kehligen Lachen ohne seine Schritte zu bremsen. Das war nicht einmal gelogen. Ungeduldig und verzweifelt auf eine umfassendere Antwort wartend sah Mary ihm zu, wie er stolz und erhobenen Hauptes an ihr vorbeimarschierte. Doch da folgte nichts mehr. Vielmehr entfernte sich der Unbekannte immer weiter von ihr! Das bestärkte ihre Vermutung und erzürnte sie zugleich, denn dieser heuchlerische Moralapostel hatte ihren Plan, ihrem erbärmlichen Leben ein verfrühtes, längst überfälliges Ende zu setzen, vereitelt. Wegen ihm atmete sie immer noch. Sie hätte längst tot am Grund des Flusses liegen sollen!

„Feigling!“, rief sie ihm hinterher.

Charly blieb abrupt stehen, drehte sich um und kam eilig zurück. Mit jedem Schritt nahm sein Zorn zu. Kurz vor Mary machte er Halt, sodass sie erschrocken einen Tritt zurück wich.

„Sie sollten mir eigentlich dankbar sein!“ Drohend fuchtelte er mit erhobenem, rechtem Zeigefinger vor ihrem schreckstarren Gesicht herum. „Ich habe Sie vor einer riesigen Dummheit bewahrt! Und ja, ich hatte das Gleiche vor, aber ich habe es nicht getan, weil ich mutig bin. So mutig, mich dem Leben mit all seinen Schattenseiten zu stellen! Nach jedem Tief kommt ein Hoch und darauf warte ich jetzt, während ich mich durch den alltäglichen Schlamassel kämpfe. Sie sollten meinen Rat beherzigen. Wenn wir erst einmal in einem Sarg unter der Erde liegen und verfaulen, können wir diese Chance nicht mehr nützen. Warum sollen wir nicht irgendwann wieder glücklich werden? Weshalb soll ich keine neue Frau finden? Bis dahin versüße ich mir die Wartezeit eben mit ein paar Schönheiten. Ich werde mein Leben wieder genießen! So wie früher, vor Babs.“

„Sie wurden verlassen?“, murmelte Mary ungläubig, denn für sie war es unvorstellbar, dass auch attraktive Menschen Beziehungsprobleme plagten und Enttäuschungen hinnehmen mussten.

„Oh, ja“, knurrte er bedrohlich leise, „Ich wollte sogar heiraten. Bevor ich in unsere Wohnung gefahren bin, war ich beim Juwelier.“ Er klopfte auf seine linke Jackentasche. „Sie möchten gar nicht wissen, wie viel mich dieser Ring gekostet hat, aber das war sie mir wert…bis ich Babs auf unserem Küchentisch, an dem wir heute Morgen noch gemütlich gemeinsam gefrühstückt haben, mit meinem besten Kumpel Andi erwischt habe. In flagranti, versteht sich. Ich erspare Ihnen und mir die ekelhaften Details! Welch Klischee, hm? Ich wollte mich wirklich mit Babs niederlassen – für immer und ewig, was eigentlich total untypisch für mich ist. Sie war meine längste Beziehung. Es sah alles so gut aus für uns beide. Wir waren ein grandioses Team.“

Mary fiel auf, dass er in seinem Monolog nicht erwähnt hatte, dass er sie liebte. Tat er das denn nicht oder war im Moment die Wut über den Verrat größer als die Zuneigung?

„Wenn meine Eltern erfahren, dass es vorbei ist, werde natürlich ich schuld daran sein – wie immer! Wissen Sie, ich bin das schwarze Schaf in meiner Familie. Alle, auch die kleinen Kinder meines perfekten Bruders sind großartig, makellos, bezaubernd. Ich bin der Taugenichts. Vor allem mein Vater hätte sich einen anderen Sohn gewünscht, einen zweiten Christian. Stattdessen hat er mich am Hals. Also wollte ich das Problem für ihn beseitigen. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Im gleichen Moment bereute er seinen Gefühlsausbruch, denn nun wusste sie zu viel über ihn. Er war angreifbar, was für eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses fatale Konsequenzen haben konnte. Charly musste sicherstellen, dass sie ihr vorlautes Mundwerk hielt. Sofort wog er rational sämtliche Möglichkeiten ab, um seinen Fehler zu beheben: Entweder er ließ sie springen, was er niemals mit seinem Gewissen verantworten könnte, oder er bestach sie. Aber war ein Mensch, der sich vor ein paar Minuten noch das Leben nehmen wollte, überhaupt an Geld interessiert? Wenn er sie allerdings mit zu seinen Eltern nähme, würde er drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: So könnte er kontrollieren, wem sie was erzählte; sichergehen, dass sie nicht wieder versuchte, sich zu töten; und seine unerwartete Trennung von Babs wäre über die Feiertage nicht das allgegenwärtige Gesprächsthema.

Ihre mitleidsvolle Miene verwandelte sich bald in einen bedauernden, zornigen Gesichtsausdruck. Charly trat vorsorglich einen Schritt zurück, bevor das verbale Unwetter losbrach. Nach einer wüsten Welle der Beschimpfungen folgte: „Sie wollten dasselbe tun wie ich! Wieso halten Sie mich dann auf?! Idiot! Wie dumm muss man eigentlich sein, so eine Gelegenheit verstreichen zu lassen! Gemeinsam wäre es doch viel einfacher gewesen!“ Ihre Vorhaltungen endeten abrupt, als sich ein lauter werdendes Motorengeräusch näherte. Schon tauchte auf der benachbarten B 311 ein dunkler Kombi auf. Wenn der oder die FahrerIn jetzt auf die kleine Seitenstraße abbog, würden die beiden frierenden Menschen im Lichtkegel des Porsches ein seltsames Bild abgeben. Würde es sofort auffallen, dass sich die zwei noch bis vor Kurzem das Leben nehmen wollten?

Natürlich würden die beiden Passanten so dicht neben dem kaputten Brückengeländer skeptische Blicke auf sich ziehen. Erst recht, wenn man im Dezember nachts so leicht bekleidet in der Gegend herumstand wie Mary. Unter ihrem cremefarbenen, nicht wintertauglichen Trenchcoat trug sie nämlich nur ein enges tiefschwarzes Abendkleid, das nicht einmal bis zu ihren massigen Knien reichte und daher auch ihre fülligen Unterschenkel nicht bedeckte. Ansonsten schmeichelte die samtig glänzende Robe ihrer runden Figur. Es zauberte eine zarte Silhouette. Die dunkle Netzstrumpfhose machte es sogar irgendwie sexy.

Mary konnte ihr übertrieben heftiges Atmen hören und sah die weißen Rauchwölkchen aus ihrem Mund aufsteigen – so pulsierend wie der Dampf aus einer Lokomotive. Charly hingegen hielt seinen Atem an, da er fürchtete, ertappt zu werden, weil ihn die kleinen Wolken verraten könnten, was – wie er wusste – völlig verrückt war. Erst als das Auto nicht abbog, sondern auf der entfernten Bundesstraße geradeaus weiterfuhr, holte er erleichtert Luft.

Marys Brust hob und senkte sich ebenso erlöst. Der tiefe Ausschnitt betonte ihre zwei bestgeformtesten Körperstellen. Derart wohlproportionierte, üppige und vor allem höchstwahrscheinlich echte Brüste hatte Charly noch nie gesehen, obwohl ihm schon vieles vor Augen und auch in den Händen gelegen war.

„Starren Sie etwa auf meinen Busen?“, fragte sie ruppig, „Das ist wieder so typisch! Kein Kerl will mit mir schlafen, weil ich fett bin, aber in meinen Ausschnitt glotzt jeder! Der Schwachkopf in der Bäckerei hat mich das letzte Mal sogar gefragt, ob er meine Krapfen anfassen darf!“

Charly konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, hob den Blick und sah direkt in ihr vor Zorn gerötetes Gesicht. Besonders ihre pausbäckigen Wangen hatte die Kälte verfärbt.

„Und?“

„Was und? Wenn er mich je auch nur mit dem kleinen Finger berührt, schiebe ich ihm einen Kornspitz in den Hintern. Das habe ich ihm auch so gesagt! Jetzt traut er sich nicht mehr, mich zu bedienen, ha! Weichei!“

„Sie können Männern manchmal Angst einjagen, hm? Vielleicht würde es beziehungstechnisch klappen, wenn Sie ein wenig netter wären.“

Sprachlos schnappte Mary nach Luft. Sie ärgerte sich über seine maßlose Frechheit. „Sagt ein Mann, der ungeniert auf meine Brüste gafft. Das ist auch nicht gerade höflich, aber naja: Ihr Kerle dreht euch sowieso immer alles, wie ihr es gerade braucht. Wir hätten schon vor Minuten gemeinsam springen können, aber Sie ziehen es ja vor, mich zu beleidigen.“

„Jetzt geht das wieder los“, seufzte er theatralisch, „Eigentlich wollte ich Ihnen eben sagen, dass Sie großartig aussehen, wirklich.“

Mary beäugte ihn misstrauisch. Meinte dieses Sahneschnittchen sein Kompliment tatsächlich ernst? Vielleicht log er wirklich nicht, denn heute fühlte sie sich ausnahmsweise einmal attraktiv. Sie hatte sich für diesen besonderen Tag – das Datum ihres Todes – extra schick gemacht. Sie wollte schön sein, wenn man sie fand.

„Ich finde Ihre Schuhe zauberhaft“, fuhr Charly fort. Wenn man von Kindesbeinen an dazu erzogen wurde, einer Frau nicht zuerst in die Augen oder auf das Dekolleté zu starren, sondern auf ihr Schuhwerk zu achten, konnte man diese sorgfältig antrainierte Gewohnheit mit der Zeit nicht einfach ablegen.

Die nachtschwarzen Plateau-Pumps mit den dünnen zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen streckten ihre kurzen, fülligen Beine optisch. Die silbernen und weißen Strasssteinchen glitzerten und funkelten auf den edel wirkenden, aber für Expertenaugen eindeutig billigen Tretern und bildeten einen erstklassigen Kontrast zu ihrer dünnen, dunklen, ebenfalls schimmernden Strumpfhose.

„Hatten Sie heute Abend ursprünglich etwas anderes vor und haben sich dann kurzerhand umentschieden?“, erkundigte er sich und dachte dabei an seinen eigenen dummen, überstürzten Entschluss.

Ein dröhnendes Lachen drang aus ihrer Kehle. „Quatsch! So etwas überlegt man sich doch lange und gut! Man springt nicht einfach so aus einer Laune heraus! Wollten Sie das etwa?“ Die Frage war rhetorisch gemeint, aber Charly fühlte sich ertappt und starrte auf den finsteren Fluss hinaus, in dem das Mondlicht auf den sanften Wellen glitzerte. Mary musterte ihn skeptisch. Doch bevor sie ihr Misstrauen in Worte fassen konnte, meinte er lapidar: „Sie wollten schön sein.“

Die Blondine stimmte dieser Feststellung nickend zu. „Ich wollte einmal in meinem bedauernswerten Dasein richtig attraktiv sein und der Nachwelt so in Erinnerung bleiben. Ich habe fast mein halbes Monatsgehalt in dieses Outfit investiert.“

„Das hat sich gelohnt“, entgegnete er charmant grinsend und zwinkerte ihr frech zu.

„Danke“, hauchte sie leise und vollführte einen majestätischen Knicks.

„Sich in einem solchen Outfit zu töten, wäre total absurd. Das muss man Leuten vorführen.“

„Das werde ich – den Menschen, die mich finden.“

Charly stieß einen triumphierenden Laut aus: „Ihr Plan ist also doch nicht völlig durchdacht.“

Mary setzte eine fragende Miene auf und legte den Kopf schief.

„Wenn Sie dort hinunter hüpfen, werden Sie garantiert keine schöne Leiche sein. Auch wenn dieser Winter nicht sonderlich schneereich ist, ist das Wasser trotzdem eiskalt. Falls Sie nicht der immens harte Aufschlag tötet, werden Sie erfrieren, bevor Sie ertrinken. Ihr Körper wird sich in der Salzach so furchtbar anfühlen, wie wenn tausend Messerstiche Ihr Fleisch durchbohren. Ihr Gesicht wird schmerzverzerrt und vom Todeskampf entstellt sein. Wahrscheinlich werden die dunklen Fluten Sie auf ewig verschlucken. Niemand wird Sie jemals finden.“ Mit einer dramatischen Geste deutete auf den friedlichen Fluss unter ihnen. „Oder Ihr Korpus wird vielleicht doch eines Tages an Land gespült. Dann wird das aber kein herrlicher Anblick sein: hässlich, furchteinflößend und abstoßend wie Wasserleichen nun eben einmal ausschauen. Ihre traumhaften Schuhe tragen Sie bestimmt nicht mehr an den Füßen, von denen sich schon die Haut in Fetzen lösen wird. Ihr Kopf wird riesig sein, igitt!“ Es schauderte ihn.

„Haben Sie denn schon einmal eine gesehen? Eine Wasserleiche, meine ich?“, erkundigte sich Mary angewidert.

Er nickte ebenso angeekelt. „An der Côte d’Azur wurde so ein Ding mal an unseren Privatstrand gespült, nachdem die Leiche wochenlang durchs Mittelmeer getrieben war. Meine Schwägerin wollte nach diesem schaurigen Anblick tagelang nichts essen…aber, naja…genau genommen will sie eigentlich nie etwas essen. Dauerdiät, quasi.“ Er wollte noch hinzufügen, dass dieses Problem wohl jede Frau kannte. Doch nach einem Blick auf Marys üppige Rundungen verkniff er sich diesen Kommentar.

Da die Blondine schwieg, dachte sie vermutlich über seine Argumente nach, während er unruhig von einem Fuß auf den anderen trippelte. Langsam fuhr ihm der Frost in die Glieder. Konnten sie diese sinnlose Diskussion nicht bald beenden und jeder ging seines Weges? Aber dann tat sie sich vielleicht doch etwas an, sobald er in seinen Wagen gestiegen war und die erste Kurve passiert hatte. Wenn er sie im Rückspiegel nicht mehr beobachten konnte, sprang sie höchstwahrscheinlich sofort in die nasse, kalte, dunkle Tiefe. Konnte er das verantworten? Sein Vater hätte sie schon längst springen lassen, denn eine Dicke weniger war in seinen Augen eine Person weniger, die den Hunger leidenden Menschen der Dritten Welt das spärliche Essen wegfraß – so dachte Ludwig Rudolf. Sein jüngster Sohn war jedoch nicht ganz so herzlos und kühl. Er rang mit seinem Gewissen, ob er sie allein, einsam und verzweifelt hier zurück lassen durfte. Wollte er das überhaupt?

„Dann nehmen wir einfach Ihr Auto!“

Ihr Vorschlag riss ihn zu abrupt aus seinen Gedanken. „Was? Ich soll Sie heimfahren? Ausgezeichnete Entscheidung!“

Sie runzelte ihre Stirn und ihr Groll schlug sich auch in ihrer Stimme nieder: „Nein! Wir setzen uns jetzt in Ihren Wagen, dann fahren wir ein paar Meter rückwärts, steigen aufs Gas und gehen gemeinsam unter. Das Auto schützt unsere Körper bestimmt besser und wir bleiben länger gut konserviert. Wenn Sie sich nicht trauen, fahre ich. Ich wollte schon immer Mal einen Porsche lenken. Dann würde mein mieses Dasein wenigstens mit einem Highlight enden.“ Ein verrücktes, aber seliges Lächeln breitete sich auf ihrem runden Gesicht aus.

Dieser wirre Ausdruck ängstigte Charly. Er entschloss sich, seine Taktik zu ändern, ehe er mit der Tür ins Haus fiel. „Wollen wir uns nicht langsam duzen? Wir teilen etwas, was die meisten hoffentlich nie erfahren müssen. Ich bin offiziell Karl, aber alle nennen mich Charly.“

Er streckte ihr seine große, kräftige Hand entgegen. Sie musste einige Schritte auf ihn zu gehen, um sie zu ergreifen. „Ich bin Maria – also Mary“, stellte sie sich vor, „Das müssten wir eigentlich begießen. Ach, egal! Ein Wangenküsschen sparen wir uns auch. Wozu noch diese Förmlichkeit? Kann’s endlich losgehen? Wer fährt? Du oder ich, Karli?“

„Charly, bitte! Ich verabscheue andere Kosenamen und derartig altmodische mag ich schon gar nicht.“

„Ach, die letzten zehn Minuten deines kurzen Lebens wirst du das schon verkraften. Mir gefällt Karli!“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor ihren üppigen Brüsten.

Also gab er seufzend nach, um sie zu besänftigen: „Wenn du mich nicht küssen willst, in Ordnung. Normalerweise reißen sich die Frauen darum, mir möglichst nahe zu kommen und sich an diese Position dann für lange, lange Zeit zu klammern. Das Begießen sollten wir allerdings nachholen. Meine Eltern laden stets zu einer großen Familienweihnachtsfeier. Dort wollte ich eigentlich heute hin. Begleite mich doch!“

Diese Aufforderung glich mehr einem Befehl als einem Angebot. Momentan fühlte sich Mary überrumpelt, weil dieser Unbekannte, der ihr dennoch irgendwie vertraut vorkam, so abrupt ihre Pläne durchkreuzte, doch dann erwachte das Luxusweibchen, das tief in ihr schlummerte und schon viel zu lange geruht hatte. Wenn dieser Typ einen Porsche fuhr, wie reich musste dann erst seine Familie sein? Wie ein Selfmade-Millionär wirkte Charly nämlich keinesfalls. Er sah eher nach einem faulen Genießer aus. Sein Familiensitz glich daher vermutlich einer Villa und man bewohnte dort anstatt von Zimmern geräumige Suiten. Auch wenn die 25-Jährige ihrem tristen Leben eigentlich ein Ende setzen wollte, könnte sie sich zum Abschluss doch noch etwas gönnen und sich so richtig amüsieren. An Silvester starb es sich garantiert stilvoller. Während der ausgiebigen Knallerei um Mitternacht würde ein Schuss gar nicht auffallen. Aber woher sollte sie eine Waffe nehmen? Naja, dieses Problem ließ sich bestimmt auch irgendwie lösen.

Sie sah ihren Gönner so unschuldig wie möglich an und willigte auf seinen Vorschlag ein. Erstaunt, aber sichtlich erleichtert stolzierte er auf die Beifahrerseite seines protzigen Wagens und hielt ihr die Tür des silbernen Flitzers galant auf. Nachdem er den auf dem Sitz liegenden Timer eilig im Handschuhfach verstaut hatte, ließ sie sich protestlos auf das komfortable Leder sinken.

„Ich darf also nicht fahren“, stellte sie grimmig fest.

„So sehr vertraue ich dir noch nicht.“ Schmunzelnd schloss er kavaliersgleich die Autotür.

Als Charly schließlich neben ihr saß, sagte sie bedeutungsschwer: „Das war Schicksal, dass wir uns jetzt und hier begegnet sind. Immerhin hättest du auch die Autobahnstrecke wählen können, dann wäre ich nun am Grund der Salzach anstatt in diesem Bonzen-Mobil. Schick, schick übrigens.“

KAPITEL 2

Der Porsche konnte seine ganze Geschwindigkeit gar nicht erst entfesseln, denn schon nach wenigen Metern hielt Charly vor Marys Eingangstür an. Vorsichtshalber begleitete er sie ins Innere ihrer Bleibe, damit sie nicht heimlich nach dem erstbesten Messer in der Küche griff und ihren Plan doch noch in abgeänderter Form vollendete.

Das hatte er nun davon – wäre er nur im Auto geblieben. Er war Ken, der im Barbie-Haus einer leibhaftigen, etwas übergewichtigen, blondierten Puppe gefangen war. Charly saß auf einem vergoldeten, zitronengelben Hocker, der am Fußende ihres riesigen Himmelbettes platziert war. Skeptisch betrachtete er den seidig weichen Stoff der durchsichtigen nachtschwarzen Gardinen, die an alle vier rustikalen, dunklen Eckpfeiler der pompösen Schlafmöglichkeit gebunden waren. Die pinken Wände erinnerten ihn sowohl an ein Mädchenspielzeughaus als auch an ein billiges Bordell. Er war hier der Gast, der nervös nahe der Bettkante saß und darauf wartete, dass er für sein Geld endlich etwas geboten bekam. Das dumpfe Dämmerlicht der Nachttischlampen rief einige Assoziationen hervor, die beiden grell beleuchteten Stufen, die zur Liebesstätte führten, muteten bordellhaft an. Gleichzeitig musste Charly an ein Fernsehstudio denken. Beides hatte schon mehrmals besucht. In dem flauschigen, wolkengleichen Teppich, auf dem das prunkvolle Bett thronte, ließ er seine kalten, lila besockten Füße kuschelnd verschwinden. Der Rest des rustikalen Holzbodens ringsherum glänzte schwarz und kühl. Fröstelnd erinnerte sich Charly an die Fluten, in die sich seine Gastgeberin noch vor Kurzem hatte stürzen wollen.

„Gefällt es dir?“, wollte Mary wissen, weil sie merkte, wie er ihr Schlafzimmer inspizierte. Während sie genügend Kleidung in ihren auf dem großen Bett platzierten pinken rollbaren Koffer packte und regelmäßig zwischen ihrem hohen dunklen Schrank und dem prunkvollen Schlafplatz hin und her eilte, hatte sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtet. Er fühlte sich in ihrem mädchenhaften Märchenzimmer sichtlich unwohl.

Wie viel Kleidung brauchte man bis Silvester? Was würden sie bis dahin alles unternehmen? Welches Outfit sollte sie an ihrem Todestag tragen? Wie wollte sie der Welt in Erinnerung bleiben: als einfaches Mädchen von nebenan, das zufällig durch schicksalhafte Fügung in einer Villa gelandet war, oder als perfekt inszenierte Diva? Tausende Fragen schwirrten der Blondine durch den Kopf. Gerade als sie ihre rosaroten Plüschhausschuhe mit dem süßen Schweinegesicht von den Füßen streifte und in den Koffer packen wollte, drehte er sich zu ihr um.

„Was ist das?“ Seine Miene schwankte irgendwo zwischen Ekel und Belustigung – so, als könnten sich seine Muskeln noch nicht entscheiden, welche Emotion sie ausdrücken wollten.

Peinlich berührt hielt sie mitten in der Bewegung inne. „Meine Hausschuhe“, gab sie grinsend zurück und presste sie schützend an ihre üppigen Brüste.

„Das ist Tierquälerei!“, meinte er.

Mary runzelte die Stirn. „Die sind aus Plüsch. Das ist kein echtes Fell.“

„Das weiß ich doch“, stöhnte er genervt, weil sie ihn offenbar für so blöd hielt – wenn sie bloß wüsste, wer er war! „Trotzdem ist es ein Verbrechen, so scheußliche Dinger herzustellen.“

„Ich mag sie!“, verteidigte Mary ihre rosaroten Lieblinge, „Sie sind soooo flauschig und warm und – nicht zu vergessen – auch verdammt niedlich.“ Dann legte sie ihr Eigentum behutsam in den annähernd gleichfärbigen Koffer.

„Und rosa wohlgemerkt. Das ist wohl der Hauptgrund. Mädchen mögen alles, was pink ist oder glitzert. Ein ungeschriebenes Naturgesetz. Diese schaurigen Fußwärmer passen ideal zu dieser Mischung aus Barbiehaus und Sadomaso-Kammer. Also lass‘ sie hier, wo sie hingehören. Du wirst sie bei mir nicht brauchen. Pack‘ lieber genügend High Heels ein. Das trägt man bei uns. So etwas besitzt du doch?“

Mary starrte ihn vorwurfsvoll an und legte den runden Kopf beleidigt etwas schief. „Natürlich! Ich bin und bleibe eine Frau, auch wenn ich ein bisschen fülliger bin als die Damen, die du näher kennst.“ Widerwillig stellte sie ihre Pantoffeln auf der ebenso flauschigen grauen Decke ab, die sie während des Tages über das zartrosa Bettzeug gebreitet hatte. Dann öffnete sie die Schiebetür des niedrigen Schränkchens, das nah neben ihrem Kleiderkasten stand. Dicht gestapelt drängte sich ihr gesamtes Schuhwerk nach Farbtönen geordnet darin aneinander. Charly war erstaunt – mehr über die unerwartete Ordnung als über die Masse.

„Der Schrein meiner 29 Heiligtümer. Ich vergöttere sie alle.“

Charly ließ einen ruhigen Blick über das teils schrille, teils aber auch recht geschmackvolle Sortiment schweifen: Von Ballerinas über Peep Toes bis hin zu Ankle Boots besaß sie eine umfassende Sammlung, die sich Frauen mit einem gewöhnlichen Durchschnittseinkommen eben leisten konnten. Anderes kannte er aus seinem Umfeld. Die Damenwelt, die er schätzte, zeichnete sich durch einen Hang zu Luxus und größere Quantität als auch Qualität aus, doch Marys spärlicher Bestand entzückte ihn. Charly erhob sich und traf eine Auswahl jener Stücke, die sie mitnehmen sollte.

In einem unbeobachteten Moment stopfte die Blondine ihre heiß geliebten, kindlichen Schweinchen-Hausschuhe dennoch in den Koffer.

Mit seinem linken Zeigefinger folgte Charly seiner Unterlippe und suchte überlegend die Regale ab. Nach und nach reichte er ihr die elegantesten und höchsten Paare. Widerspruchslos packte sie ein, was er ihr in die Hand drückte.

„Wieso interessierst du dich für Schuhe?“, konnte sie ihre Neugier schließlich nicht mehr unterdrücken, „Ich meine, du bist ein Mann. Das ist unnatürlich.“ Sie betonte das letzte Wort abfällig.

„Ach, Familienerbe. Väter prägen uns doch mehr, als wir wollen. Du ähnelst deinem alten Herrn bestimmt auch, oder?“ Als ihm bewusst wurde, was er soeben gesagt hatte, tat es ihm leid, aber die ausgesprochenen Sätze ließen sich nicht so einfach wieder rückgängig machen. Vermutlich hatte er nun erneut Wunden aufgerissen, die noch nicht einmal richtig verheilt waren.

Statt den erwarteten Tränen in ihren Augen breitete sich ein seliges Lächeln auf Marys Gesicht aus, als er sich ihr zuwandte. „Oh, ja. Er liebte Süßes genauso sehr wie ich. Kuchen oder Torten haben in unserem Haus nie lange überlebt.“

Charly wollte soeben anmerken, dass man ihr diese kalorienreiche Vorliebe ansah, konnte sich diese Beleidigung jedoch gerade noch verkneifen. Seine Vernunft hatte sein vorlautes Mundwerk zum Glück rechtzeitig gebremst. Still suchte er weiter. Diesmal dauerte es länger als zuvor, weil die Auswahl an geeigneten Stücken abnahm. Zwei bis drei Paare wollte er allerdings mindestens noch mitnehmen. Mary hatte inzwischen eine eigene Reisetasche nur mit ihrem Schuhwerk befüllen müssen, da kein Platz mehr im Koffer war.

„Dann brauchst du noch Stiefel, weil mit diesen hochhackigen Teilen kannst du im Winter draußen nicht herumlaufen“, erklärte er abschließend oberlehrerhaft.

„Tatsächlich?“, erwiderte sie süffisant und zog beide Augenbrauen amüsiert nach oben, „Wozu nehme ich dann all diese Schuhe, die nicht schlechtwettertauglich sind, mit?“

Das wunderte sie wirklich. Wozu benötigte frau im Dezember dermaßen viele High Heels? Selbst, wenn jeden Tag eine Party, ein Galadinner oder eine sonstige Veranstaltung stattfinden würde, könnte sie ihre Fußbekleidung mehrmals täglich wechseln. Sie hatten mehr als genug eingepackt. Weshalb begriff sie als Frau das und der Mann neben ihr nicht?

„So etwas trägt man bei uns anstelle von Hausschuhen – selbstverständlich immer passend zum aktuellen Outfit. Mein Vater ist in diesem Fall ein wenig eigen. Also, wo hast du deine Stiefel? Ich sehe hier keine. Ankle Boots sind nämlich nicht besonders wintertauglich. Du bist ein Landei. Du musst doch welche besitzen.“

„Im Flur“, antwortete sie knapp.

Charly nickte nur und verließ dann wortlos das Schlafzimmer. Mary blickte ihm belustigt hinterher. Er trug dunkelblaue Jeans und ein weißes Hemd, das er salopp in die Hose gesteckt hatte. Die rote Krawatte hatte er inzwischen gelockert und sie hing nur noch schlaff um seinen Hals. Dieses elegante Accessoire war genauso ein Stilbruch wie die lila Socken. Wollte Charly edel sein oder cool? Musste er jemand anderen darstellen, als er tatsächlich war oder tat er das freiwillig? Liebte er nur den ungewöhnlichen Mix oder war er sich selbst nicht ganz bewusst, wie er sein wollte? Wer war dieser Mann? Er kam Mary unglaublich bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Schon im spärlichen Licht auf der Brücke hatte sie sich eingebildet, ihren vermeintlichen Retter zu kennen. Jetzt, bei starker, elektrischer Beleuchtung hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Ihr fiel jedoch nicht ein, wo sie ihn schon einmal gesehen haben könnte.

Nachdem Mary das letzte Paar Pumps in der etwa zur Hälfte gefüllten schwarzen Reisetasche verstaut hatte, wartete sie ab, bis Charly mit einigen Stiefeln zurückkehrte. Es dauerte eine Ewigkeit. Währenddessen überlegte sie, ob sie für wenige Tage des Verreisens auch wirklich alles Nötige eingepackt hatte: Zahnbürste, Kosmetikartikel jeglicher Art und genügend Klamotten für alle Fälle! Ja, das hatte sie alles dabei. Vorsichtshalber warf sie nochmals einen prüfenden Blick durch ihr Schlafzimmer. Dabei blieben ihre Augen auf der Zeitschrift haften, die auf ihrem Nachttischchen lag. Eine Woche ohne Stars, Mode und Beautytipps wäre der absolute Super-GAU für eine schrille, experimentierfreudige, junge Frau wie sie. Immerhin wollte sie schick und gut informiert abtreten. Eventuell hatte ein Star nur wenige Tage vor ihr das Zeitliche gesegnet. Womöglich traf man sich auf dem Weg nach oben sogar. Wie lange brauchte man wohl für den Aufstieg in den Himmel?

Sie hielt es für eine kluge Idee, das Magazin auch noch mitzunehmen. Weil sie zu bequem war, um zwei Schritte nach links zu gehen, streckte sie sich und hielt sich dabei am noch geöffneten Koffer fest. Tatsächlich erreichte sie die Zeitschrift und griff danach, als ein High Heel unter dem Gewicht, das sie nun beinahe völlig auf den rechten Arm verlagert hatte, nachgab und umkippte. Mary konnte nur unter großer Mühe und Anstrengung verhindern, dass sie mit dem Gesicht auf die Matratze krachte oder sich einen bordeauxrot lackierten Fingernagel abbrach. Offenbar schlummerte in ihren Knien, die sie fest gegen die hölzerne Bettkante drückte, genügend Kraft, um einen Sturz zu vermeiden. Nur das Magazin entglitt ihren Fingern und landete am Boden – unter ihrer Schlafstätte. Genervt stellte Mary fest, dass sie sich nun noch mehr bewegen und verbiegen musste. Sie bereute, vorhin nicht einfach zwei Schritte zur Seite gegangen zu sein. Stöhnend bückte sie sich, ging immer tiefer in die Hocke, bis sie unter ihr Himmelbett spähen konnte. Als sie ihr Lieblingsblatt entdeckte, tastete sie mit der einen Hand ungeschickt danach, während sie mit der anderen das dunkle Holz ihres Bettes umklammerte, um nicht umzukippen und bäuchlings am Teppich zu landen. Diesen humorvollen Anblick gönnte sie Charly, den sie jeden Moment zurück erwartete, nämlich nicht. Sie wollte nicht wie ein gestrandeter Wal zu seinen Füßen liegen.

Endlich bekam sie das Magazin zu fassen und zog es hervor. Erschöpft ließ sie sich dann daneben auf dem flauschigen Teppich nieder. Sie wollte die Zeitschrift gerade zuklappen, weil sie beim Fallen auf einer beliebigen Seite aufgeschlagen war. Blitzartig weiteten sich ihre Augen, als sie einen Blick auf die bebilderte Story warf. Die Geschichte handelte von den Partyeskapaden eines reichen Sprösslings, der sein sorgenfreies Leben mit dem Geld seines Vaters finanzierte. Dieser Kerl übte zwei Berufe aus: Erbe und Sohn. Genau genommen war es vielleicht doch nur ein zeitintensiver Job: ein sein Erbe leichtsinnig verprassender Sohn! Charly, ihr Karli, torkelte ihr breit grinsend und mit glasigem Blick auf den Fotos entgegen.

Jetzt fiel ihr auch wieder ein, warum ihr ihr Retter so bekannt vorkam. In ihrem bescheidenen Häuschen hielt sich der Stammhalter eines millionenschweren Schuhherstellers auf: Charly Rudolf! Nüchtern und ohne weiße Rückstände diverser verbotener Substanzen oder halb verdauter Speisereste auf seinen edlen Klamotten sah er in natura noch viel besser aus als auf den Bildern in der Klatschpresse. Der heißeste Österreicher unter 30 suchte soeben in ihrem Flur nach passendem Schuhwerk für die Feiertage, die man gemeinsam miteinander verbringen würde! Und Mary wusste bereits, dass er wieder Single war. Seine Partymaus Barbara Kirchmaier, das bekannteste Topmodel des Landes, das ebenfalls angeheitert und berauscht auf fast keinem der Bilder fehlte, hatte ihm das Herz gebrochen. Tausende Frauen hassten sie, weil sie ihre perfekte Figur und makellose Schönheit beneideten und alle am liebsten an ihrer Stelle mit Charly zusammen wären. Jede, Mary inklusive, war felsenfest überzeugt davon, nur sie allein könnte ihn aus dem trostlosen Partysumpf befreien und bis an sein Lebensende glücklich machen. Nun war er hier – ohne sein lästiges Anhängsel Barbara!

Mary musste ein euphorisches, hysterisches Quietschen unterdrücken. Diese typisch weiblichen Laute, welche die Kehlen der Damenwelt verließen, sobald sie ein Sexsymbol in anfassbarer Nähe sahen, bekam Charly vermutlich oft zu hören. Mary wollte sich ihre Chance durch eine derartig unnötige Dummheit nicht verbauen. Sie bemühte sich also, still zu bleiben und ruhig zu atmen, um nicht hyperventilierend in seinen starken Armen zusammenzubrechen. Wobei diese Option womöglich durchaus vielversprechend sein könnte.

Bald würde er sie sogar seiner noblen Familie vorstellen! Auf den Gesichtsausdruck des alten Rudolf war sie gespannt. Würde der Patriarch sie noch erkennen? Grinsend versank sie kurz in einem Tagtraum: Sie reichte dem entsetzt dreinblickenden Ludwig die Hand. Er würde sie ausschlagen, oder? Ja, so oder zumindest so ähnlich könnte ihr Wiedersehen ablaufen. Die letzten Tage ihres irdischen Daseins würde Mary noch voll auskosten. Oh, ja! Alles sollte genial werden. Definitiv! Sie würde sich kein Blatt vor dem Mund nehmen und jedem offen ihre Meinung kundtun. Das hatte sie zwar bisher auch immer gemacht, doch in der kurzen, ihr verbleibenden Zukunft würde sie sich noch weniger zurückhalten und keinesfalls um Konventionen scheren.

„Es war nicht einfach, sich in dieser Unordnung zurechtzufinden“, entschuldigte sich Charly vorwurfsvoll, als er erneut ihr prunkvolles Schlafzimmer betrat, „Heißt es nicht, Frauen seien ordentliche Wesen?“

Ertappt klappte Mary hastig die Zeitschrift zu und rutschte einige Zentimeter nach rechts, um das Magazin unauffällig unter ihrem Hintern verschwinden zu lassen. Es gab auch seltene Momente, in denen es vorteilhaft war, kein magersüchtiger Hungerhaken in Größe XXS zu sein. Das war nun einer davon. Immerhin sollte Charly nicht sofort erfahren, dass sie inzwischen wusste, wer er war.

„Manche“, entgegnete sie unsicher und lenkte ab, „Du bist allerdings doch fündig geworden. So chaotisch kann es in meinem Flur also nicht aussehen.“

Charly kam aufs Bett zu und verstaute die vier Paar wärmespendenden Stiefel in unterschiedlichen Farben in der Reisetasche. „Bist du nun in einen Sitzstreik getreten? Willst du etwa nicht mehr mitkommen?“ Als er sie kurz abschätzend musterte, las sie Unsicherheit in seinen braunen Augen.

„Oh, ich freue mich wahnsinnig darauf, mit deiner Familie die Feiertage verbringen zu dürfen.“

Skeptisch beäugte er sie, sagte jedoch nichts. Ihre plötzliche Fröhlichkeit kam ihm komisch vor.

Schwerfällig erhob sich Mary und ließ dabei ihr Lieblingsklatschblatt mit dem Fuß möglichst unauffällig unter ihrem Bett verschwinden. Wer würde es wohl irgendwann entdecken? Was hatte sich bis dahin in der Welt der Reichen und Schönen verändert, während ihr eigenes längst beendet war? Was sollte eigentlich mit ihrem Haus geschehen, wenn sie erst einmal freiwillig den Löffel abgegeben hatte? Darüber hatte sie sich bislang keine Gedanken gemacht. Nicht einmal ein Testament hatte sie aufgesetzt, das ihren spärlichen Nachlass regeln sollte. Genau genommen gab es nichts zu organisieren, denn Erben hatte sie keine. Sie war kinderlos. Ihre einzigen Verwandten waren ihr Pantoffelheld-Onkel und seine alles beherrschende, bösartige Ehefrau. Beide mochte sie nicht besonders. Wahrscheinlich würde sich die gierige Tante Johanna das Haus unter den Nagel reißen und dann so bald wie möglich verkaufen, um an Geld zu gelangen. Nur Bares war Wahres. Was wollte sie mit einem Haus, das saniert, und einem kleinen Gärtchen, das gepflegt werden musste? Sollten sich doch die neuen Eigentümer darum kümmern, nachdem sie ihnen ein nettes Sümmchen entlockt hatte. Innerlich darüber sinnierend, aber äußerlich kichernd half sie Charly, den Reißverschluss der überfüllten Tasche zu schließen.

„Was ist so lustig?“ Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich hatte gerade ein Bild vor Augen: Ich gebe Petrus an der Himmelspforte seinen Löffel zurück. Man muss den Löffel abgeben, verstehst du?“

Charlys Humor zählte zu einer völlig anderen Gattung. „Ich bin eigentlich mitgekommen, um zu verhindern, dass du dir ein Küchenmesser ins Herz rammst oder eine andere schwachsinnige Idee in die Tat umsetzt. Ich dachte eigentlich, dieses leidige Thema wäre endgültig erledigt“, sagte er ernst.

Marys Grinsen fror ein und ihre Miene verdüsterte sich. Sie musste sich entschuldigen und ihn beruhigen, sonst hätte sie in den nächsten Tagen keine einzige ungestörte Minute und somit auch keine Gelegenheit, ihren Plan zu vollenden.

„Sorry, das kam einfach so über mich. Blöder Gedanke! Es wird nicht mehr vorkommen, versprochen!“, antwortete sie überzeugend unschuldig. Um ihm nicht länger in die Augen, die sie förmlich durchbohrten, sehen zu müssen, kümmerte sie sich erneut um ihr Gepäck. Und tatsächlich – mit genügend Gewalt und Verbissenheit ließ sich jeder Reißverschluss schließen. „So, fertig!“, stöhnte sie atemlos und stemmte ihre kräftigen Hände in die üppigen Hüften.

„Gut, dann können wir endlich losfahren“, meinte er erleichtert und spazierte aus dem Zimmer.

„Hey! Muss ich das ganze Zeug alleine schleppen?“

„Tja, der Koffer verfügt über Räder, das heißt man kann ihn rollend fortbewegen. Die Reisetasche ist nicht schwer und wie viel unnützen Kram du in deiner Handtasche unnötig mitschleppen willst, ist allein deine Entscheidung“, rief er ihr aus dem Flur zu.

Erbost schnaubte Mary auf und wartete einige Sekunden, doch Charly kam nicht zurück. „Mistkerl!“, schrie sie ihm hinterher, „Das hätte ich eigentlich gleich wissen müssen: Wer einen Luxusschlitten fährt, hat eine miesen Charakter!“

Weitere Beleidigungen und Verwünschungen murmelnd folgte sie ihm mit all ihrem Gepäck nach unten. Als Mary die alte, hölzerne grüne Haustür hinter sich schloss, wusste sie, dass es das allerletzte Mal sein würde. Nie wieder würde sie hierher zurückkehren. Ein kleiner, wehmütiger Abschiedsschmerz durchzuckte sie.

KAPITEL 3

Er hievte wenigstens das gesamte Gepäck in den Kofferraum. Das war wohl das Mindeste, fand Mary. Immerhin hatte sie alles ganz alleine bis zu seinem Bonzen-Auto schleppen müssen.

„Zu einem Gentleman haben dich deine Eltern nicht erzogen“, kommentierte sie sein knappes Maß an Hilfsbereitschaft kühl.

„Nein, aber die Kindermädchen. Allerdings endet die Kavalierszeit eines Mannes um 23 Uhr. Dann darf man sich bis sechs Uhr morgens so richtig gehen lassen und versaute, unhöfliche, freche Dinge tun. Ach, ich liebe diese paar Stunden.“ Charly strich sich den Saum seiner dunklen Jacke nach hinten, um auf seine große Uhr zu schauen, bevor er den Kofferraum seines silbernen Schmuckstücks sanft schloss. „Jetzt ist es 23:11 Uhr. Tja, Pech für dich.“

„Was ist das? Der Ehrenkodex reicher Erben?“, konterte sie boshaft, „Soll ich mir etwa ein Taxi rufen?“

Einen Moment lang fixierte er sie verdutzt durch das inzwischen dichte Schneetreiben. Der Mond hatte deswegen längst an Strahlkraft verloren. Mary wurde schlagartig bewusst, dass sie sich beinahe verraten hatte, und entschärfte die Situation, denn noch sollte Charly nämlich nicht erfahren, dass sie seinen gesellschaftlichen Status kannte. Womöglich hielt er sie für eine Schmarotzerin, die seine privilegierte Position nur ausnutzen wollte.

„Was ist?! Du wirkst wie ein verwöhnter, selbstverliebter, egoistischer, aber manchmal auch charmanter, vermögender Schnösel. Deine Kleidung deutet darauf hin: alles nur vom Feinsten. Ich sehe vielleicht billig aus, aber ich erkenne Markenklamotten. Außerdem fährst du einen sauteuren Flitzer. Welcher Kerl unter dreißig kann sich so etwas leisten? Entweder man ist selbst reich geworden oder man wurde so geboren. Du erweckst eher den Eindruck eines faulen Sohnes.“

Alles, was sie aus seinem Erscheinungsbild schlussfolgerte, klang logisch. Das Altersargument interessierte ihn näher. „Du denkst, ich bin noch nicht dreißig?“

„Du siehst jung aus“, schmeichelte sie ihm, „Täusche ich mich denn?“

„Neunundzwanzig, gut geschätzt! Im Oktober feiere ich meinen runden Geburtstag“, lobte er sie schmunzelnd, ließ sie jedoch dann einfach so stehen und stieg in seinen Wagen.

„Ich bin übrigens fünfundzwanzig, falls es dich interessiert.“ Mary ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.

Charly wirkte überrascht. Die Blondine sah wesentlich älter aus. Er hatte bisher geglaubt, sie wäre schon in seinem Alter, wenn nicht sogar ein paar Jährchen darüber. Zu viel Make-up konnte Frauen täuschend umgestalten – zum Negativen.

Nachdem sich beide angeschnallt hatten, ließ er den Motor an und der Wagen beschleunigte. Mary verkrampfte sich im edlen Ledersitz, während aus dem Radio ununterbrochen Weihnachtshits tönten.

„Äh, das ist ein Ortsgebiet. Hier gilt eine 50-km/h-Beschränkung“, erinnerte sie ihn so laut, wie ihre ängstliche Stimme es zuließ. Am liebsten hätte sie sich im Sitz festgekrallt, aber sie fürchtete, ihre perfekt gefeilten, langen, lackierten Nägel abzubrechen. Wenn sie schon noch ein paar Tage weiterleben musste, dann wenigstens mit hübschen Fingern. Außerdem wollte sie keinesfalls in einen Autounfall verwickelt werden. In einem Wrack zu sterben oder womöglich darin zu verbrennen, musste wohl zu den grausamsten Todesarten überhaupt zählen.

„Angst?“ Er drehte den Kopf in ihre Richtung und grinste diabolisch.

„Kannst du bitte auf die Straße schauen? Die Sicht ist bei diesem Schneetreiben ohnehin schlecht genug!“, flehte Mary blass. Ihre Stimme piepste panisch.

„Na, dann will ich deinen neu gewonnen Lebenswillen nicht gleich zerstören“, sagte Charly ruhig und drosselte das Tempo.

Mary bedankte sich mit geschlossenen Augen und entspannte sich allmählich wieder. Sie wollte sterben, aber nicht jetzt und schon gar nicht so: eingeklemmt in einem Wagen, der von der Fahrbahn abgekommen, gegen einen Baum geprallt war und eventuell noch Feuer fing. Qualvoll enden wollte sie keinesfalls, doch Charlys Messer-Befürchtung war eine Überlegung wert. Passend zu ihren Gedanken informierte eine männliche Radiostimme gerade, dass nur fünfzehn Minuten Bewegung pro Tag das Leben um drei Jahre verlängern konnten. Zum Glück verabscheute sie Sport!

Eine Weile fuhren sie schweigsam nebeneinander sitzend dahin, bis die Blondine die Stille nicht mehr länger ertrug. „Lass‘ uns ein Spielchen spielen“, schlug sie vor.

Charlys Augenbrauen schnellten entsetzt nach oben, aber er heftete seinen Blick weiterhin starr auf die verschneite Straße. „Bist du Kindergärtnerin oder Volksschullehrerin?“

„Weder noch. Ich arbeite im Cateringservice meines Onkels. Dort bin ich für die Desserts zuständig. Kreativität nützt nicht nur beim Kinderbespaßen, sondern auch beim Torten backen.“

Das bezweifelte Charly aufgrund ihrer üppigen Figur kaum, dennoch lehnte er ab.

„Ok, dann sprechen wir über deine Ex. Wenn dir das lieber ist, gerne. Reden musst du mit mir. Ich hasse Stille! Barbara ist doch deine Ex? Die Beziehung ist gescheitert, oder?“

Müssen tu ich überhaupt nichts!“, stellte er vehement klar, „Du sitzt in meinem Auto. Ich kann dich jederzeit irgendwo absetzen.“

„Oh, das wagst du nicht! Schließlich willst du nicht dafür verantwortlich sein, dass sich eine junge Frau am Heiligabend in einem Wald mit Hilfe einer Strumpfhose oder eines BHs an einem massiven Ast erhängt. Darauf würde sich die Presse stürzen: Weihnachtsdrama im winterlichen Märchenwald! Tragische Schlagzeile, hm? Und wer wäre mitverantwortlich?“

„Das ist Erpressung! Ich halte fest, dass die Waffen einer Frau doch nicht nur ihre wohlgeformten Brüste sind. Manche sind äußerst kriminell veranlagt und bereiten einem ein schlechtes Gewissen.“

„Tja, Pech für dich!“, zitierte sie seine Worte von vorhin.

„Na, gut! Der Klügere gibt nach“, zog er den Sieg doch noch auf seine Seite, „Wie lauten die Regeln? Ich seh, ich seh, was du nicht siehst ist für eine Autofahrt ebenso ungeeignet wie Es fliegt, es fliegt.“

„Ich finde, wir sollten uns besser kennen lernen. Wie willst du deiner Familie erklären, dass du auf einer Brücke eine wildfremde Todesmutige getroffen und sie kurzentschlossen eingeladen hast, die Weihnachtsfeiertage mit euch zu verbringen? Wir müssen mehr über uns wissen – die kleinen Details, die gute Freunde eben voneinander kennen.“

Das klang tatsächlich plausibel.

„Stimmt, man zieht nie unvorbereitet in den Krieg“, gab er zu, „Leg‘ los, meinetwegen. Was interessiert dich an mir?“

Widerwillig kapitulierte er. Hatte er denn eine andere Wahl?

„Was ist deine schönste Kindheitserinnerung?“

Verwirrt legte Charly kurz seine Stirn in Falten. Er hatte eigentlich gedacht, sie wollte seine Lieblingsfarbe, -speise wissen oder herausfinden, welchen Musikgeschmack er hatte, stattdessen stellte Mary ihm eine derart persönliche Frage. Sollte er ehrlich sein und ihr sein Herz und seine Seele öffnen oder unnahbar bleiben? Immerhin kannte er die Frau neben sich überhaupt nicht. Nachdenklich konzentrierte er sich auf die winterliche Straße und umklammerte das Lenkrad fester.

„Ich habe Schuhe mit Absätzen schon früh geliebt. Mama auch, also bin ich als Zwerg, der kaum allein anständig laufen konnte, schon immer mit ihren durchs Haus gestapft. Meine winzigen Füßchen steckten in übergroßen Schuhe, aber mir war egal, dass kein einziges Paar passte. Als sie…“ Mary schluckte und räusperte sich, „…nicht mehr da war, durfte Papa zwar keinen einzigen Schuh wegwerfen, obwohl ich sie nie wieder angefasst habe. Heute lagern sie irgendwo am Dachboden.“

Ihre Offenheit brach das Eis zwischen den beiden Unbekannten.

Charly erkundigte sich: „Jede Frage, die ich stelle, muss ich auch selbst beantworten?“ Das wäre ein fairer Deal.

Sie nickte gedankenverloren und starrte aus dem Fenster. Ein Spiel sollte eigentlich Spaß machen und keine depressiven Stimmungen auslösen. Dennoch fühlte er sich aus irgendeinem Grund, der ihm nicht bewusst war, verpflichtet, ebenfalls aufrichtig zu antworten. Also dachte Charly über seine Kindheit nach. Was war ihm damals Schönes widerfahren? Er hatte stets jedes Spielzeug, das er sich gewünscht hatte, bekommen. Mit seiner Familie hatte er Urlaube an Orten verbracht, von denen normalsterbliche Durchschnittsverdiener nur träumen konnten. Er und sein Bruder testeten Sportarten, welche die meisten Kinder nicht einmal kannten oder gar wussten, dass dieser Spaß überhaupt existierte. Als er seine Erinnerungen durchforstete, fiel ihm nichts wirklich Persönliches, Behagliches oder Behütetes ein. Das stimmte ihn traurig. Offenbar waren angenehme Erinnerungen nicht mit seinen Eltern oder seinem Bruder verknüpft. Durfte das tatsächlich wahr sein? Fühlte er sich seinen Kinderfrauen näher als seiner Blutsverwandtschaft? Ein Ereignis kam ihm nämlich in den Sinn.

„Im Herbst ließen wir im weitläufigen Garten des Anwesens, zu dem wir jetzt fahren, häufig Drachen steigen. Meiner war feuerrot wie das Laub, das am Boden lag oder allmählich von den Bäumen rieselte. Justine, unsere damalige Nanny, war noch sehr jung, äußerst attraktiv und eine unglaublich warmherzige Person. Wenn ich einmal groß wäre, wollte ich sie unbedingt heiraten. Ich weiß noch, wie ich durch die raschelnden Blätter gelaufen bin – an einer Hand führte ich den Drachen, mit der anderen hielt ich mich an Justine fest.“

Obwohl er starr geradeaus schaute, merkte Mary, dass sich ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Jetzt bist du dran. Was möchtest du wissen?“

„Ok.“ Er überlegte kurz, ob ihm etwas ähnlich Philosophisches einfiel. „Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“

„Der Klassiker!“, lachte Mary auf, „Ein solarbetriebenes Radio, damit die Musik niemals verstummt. Wahrscheinlich muss ein solches Teil erst erfunden werden, hm? Oder gibt es so etwas etwa schon? Egal, die Fantasie kennt ja keine Grenzen! Ein Familienfoto, um meine Lieben auch irgendwo am Rande der Welt um mich zu haben. Ah, ja! Und eine Hängematte, die ich zwischen zwei Palmen befestigen kann. So lässt es sich dann leben, oder?“

„Wieso nimmt jeder sofort an, auf einer Karibikinsel oder in der Südsee zu stranden? Auch im hohen Norden existieren Inseln. Ich möchte lieber auf einem eisigen Stück landen.“

„Warum?“, fragte sie verdutzt und runzelte ihre Stirn. Sie konnte diese absolut prekäre Idee überhaupt nicht nachvollziehen.

„Weil es eben nicht Mainstream ist. Ich tanze gerne aus der Reihe. Ich will nicht so sein wie alle anderen. Gut, was nehme ich mit? Den wärmsten Skianzug überhaupt; ein Zelt, in dem man garantiert nicht erfriert; und einen kälteresistenten Schlafsack.“

„Irre“, murmelte Mary unbeeindruckt, „Und was ist mit Essen? Du würdest verhungern auf deiner Eisscholle.“

„Du genauso im Süden. Na, gut. Bei dir könnte etwas gedeihen, aber weißt du wirklich, was genießbar und was giftig ist?“, wandte er ein.

Vermutlich hat er Recht, dachte Mary und machte weiter: „Was bereust du?“

Ohne auch nur kurz nachzudenken, entgegnete er sofort: „Nichts!“

„Nichts?! Das glaube ich nicht.“

„Ich bereue absolut gar nichts“, wiederholte er selbstsicher. Das entsprach der Wahrheit: Charly bedauerte rein gar nichts.

„Ich bereue es, nicht für den Job gekämpft zu haben, den ich um alles in der Welt wollte. Ich habe damals einfach aufgegeben, weil ich gekränkt war. Mein Gegenüber hat mich eingeschüchtert. Eigentlich lasse ich mir nichts gefallen, aber damals…Das war vermutlich der größte Fehler meines Lebens.“

In Charly keimte kurz ein Verdacht auf. Vielleicht bedauerte auch er etwas Ähnliches, doch er unterdrückte diesen Gedanken gleich wieder. Stattdessen log er lobend, um sie nicht zu verletzen: „Das war sehr…aufschlussreich. Dennoch wissen wir immer noch nicht genug übereinander. Du wirst gleich, nein, wohl eher morgen, demnächst…also heute Früh…in ein paar Stunden in ein gefährliches Haifischbecken geworfen.“ Nach einem flüchtigen Blick auf die rot leuchtende Autouhr fuhr er fort: „Wir sind bald da, also machen wir ein kleines Brainstorming über meine Familie.“

In der verbleibenden Fahrzeit erfuhr Mary einiges, was sie bereits aus diversen Klatschzeitschriften kannte, aber auch manches Neue. Christian war Charlys älterer und einziger Bruder und der Liebling seiner Eltern. Alles, was Christian tat, war richtig, klug und perfekt. Nie machte der intelligente, gebildete, verlässliche und verantwortungsbewusste Familienvater Fehler. Charly mochte seinen Bruder zwar, aber wegen dieser idealen Eigenschaften hasste er ihn gleichzeitig auch ein bisschen. Seine unterkühlte, ebenso makellose Ehefrau kannte er bereits seit Jugendtagen. Die beiden hatten entzückenden, aber auch ziemlich nervenaufreibenden, schwer erziehbaren und verwöhnten Nachwuchs in die Welt gesetzt: Den elfjährigen Viktor, der nach seinem Großvater benannt war, und die achtjährige Lena, die eigentlich Magdalena hieß, aber die niemand so rief.

„Die armen Kleinen“, kommentierte Mary, „Kinder nennt man heutzutage doch nicht mehr so…“ Sie suchte nach einem passenden Adjektiv.

„Altmodisch, antiquiert?“

„Ja, genau! Das trifft es ausgezeichnet!“

„Tja, in meiner Familie werden Traditionen noch sehr intensiv gepflegt, egal wie antik sie inzwischen sind“, fuhr Charly fort, „Dann wären da noch meine Eltern: Ludwig und Charlotte. Meine Mutter übernimmt die Rolle der repräsentativen Ehefrau, während mein Vater gerne Macht ausübt und alle anderen sadistisch unterdrückt. Privat und beruflich trifft niemand außer ihm die Entscheidungen. Was Ludwig Rudolf sagt, ist Gesetz! Keiner wagt es, sich ihm zu widersetzen. Das würde einem nicht gut bekommen. Er wird vermutlich eines Tages in seinem Chefsessel sterben, weil er freiwillig diesen Platz in seinem Lebenswerk nie räumen wird.“

„Klingt nach einem Tyrann.“

„Oh, ja! Nur hat niemand den Mut, einen Tyrannenmord zu begehen. Ein Hoch auf die altehrwürdigen Griechen!“ Er hob seine rechte Hand zu einem glaslosen Toast auf die vergangene Hochkultur.

Mary konnte nicht einschätzen, ob er ein Tötungsdelikt ernsthaft in Erwägung zog oder ob das bloß ein Scherz gewesen war. Sie fragte sich für einen Moment, ob es nicht besser wäre, keine Familie zu haben als eine solche Sippe, die von einem despotischen Patriarchen dominiert, unterdrückt und tyrannisiert wurde. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Verhältnisse tatsächlich dermaßen dramatisch waren, wie der gekränkte Sohn sie schilderte. Vermutlich trugen Charlys regelmäßigen Eskapaden auch zu seiner Misere bei.

„Ach, ja! Wir sind alle irgendwie in unser Familienunternehmen integriert. Wir alle, außer meiner Mutter, arbeiten dort, sofern uns Vater gewähren lässt. Christian ist der Juniorchef und Geschäftsführer mit sämtlichen Rechten, die mir, dem schwarzen Schaf, natürlich verwehrt werden, obwohl ich genau genommen dieselbe Position bekleide. Viktor soll den Traditionsbetrieb irgendwann fortführen. Das Sagen hat stets der erstgeborene Sohn, das heißt momentan Christian und später eben Viktor. Lena hätte somit nie eine Chance, ich ebenso wenig – ich bin bloß der Zweitgeborene und noch dazu der typische Verlierer in den Augen meines Vaters. Von meinen noch nicht existenten Kindern will ich gar nicht erst sprechen.“ Missmutig und aggressiv betätigte Charly den Blinker. Dann bog der Wagen links in eine Auffahrt ein.

Sie näherten sich einer riesigen Villa, die in Form und Erscheinungsbild einem toskanischen Anwesen ähnelte. Die Scheinwerfer des Autos spiegelten sich in den hohen, finsteren Fenstern des Erdgeschosses wider und erhellten Teile des Mauerwerks, das von blätterlosen, vereisten Ranken geziert wurde. Mary stellte sich vor, wie herrlich die blühenden, grünen oder herbstlich verfärbten Blätter der Kletterpflanzen das riesige Haus in den anderen wärmeren Jahreszeiten umschlossen und gleichzeitig umschmeichelten.

Charly parkte seinen Porsche neben drei weitere, dunkle, teure Autos. Dann schnallte er sich ab und stieg aus, was für Mary das Zeichen war, es ihm gleichzutun.

Ergriffen und unfähig, sich zu bewegen, hielt sie sich an der geschlossenen Wagentür fest. Sie starrte das prächtige Gebäude angestrengt an, denn das spärliche Mondlicht erlaubte ihr kein intensives Bestaunen. Es war trotzdem wundervoll! Hier ließ es sich eindeutig sorglos leben!

„Wow! Coole Hütte!“, war das einzige, was ihr euphorisch über die Lippen kam.

Auf der gegenüberliegenden Seite ergänzte ein weitläufiger, dicht bebäumter Garten das Areal. Jetzt lag alles still und tief verschneit da, doch im Sommer würde man von den zahlreichen Fenstern aus ein sattes grünes Meer vor Augen haben. Schade, dass sie Charly Rudolf ausgerechnet im Winter kennen lernen musste und den nächsten Sommer nicht mehr erleben würde. Auch einen Frühling hier verbringen zu dürfen, musste grandios sein.

„Genug geträumt!“, riss sie Charlys raue Stimme aus den Gedanken, die er scheinbar erraten hatte, „Dein Gepäck trägt sich nicht von alleine hinein. Unsere Angestellten werden jedes Jahr über die Weihnachtsfeiertage beurlaubt. Wir sind eine Familie mit sozialem Gewissen.“ Stolz betonte er den letzten Satz.

„Angestellte?“, wiederholte Mary ungläubig, „Richtige Dienstboten?“

Natürlich, was hatte sie denn erwartet?! Dass Ludwig Rudolf persönlich den Abwasch erledigte oder seine Gattin selbst die Schmutzwäsche in die Maschine steckte? Konnte sie sich ernsthaft vorstellen, dass ein Mann wie Charly selbst seinen Müll rausbrachte?

Mary ging langsam auf Charly zu, der beim Kofferraum auf sie wartete, ohne den Wagen loszulassen. Der Porsche war ihr Schutzschild, ihre Rettung. Sie trug immer noch die hohen schwarzen Pumps mit mörderischem Plateau. Ihre Zehen froren bei den nächtlichen Minusgraden in der dünnen Strumpfhose. Die Zufahrt musste vor dem Weihnachtsurlaub noch jemand freigeschaufelt haben, denn ihre Stöckel versanken nicht sehr tief im Neuschnee. Wobei in diesem Jahr der Winter bisher relativ schneearm verlaufen war. Womöglich hatte niemand die Auffahrt von großen Schneemassen befreien müssen.

Als sie endlich neben dem ungeduldig wartenden Charly stand, atmete sie erleichtert durch und klammerte sich am geöffneten Kofferraum fest, denn sie hatte die kurze, aber rutschige Strecke sturzfrei gemeistert. Mary war 1,55 m klein und musste sich daher trotz ihrer Zwölf-Zentimeter-Heels ordentlich strecken, um bequem stehen zu können.

Ihr Blick fiel auf ein Ding, das unter einer frischen Schneedecke verborgen lag, einige Meter entfernt. War es sternförmig? „Was ist das? Ein Gartenstuhl?“ Sie deutete mit dem linken Zeigefinger auf das undefinierbare Etwas.

„Ein abgestürztes UFO. Mein Vater interessiert sich sehr für Außerirdische.“

Das konnte sich Mary kaum vorstellen. „Ha, ha!“, konterte sie spöttisch, „Ernsthaft?“

„Ein Brunnen. Es ist bestimmt auch für dich verständlich, dass er im Winter nicht funktionsfähig ist.“ Weil er merkte, wie sehr sie sich plagte, auf diesem rutschigen Untergrund überhaupt stehen zu können, nahm er sich trotz der Kavalierspause seines und ihres Gepäckes an. Nur ihren pinken Koffer musste sie selbst aus dem Wagen heben und zur Eingangstür rollen. „Das schaffst du!“, motivierte er sie, als er flotten Schrittes vorauseilte, „Daran kannst du dich festhalten.“

Als Mary die hohe, rechteckige, gläserne Haustür erreichte, deaktivierte Charly soeben die Alarmanlage. Er tippte einen Code in das kleine Kästchen, das rechts daneben in der Hauswand verankert war, ein, bevor er den Schlüssel im Schloss drehte.

Mary musterte das Gebäude nochmals. Alles war stockdunkel, hinter keinem der Fenster brannte noch Licht.

„510613, merk‘ dir das!“ Drei weitere Male wiederholte Charly diese Ziffernfolge und zwang Mary, ihm dann noch zehnmal nachzusprechen, während er ihr half, das Gepäck durch den doppeltürigen Eingang, von dem allerdings nur ein gläserner, mit schmiedeeisernen Ranken, die an das Blattwerk am Gemäuer erinnerten, verzierter Flügel geöffnet war, zu befördern.

„Das ist das Geburtsdatum meiner Mutter in umgedrehter Reihenfolge“, erläuterte er schließlich flüsternd, als sie samt all der Taschen und Koffer im weitläufigen Flur standen und die kalte Winterluft endlich ausgesperrt hatten. „Bitte behalte diese Zahlenkombination im Kopf. Du wirst den Code brauchen, um ins Landhaus zu kommen, sofern du auch einen Schlüssel besitzt. Nachts musst du ihn immer in die Alarmdeaktivierungskästchen, die sich in jedem Zimmer direkt neben der Tür befinden und genauso aussehen wie dieses hier, eingeben, falls du ein Fenster, die Terrassen- oder Balkontür öffnen möchtest.

„Was, wenn ich das nicht tue?“ Manchmal war Mary verwirrt und vergesslich, doch das traute sie sich nicht zuzugeben.

„Dann bekommen wir binnen weniger Minuten Besuch von der Polizei. Du weißt es vermutlich nicht, aber meine Familie ist ziemlich vermögend. Unsere Immobilien sind alle fabelhaft gesichert.“

Oh, ja! Sie wusste es, aber Mary traute sich nicht, das zu gestehen. Also schwieg sie und folgte Charly so leise wie möglich die Treppen hinauf. Ihre nassen Schuhe hatten sie zuvor in der Garderobe zu den zahlreichen anderen männlichen, weiblichen und kindlichen Paaren gestellt. Auf leisen Sohlen schlichen sie nun nach oben, um niemanden zu wecken. Diesmal half er ihr sogar mit dem Gepäck.

„Sie schlafen alle schon. Naja, kaum verwunderlich. Es ist längst nach Mitternacht, also psst!“, flüsterte der vor ihr gehende Charly.

„Wenn du nicht ständig quatschen würdest, wäre es viel ruhiger“, konterte sie ebenso flüsternd.

Ihr Kommentar zeigte Wirkung, denn Charly sprach erst wieder, nachdem er eine Zimmertür stumm nach ihrem Eintritt geschlossen hatte und den Lichtschalter betätigt hatte. „Für diese Nacht, das heißt für die verbleibenden Stunden, müssen wir uns mein Schlafgemach teilen. Ich habe nämlich keine Ahnung, ob eines der Gästezimmer bezugsfertig ist oder ob sich die Kinder wieder einmal ausgebreitet haben. Das will ich jetzt auch nicht mehr überprüfen“, stellte er im Befehlston klar.

„Keine Sorge, ich halte es schon einige Zeit lang mit dir in einem Zimmer aus. Und keine Panik, ich werde dich nicht befummeln. Davor hast du doch Angst, oder? Ich muss dich leider enttäuschen. An dir gibt es nichts, was ich nicht schon einmal anderswo gesehen hätte. So unwiderstehlich bist du nicht.“

Diese Aussage traf ihn härter als erwartet. Charly wirkte deprimiert, zugleich aber auch ein bisschen entsetzt, da sie in Erwägung gezogen hatte, sich ihm körperlich anzunähern. Davor graute ihm nämlich. Hätte sie nie daran gedacht, hätte sie auch nicht versucht, ihn derart zu beruhigen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Traute er sich wirklich, seelenruhig neben ihr einzuschlafen? Sollte er wach bleiben? Was würde sie anstellen, sobald er ins Land der Träume entschwunden war?

„Das hoffe ich für dich. Ansonsten werde ich dir die Hände abhacken. Mein Vater hat ein Faible für alte Waffen, die aber allesamt noch funktionstüchtig sind“, log er. Ludwig besaß keine solche Sammlung, obwohl ihm das durchaus zuzutrauen wäre.

Mary konnte nicht einschätzen, ob er es ernst meinte oder sie nur ein wenig einschüchtern wollte. Allerdings konnte sie sich Ludwig Rudolf ausgezeichnet in einer mittelalterlichen Folterkammer vorstellen. Wahrscheinlich hatte er in einem früheren Leben sogar den Beruf des Inquisitors, der selbst gerne Hand anlegte und anderen unfassbare Folterqualen zufügte, mit purem Vergnügen und großer Leidenschaft ausgeübt.

„Morgen, also heute…ahm…später werde ich mich mit meiner Mutter unterhalten. Sie soll sich um deine angemessene Unterbringung kümmern. Irgendein Zimmer lässt sich für dich bestimmt frei machen.“

„Schade, mir gefällt es hier. Geil eingerichtet!“, meinte sie anerkennend.

Das war kein gelogenes Lob, sondern entsprach tatsächlich ihrer Meinung. Charlys Schlafzimmer wirkte sowohl schlicht als auch luxuriös. Die cremefarbenen Wände und die schweren Vorhänge in derselben Farbe, die bis an den beigen Boden reichten und mit Goldstickereien verziert waren, bildeten einen Kontrast zu den dunklen, altehrwürdigen Möbeln. Im Kamin loderte ein künstliches Feuer. Das Bett war hoch, breit, ebenso cremefarben und mit zahlreichen großen Kissen bestückt, die man vor dem Schlafengehen erst auf den Boden werfen musste, wie Mary es bisher nur aus amerikanischen Filmen kannte. Die Bezüge, Decken und Polster waren in unschuldigem Weiß gehalten. Mary war sich jedoch sicher, dass dieses Schlafzimmer längst nicht mehr so unbefleckt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein erweckte. Vor dem Bett war eine rustikale, dunkel-türkise Couch mit drei edel bestickten Kissen platziert.

Charly hatte gemerkt, woran ihr Blick haften geblieben war, und sagte: „Nun ja, das wäre selbstverständlich eine Möglichkeit. Wenn du unbedingt auf dem Sofa schlafen möchtest, werde ich dich davon natürlich nicht abhalten. Es ist allerdings recht eng und gar nicht so gemütlich, wie es scheint.“

„Normalerweise pennt in solchen Situationen der Mann auf der Couch. Wäre das nicht angebrachter, als mich indirekt darum zu bitten?“

„Hast du nicht auf die Uhr geschaut? Es herrscht noch für einige Stunden die Gentleman freie Zone. Wenn du getrennt nächtigen willst, musst du mit dem Sofa Vorlieb nehmen, sorry.“

„Ach, das tut dir doch gar nicht Leid!“, durchschaute sie ihn sofort, „Jedoch muss ich dich enttäuschen: Ich habe kein Problem mit Nähe. Du musst dein Bett also mit mir teilen.“

Teuflisch grinsend setzte sie sich darauf und testete hopsend die himmlische Weiche.

KAPITEL 4

Schmatzend rollte sich Mary zu Seite, doch der Tiefschlaf, aus dem sie kurz zuvor erwacht war, kehrte nicht wieder. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als missmutig die Augen zu öffnen. Das Tageslicht drang gedämpft durch die cremefarbenen Vorhänge. Mary blinzelte mehrmals, bis sie sich an die spärliche Helligkeit gewöhnt hatte. Sie drehte sich auf den Rücken und legte einen Arm über die empfindliche Augenpartie. Großartig hatte sie geschlafen. Dieses Bett glich einer watteweichen, flauschigen Wolke. So musste sich ein Toter fühlen. Konnten Verstorbene überhaupt noch etwas empfinden? Starb nur der Körper oder auch die Seele? Mary fand, dass solche hochtrabenden Gedanken so früh am Morgen nichts verloren hatten. Gähnend tastete sie mit der freien Hand nach rechts, doch sie griff ins Leere. Dort war nichts als eine kühle Matratze. Sie nahm den Arm von den Augen und drehte den Kopf zur Seite. Neben ihr lag niemand im zerwühlten Bett.

„Charly?“, rief sie zaghaft und kurz darauf noch einmal lauter, „Karli?!“

Sie bekam keine Antwort. Stille umgab sie. Erneut wiederholte sie seinen Namen immer wieder, denn Mary konnte nicht fassen, dass er sie hier allein zurückgelassen hatte. Wo steckte der Kerl bloß? Wieso haute er ab und vor allem wohin?

Ihr Hungergefühl, das für gewöhnlich kurz nach dem Aufwachen einsetzte, leistete ihr zumindest auch an diesem Morgen Gesellschaft. Sie rappelte sich hoch und schlang die weiße Daunendecke eng um ihren üppigen Körper. Der Wecker zeigte ihr an, dass es kurz vor halb neun Uhr war. Um diese Zeit sollte sie wohl langsam aus dem Bett kommen, wenn sie noch etwas vom Frühstück ergattern wollte. Wann speiste man in der gehobenen Klasse morgens? Um acht, neun oder vielleicht sogar schon um sieben Uhr? Vielleicht saß Karli soeben in der Küche und aß etwas. Warum hatte sie eigentlich keiner geweckt?

Mary kroch aus dem Bett und schaute auf ihren rosaroten Pyjama, auf dem zahlreiche graue Mini-Bärchen abgebildet waren, hinab. Kombiniert mit ihren leuchtend rot lackierten Zehen- und Fingernägeln fühlte sie sich als lebender Farbkleks in diesem exquisiten, aber etwas trostlosen Raum ein wenig deplatziert. Mary suchte ihren bordeauxfarbenen, seidenen Morgenmantel und ihre Plüschpatschen aus dem Koffer, der noch unausgepackt in einer Zimmerecke stand, und schlüpfte hinein. Dann entdeckte sie Charlys dunkelblaues Sakko, das er lässig auf das Sofa geworfen hatte. Weit konnte er also nicht sein, es sei denn, er hatte sich umgezogen, was durchaus wahrscheinlich war. Wenige Zentimeter daneben lag eine kleine, dunkle Schachtel, die ihm vermutlich aus einer der Taschen gerutscht war. Bei ihrer Ankunft heute Nacht war die Couch bis auf die Kissen leer gewesen. Mary ging langsam darauf zu und wollte es nur hochheben und zurück in eine seiner Taschen stecken. Als sie das Schächtelchen in Händen hielt, bemerkte sie, dass es sich dabei um eine Schmuckschatulle handelte. Die Neugier packte die Blondine und ließ sie nicht mehr los.

Verstohlen schaute sie sich um. Sie war immer noch allein im Zimmer. Unbeobachtet öffnete sie die Schachtel und erstarrte. Ihr Mund formte ein überraschte, lautloses Oh. Auf einem schwarzen Samtbett glitzerte ein Silberring mit einem großen, runden, glasklaren Diamanten darauf. War das etwa ein Verlobungsring oder nur ein belangloses Weihnachtsgeschenk? Für wen? Für die untreue Barbara oder seine Mutter? Wollte Charly seiner Babsi am Heiligen Abend einen Heiratsantrag machen? Als er sie und seinen Kumpel in flagranti erwischt hatte, war sein Zukunftstraum zerplatzt wie ein Luftballon, in den man mit einer Nadel stach. So musste sich das auch für sein Herz angefühlt haben.

Mary konnte nun einigermaßen nachvollziehen, warum er sich auch das Leben hatte nehmen wollen. Liebeskummer war tragisch, wobei seine sonstigen Voraussetzungen bei weitem besser waren als ihre. Charly würde bald jemand trösten, sie nicht. Er war jung, attraktiv und reich. Ihm fehlte es an nichts und schon bald hätte er auch Barbara vergessen. Doch was sollte sich in ihrem bedauernswerten Dasein ändern? Mary war pessimistisch und sie sah kein Fünkchen Hoffnung.

Das Juwel in ihrer Hand funkelte und in Mary loderte die Lust auf, das Ding anzuprobieren. Wie fühlte sich ein edler und sündhaft teurer Klunker auf ihrer Haut an? Das war ihre letzte Chance, es zu erfahren.

Breit grinsend löste sie den Ring aus seiner samtenen Ummantelung und schob ihn behutsam auf den kleinen Finger ihrer linken Hand. Das Schmuckstück war viel zu groß dafür. Schmunzelnd steckte sie ihn an den Ringfinger. Sie war stolz, dass sie offenbar dieselbe Größe wie ein dürres Model hatte, denn er passte. Zufrieden betrachtete sie ihre linke Hand von allen Seiten.

„Ja“, hauchte sie ergriffen, „Frau Maria Rudolf – klingt doch seriös. Ich und der begehrteste Junggeselle Österreichs. Das wäre ein Titelbild, ha!“

Mit einem tiefen Seufzer entschied sie sich schließlich, dass sie nun genug geträumt hatte. Sie musste dieses Prachtstück leider wieder abmachen, denn es gehörte ihr nicht, noch nicht.

Aber es ging nicht! Ihr gelang es nicht, den Ring vom Finger zu streifen. Er steckte fest und bewegte sich keinen Millimeter. Panik stieg in ihr auf. Das durfte jetzt nicht wahr sein! Fluchend riss und drehte sie am Schmuck herum, bis sich ihre Haut rot färbte. Zu fest traute sich Mary nicht zupacken, weil sie einerseits fürchtete, ihren Finger ernsthaft zu verletzen, andererseits das Verlobungsgeschenk nicht zerstören wollte, auch wenn Charly es inzwischen nicht mehr benötigte. Verzweifelt rannte sie ins angrenzende Badezimmer. Die Eleganz dieses Waschraums nahm Mary überhaupt nicht wahr. Sie interessierte sich bloß für den dicken, kalten Wasserstrahl, der aus dem Hahn über ihre linke Hand floss. Mit der anderen rubbelte sie am Ring, um das Accessoire, das ihr nicht gehörte, loszuwerden. Doch es tat sich nichts. Der Schmuck bewegte sich kein Stückchen und inzwischen spürte sie aufgrund der Kälte des Wassers ihre Finger nicht mehr.

Deprimiert drehte sie den goldenen Hahn zu und trocknete ihre Hände mit einem moosgrünen Handtuch ab.

„Du Scheiß-Teil! Du verdammtes Mist-Ding!“, schrie sie den Ring an, aber auch das blieb ohne Wirkung. Seufzend betrachtete sie ihr verzweifeltes Ebenbild im Spiegel. Sie sah müde aus, obwohl sie ausgezeichnet geschlafen hatte. Einzelne Strähnen ihrer blonden Mähne standen strubbelig und in seltsamen Winkeln vom Kopf ab. Ihr Hungergefühl, das sie in der Aufregung beinahe vergessen hatte, meldete sich mit forderndem Magenknurren wieder.

Mary strich ihre wilden, eigenwilligen Haare so gut wie möglich glatt und rümpfte die Nase. Sollte sie sich etwa den ganzen Tag hier verstecken? Vielleicht noch länger, wenn sich der Ring gar nicht mehr lösen sollte? Nein, eine Prinzessin stand immer wieder auf, richtete ihr Krönchen und spazierte grazil und hoch erhobenen Hauptes weiter. Sie würde das nun auch tun und diesen lästigen Quälgeist am Ringfinger einfach gut vor fremden Blicken verbergen: in der Tasche ihres Morgenmantels oder später in ihrer Hosentasche. Von diesem verflixten Verlobungsring ließ sie sich ihre letzten Tage bestimmt nicht ruinieren!

Auf leisen Plüschsohlen schlich Mary über den Marmorfußboden des Flurs. Sie würde sich einfach ein wenig in der Küche bedienen, ehe sie jemand in diesem unpassenden Outfit entdeckte. Auf der obersten Stufe lehnte sie sich über das dunkle Holz des Geländers und spähte nach unten. Sie konnte niemanden erkennen.

Erleichtert tapste sie die knarrenden Stufen hinab. Hatte man dieses Knarren in der Nacht ihrer Ankunft auch so deutlich hören können oder bildete sie sich diese Geräusche gerade ein? Spielte ihr die eigene Angespanntheit einen Streich?

Momentan fühlte sich jeder Schritt jedenfalls sehr laut und verräterisch an.

Tatsächlich tauchte in diesem Augenblick am Treppenende im Erdgeschoss ein kleines, wohlgenährtes Mädchen, dessen lange, dichte braune Mähne zu zwei Zöpfen gebunden war, auf und lugte nach oben. Mary hielt ertappt inne. Über zwei Stiegen auf einmal springend eilte das Kind auf sie zu und kam erschöpft schnaufend vor ihr zum Stehen. Ihre pausbäckigen Wangen glänzten rot. Das Mädchen beäugte sie kritisch.

„Du bist dick“, stellte die Kleine selbstsicher fest. Sie zog eine ihrer Brauen arrogant nach oben.

Mary traute ihren Ohren kaum. Diese winzige, wandelnde Tonne, die ihr nicht einmal bis zur Schulter reichte, obwohl sie sich inzwischen herrisch eine Stufe höher platziert hatte, kritisierte ihre Figur! Durfte man einem Kind sagen, dass es genauso fett war wie man selbst? Mary brachte es nicht übers Herz, obwohl sie spürte, dass dieser Quälgeist sie nicht mochte und vermutlich auch niemals mögen würde. Manches Mal konnte man Sympathien einfach nicht gewinnen.

„Du bist Lena, oder?“

Die Angesprochene nickte stolz, aber auch ein wenig überrascht, weil die Fremde ihren Namen kannte. „Du bist komisch angezogen“, fuhr die Kleine fort und musterte Mary mit angewiderter Miene.

Damit hatte sie allerdings recht. Während Mary in Pyjama, Morgenrock und Schweinchen-Plüsch-Hausschuhen vor ihr stand, war das Mädchen am frühen Morgen schon perfekt gestylt. Ein lavendelfarbenes, langärmeliges, knielanges Kleidchen verdeckte ihren üppigen Körper. Die schwarze Strumpfhose formte stramme Schenkel. Die schneeweißen Ballerinas mit der goldenen Masche peppten das Outfit festlich auf. Sogar ihre Frisur war meisterhaft zurechtgemacht. Lena sah aus wie ein niedliches, unschuldiges, entzückendes Blumenmädchen auf einer Hochzeit.

Mary erinnerte sich, dass sie nicht die Braut war und vergrub ihre linke Hand tiefer in der Tasche ihres Morgenrocks.

„Findest du?“, gab sie sich ungerührt, „Tja, Geschmäcker sind verschieden.“

Das Mädchen legte ihren runden Kopf schief und betrachtete ausgiebig Marys ungewöhnliche Pantoffeln. „Die Schweinchen sind lustig, aber bist du nicht schon ein bisschen zu alt dafür?“

Mary schluckte. Alt? Mit fünfundzwanzig? Musste man sich solche Unverschämtheiten von einer achtjährigen verwöhnten Göre bieten lassen? Am besten antwortete sie gar nicht und versuchte gleichzeitig, sich nicht zu ärgern. Schließlich konnte die Kleine doch nichts für ihre privilegierte Herkunft. Würde sie in einer normalen Familie mit einem normalen Opa aufwachsen, wäre sie bestimmt ein nettes Mädchen. Von einer Rudolf konnte und durfte eine Außenstehende wohl nicht zu viel Höflichkeit oder gar Respekt erwarten.

„Das mag mein Großvater überhaupt nicht“, belehrte Lena hochmütig.

„Was?“

„Na, das alles! Wie du aussiehst oder wie du dich kleidest zum Beispiel. Außerdem musst du heute doch nicht sauber machen. In unseren Weihnachtsferien haben alle Dienstboten frei. Weißt du das denn nicht?! Du kannst wieder nach Hause gehen. Wir brauchen dich nicht.“

Die Kleine hielt sie für eine Putzfrau! Machten die Angestellten etwa im Pyjama sauber oder warum kam sie sonst auf diese bescheuerte Idee?

„Ich arbeite nicht für deine Familie. Ich bin eine Freundin von Charly, also deinem Onkel Karl“, erklärte Mary entschlossen und stemmte beide Hände entschieden in die fülligen Hüften.

Dabei entging der Kleinen nichts – nicht einmal ein winziges Detail. Ihre rehbraunen großen Kulleraugen fixierten das Schmuckstück an Marys linkem Ringfinger. Als diese ihren Fehler bemerkte, war es längst zu spät.

„Eine Freundin?“, hakte Lena nach, „Welchen Beruf übst du eigentlich aus? Dieser Ring sieht teuer aus. Das kannst du dir doch gar nicht leisten, so wie du ausschaust.“

Mary klappte der Mund auf. Bezichtigte sie dieses kleine Biest gerade eines Verbrechens? Zog sie die andere Möglichkeit gar nicht erst in Betracht, weil es unwahrscheinlich war, dass Charly sich in sie verliebt hätte? War das denn so abwegig? Wurde sie in dieser Villa tatsächlich nur aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds beurteilt?

„Du…du glaubst, ich habe diesen Ring gestohlen!?“ Die Frage klang mehr nach einem Vorwurf.

„Ist es denn so? Du kommst aus dem Stockwerk, in dem Onkel Karls Gemächer liegen. Sehr verdächtig.“ Sie schnalzte provozierend mit der Zunge, zuckte aber unschuldig mit ihren breiten Schultern.

Gemächer, soso. Sehr nobel.

„Schauen Diebe denn so aus wie ich?“, fragte Mary spöttisch.

„Schon möglich, keine Ahnung. Ich kenne keine Kriminellen. Dich kennt hier allerdings auch niemand. Außerdem wollte mein Onkel seine Freundin Babsi mitbringen. Du bist definitiv nicht Babsi. Sie ist nämlich ein Supermodel.“

Jetzt hatte es die wohlgenährte Nervensäge geschafft: Mary schäumte vor Wut! „Kar…Charly hat ihn mir geschenkt“, log sie.

Lena starrte sie verblüfft an, als hätte Mary sie soeben eingeweiht, dass es sich bei Santa Claus um ihren Opa handelte. „Dann bist du jetzt seine Verlobte“, schlussfolgerte das Mädchen erschüttert, „Ach, nein! Babsi war sooo hübsch und nett! Sie war toll!“

„Und ich nicht, oder wie?!“, konterte die Blondine entrüstet, „Außerdem muss ich deinen Onkel nicht gleich heiraten, nur weil er mir ein Geschenk gemacht hat.“

„Er hat dir einen Ring geschenkt“, erläuterte sie mit abgehackter, verschwörerischer Stimme, als wäre das besagte Schmuckstück der heilige Gral, „Jeder weiß, was das bedeutet: Du wirst meine Tante. Oh, mein Gott!“ Entsetzt riss Lena die Augen auf, bevor sie die Stufen hinab sprintete und dabei unaufhörlich schrie: „Großvater, Papa! Onkel Karl will eine Dicke heiraten!“

Unschlüssig blieb Mary noch eine Weile wie angewurzelt stehen. Sollte sie sich im Schlafzimmer verbarrikadieren und in der Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern im heißen, bald blutroten Wasser stilecht ihr Leben aushauchen? Dieses altehrwürdige Gemäuer verlangte förmlich nach einem hollywoodreifen Abgang. Oder sollte sie dem Schreihals nach unten folgen, um zu retten, was noch zu retten war?

Unsicher stapfte Mary ins Erdgeschoss, um sich wenigstens um Aufklärung zu bemühen. Danach konnte sie immer noch filmreif im Bad sterben.

Die Realität holte sie annähernd schlimm wie erwartet ein. Mary fühlte sich wie das Hauptausstellungsstück eines Museums – nein, eher eines Zoos – das unbedingt alle BesucherInnen sehen wollten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Blondine nicht in einer Glasvitrine stand oder in einem umzäunten Gehege saß.

Die rund um den großen, rechteckigen, hellen Holztisch gruppierte Familie Rudolf starrte sie allesamt entsetzt an. Sie fragten sich momentan bestimmt, wie ein Mann nur so blöd sein konnte, um ein spindeldürres Model gegen einen fetten, blonden Elefanten einzutauschen. Außerdem entsprach Marys Kleidung nicht dem Anlass. Sie wäre den Rudolfs das erste Mal lieber makellos herausgeputzt gegenübergetreten. Stattdessen stand sie jetzt in ihrem Bärchen-Pyjama, der nur notdürftig von ihrem bordeauxroten Morgenmantel verdeckt wurde, und in ihren plüschigen rosa Schweinchen-Hausschuhen vor ihnen. An ihre zerzauste Haarpracht wollte sie gar nicht erst denken. Ihre Frisur sah garantiert so aus, als hätten sich Vögel auf ihrem Kopf eingenistet. Mary schämte sich zu Tode. Beinahe nur, denn leider konnte man vor Scham nicht wirklich sterben und es tat sich auch kein rettendes Loch zu ihren Füßen auf, in dem sie hätte versinken können.

Mary trat von einem Bein auf das andere, sodass der helle Parkettboden fast bei jedem Schritt knarzte. Der Patriarch Ludwig fixierte genervt schnaubend ihre Beine. Mary wusste nicht, was dem hageren Mann mit dem schütteren grauen Haar und den runden Brillengläsern, die von einer schier unsichtbaren, hauchdünnen Fassung gehalten wurden, nicht gefiel: ihre Patschen oder die Töne des Holzes darunter. Vermutlich störte ihn beides.

„Also…hallo, erstmal!“, begann sie ihre Rede inbrünstig, „Lena hat mich ja bereits angekündigt. Ich bin Maria Richter, aber alle nennen mich Mary. Das dürfen Sie auch machen.“ Sie wusste nicht, wem sie ihre Hand zur Begrüßung reichen sollte, weshalb sie sich fürs Winken entschied. Als Ludwigs Blick noch eisiger wurde, ließ sie ihre winkende Hand sofort sinken. „Ich sollte etwas klarstellen…“, fuhr sie fort.

Allerdings wurde Marys Aufklärungsversuch von Charlotte unterbrochen. Sie erhob sich grazil, ging auf den Neuankömmling zu und sagte herzlich lächelnd: „Willkommen! Ich freue mich, die neue Frau an der Seite meines Sohnes endlich kennen zu lernen. Karl hat schon einiges über Sie erzählt. Die Verlobung kommt für uns alle zwar ein wenig überraschend, aber wichtig ist doch nur eines: dass ihr zwei glücklich seid!“

Er hat schon einiges über mich erzählt? Wirklich? Was denn? Liebe Frau Rudolf, wir kennen uns gar nicht so lange, wie mir Ihre höfliche Floskel weismachen will, dachte Mary schmunzelnd. Man sagte offenbar viel, was man gar nicht so meinte. Diese Unterhaltung mit einer Dame, deren grauenhafter Mundgeruch eindeutig auf zu viel Alkoholgenuss zurückzuführen war, war das beste Beispiel.

„Ja, aber…“, protestierte Mary, kam jedoch nicht weiter zu Wort, weil Charlotte sie entschlossen zu einem Stuhl, der mit grünem Stoff überzogen und weihnachtlichen Elementen wie goldenen Rentieren und silbernen Nadelbäumen bestickt war, führte und sie fest auf den Sessel drückte.

„Leisten Sie uns doch Gesellschaft, liebste Mary. Immerhin werden Sie demnächst meine Schwiegertochter.“ Ihre Hände fühlten sich wie schwerer Ballast auf Marys Schultern an. Dann eilte Charlotte stolz und erhobenen Hauptes zu ihrem Platz am Fußende des Tisches zurück. Ihr Ehemann füllte als Familienoberhaupt traditionell das Kopfende der Tafel und saß über zwei Meter von seiner Gattin entfernt.

Frostige Stimmung herrschte in diesem holzvertäfelten Esszimmer. Nur ein leerer Stuhl trennte Mary von ihrem Sitznachbarn Ludwig, zwei von der freundlichen Charlotte. Ihr direkt gegenüber saß die blasse, hochgewachsene Regina und musterte sie kühl. Zu ihrer Rechten hatte sich ihr Mann Christian an der Seite seines Vaters platziert, zu ihrer Linken saßen die Kinder. Lena begutachtete ungeduldig die mit zahlreichen Leckereien gedeckte Tafel, während Viktor seine zukünftige Tante neugierig anstarrte. Mary fragte sich, wie eine Frau mit elfengleicher weißer Haut Kinder mit deutlich dunklerem Teint in die Welt setzen konnte. Christian war nämlich ebenso nicht besonders braun. Lediglich die Sonne gab seinem Gesicht eine gesunde Farbe. Als hätte Regina ihre Gedanken erraten, räusperte sie sich vornehm. Dieses leise Geräusch durchschnitt die quälende Stille unangenehm laut.

„Wo ist denn Karli überhaupt?“, wollte Mary wissen, weil sie die drückende Ruhe nicht länger ertrug.

„Mein Sohn Karl, der seine derzeitige Partnerin anscheinend nicht über den Hausbrauch informiert hat, und die daher einen Schlafanzug und grässliche Plüschklumpen bei Tisch trägt, unfrisiert und ungeschminkt mit uns speisen möchte, holt den Rest des Frühstücks. Das Ungesunde, Fette und Kalorienhaltige fehlt noch. Manche Menschen mögen so etwas Ekelhaftes morgens. Sie sind eine davon, nehme ich an.“ Ihm war es tatsächlich gelungen, in eine Antwort mehrere Vorwürfe einzubauen. Er rang seinen schmalen, verkniffenen Lippen ein boshaftes Lächeln ab.

Mary würde nie in diese Sippe einheiraten und selbst wenn war sie nicht verpflichtet, nett zu diesem bösartigen Tyrannen zu sein. „Stimmt, das hebt meine Laune. Sie sollten das auch mal probieren, denn magere Leute wie Sie sind nur zu depressiven Stimmungen fähig und drangsalieren daher ihr Umfeld. Sie quälen doch gerne die, die sich nicht wehren können, oder?“

Seine strenge Miene blieb unverändert, doch seine eingefallenen Wangen zuckten und in seinen grünen Augen las Mary lebenslange Feindschaft. Tja, lange musste er sie immerhin nicht mehr hassen.

„Übergewicht symbolisiert mangelnde Disziplin. Wer seinen Appetit nicht zügeln kann, schafft es auch ansonsten nicht, sich zu beherrschen“, belehrte Ludwig sie unduldsam.

„Zu viel Disziplin verringert die Leidenschaft und die Lust, das Leben zu genießen!“ Beinahe hätte Mary den Kopf geschüttelt, denn diesen Satz hätte man aus dem Mund einer verzweifelten Frau mit unbändigen Selbstmordabsichten nicht erwartet. Mary wunderte sich über sich selbst.

Ludwigs Mund zuckte. Er wollte soeben zu einem verbalen Konter ansetzen, doch sein Lieblingssohn verhinderte das. „Ich wundere mich schon ein bisschen über Karls Geschmack, um ehrlich zu sein. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Sie entsprechen überhaupt nicht seinem bisherigen Beuteschema. Ganz und gar nicht sogar. Wie haben Sie zusammengefunden, wenn Sie mir meine Neugier verzeihen?“

Dir vergebe ich doch alles, dachte Mary und strahlte den attraktiven Christian an. Seinen Charakter kannte Mary noch nicht gut genug, um die ihm von Charly attestierte Makellosigkeit tatsächlich befürworten zu können, aber sein Aussehen umschrieb das Adjektiv perfekt passend. Christian war glatt rasiert, groß und blond. In seinen ozeanblauen Augen würde wohl jede Frau gerne versinken, wenn ihr dieser Traumtyp zu nahe käme. Selbst sein langweiliger Kurzhaarschnitt und der brave Scheitel ließen ihn nicht altmodisch wirken. Sein kantiges Kinn verlieh ihm Männlichkeit und unter seinem schwarzen Sakko zeichneten sich wohldefinierte, muskulöse Oberarme ab. Mary war hingerissen.

„Was ist ein Beuteschema?“, störte Viktor ihre Fantasie, in der sie gerade allein mit seinem Vater unter Palmen gemeinsam in einer Hängematte baumelte und süße Cocktails schlürfte. Bevor mehr passieren konnte, riss sie diese kleine Nervensäge aus den Gedanken. „Diesen Terminus kenne ich nur aus dem Biologieunterricht“, fuhr der elfjährige, braungebrannte Junge oberlehrerhaft fort, obwohl diese gehobene Ausdrucksweise gar nicht zu seinem Erscheinungsbild zu passen schien. Er wirkte eher wie ein charmanter, aber frecher Lausbub mit seiner dunklen, gegelten Igelfrisur und den kleinen schokofarbenen, verschmitzten Augen.

„Männer und Frauen sind in mancher Hinsicht wie Tiere. Auch Kerle bevorzugen einen gewissen Typ bei Damen. Dir gefallen doch sicher auch bestimmte Mädchen besser als andere, oder?“, setzte Mary zu einer Erklärung an.

Er grinste keck. „Ach, das meinen Sie. Mein Onkel mag aber eigentlich keine übergewichtigen Damen“, antwortete der Junge frech.

Nun gingen Marys Emotionen endgültig mit ihr durch. Seit sie hier war, musste sie beinahe ausschließlich Beleidigungen über sich ergehen lassen. Auch wenn sie keine Modelmaße besaß, hatte sie eine derartig miese Behandlung nicht verdient! Ihre aufklärerischen Vorsätze vergaß sie völlig, weil sie dermaßen erbost darüber war, wie sehr sie in dieser Villa von ein paar arroganten, reichen und unsympathischen Schnöseln aufgrund ihres Gewichts diskriminiert wurde. Man durfte Menschen nicht so behandeln, egal welche Hautfarbe man hatte, welcher Religion man angehörte oder wie viele Kilogramm man auf die Waage brachte.

„Tja, jetzt bin ich eben da, weil sich Karli für mich entschieden hat. Ihr müsst euch wohl oder übel mit mir anfreunden, denn unsere Hochzeit ist beschlossene Sache! Basta!“

„Hochzeit? Welche Hochzeit?“, erkundigte sich Charly, der soeben durch den holzvertäfelten Bogen trat, der eher an das pompöse Eingangstor eines antiken, römischen Gebäudes erinnerte als an eine simple Esszimmertür.

Mary drehte sich erschrocken auf ihrem Stuhl um. Da stand er: ihr angeblicher Verlobter, der noch nichts von seinem zweifelhaften Glück wusste.

Auch Charly war perfekt zurecht gemacht wie jede(r) in diesem Raum außer Mary. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein perlweißes Hemd, das er sorgfältig in die Hose gesteckt hatte. In der vor Kälte geröteten rechten Hand hielt er eine Papiertüte vom Bäcker. Mary stachen seine grauen Filzpantoffeln sofort ins Auge. Durften die Männer in dieser Villa etwa gemütliche Hausschuhe tragen, während die Frauen ihre High Heels nicht von den Füßen streifen durften? Marys Vermutung ließ sich nicht bestätigen, denn die restlichen Familienmitglieder verbargen ihre Beine allesamt unter dem Tisch. Jetzt nachzuschauen und ihre These zu überprüfen, würde wohl ein peinliches Bild ergeben.

„Deine, lieber Bruder“, klärte Christian verdutzt auf, „Pardon, eure.“

„Unsere, Karli“, meinte Mary kleinlaut und zwinkerte ihm aufmunternd zu.

Charly klappte der Mund auf. Sein Schweigen vereinfachte es Mary, ihren runden Kopf geschickt aus der Schlinge zu ziehen. „Süß, oder? Er kann immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich Ja gesagt habe!“

„Ich kann kaum glauben, dass er Sie überhaupt gefragt hat“, murmelte Ludwig für alle deutlich hörbar.

Seine Frau warf ihm von ihrem Tischende aus einen tadelnden Blick zu und schüttelte beschämt den Kopf. Charly wägte seine Möglichkeiten ab. Sollte er das Missverständnis aufklären und Mary vor versammelter Familie bloßstellen? Verdient hätte sie es. Warum ließ sie sich auch so eine bescheuerte Geschichte einfallen und brachte sie beide damit in Teufels Küche bzw. wohl eher Satans Esszimmer? Doch dann würde sie vermutlich sein Geheimnis verraten. Wie seine Verwandtschaft – insbesondere sein Vater – auf die Enthüllung seiner Selbstmordabsichten reagieren würde, wollte er besser nicht erfahren. Vielleicht war es schlauer, bei Marys Schmierentheater mitzuspielen, um den Weihnachtsfrieden nicht zu gefährden.

Er überreichte seiner Mutter den Papiersack und ließ sich dann auf dem freien Stuhl neben Mary nieder. Charly wollte sie keinesfalls küssen, aber irgendwie musste er ihre Beziehung bezeugen. Also legte er seinen Arm lässig über ihre Rückenlehne und tätschelte unbeholfen ihre massige Schulter. Sie schenkte ihm ein großzügiges, erleichtertes Lächeln.

„Schatz, wieso hast du dich denn noch nicht umgezogen? Ich habe dich doch mit den häuslichen Gepflogenheiten vertraut gemacht“, warf er ihr in süßlichem Tonfall und milde schmunzelnd vor.

„Ich hab’s vergessen. Heute Morgen lagst du nicht mehr neben mir, da wollte ich nur kurz nachschauen, wo du steckst. Dabei bin ich auf diese nette Frühstücksversammlung gestoßen“, verteidigte sich Mary unschuldig.

„Ach, grämen Sie sich nicht. Bei den nächsten Mahlzeiten wissen Sie, was von Ihnen erwartet wird“, beschwichtigte die blasse Regina und reckte den langen Hals in die Höhe, sodass ihr blonder Pagenkopf wippte.

Währenddessen entleerte die Hausherrin den Inhalt der Tüte in die noch leere Gebäckschale und wünschte einen guten Appetit. Das war offenbar der Startschuss für das Frühstück, denn nun griffen alle hastig, aber zivilisiert zu. Die Auswahl war so riesig, dass Mary die Entscheidung nicht leicht viel: Kaffee, Tee, Kakao, Brot, Semmeln, Kipferln, Marmelade in diversen Geschmacksrichtungen, Honig, Butter, Müsli, Joghurt, frisches Obst sowie einige Wurst- und Käsesorten wurden hier aufgetischt. Was sollte sie sich gönnen? War es unhöflich, zu viel zu essen? Immerhin war das Angebot mehr als reichlich und allzu verlockend. Ihr lief förmlich das Wasser im Mund zusammen.

Mary entschloss sich, ihrer Gewohnheit treu zu bleiben. Weshalb sollte sie sich für diese Familie verstellen? Sie würde trotzdem nicht ihre Herzen gewinnen können, auch wenn sie vorgab, sich gesund zu ernähren. Hungern oder schlecht essen wollte die Genießerin in den letzten Tagen ihres Daseins keinesfalls.

Mary verfeinerte ihren Kaffee daher mit genügend Milch und viel Zucker. Dann halbierte sie zwei Semmeln und bestrich die Hälften mit Butter und vier verschiedenen Marmeladesorten. Schließlich legte sie noch zwei Honigbrote auf ihr viel zu kleines Teller. Die entsetzten Blicke ihrer Gastgeber ignorierte sie dabei völlig, denn es schmeckte himmlisch.

„Köstlich“, lobte Mary mampfend und unterdrückte zu lautes Schmatzen.

Der hagere Patriarch aß wie erwartet nur wenig von seinem Müsli und beobachtete stattdessen die Verlobte seines Sohnes schockiert. Dieser pietätlose Vielfraß verköstigte sich gerade auf seine Kosten und das noch dazu unter seinem Dach! Hoffentlich war diese grauenhafte Gestalt nicht schwanger, aber was würde sonst eine derartig rasche Verlobung erklären? Die Vorstellung, dass sich sein wertvolles Blut mit dem einer manierlosen, undisziplinierten, völlig unstandesgemäßen Linie vermischen könnte, bereitete ihm großes Unbehagen. Seine Enkel würden bei dieser miserablen Elternkonstellation verwahrlosen, denn auch sein Jüngster verfügte leider nicht über die besten Gene. Ludwig konnte sich bis heute nicht erklären, warum sein Karl so missraten war. Er war eine Enttäuschung und ein Versager, der regelmäßig den guten Ruf seiner Familie beschmutzte.

Täuschte es ihn oder sah sein Sohn momentan wirklich nicht glücklich aus? Erpresste sie ihn womöglich mit irgendeiner dreckigen Geschichte? Bei Karls fragwürdigem Lebensstil wäre es kein Wunder, falls es so weit gekommen wäre, und Ludwig würde ihm nur helfen, wenn das Ansehen und die Ehre der gesamten Familie auf dem Spiel standen. Wenn nötig würde er Karl opfern, enterben, entlassen und aus der Villa schmeißen. Dieser Akt war eigentlich längst überfällig. Womöglich würde der lebenslustige Lockenkopf dann endlich zur Vernunft kommen.

Man konnte Ludwig Rudolf zwar vieles vorwerfen: Er war beispielsweise wenig einfühlsam, aber dafür ein ausgezeichneter Beobachter. Er irrte sich wirklich nicht. Sein Junior war nicht zufrieden. Vielmehr warf er seiner plötzlichen Verlobten grimmige Blicke zu, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Charly dachte, seine eisige Miene würde niemandem auffallen, doch alle außer den Kindern bemerkten es. Jedoch waren alle Anwesenden so respektvoll, das vermeintliche Paar nicht nach ihren offensichtlichen Problemen zu fragen.

Charly war zornig. Kaum hatte er diese Blondine einige läppische Minuten allein gelassen, hatte sie sich wie eine Zecke sofort in seinem familiären Nest eingenistet. Dabei wollte er sie nur vor ihren eigenen dummen Selbstmordgedanken beschützen. Er hatte eine löbliche Tat vollbracht, als er sie eingeladen hatte, die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel mit ihm zu verbringen. Wieso wurde er nun bestraft? War das etwa der Dank dafür, wenn man etwas Gutes tat? Er war sowieso seit jeher das schwarze Schaf in dieser Familie. Jetzt würde ihn sein Vater wohl endgültig enterben. Heiratete man eine Frau, die eindeutig nicht in kleine Konfessionsgrößen passte, hätte man dem Alten auch gleich ein Messer ins Herz rammen können. Gleichzeitig fragte sich Charly, ob sein Vater überhaupt ein Herz besaß.

Ludwig Rudolf verabscheute mollige Menschen, weil er sie für undiszipliniert und wenig kontrolliert hielt. Diese negativen Eigenschaften verachtete er zutiefst – nur bei seiner ebenfalls etwas fülligen Enkelin machte er eine großzügige Ausnahme. Immerhin hatte die Kleine noch genügend Zeit, um zu lernen, was im Leben wirklich zählte, und vernünftig zu werden. Ludwig hingegen verkörperte das hagere, beherrschte und disziplinierte Ideal.

„Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade mit uns frühstücken?“, brachte Christian das Gespräch wieder ins Rollen und lächelte ihr dabei aufmunternd zu.

Mary schluckte den Bissen hinunter, bevor sie antwortete: „Ich arbeite im Unternehmen meines Onkels mit.“

Ludwig hob skeptisch eine ergraute Augenbraue. „Sie stammen aus einem gut situierten Haus?“, hakte er ungläubig nach, „Ihr Onkel ist Geschäftsmann?“

„Naja, eigentlich schon. Er führt einen Catering-Betrieb“, gab sie sich betont vornehm, „Mit acht Mitarbeitern sogar.“

Ludwig schnaubte verächtlich. „Kleine Häppchen und kalte Platten – das liebt die Unterschicht. Tja, wer Luxus nicht kennt, der gibt sich eben mit Durchschnitt zufrieden.“

„Bodenständigkeit ist nichts Verwerfliches“, verteidigte Mary ihre Herkunft etwas lauter und vehementer als beabsichtigt, „Diese Leute wissen hervorragendes Essen wenigstens zu schätzen. Die knabbern nicht eine halbe Stunde lang an aufgeweichten Cornflakes herum.“

In der darauf folgenden Stille hörte man Besteck klimpern und abgestellte Tassen klirren, bis Charlotte die Unterhaltung wieder aufnahm. „Hat mein Sohn uns im Vorfeld überhaupt vorgestellt? Das haben wir im Zuge dieser erfreulichen Überraschung völlig vergessen.“ Die Dame wirkte ehrlich betrübt.

„Ich habe sie gebrieft, Mutter“, murrte Charly verstimmt.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich nötig war. Immerhin handelt es sich bei uns um eine erfolgreiche und daher sehr bekannte Dynastie“, warf der Patriarch der Sippe stolz ein, aber mit deutlich hörbarem vorwurfsvollen Unterton.

„Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich hätte mich bewusst an Karli rangemacht, um eine Rudolf zu werden?!“ Mary war außer sich. „Das ist eine bodenlose Frechheit!“, schimpfte sie, stopfte den letzten Bissen ihrer Semmel in den Mund und knallte dann die Serviette auf den massiven Holztisch.

Eine Weile herrschte erneut Schweigen. Da alle bis auf Lena bereits fertig gegessen hatten, hörte man nur Atemgeräusche, die gelegentlich von Lenas zufriedenem Schmatzen ergänzt wurden.

„Wie habt ihr euch denn eigentlich kennen gelernt?“, versuchte Regina eine gepflegte Konversation zu starten. Die Langeweile war der blonden Hünin dabei deutlich anzusehen. In Wahrheit interessierte sie sich überhaupt nicht für Charlys und Marys Geschichte. Die beiden wiederum warfen sich einen panischen Blick zu. Das hätten wir im Auto besprechen sollen, anstatt wertvolle Zeit mit diesem dämlichen Spiel zu vergeuden!, dachte Charly.

„Im Kino“, sagte Mary. Zeitgleich meinte Charly aber: „Im Schuhladen.“

So viel Uneinigkeit versetzte seine Familie in skeptisches Staunen.

„Was nun?“, fragte Lena kauend.

Ihr Onkel überlegte fieberhaft, doch seine falsche Verlobte kam ihm zuvor. „Eine meiner Freundinnen hat ein Schuhgeschäft eröffnet und es Kino genannt. Keine Ahnung, warum. Laura war schon immer ein bisschen…sonderbar. Wir waren beide zur Eröffnung eingeladen und…“

„Dieses Geschäft kenne ich nicht“, meinte Ludwig zweifelnd. „Wer ist diese Laura? Hat die Dame einen Namen in der Branche oder ist das nur eine deiner zahlreichen Freundinnen?“ So verächtlich wie er das letzte Wort aussprach, blieb kein Zweifel daran, dass Ludwig den freizügigen Lebensstil seines jüngsten Sohnes wenig schätzte.

„Laura Gallano ist eine junge Aufsteigerin und in der Szene ein Begriff. Sie designt himmlische Schuhe“, erfand Mary selbstsicher eine fiktive Person mit klingendem Namen, „Komisch, dass Sie eine solch grandiose Newcomerin nicht kennen. Vielleicht haben Sie eines Tages das Vergnügen. Sie führt ihren Shop erst seit zwei Monaten, aber ihr Umsatz ist erstaunlich. Tja, die Konkurrenz schläft nicht.“

„Ihr kennt euch erst seit zwei Monaten?“, hakte Christian sichtlich schockiert nach, „Und ihr wollt schon den Bund der heiligen Ehe schließen? Dass dieses Versprechen vor Gott für die Ewigkeit gelten soll, ist euch schon bewusst, oder?“

„Wenn’s passt, dann passt es eben!“, philosophierte Mary grinsend.

„Damals warst du doch noch mit Barbara zusammen“, warf Regina entrüstet ein.

„So etwas tut man nicht, mein Junge“, meinte auch Charlotte enttäuscht.

Weil sie den Drang verspürte, den schweigenden Charly verteidigen zu müssen, ergänzte Mary: „Es lief nicht mehr gut in eurer Beziehung, stimmt’s, Karli? Und Laura kennst du, weil ihr gemeinsam die Schulbank gedrückt habt.“

Charly schloss fest seine Augen, um die Welt auszusperren, denn er ahnte, was nun folgen würde.

„Wann? Die Internate in der Schweiz und in England waren exklusiv für eine männliche Klientel. In der Volksschule waren doch nur ganz wenige Mädchen in deiner Klasse. Ich verfüge über ein ausgezeichnetes Gedächtnis: Keines dieser Mädchen hieß Laura“, erinnerte sich Ludwig.

„Drei, es waren drei in Karls Jahrgang. Eine Laura war nicht darunter“, stimmte Charlotte ihrem Mann zu.

„Mich wundert sehr, dass ihr euch an meine Schulzeit erinnern könnt. Mary hat da etwas verwechselt. Genau genommen ist Laura bloß die Ehefrau von Jacob Knight. Er war mit mir in der Schweiz“, half Charly, das Lügengebilde aufrecht zu erhalten, funkelte seine Scheinverlobte jedoch zornig an.

„Jacob hat geheiratet?“, erkundigte sich Christian verwirrt, „Ich dachte, der mag Män…ahm, ist vom anderen Ufer?“

Charly zuckte ahnungslos mit den Schultern, doch Ludwig erklärte herrisch: „So etwas ist unmöglich, mein Sohn! Jacob entstammt der bedeutendsten Textilfabrikantendynastie Irlands. Außerdem sind alle Knights gläubige Katholiken. Er kann nicht homo…ach, ich bringe dieses abscheuliche Wort nicht einmal über die Lippen. So etwas ist unnatürlich und ein Verbrechen an der Gesellschaft! Du irrst dich also definitiv, Christian. Allerdings wusste ich bisher auch nichts von dieser Eheschließung.“

„Tja, ist aber so.“, entgegnete Mary neunmalklug, „Seit letztem Mai, richtig?“

Charly nickte nur und betete, dass dieses Verhör bald endete. Offenbar hatte Gott tatsächlich Erbarmen mit potentiellen Selbstmördern und Lügnern, denn der gütige Allmächtige erhörte sein stilles Flehen. Seine Familie gab sich plötzlich mit den bisherigen, recht wirren Informationen zufrieden. Seine Mutter brachte nämlich eine Bitte ein und beendete auf diese Weise die Inquisition. „Karl, wärst du so lieb, mich später zum Einkaufen zu begleiten?“

„Wieso ich?“, wollte er genervt wissen.

„Ich benötige jemanden, der mich fährt. Das Personal ist beurlaubt. Außerdem muss ich heute viel für die Feiertage besorgen. Dabei kann ich durchaus Hilfe gebrauchen.“

„Schon klar, aber warum ich?“, lenkte ihr Sohn nicht ein, „Ich musste mich bereits früh morgens durch die Kälte quälen, um das Frühstück zu holen. Wieso nimmst du nicht Christian mit? Der kann sich ruhig auch einmal an den Familienpflichten beteiligen!“

„Wir haben Geschäftliches zu besprechen“, erklärte Ludwig bestimmt.

„Ach, und da muss ich nicht dabei sein?! Ich habe auch eine Führungsposition inne!“, argumentierte Charly gekränkt.

„Das stimmt zwar, aber du leitest unser Unternehmen nicht aktiv“, versuchte Christian, zu schlichten.

Die angespannte Miene seines Bruders verdunkelte sich.

„Mach‘ bitte kein Drama daraus, mein Junge“, beschwichtigte Charlotte, „Wir nehmen deine Zukünftige mit.“ Sie schenkte ihrer vermeintlichen Schwiegertochter in spe ein aufmunterndes Lächeln, das Mary prompt erwiderte. Sie mochte diese operativ jung gebliebene ältere Dame.

„Gerne begleite ich euch“, sagte Mary höflich und tupfte sich mit der Serviette vornehm die Mundwinkel ab. Dann legte sie Charly heimlich unter dem tannengrünen Tischtuch eine Hand auf den muskulösen Oberschenkel. Eigentlich wollte sie ihn mit dieser Geste beruhigen, doch er zuckte erschrocken zusammen.

Ludwig musterte das vermeintliche Paar skeptisch.

Deprimiert zog Mary ihre Hand zurück. Ihr Motivationsversuch war fehlgeschlagen. Das war auch kaum verwunderlich. Was hatte sie denn erwartet? Dass sich zwischen ihr und dem begehrtesten Mann Österreichs unter dreißig sofort eine Vertrautheit einstellte? Immerhin kannten sie sich erst seit ein paar Stunden. Diese Verlobungssache war nur ein Spiel, um sich die bittere Wahrheit zu ersparen und niemandem die Feiertage zu verderben. Genau genommen war sie hier der Eindringling. Sie hätte die Einladungen ihrer Freunde nicht ausschlagen sollen, denn innerhalb deren Familien hätte sie sich bestimmt weniger allein und fremd gefühlt. Hier war sie ein störendes, lästiges Objekt und das bekam sie deutlich zu spüren, als Ludwig sie unfreundlich fragte: „Bleiben Sie auch bis ins neue Jahr in unserer Mitte?“ Je eher sie seine Villa verließ, desto lieber wäre es ihm – daraus machte er keinen Hehl. Er rückte seine runde Brille zurecht und fuhr unhöflich fort: „Werden Sie in diesen Tagen denn nicht in ihrem kleinen, heimeligen Familienbetrieb gebraucht?“

„Ach, um diese Zeit läuft das Geschäft mieser als man denkt. Die Weihnachts- und Nikolausfeiern sind vorbei und an den Feiertagen kochen die meisten Leute selbst. Erst zu Silvester sind wir wieder mehr gefragt, aber das habe ich bereits mit meinem Onkel geregelt.“

Nein, das hatte sie nicht. Das Betteln um freie Tage zur umsatzstärksten und arbeitsintensivsten Phase in ihrer Branche stand Mary noch bevor. Hätte ihr Plan einwandfrei funktioniert, müsste sich Onkel Simon sowieso längst um Ersatz kümmern. Außerdem zählte das Unternehmen ihres Verwandten nicht zu den begehrtesten Cateringfirmen – ihre Auftragslage war schon seit einiger Zeit desaströs. Ob sie vor Ort war oder nicht – Mary könnte ohnehin nichts an ihrer eher trostlosen wirtschaftlichen Situation ändern.

Mary war trotz ihres schrillen, gewöhnungsbedürftigen, ausgefallenen Modestils offenbar unscheinbar, nicht einmal der Patriarch der Schuhdynastie erkannte sie wieder. Sie war ihm scheinbar doch nicht in so negativer Erinnerung geblieben wie er ihr.

„Na, dann! Zieh‘ dich um, damit wir los können. Wir wollen doch schließlich alle sehen, wie grandios du gestylt aussiehst“, forderte Charly sie mit süßer Stimme auf, doch sein Blick war frostig.

KAPITEL 5

Charly stöhnte genervt auf und schüttelte mit geschlossenen Augen verzweifelt den Kopf. Dann fuhr er sich mit gequältem Gesichtsausdruck durchs dichte, dunkle, lockige Haar. Gelangweilt lehnte er sich über den Haltegriff des Einkaufswagens, dessen Inhalt Mary langsam auf das Förderband der Kassa legte. Es ging nicht schneller, auch wenn ihr diese Trägheit wahrscheinlich in die Wiege gelegt worden war, wie Charly vermutete. Sie bewegten sich etwa alle zehn Minuten ungefähr einen Schritt nach vorne. Manchmal gelangen ihnen auch zwei, ein seltener Glücksfall. Offenbar hatte hier jede(r) Kunde bzw. Kundin einen Großeinkauf getätigt, sodass auf dem Förderband meist nur der Inhalt eines Einkaufswagens Platz fand.

Mary fing seinen verzweifelten Blick auf und zuckte amüsiert mit den Achseln. Kann man nicht ändern. So ist es eben in Supermärkten am Heiligen Abend, wollte sie ihm damit symbolisieren. Sie, das Mädchen aus einfachem Hause, wusste diese alljährliche weihnachtliche Einkaufshektik gelassen zu ignorieren. Er war diesen Trubel nicht gewohnt. Die Ausnahmen waren lediglich, wenn er in Begleitung, betrunken und berauscht Szene-Clubs verließ oder seine attraktive Erscheinung auf Veranstaltungen vor allem weibliche Aufmerksamkeit erregte und die Gier der Fotografen nach gut verkäuflichen Bildern befriedigte. In einem Supermarkt rechnete Charly nicht mit aufgewühlten, gestressten, übertrieben fröhlichen Menschenmassen, die sich gefährlich nahe um ihn drängten. Wären Paparazzi oder Verehrerinnen hier gewesen, hätte ihn diese Hysterie geschmeichelt, aber so langweilte sie ihn nur. Diese Mischung aus Hektik und Eintönigkeit, in der er hier gefangen war, strapazierte seine Nerven.

Seit drei Stunden und zwölf Minuten hielten sich er, Mary und seine Mutter bereits in diesem Lebensmittelladen auf und seit vierundzwanzig Minuten traten sie sich in der endlos langen Schlange an der Kassa, die inzwischen schon bis zur Wursttheke zurückreichte, die Beine in den Bauch.

Charly hatte exakt mitgestoppt. Anders ließ sich dieser Wahnsinn kaum ertragen.

Seine Mutter hatte sich natürlich großherzig unters Volk gemischt. Jedem bekannten Gesicht – und davon gab es in diesem Ort, wo sie seit jeher Weihnachten und den Jahreswechsel verbrachten, unzählige – musste sie selbstverständlich ein frohes Fest und ein gesundes, glückliches Neues Jahr wünschen und danach noch ausgiebig plaudern. Inzwischen wussten sicherlich längst alle Einwohner der 3.000-Seelen-Gemeinde, dass er und Mary sich verlobt hatten.

Warum mussten alle Mütter aus einer bevorstehenden Hochzeit immer ein solch bedeutendes Ereignis machen und sofort sämtliche Fremde darüber informieren? Eigentlich betraf eine Eheschließung nur zwei Menschen. Familie und Freunde sollten davon natürlich auch erfahren, aber der Rest? Wieso kümmerte die Leute etwas, das sie gar nichts anging?

Das vermeintliche Paar nahm höflich lächelnd Glückwünsche entgegen und beantwortete neugierige Fragen.

Weiters drängten sich Menschenmassen aller Altersklassen und Geschlechter rund um die Feinkostabteilung und vor den Regalen, was unvermeidlich zu langen Wartezeiten und Lebensmitteltransportbehinderungen führte. Rabiate Kunden bahnten sich gewaltsam ihre Straße durch die im Weg stehenden und plaudernden Leute, indem sie ihren Einkaufswagen als Rammbock benutzten. Andere schoben friedensliebend herrenlose Wägelchen zur Seite, um in den engen Gängen voran zu kommen. Hohe, piepsige Frauenstimmen und der Lärm quengelnder Kinder übertönten die lästige Dauerbeschallung mit Weihnachtshits aus den ladeninternen Lautsprechern.

Die junge Mutter vor ihnen wollte unbedingt mit der Karte zahlen, obwohl sich das Gerät beharrlich weigerte, ihren Code zu akzeptieren. Während sich die schlanke Rothaarige mit der modernen Technik abmühte, zerriss ihr kleiner, ebenfalls rothaariger Sohn fröhlich johlend eine Chips-Tüte und beobachtete zufrieden, wie sich die Knabbereien schneegleich auf dem Boden und im Einkaufswagen verteilten.

„Aufhören, Georg. Aus“, murmelte die sichtlich überforderte Frau müde, während sie erneut den Code eintippte, der – welch‘ Überraschung! – wiederum nicht anerkannt wurde. Inzwischen riss ihr Bengel die Soletti-Packung auf und bewarf die Wartenden an der einzigen, weiteren geöffneten Kassa gegenüber mit den dünnen Stäbchen. Die Zielgenauigkeit des Jungen war verblüffend, stellte Charly anerkennend fest. Als der Rotschopf auch Charlotte mit seinen essbaren Geschossen attackieren wollte, erhob sie mit strenger, starrer Miene einen Zeigefinger und der Kleine senkte eingeschüchtert seine Wurfhand. Stattdessen stopfte er sich die salzige Leckerei verschmitzt in den Mund und ließ die Beine aus seinem Sitz baumeln. Seine Erziehungsberechtigte hatte sich unterdessen dazu entschlossen, bar zu zahlen. Die Klagen über missratenen Nachwuchs an der Nachbarkassa und aufgebrachte Rufe in der Schlange hinter Charly à la Was ist jetzt? Wir sind hier nicht auf Urlaub! hatten sie offenbar zum raschen Handeln gezwungen, wobei rasch in diesem Fall eher Ansichtssache war.

„Ick schon, ober ick will hier och nit länger warten!“, rief eine offensichtlich deutsche Männerstimme von irgendwo ganz hinten. Das sorgte kurzzeitig für allgemeine Erheiterung. Als die junge Frau endlich den Supermarkt verließ, hatte ihr Gesicht dieselbe Farbe wie ihr Haar.

Charlotte Rudolf stellte die wartenden Kunden jedoch zufrieden. Höflich, aber flott beglich sie die Rechnung bar. Sie plauderte nur kurz mit der fülligen Kassiererin, während Mary und Charly eilig die bereits gescannten Lebensmittel zurück in den Einkaufswagen packten, da sich die gut betuchte Unternehmersgattin zu fein dafür war, auch nur einen Finger zu rühren. Solche bodenständigen Arbeiten waren nichts für Charlotte. Sie schob derartige Aufgaben lieber ihren Familienmitgliedern oder Angestellten zu.

Am Parkplatz konnte Charly, der den prall gefüllten Wagen vor sich herschob, immer noch nicht verschnaufen. Autos parkten überall, auch wo keine weißen Linien erlaubte Abstellplätze kennzeichneten. Gehupe mischte sich mit menschlichen Stimmen und irgendwo in der Nähe glaubte er zu hören, wie Metall auf Metall traf. Ein grässliches Geräusch! Er betete inständig, dass seinem Luxusflitzer nichts passiert war.

„Hast du Angst um dein Baby?“, fragte Mary belustigt, als sie sein blasses, verkrampftes Gesicht bemerkte.

Er schob Mary zur Seite, weil ein blauer Familienkombi unaufhörlich hupend und mit einem wild gestikulierenden, glatzköpfigen Mann am Steuer sehr knapp an ihnen vorbeirauschte. Seine Lippen bewegten sich. Das konnte Charly durch die geschlossenen Fenster genau erkennen. Dass der Kerl zu den Hits im Radio sang, bezweifelte er.

„Oh, ja! Heute sind einfach zu viele Idioten unterwegs.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Kombi, dessen Bremslichter nach einigen Metern freier Bahn erneut blinkend aufleuchtenden. Langgezogenes Hupen folgte.

„Huhu! Schön, dich zu sehen! Frohe Weihnachten und ein gesundes Neues Jahr!“, rief Charlotte mit erhobenen Armen und stöckelte in hochhakigen Stiefeln auf dem schneefreien Parkplatz auf eine Frau zu, die soeben aus einem winzigen schwarzen Dreitürer gestiegen war. Mary und Charly folgten Charlotte und machten dann ebenfalls Halt. Mary fiel auf, dass Karli noch blasser war als zuvor. Sein Mund formte ein lautloses Oh.

„Danke, das wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie ebenfalls“, antwortete die Dunkelhaarige freundlich und schenkte ihr ein großzügiges Lächeln, sodass beinahe all ihre Zähne sichtbar waren.

„Ah, Dankeschön! Einem Teil meiner Familie kannst du das sogar persönlich mitteilen“, sagte Charlotte und hakte sich zwischen Mary und Karl unter.

„Charly“, hauchte die Fremde erstaunt, doch ihr Lächeln blieb aufrecht. Auch Mary bedachte sie mit einem freundlichen Kopfnicken, das die Blondine erwiderte.

„Kathi!“ Charly starrte sie dümmlich an. „Gut siehst du aus.“

Er wollte charmant klingen, merkte aber selbst, dass diese Feststellung etwas unbeholfen klang. Kathi machte ihn nach all den Jahren immer noch nervös.

Beim Austausch der in diesen Tagen unvermeidlichen Weihnachts- und Neujahrsgrüße schüttelten sich die Frauen gegenseitig die Hände. Als Charly an der Reihe war, setzte Kathi zu einer Umarmung an, zögerte dann aber und reichte ihm stattdessen auch die Hand.

„Wie geht es deinen Eltern? Leite meine Wünsche bitte weiter, ja?“, bat Charlotte.

„Natürlich“, entgegnete Kathi gehorsam, „Es geht ihnen ausgezeichnet. Mama war zwar heute schon einkaufen, hat aber ein paar Sachen vergessen. Jetzt wurde mir also die zweifelhafte Ehre zu Teil, die Reste in diesem Weihnachtswahnsinn zu besorgen, bevor ich zu ihnen fahre.“

„Besucht euch dein Bruder auch?“

„Nein, diese Weihnachten verbringen sie bei Christinas Eltern. Er fliegt aber zu Papas Geburtstag am 6. Jänner her.“

„Clemens wohnt nicht mehr hier?“, fragte Charly verdutzt.

Kathi lächelte und auf ihren Wangen bildeten sich dabei kleine, süße Grübchen. „Mein chaotischer Bruder hat das Hotel Mama endlich verlassen. Er lebt seit zwei Jahren in Texas. Clemens hat eine amerikanische Austauschstudentin getroffen, sie in ihre Heimat begleitet und Christina sogar geheiratet.“

„Wow, Clemens kann einen immer wieder überraschen!“

Mary fühlte sich ausgegrenzt, weil sie nun offenbar unsichtbar geworden war. Außerdem kannte sie die Personen, über die man sich derzeit angeregt unterhielt, nicht. Also beschloss sie, die Initiative zu ergreifen, doch das Schicksal, der Zufall oder göttliche Fügung kam ihr zuvor.

„Ich weiß so wenig über dich und deine Familie. Das beschämt mich ein bisschen“, gestand Charly einfältig grinsend.

„Tja, dafür liegt dein Leben wie ein offenes Buch vor mir. Oder sollte ich eher sagen wie eine offene Zeitschrift? Du lässt keine Party aus – wie früher. Du bist kein bisschen reifer geworden, hm?“, erwiderte Kathi zwinkernd.

„Du darfst nicht alles glauben, was diese Schmierfinken schreiben“, rechtfertigte er sich lächelnd.

„Ach, ja? Manches davon ist dir aber durchaus zuzutrauen“, konterte sie und ihre Grübchen wurden tiefer.

„Das ist alles nicht mehr zutreffend“, mischte sich Charlotte nun ein.

„Nein, Mutter! Bitte nicht!“, mahnte Karl. Er ahnte, was folgen würde, und es war ihm sichtlich unangenehm. Doch Charlotte ließ sich nicht beirren. „Apropos Hochzeit!“, fuhr sie stolz fort. Mein kleiner Karl wird demnächst auch den heiligen, ewigen Bund der Ehe schließen.“

„Mutter! Das musst du nicht gleich allen erzählen, die wir treffen! Posaune mein Privatleben bitte nicht so achtlos in die Welt hinaus!“ Er fühlte sich sichtlich unbehaglich. Dass Kathi jetzt über seine angebliche Verlobung Bescheid wusste, gefiel Charly gar nicht.

„Das ist die Glückliche, meine künftige Schwiegertochter!“ Charlotte drängte sich dichter zwischen das erstarrte vermeintliche Pärchen und strahlte Kathi zufrieden an.

„Ich bin übrigens Mary“, versuchte die Blondine zu retten, was noch zu retten war. Ihr Lächeln wirkte jedoch unbeholfen. Hatte sie sich getäuscht oder war tatsächlich ein kurzer Schatten über Kathis blasses, ovales Gesicht gezogen? So schnell sich die Erschütterung über ihre Miene gelegt hatte, so rasch hellte sich ihr Gesichtsausdruck wieder auf. Hatte sich Mary diese nur Sekunden andauernde Regung etwa bloß eingebildet? Inzwischen schien sich eine gefasste Kathi sogar aufrichtig für sie zu freuen. Derartige Euphorie konnte man doch nicht vortäuschen, oder?

„Toll! Das sind großartige Neuigkeiten!“, quiekte sie mit süßer Stimme.

Mary war sich dennoch unsicher, ob sie diesem Schauspiel trauen konnte. Zu viele Nettigkeiten, die noch dazu mit unnatürlich hoher Stimme verlautbart wurden, kaschierten meist Hass, Wut oder Neid.

„Ach, Mutter übertreibt. Wir haben noch keinen genauen Termin“, beschwichtigte Charly sofort und fuhr sich nervös durch die dunklen Locken.

„Wir haben noch nicht einmal über irgendwelche Details gesprochen. Die Vorbereitungen werden sicherlich nicht so bald beginnen“, half Mary ihrem falschen Verlobten, weil sie ihn nicht weiter in Verlegenheit bringen wollte. Es störte ihn offensichtlich, dass Kathi von dieser Hochzeit erfahren hatte, bevor sie sich beide überlegen konnten, wie man sich möglichst schnell und unspektakulär trennen konnte. Niemand sollte bis dahin von ihren angeblichen gemeinsamen Zukunftsplänen erfahren – so lautete zumindest der unausgesprochene, unausgereifte Plan. Ehe sich Charlys Familie an die vermeintliche Beziehung gewöhnte, wollten die beiden schon längst wieder getrennte Wege gehen. Genau genommen würde Charly ab diesem Zeitpunkt allein durchs Leben spazieren. Mary würde dann gemütlich auf einer watteweichen Wolke sitzen, genüsslich an einem riesigen Eis schlecken und Karlis Liebeswirren und sonstigen Eskapaden von oben beobachten. Wer brauchte Soaps, wenn man Karl Rudolf kannte? Vielleicht gab sie ihm im entscheidenden Moment sogar einen kleinen Wink. Diese Kathi schien er nämlich sehr zu mögen. Wieso liebte mann ein egozentrisches Model, wenn mann auch ein bodenständiges, nettes, hübsches Mädchen haben konnte?

„Dann solltet ihr euch schleunigst Gedanken über eure Vorstellungen machen. Ein solch großes Fest muss unbedingt ausgiebig vorbereitet werden. Je früher ihr damit anfängt, desto besser!“, tadelte Charlotte mit erhobenem Zeigefinger, „Nach dein Feiertagen werde ich dem Wedding Planner Bescheid geben, damit…“

„Ein Wedding Planner?“, wiederholten Charly und Mary beinahe wie aus einem Mund. Sie klang fasziniert, er eher erschrocken.

„Natürlich, meine Lieben. Eine derartige Feierlichkeit kann man nicht alleine planen. Du heiratest einen Rudolf, Mary. Das wird keine winzige Provinzhochzeit mit Dorfmusikkapelle und selbst gemachten Schnittchen. Eure Vermählung wird das gesellschaftliche Ereignis des nächsten Jahres werden. Spätestens Anfang Juni muss es soweit sein, damit unsere Feierlichkeiten nicht mit den Festspielen kollidieren.“ Beruhigend tätschelte Charlotte Marys Hand.

„Was, wenn wir das nicht wollen?“, fragte ihr Sohn aus trockener Kehle.

Seine Mutter hakte sich erneut bei ihm unter und klammerte sich fest an seinen Oberarm. „Jetzt ist es zu spät für kalte Füße! Eine Verlobung wird bei den Rudolfs nicht gelöst und eine Ehe niemals geschieden!“

Das vermeintliche Paar tauschte einen panischen Blick aus. „Bis dass der Tod uns trennt“, stellte Mary bitter fest. Charlys Antlitz wirkte noch verzweifelter.

„Ach, ihr seid so jung. Eure Hochzeit wird traumhaft werden und das ist erst der Anfang eines langen, glücklichen, gemeinsamen Lebens“, machte Kathi den beiden fröhlich lächelnd Mut.

Charlys Miene verdüsterte sich, was seiner Verlobten nicht entging. Etwas zu rasch verabschiedete sich ihre Bekanntschaft danach. Mary hatte das Gefühl, Kathi wollte rasch verschwinden, weil…ja, warum? Es schien fast so, als wäre die Brünette auf der Flucht, so flott eilte sie quer über den dicht bestellten Parkplatz auf den Supermarkt zu. Störte sie der Gedanke, dass Charly heiratete nur oder verletzte sie das sogar? Eventuell bildete sich Mary all das auch bloß ein und Kathi plagte normaler Weihnachtsstress am 24. Dezember – wie alle anderen Menschen an diesem besonderen Tag.

Auf der Rückfahrt verhielt sich Charly auffallend still. Fragte man ihn etwas, antwortete er entweder schnippisch oder gereizt. Lag seine schlechte Laune an den Menschenmassen, die ihr Fortkommen im Laden und am Parkplatz behindert hatten, oder am Stau und dem immerwährenden Gehupe genervter Autofahrer, welche sich durch die großteils nur einspurig befahrbaren, engen Straßen des winzigen Örtchens drängten? Manche hatten Gehsteige sogar als Parkplätze missbraucht, dass einige Fußgänger auf die ohnehin nicht sonderlich breite Fahrbahn ausweichen mussten. Soeben legte Charly wiederum fluchend eine Vollbremsung hin, dass Mary beinahe gegen den Beifahrersitz geschleudert wurde, obwohl sie angeschnallt war.

„Ah, bleibt am Gehsteig!“, brüllte Charly und untermalte jede einzelne Silbe mit langgezogenem Gehupe.

„Wie denn, wenn alles zugeparkt ist?“, konterte seine Mutter am Beifahrersitz lapidar.

„Mutter, bitte! Halt‘ dich da raus! Du hast heute schon genug gesagt! Oder willst du selbst fahren? Ach, ich vergaß: Du besitzt ja keinen Führerschein mehr.“

„Nur vorübergehend.“, meinte sie kleinlaut. Die Schamesröte stieg Charlotte ins künstlich straff gezogene Gesicht und Mary fragte sich, ob das Zusammentreffen mit Kathi Charly die Laune vermiest hatte. Es war nicht schwer zu erraten, weshalb Charlotte die Fahrerlaubnis entzogen worden war, obwohl die Presse darüber überraschenderweise nicht berichtet hatte. Sie trank gern und viel und war vermutlich in deutlich angeheitertem Zustand der Polizei in die Falle getappt.

Bei jeder Kurve und den unzähligen Bremsungen klirrten Flaschen im Kofferraum. Edle Weine waren darunter noch die harmlosesten Tropfen. Charlotte hatte vorhin im Geschäft noch weitere, deutlich härtere Getränke in den Einkaufswagen gepackt und sie unter anderen Waren vor ihrem Sohn versteckt. Erst an der Kassa musste sie ihr Geheimnis lüften. Sie probierte, zu verheimlichen, was ohnehin jedem in ihrem Umfeld nicht verborgen blieb: Charlotte betäubte sich manchmal mit Alkohol. Wenn man mit einem chauvinistischen, kaltherzigen, griesgrämigen Tyrannen wie Ludwig Rudolf verheiratet war, musste man der grausamen Realität wohl häufig entfliehen. Mary wunderte das nicht. Sie konnte Charlottes verzweifeltes Verhalten durchaus nachvollziehen. Für wen sollte die zurückhaltende, kultivierte Dame diesen ungeheuren Alkoholvorrat denn sonst besorgen? Mary traute dem unsympathischen Patriarchen viel zu, doch eines war er garantiert nicht: ein Säufer. Auch die anderen Familienmitglieder wirkten nicht wie Alkoholiker. Wenn jemand an einer Krankheit litt, dann am ehesten Regina. Ihre Figur war vermutlich jedoch nicht auf zu viel Wein zurückzuführen, sondern eher auf zu wenig feste Nahrung. Magersucht? Schon möglich. Nur Charly schaute hin und wieder zu tief ins Glas und war auch sonstigen berauschenden Substanzen nicht abgeneigt, wie jeder wusste, doch ihm traute sie so viel Mut zu, derartige Dinge selbst, offen und ungeniert zu besorgen.

Ihr hingegen mangelte es an Tapferkeit. Während Mary auf der schmalen, unbequemen Rückbank saß, die kurzen Beine krampfhaft einzog und der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn lauschte, tippte sie eine SMS an ihren Onkel, der zugleich auch ihr Chef war. Mary teilte ihm knapp mit, dass sie erst am 2. Jänner wieder ihre Arbeit aufnehmen würde, da sie die Feiertage bei einem guten Freund und seiner Familie verbrachte. Außerdem wünschte sie Onkel Simon und Tante Johanna frohe Weihnachten und ein gesundes Neues Jahr. Für wenige Momente hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihre einzigen, noch lebenden Verwandten anzurufen, um ein letztes Mal ihre Stimmen zu hören. Doch sie würden ihr Vorwürfe machen und so etwas wollte sie sich an ihrem allerletzten Heiligen Abend nicht antun. Irgendjemand würde sie in den nächsten Tagen sowieso über das frei gewählte Ableben ihrer Nichte informieren. Ob er ihr jetzt kündigte, war also vollkommen egal. Wofür bräuchte sie denn ihren spärlichen Verdienst noch?

Sich in der Villa umzubringen, würde vermutlich in einer blutigen Sauerei enden. Das wollte sie Charlottes schwachem Gemüt nicht zumuten. Auch den Kindern würden womöglich psychische Schäden zurückbleiben, wenn sie eine echte Leiche (außerhalb des Fernsehers oder der Computerspielewelt) sahen. Charly und die anderen täten ihr ebenfalls Leid. Nur Ludwig hätte sie diesen Skandal gegönnt. Tote in Landsitz des Schuhkönigs gefunden! Ist Ludwig Rudolf ein Mörder? Das war eine Schlagzeile, die Mary ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Wahrscheinlich würde sie sich zu Hause das Leben nehmen, genauso wie ursprünglich geplant. Sobald Karls Wagen verschwunden war, würde sie sich in die kalten Fluten der Salzach stürzen. Sollte er sie nicht heimfahren, reichte ihr Geld für ein Busticket aus. Da fiel ihr ein, dass sie der Hausherrin noch etwas zu sagen hatte. Mary stopfte ihr Mobiltelefon zurück in die knallige Kanarienvogel gelbe Tasche, die sie neben sich am engen Rücksitz platziert hatte. Sie nannte das gute Stück liebevoll Piepsi, weil sie vor Jahren einmal ein Haustier besessen hatte, das sie an dieses unförmige, klobige Umhängetäschchen erinnerte. Eine Hommage an einen kleinen, stimmgewaltigen Freund aus vergangenen Tagen sozusagen. Traf man im Himmel eigentlich auch seine tierischen Begleiter wieder? Wenn ja, würde über den Wolken einiges auf sie warten: drei Hamster, eine Katze, zwei Hasen und natürlich Piepsi!

Beim Gedanken an die Hasen fiel ihr erneut ein, was sie Charlotte mitteilen wollte. „Ich habe leider keine Geschenke dabei, aber ich könnte als Entschädigung für euch kochen: mittags, abends, einmal oder öfter? Das würde ich sehr gerne machen. Karli hat mich nämlich mit der Einladung, mit euch zu feiern, komplett überrumpelt.“ Sie erwiderte Charlys bösen Blick im Rückspiegel.

„Mein Sohn ist manchmal sehr spontan.“ Aus Charlottes Mund klang diese Eigenschaft nach einem Vorwurf. „Das ist sehr zuvorkommend von dir, aber nicht nötig. Ich beurlaube das Personal über die Feiertage und stehe selbst in der Küche. Das ist Tradition.“

„Leider“, murmelte Charly und erntete dafür einen finsteren Blick seiner Mutter. „Lass‘ dir doch wenigstens helfen, Mutter, wenn sie sich schon anbietet“, flehte er inständig.

Mary vermutete, dass seine Mutter keine begnadete Köchin war. „Meine Spezialität sind zwar Kuchen und Desserts, aber ich möchte mich trotzdem gerne nützlich machen“, ließ die Blondine nicht locker. Sie fühlte sich verpflichtet. Immerhin würde sie Charly bald enttäuschen, weil sie ein Versprechen brach.

Charlotte zuckte resigniert mit den Schultern. „In Ordnung, wenn dir das so sehr am Herzen liegt. Vielleicht kann ich von einem Profi noch das ein oder andere lernen.“

„Hoffentlich“, flüsterte ihr Sohn für alle hörbar.

Charlotte ignorierte diesen Kommentar und drehte sich zwischen den Sitzen zu ihrer künftigen Schwiegertochter um. „Karl wollte dich als seine Verlobte selbstverständlich standesgemäß in unsere Gesellschaft einführen. Das ist sehr anständig von ihm“, lobte sie ihren Nachwuchs, fixierte dabei aber Mary, „Hattest du ursprünglich vor, mit deiner Familie zu feiern? Ich freue mich darauf, deine Eltern kennen zu lernen. Hast du auch Geschwister?“

Mary rang sich ein müdes Lächeln ab, dann meinte sie trocken: „Sie sind leider beide tot. Ich bin ein Einzelkind und somit jetzt ganz allein.“

Charlotte erblasste. Peinlich berührt wandte sie sich ab und blickte wieder nach vorne auf die Straße. Dabei murmelte sie die übliche Floskel: „Das tut mir Leid. Du hast nun uns, allen voran Karl.“

Wenn du nur wüsstest, dachte Mary.

Beim ersten Teil von Charlottes Trostbekundung handelte es sich um den Standardsatz, den die Blondine schon viel zu oft gehört hatte. Jedem fehlten bei einem derart trübsinnigen Thema die Worte. Mitgefühl drückte man oberflächlich aus, obwohl das wahrscheinlich nur die wenigsten wirklich empfanden. Niemand konnte nachvollziehen, wie es sich anfühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren, bis man es selbst am eigenen Leib erfahren musste. Besonders Kinder waren zur Empathie nicht fähig. In der Schule wurde Mary gehänselt, weil sich ihre Mama umgebracht hatte. Wieso tat eine Mutter so etwas Furchtbares? Hatte sie Mary nicht mehr lieb genug gehabt, um mit ihr gemeinsam weiterzuleben? Das hatten ihr ihre Klassenkameraden damals eingeredet. Heute kannte die 25-Jährige die bittere Antwort: Ihre Mama war depressiv gewesen. Doch damals hatte sie den anderen Kindern geglaubt. Lange Zeit war sie überzeugt davon, Schuld am Tod ihrer Mutter zu tragen. Nur Toni hatte sie damals verstanden. Sein Vater war bei einer Bergtour abgestürzt, als er noch ein Säugling war. Trotzdem war Tonis Situation eine andere. Er wurde von den Mitschülern nicht ausgegrenzt, weil sein Papa eben nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war.

Mary war immer noch in trüben Gedanken versunken, als Charly in die Auffahrt der Villa einbog und den Wagen am üblichen Platz abstellte. Als Mary aus dem Auto stieg, war Charlotte schon auf dem Weg ins Haus. Ihr Sohn starrte ihr grimmig hinterher. „Den Angestellten ein paar freie Tage gewähren, aber selbst nicht mithelfen“, klagte er. Dann seufzte er kapitulierend, packte Mary grob am Arm und zog sie mit sich.

„Aua!“, jammerte sie, riss sich los, folgte ihm aber dennoch zur Rückansicht des Wagens.

Der Kofferraum war geöffnet, sodass sie von der Villa aus niemand beobachten konnte. Seine Miene wirkte verärgert, aber diesen Zorn bekam nun nicht mehr seine längst verschwundene Mutter zu spüren. Es war die allererste Gelegenheit, ungestört miteinander zu sprechen, und diese Chance nutzte der wütende Lockenkopf.

„Bist du völlig übergeschnappt?“, zischte er bedrohlich und seine schokobraunen Augen funkelten zornig, „Wieso erzählst du meiner Familie, wir seien verlobt?! Ich vollbringe eine gute Tat und rette eine Irre, die dann sofort meine Ehefrau werden will?! Von der Beinahe-Leiche bis zum geldgeilen Luxusweibchen ist der Grad offenbar nur schmal! Hast du das absichtlich so eingefädelt? Ich werde dich bestimmt nicht heiraten, damit das ein für alle Mal klar ist! Hast du in den Spiegel geschaut? Denkst du wirklich, du seist mein Typ? Sehe ich so aus, als würde ich übergewichtige Blondinen mögen?“

Er hatte sie gekränkt. Erbost stemmte Mary beide Arme in ihre füllige Hüfte. „Ich bin unschuldig!“

„Ach, ja? Saugt sich meine Familie diese abstruse Geschichte einfach so aus den Fingern? Du willst dich hier einnisten, sonst nichts! Weil dein Leben aussichtslos war, wolltest du dich vor ein paar Stunden in die Salzach stürzen, doch dann hat dich ja jemand gerettet, der zufällig ein vermögender Junggeselle ist. Da dachtest du dir: Oh, toll! An den schmeiße ich mich gleich ran! Bravo, Maria!“ Sein eckiges Kinn war so angespannt, dass sich seine gesamte furchteinflößende Miene verfinsterte.

„Das war nie meine Absicht!“, verteidigte sie sich flehend, „Woher hätte ich denn wissen sollen, dass ausgerechnet du mich retten wirst und noch dazu wieder Single bist?“ Beinahe hätte sie ihm gestanden, was sie wirklich vorhatte, doch dann wäre ihr Plan zum zweiten Mal gescheitert. Also erzählte sie ihm, was tatsächlich passiert war, und hoffte, dass er ihr glaubte. „Deine Nichte hat die falschen Schlüsse gezogen und musste das natürlich sofort in alle Welt hinausposaunen.“

„Gibst du jetzt etwa Lena die Schuld? Einer Achtjährigen, die selbstverständlich kein Geheimnis für sich behalten kann?! Mein Ring für…für…ach, egal! Dieser Ring hat an deiner Hand nichts verloren! Wie kann man nur so dumm sein, zu denken, der Schmuck eines Models würde auch auf einen fetten Finger passen?!“

Er hatte sich immer noch nicht beruhigt und Mary war verletzt, weil er wiederum ihre Figur attackierte. Er hatte ihren wunden Punkt getroffen. Absichtlich so gemein zu sein, hatte sie ihm nicht zugetraut. Offenbar steckte mehr von Ludwig in ihm, als sie erwartet hatte.

Obwohl Charly erzürnt war, fiel ihm auf, dass Marys aufgeweckten grünen Augen plötzlich traurig wirkten. Er ahte, dass er ihr soeben bewusst weh getan hatte. Eigentlich hatte er das zwar beabsichtigt, aber jetzt tat sie ihm Leid. Mary war kein schlechter Mensch, nur weil sie zu füllig war. Er verurteilte sich insgeheim dafür, dass er seinem Vater in mancherlei so sehr ähnelte. Die eigene Herkunft prägte einen, auch wenn man sich noch so sehr dagegen zur Wehr zu setzen versuchte.

„Na, gut. Einigen wir uns auf eine blöde Aneinanderreihung dummer Umstände, die zu dieser absurden Kettenreaktion geführt hat.“

Mary war noch nicht bereit, sich auf dieses halbherzig formulierte Friedensangebot einzulassen. Sie war nachtragend und jetzt nicht so einfach von seiner Allzweckwaffe namens Charme einzuwickeln.

„Wäre dir die Alternative denn lieber gewesen? Hätte ich deiner Familie in deiner Abwesenheit von unseren Selbstmordabsichten berichten sollen? Bitte, gerne! Dann spazieren wir jetzt da rein und beichten alles. Danach gehen wir wieder getrennte Wege. Es war nett, dich persönlich kennen gelernt zu haben, Charly Rudolf.“

Entschlossen stapfte sie zwei Schritte auf die Villa zu, ehe Charly panisch rief: „Halt! Warte!“ Schmunzelnd hielt Mary inne und drehte sich mit strenger Miene um. „Du hast Recht. Klären wir sie später auf, warten wir den richtigen Zeitpunkt ab.“

Mary bezweifelte, dass es für dieses Gespräch je den richtigen Zeitpunkt geben würde, doch das konnte ihr ja bald egal sein. Sollte Karli nach ihrem Tod seinen Verwandten doch erzählen, was er wollte. Ihre Leiche würde das nicht mehr kümmern.

„Okay“, stimmte sie zu, aber es brannte ihr noch eine Frage auf der Seele, „Es stört dich, dass Kathi denkt, wir wären verlobt, stimmt’s?“ Es klang viel mehr nach einer Feststellung, als sie beabsichtigt hatte.

„Ach, Unsinn! Wieso soll mich Kathis Meinung zu meinem Privatleben interessieren?“, antwortete er belanglos, sah sie dabei jedoch nicht an. Lieber wandte er seine Aufmerksamkeit den Einkäufen im Kofferraum zu.

Vielleicht, weil du dir wünscht, sie würde Teil deines Privatlebens sein?, dachte Mary, schwieg aber.

Charly drückte ihr plötzlich ohne Vorwarnung zwei Tüten in die Hände, klatschte und meinte: „Hopp, Bewegung!“

„Wenn du noch einmal klatschst, um mich anzutreiben wie einen Hund, bin ich Witwe, bevor wir überhaupt heiraten konnten“, murmelte Mary und spürte bei jedem Wort ihren warmen Atem, da die Tüten ihren Mund verdeckten.

Charly bedachte sie mit einem unschuldigen Welpenblick, den Mary wegen der Einkäufe fast nicht sehen konnte. Er bepackte sich ebenfalls und folgte ihr vorsichtigen Schrittes. Nachdem sie die Taschen vorerst am Marmorboden des Flurs abgestellt hatten, wollten sie sich ausziehen, ehe sie die unzähligen Einkäufe in die Küche schleppten. Charlotte war längst verschwunden, weil es etwas zu erledigen gab, worauf sie keine Lust verspürte, und auch ansonsten war keine Hilfe in Sicht. Charly war schon in seine langweiligen grauen Filzpantoffeln geschlüpft, Mary hatte sich ihres Mantels und ihres neon-pinken Schals entledigt, als Ludwig um die Ecke bog.

„Da seid ihr ja endlich!“, tadelte er die beiden und rümpfte anmaßend seine schmale Nase.

Mary verabscheute den Hausherrn und sein unsympathisches Gesicht, das sie stets an eine hässliche, bösartige, giftige Kröte erinnerte. Dass ihnen ausgerechnet er als Erster begegnen musste und sie noch dazu derart uncharmant begrüßte, vermieste ihr bereits vormittags den Rest des 24. Dezembers.

„Es ist Heiliger Abend und die Leute decken sich mit Vorräten ein, die für das Überleben eines nuklearen Krieges ausreichen würden“, rief ihm sein Sohn immer noch beleidigt, weil ihm eine Teilnahme an der Geschäftsbesprechung versagt geblieben war, ins Gedächtnis. Allein seinem Vater gab er die Schuld an dieser Ausgrenzung.

„Ihr müsst gleich wieder los. Es ist schon spät genug.“

„Wir sind gerade erst angekommen“, entgegnete Mary bockig, „Warum denn?“

„Wir benötigen einen Baum.“

„Wenn dir die diesjährige Tanne nicht gefällt, ist das Wilhelms Problem. Ruf den Gärtner doch an, wenn du unzufrieden mit seiner Lieferung bist“, meinte Charly und zuckte mit den breiten Schultern.

„Wilhelm ist schon seit einer Woche krank. Er hat mir versprochen, spätestens bis heute fit zu werden, um einen Weihnachtsbaum zu besorgen. Tja, die Grippe hat leider gesiegt. Dieses Weichei schafft es angeblich nicht aus dem Bett. Es zeugt von mangelnder Disziplin, wenn einen ein bisschen Fieber umhaut. Jetzt haben wir keinen Baum. Fahrt also noch einmal los und kauft einen. Karl, du weißt, was ich mir wünsche: eine anständige Tanne oder Fichte, kein mickriges Bäumchen, wie es die Arbeiterklasse so sehr schätzt, weil sich der Pöbel zum Fest der Geburt des Herrn nichts Angemessenes leisten kann oder will.“

„Ähm, eine Vertreterin des Pöbels steht momentan neben Ihnen“, schaltete sich Mary empört ein. Bevor sie ihre Meinung unsanft kundtun konnte, meldete sich Charly resigniert klingend zu Wort: „Wieso denn schon wieder wir? Dein anderer, perfekter Sohn würde sicherlich den perfekten Baum finden.“

„Das wird heute allerdings nicht mehr besonders einfach werden. Weshalb wird er wohl uns schicken? Weil er davon ausgeht, dass wir versagen werden, und er sich jetzt schon darauf freut, uns später zu rügen, da wir seine abstrusen, völlig überhöhten und unrealistischen Erwartungen nicht erfüllen konnten“, gab Mary ihre Gedanken gereizt preis.

„Ich stehe direkt neben Ihnen. Sprechen Sie gefälligst nicht so, als wäre ich nicht anwesend.“ Ludwigs schmale, verkniffene Lippen bebten.

„Tja, das geht dem Pöbel am Arsch vorbei.“

Charly verschluckte sich beinahe am eigenen Speichel. Niemand benutzte derartige Kraftausdrücke im Beisein seines Vaters. Ludwigs große Augen weiteten sich hinter den runden Brillengläsern, sodass Mary nur noch das rot geäderte Weiße erkennen konnte. Die Falten auf seiner hohen Stirn wurden zu tiefen Furchen, doch der Unternehmer schwieg. Wortlos drehte er sich um und schlurfte ziemlich ungalant in seinen geschlossenen schwarzen Schlapfen davon.

Mit so viel Unverschämtheit und Frechheit hatte er sich noch niemals messen müssen.

KAPITEL 6

„Scheiße!“, quietschte Mary, als sie aus dem Wagen stieg und knöcheltief im nassen, schweren Morast versank. Ihre heißgeliebten, kniehohen, engen schwarzen Raulederstiefel mit dem niedrigen Zwei-Zentimeter-Mini-Absatz konnte sie nach dieser aussichtslosen Odyssee wohl entsorgen. Auch egal, wem hätte sie die vormals schönen Stücke denn vererben sollen?

Sie spürte förmlich, wie ihr die Kälte in die Zehen kroch, obwohl ihr Schuhwerk warm gefüttert war.

„Das ist Dreck. Scheiße wäre schlimmer. Also stell‘ dich nicht so an. Immerhin bist du das Mädchen vom Land und stammst im Gegensatz zu mir aus einer bodenständigen Familie. Reiß‘ dich gefälligst zusammen! Wir müssen einen Auftrag erfüllen!“ Auch Charly warf einen nicht minder traurigen Blick auf seine edlen beigen Boots, die inzwischen eine viel dunklere Farbe angenommen hatten.

Bodenständig? Sag‘ doch, was du wirklich denkst: normal, durchschnittlich, Mittelklasse – das meintest du doch.“

Auf diese Diskussion ließ sich Karli jetzt jedoch nicht ein.

Mary schlug die Tür des Porsches fest zu und stellte sich dabei vor, es wäre Ludwig, der all ihren Frust zu spüren bekam. Dann stapfte sie neben Charly durch den weichen, bräunlich verfärbten Schneematsch. Bei Sonnenschein und für diese Jahreszeit ungewöhnlich milden Temperaturen konnte sich die spärliche weiße Pracht der letzten Nacht nicht lange halten.

Sie wateten durch den schlammigen Untergrund, der bei jedem Schritt schrecklich schmatzende Geräusche von sich gab. Mary blutete das Herz. Ein solch bitteres Ende hatten ihre Schuhe nicht verdient.

„Das sind meine Lieblingsstiefel!“, jammerte sie, „Die kann ich nach diesem sinnlosen Trip entsorgen, weil alles versaut ist – irreparabel!“ Ihre Stimme klang weinerlich und wütend zugleich.

„Wenn jemand über das Recht verfügt, sich zu beklagen, bin ich das. Meine Boots sind keine billigen, schlechten Nachahmungen namhafter Marken, sondern teure Originale.“

„Echte Rudolfs. Ich habe euer Logo erkannt. Allerdings bezweifle ich, dass du den gesamten Preis dafür bezahlen musstest. Wenn ja, verdienst du genug, weil ansonsten könntest du dir eure Produkte gar nicht leisten. Ich müsste für einen echten Rudolf-Schuh monatelang sparen“, urteilte sie hartherzig.

„Mein Vater verschenkt nichts. Er denkt, man wird nachlässig, wenn man zu sehr verwöhnt wird. Man muss sich alles selbst erarbeiten. Bei seinen Enkeln macht er manchmal eine Ausnahme. Wenn es meine Kinder wären, würde ihnen das Privileg seiner gnädigen Nachsicht bestimmt nicht gewährt werden. Er hält mich nämlich für unnütz und faul, weil ich nicht so ehrgeizig, makellos und perfekt bin wie Christian. Meine Geburt war die größte Enttäuschung seines Lebens. Er wusste schon, dass ich schwach bin und nichts tauge, als er mich das erste Mal sah. Das hat er mir selbst gesagt.“

Mary schluckte. Wie konnte ein Vater seinen Sohn nur so behandeln? Wie mies musste denn der eigene Charakter sein, um so viel Boshaftigkeit zu verbreiten?

„Tja, dein Verhalten ist nicht immer vorbildlich“, beschwichtigte sie, „Wenn euer Familienoberhaupt dieselben Zeitschriften liest wie ich, ist sein Bild von dir selbstverständlich nicht ganz ungetrübt.“ Mary hatte sich bemüht, sich diplomatisch auszudrücken, da sie keineswegs so gemein wie Ludwig sein wollte.

„Er ist daran nicht völlig schuldlos. Kinder rebellieren nicht ohne Grund“, stellte er bitter fest und beschleunigte sein Tempo.

„Du bist längst kein Kind mehr, sondern fast dreißig.“ Mary wunderte sich selbst, als dieser Satz ihrem Mund entfleucht war. Warum verteidigte sie das alte, herrische, bösartige Monster? Er hatte ihnen diese sinnlose Suche überhaupt erst eingebrockt. Genau genommen war diese schmierige, greise, griesgrämige Kröte Schuld an ihrem Dilemma, doch er würde die Verantwortung für ihr Misslingen natürlich auf sie abwälzen.

Seit über zwei Stunden grasten sie wie hungrige Kühe mit Charlys wintertauglichem Sportwagen, der inzwischen ebenso verdreckt war wie das Schuhwerk und die Hosen der beiden, die Gegend ab – bisher ohne Erfolg. Mittlerweile hatte Mary jede Hoffnung aufgegeben. Es war kaum verwunderlich, dass die größten, dichtesten und schönsten immergrünen Bäume am Heiligen Abend längst vergriffen waren. Wenn die Weihnachtsbaumverkäufer überhaupt noch an ihren Ständen anzutreffen waren, packten sie entweder gerade zusammen und waren über die unerwartete Kundschaft wenig erfreut oder boten nur noch die mickrigen Reste ihres Sortiments an und wunderten sich über die abstrusen Sonderwünsche der Spätberufenen.

Da Charlys Ortskenntnisse begrenzt waren, übernahm seine Begleiterin die Funktion eines Navigationsgeräts. Inzwischen hatten sie sämtliche Plätze, an denen Christbäume vertrieben wurden und die Mary kannte, abgeklappert. In der Schlammwüste neben dem Gasthof Bloch fündig zu werden, war nun ihre letzte Chance. Mary wusste nicht, wo sie sonst noch hinsollten.

Schon von Weitem sahen sie, dass die Auswahl spärlich war.

Verwundert beobachtete der kleine, glatzköpfige, aber vollbärtige Verkäufer im schwarzen Anorak, wie die beiden offensichtlich verirrten Spaziergänger auf ihn zukamen. Sie waren einem verdreckten, ehemals silbernen, dennoch noblen Gefährt entstiegen. Vermutlich waren sie Touristen und wollten nach dem Weg fragen. Er fand es erstaunlich, dass junge Leute heutzutage keine Karten mehr lesen konnten und anscheinend hatte auch die moderne Technik ihre Schwächen. Nicht jede Brücke, Höhle oder Seitenstraße war in den Navigationsgeräten verzeichnet. Zum Glück gab es noch ortskundige, naturverbundene Einheimische wie ihn.

Tatsächlich steuerten sie direkt auf ihn zu. Bevor die Fremden etwas sagen konnten, erklärte der Eierköpfige mit dem weißen Schal, den er so eng um seinen Hals gewickelt hatte, dass ihn der Stoff beim Sprechen behinderte: „Die Klamm ist im Winter für Besucher gesperrt. Auch der Klettersteig ist um diese Jahreszeit nicht passierbar. Abseits der Hauptstraßen werden Sie mit Ihrem Fahrzeug sowieso nicht weit kommen.“ Nach fast jedem Wort zupfte er seinen Kälteschutz ein bisschen nach unten, doch das Material schob sich immer wieder nach oben. Dennoch war der Händler zufrieden. Er hatte die Urlauber soeben über die beliebtesten Ausflugsziele der Region informiert.

Besonders kulturinteressiert wirkten die zwei nicht, der Mann vielleicht noch eher als das füllige Blondchen. Auch sportbegeistert sah sie nicht aus. Also konnte er sich den Hinweis auf die sonstigen Attraktionen der Gegend getrost sparen. Außerdem trugen sie kein Skioutfit. Auf das ausgedehnte Wintersportgebiet hinzuweisen, hielt er deshalb ebenso nicht für nötig.

Beide schauten ihn verwirrt an. „Wir suchen einen schönen Christbaum“, meinte der Mann hochnäsig.

Wahrscheinlich hielt er ihn für geistig rückständig. Das ärgerte den alternden Naturburschen. Er kratzte sich am großen, etwas abstehenden, rechten Ohr. „Ach, so. Das kann ja keiner ahnen. Vernünftige Menschen besorgen ihre Bäume rechtzeitig“, verteidigte er sich schroff. Dann breitete er seine kurzen Arme aus und zeigte ihnen seinen mickrigen Restbestand. „Bitte, bedienen Sie sich.“

„Meiner Meinung nach ist es am 24. Dezember noch nicht zu spät. Bis zur Bescherung vergehen nämlich noch ein paar Stunden“, entgegnete Charly kühl.

„Das ist alles?“, fragte Mary freundlich, aber enttäusch, nachdem sie dreizehn Bäumchen gezählt hatte. Nicht einmal der höchste davon überragte sie und das wäre bei kleinen 1,55 Metern zu erhoffen gewesen.

Der Glatzkopf grinste verschmitzt. „Wer so spät kommt, darf sich nicht über das dürftige Angebot beklagen. Ich mache euch wenigstens einen guten Preis, einverstanden?“ Er zwinkerte geschäftstüchtig.

„Ein guter Preis?“, wiederholte Charly süffisant, „Eigentlich müssten Sie uns diese paar dürren Ästchen schenken.“

„Ich muss gar nichts. Mein Geschäft lief ausgezeichnet. Ein verkaufter Baum mehr oder weniger macht für mich keinen Unterschied, aber ihr wollt etwas von mir – dringend.“ Gierig leckte er sich mit der Zunge über die spröden Lippen.

Skeptisch umkreiste Charly den höchsten aller noch verfügbaren Nadelbäume und betrachtete ihn von allen Seiten. Er reichte ihm kaum bis zur Brust. Mary beobachtete ihn mitleidsvoll. Üppig war diese Tanne keinesfalls. Die Lücken zwischen den einzelnen dünnen Ästen sahen verheerend aus.

„Das ist Ihr bestes Exemplar?“, fragte sie den neben ihr stehenden schmächtigen Händler, obwohl sie die deprimierende Antwort längst erahnte.

Der bärtige Mann nickte. „Am Heiligen Abend sind die besten längst vergriffen. Ihr erwartet doch nicht ernsthaft einen zwei Meter hohen, dichten, perfekten Prachtbaum?“

Charlys ernüchterter Blick reichte aus, um ihm zu signalisieren, dass sie sich genau das erhofft hatten. Der Verkäufer brach in schallendes Gelächter aus, das vereinzelt von Hustanfällen unterbrochen wurde. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Mary wusste nicht, ob das an der tragischen Komik ihrer momentan bedauernswerten Situation oder an seinem übel klingenden, sicherlich schmerzhaften Hustenreiz lag.

Inzwischen hatte Charly seinen Besichtigungsrundgang beendet. „Die sind alle zu klein und hässlich“, lautete sein abschließendes, vernichtendes Urteil.

„Dann verlasst mein Gelände mit leeren Händen. Ich habe kein Problem damit. Ein Weihnachten ohne Baum ist bestimmt weniger fröhlich, aber bitte! Eure Entscheidung!“, meinte er eingeschnappt.

„Das war der richtige Entschluss“, ermutigte Mary ihren Begleiter, als sie wieder im Wagen saßen, obwohl sie sich selbst nicht sicher war, ob es klug war, ein Sonderangebot auszuschlagen. Auch wenn sie nach stundenlanger Suche nur eine bescheidene Ausbeute mitgebracht und der unfaire Ludwig sie deswegen getadelt hätte, wären sie zumindest nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Welche Möglichkeiten blieben ihnen denn jetzt noch? Keine!

„Was machen wir nun? Wo haben wir noch nicht nachgefragt?“, wollte Charly wissen. Mary zuckte ratlos mit den Schultern, die sich breit unter ihrem pinken Mantel abzeichneten. „Was ist mit deinem?“, schlug er vor, „Ich habe eine hübsche Tanne oder Fichte in deinem Wohnzimmer stehen sehen. Der Baum war zwar klein, aber besser als seine miesen Reste. Dein Christbaum ist sogar fertig geschmückt, zwar wenig geschmackvoll, aber das lässt sich zum Glück ja ändern.“

Dass er ihren Stil herabwürdigte, störte Mary. Dennoch zog sie seine Idee in Betracht. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Weihnachtsdekoration zu diskutieren.

„Das schaffen wir zeitlich nicht. Wir müssten zuerst bei mir den Baum abschmücken. Das wird nicht rasch zu erledigen sein, denn jede einzelne Kugel wird sorgfältig in Papier eingewickelt und vorsichtig verstaut. Diesen Schmuck kenne ich noch aus Kindertagen. Seit jeher hängen dieselben schönen, alten Stücke an unserem…meinem Baum. Da wird nicht holterdiepolter irgendetwas kaputt gemacht. Vieles ist unersetzbar. Damit sind wunderbare Erinnerungen verknüpft.“

Charly seufzte theatralisch. „Ach, bitte! Du brauchst diesen Baum sowieso nicht. Die Tanne steht einsam und verlassen in deinem Haus. Bei uns würde sie wenigstens gewürdigt.“

„Wenn du mir versprichst, behutsam vorzugehen und nichts zu zerstören.“

Karl kaute auf seiner Unterlippe und bedachte sie mit einem zuckersüßen, flehenden Welpenblick, der Mary diesmal nicht erweichte.

„Vergiss‘ es! Ich werde morgen für euch kochen. Somit habe ich meinen Beitrag für eure Gastfreundschaft geleistet. Wenn du mir nicht garantieren kannst, mein Eigentum nicht zu demolieren, ist das Pech für dich!“ Unnachgiebig verschränkte sie ihre Arme vor der Brust.

„Mein Eigentum“, murmelte Charly und grinste selig.

„Was?“ Mary hatte nicht verstanden, was er genuschelt hatte.

„Du bist genial!“, lobte er sie und tätschelte sanft ihr linkes Knie. Dann startete er den Motor.

„Warum? Wo fahren wir hin? Du kriegst meinen Baum nicht!“

Charly schüttelte nur immer noch lächelnd den Kopf und fuhr los. Nach einem kurzen Zwischenstopp beim Baumarkt, während Mary jedoch wie ein Hund im Auto warten musste, hielt Charly vor einer rot-weißen Schranke, die ihnen die Weiterfahrt versperrte. Ein rundes Schild in der Mitte des Balkens wies darauf hin, dass sich vor ihnen ein bewaldetes Privatgrundstück erstreckte. Der Zutritt war unbefugten Personen verboten.

Charly zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Mary harrte aus, denn sie vermutete, er würde gleich den Schranken öffnen und dann wieder zum Wagen zurückkehren. Stattdessen bückte er sich und duckte sich unter der hölzernen Sperre hindurch. Auf der anderen Seite drehte er sich Mary zu und winkte ungeduldig.

Verwundert verließ sie den Wagen ebenfalls. Sofort ertönte das wohlbekannte Klicken. Charly hatte die Türen verriegelt.

„Willst du etwa hier mitten am Weg parken?“, fragte sie verdutzt.

„Ja, jetzt komm endlich rüber! Keine Sorge, der Abstand zwischen Schranke und Boden ist groß genug. Da passt du knapp durch.“

Für diesen letzten Satz hätte Mary ihn am liebsten mit einem dicken Schneeball beworfen, doch bei ihrer mangelhaften Zielgenauigkeit garantiert verfehlt. Am Schnee wäre ihr Vorhaben jedoch nicht gescheitert, denn davon gab es hier überraschenderweise genug.

Bereits auf der Herfahrt war Mary aufgefallen, dass die weiße Pracht von Meter zu Meter mehr wurde. Anscheinend lag dieses Waldgrundstück an einer außerordentlich schattigen Stelle. Nach dem ersten ausgiebigen Wintereinbruch Anfang Dezember hatte sich der Schnee aufgrund der niedrigen Temperaturen in dieser sonnenarmen Gegend gehalten. Die Landschaft war zauberhaft und hätte eine Postkarte zieren können. Der einspurige, gerade einmal für ein Auto breite Forstweg, der sich tief in den Wald hineinzog, war verschneit und diese weiße Decke wurde nur von einzelnen menschlichen und tierischen Fußspuren gestört. Die blätterlosen Äste der Laubbäume sowie die zahlreichen Tannen, Fichten und Lärchen trugen ebenso weiße, dicke Häubchen. Hier hatte vor einigen Wochen der Winter Einzug gehalten und ließ sich nicht einfach und rasch vertreiben.

Jetzt begriff Mary auch, warum Charly mitten am Weg gehalten hatte. Hätte er seinen heißgeliebten Porsche am tief verschneiten Straßenrand abgestellt, müssten sie wohl den Frühling abwarten, um die Reifen zu befreien. Vermutlich konnten sie aufgrund derselben Ursache nicht weiterfahren.

Mittlerweile ahnte Mary, was er vorhatte, und gerade dafür hätten sie den Wagen dringend benötigt.

Stöhnend duckte sich Mary unter dem Hindernis durch. Zum Glück war sie nur 1,55 Meter klein. Es fiel ihr daher nicht allzu schwer, auf die abgesperrte Seite zu gelangen, obwohl der Schnee nicht mehr frisch und leicht, sondern hart war und man daher bei jedem Schritt abrupt bis zum Knöchel einsank.

Mary hielt sich mit einer Hand am rot-weißen Balken fest und bewegte sich langsam, ruckartig fort. Als sie sich freudestrahlend aufrecht neben Charly gesellte, war sie begeistert, diese Hürde problemlos gemeistert zu haben.

Der Lockenkopf applaudierte sogar. „Respekt, du überraschst mich immer wieder. Ich hatte einen ungraziösen Bauchfleck erwartet“, meinte er süffisant.

Mary schlug ihm auf seinen muskulösen Oberarm, der sich deutlich unter der Jacke abzeichnete. Sein gespielter Schmerzensschrei wurde von seinem eigenen Lachen erstickt.

„Wieso hast du mir nicht gleich erzählt, dass ihr auch ein Waldstück besitzt? So hätten wir uns viel Zeit und Ärger erspart“, klagte Mary, als sie neben ihm her tiefer in das Dickicht stapfte.

Das Rudolfsche Anwesen musste unglaublich weitläufig sein, wenn der Wald, der an den geräumigen Garten anschloss, auch noch der reichen Schuhdynastie gehörte. Sie waren an der Weggabelung einfach in die entgegengesetzte Richtung abgebogen und schon fanden sie sich mitten in einem winterlichen Baum-Schlaraffenland wieder. Links wären sie zur Villa zurückgekehrt, doch Charly hatte die rechte Abzweigung gewählt.

„Dieser Forst gehört uns nicht“, stellte er klar.

Schlagartig hielt Mary inne. Nach ein paar Metern bemerkte Charly, dass jemand an seiner Seite fehlte. Also drehte er sich verdutzt um. „Was ist denn? Na, los! Weiter!“, drängte er ungeduldig.

„Wo sind wir?“ Mary pustete sich übertrieben heftig eine blondierte Strähne aus dem pausbäckigen Gesicht.

„Je weniger du weißt, desto besser ist das für dich.“

„Wieso? Wem gehört dieser Wald? Etwa der Mafia?“

„Nicht ganz. Jetzt komm endlich! Wir sollten uns nicht erwischen lassen!“ Charly schaute sich in der undurchsichtigen Umgebung sorgsam um.

Diese Vorsichtsmaßnahme bereitete Mary Unbehagen. „Jemand ähnlich gefährlichem also“, überlegte sie laut, „Ein Drogenboss vielleicht? Baut er hier irgendwo Hanf an? Du willst einem Kriminellen eine Tanne klauen?“

„Eine Fichte tut’s auch. Mal sehen, was wir finden: Hauptsache hübsch und hoch genug. Schau mich nicht so schockiert an! Hast du denn noch nie etwas Verbotenes gemacht?“

Mary durchdachte kurz ihre Vergangenheit. Natürlich war sie in ihrer Jugend kein Unschuldslamm gewesen. Das war sie genau genommen heute auch noch nicht. Sie hatte einfach aus Reiz am Unerlaubten Kaugummi gestohlen, wenn im kleinen Lebensmittelladen die alte Feldner Lisi, bei der das Augenlicht allmählich abnahm, an der Kassa saß. Wer hatte sich nicht Zugang zu Clubs verschafft, obwohl man noch nicht volljährig war? Bei genügend Schminke und zwei gut gepushten, aber wenig verpackten Argumenten achteten die meisten Türsteher nicht mehr allzu genau auf die gesetzlichen Altersbeschränkungen. Nein, Mary war definitiv kein braves Engelchen, aber auch ein Teufelchen musste sich moralische Grenzen setzten. „Darum geht es jetzt nicht“, sagte sie streng, „Mit wem legen wir uns an?“

„Mit niemandem, wenn wir uns nicht erwischen lassen.“

„Und wenn uns jemand ertappt?“

„Dann sind wir tot.“ Charly zwinkerte ihr weder zu noch lächelte er. Vielmehr starrte er sie herausfordernd an. „Ich kann verstehen, falls du lieber hier warten möchtest. Allerdings werde ich Hilfe benötigen. Ich wäre dir daher sehr verbunden, wenn du mich begleiten würdest.“

„Auch, wenn ich dabei sterben könnte?“

„Vor einigen Stunden warst du noch bereit, dich freiwillig in einen eisigen Fluss zu stürzen, um zu ertrinken oder zu erfrieren. Je nachdem, welche Todesart dich früher ereilt hätte. Du kneifst doch nun nicht etwa?“ Er musterte sie vorwurfsvoll und enttäuscht zugleich.

„Ja, ich wollte mich umbringen, aber ich habe keine Lust, gefoltert und anschließend mafiareif hingerichtet zu werden. Wie gehen diese Verbrecher denn vor? Zerstückeln, die Füße einbetonieren und dann fachgerecht in einem See versenken oder kniend durch einen Kopfschuss töten? Nein, danke!“

„Ich werde sämtliche Schuld auf mich nehmen. Eventuell lässt er dich dann gehen“, antwortete Charly pflichtbewusst.

„Wie beruhigend“, konterte Mary sarkastisch.

„Apropos Folter“, fiel ihm ein, „Die Säge liegt noch im Kofferraum.“ Also stapfte er zurück und holte seinen Neuerwerb, den er erst noch aus der Verpackung befreien musste. Mary wartete währenddessen unruhig und blickte sich jedes Mal ängstlich um, wenn sie seltsame Geräusche vernahm. Leider knackste oder raschelte es im Wald sogar im Winter häufig, was ihre angespannten Nerven weiters strapazierte.

Schwerfällig manövrierte sich Charly unter der Schranke durch und hielt bei jedem Schritt die Säge so weit wie möglich von seinem Körper entfernt, um sich bei einem möglichen Sturz auf dem rutschigen Untergrund nicht zu verletzen oder sich im schlimmsten Fall gar das wertvollste Teil seines Leibes ungewollt abzuschneiden. „Damit könnten wir uns notfalls sogar verteidigen“, meinte er strahlend und hielt das Werkzeug vorsichtig in die Höhe.

„Mein Held“, erwiderte Mary spöttisch und hielt sicherheitshalber genügend Abstand, als sie neben ihm her spazierte. Charly wirkte nämlich nicht so, als könnte er mit seinem neu erworbenen Männerspielzeug umgehen. „Sollen wir das wirklich tun? Einen Baum stehlen?“, fragte sie nach einer Weile zaghaft.

„Willst du meinem Vater diesen Triumph gönnen? Er wartet doch förmlich darauf, dass wir versagen. Du kannst gerne hier bleiben. Ich werde mich beeilen. Allerdings habe ich dich unkonventioneller und tapferer eingeschätzt.“

„Wenn Ludwig uns finanziell aus der Untersuchungshaft auslösen muss, wird er auch nicht sehr stolz sein“, gab sie zu bedenken.

„Falls wir erwischt werden, muss er uns in der Gerichtsmedizin identifizieren. Keine leichte Aufgabe, denn viel wird an uns nicht heil bleiben, sollte er uns töten.“

Mary seufzte schwer. „Wer er?“ Doch Charly weigerte sich, zu antworten. Wann war sie zum Feigling mutiert? Seit wann schlug sie ein Abenteuer aus?

„Na, gut“, willigte sie schließlich wenig überzeugt von ihrem eigenen Entschluss ein, „Ich hatte sowieso einen spektakulären Tod geplant. Soll mich die Mafia eben zerstückeln.“

„Das ist die richtige Einstellung! Märtyrerhafte Todesbereitschaft kann nie schaden!“, lobte er sie grinsend.

„Die Fähigkeit, bestimmte Gedanken zur Seite zu schieben, auch nicht“, gab Mary schmunzelnd zurück, „Zeigen wir’s deinem Alten!“

Wortlos stapften sie nebeneinander her. Irgendwann ertrug Mary das Schweigen nicht mehr länger. Zwar hätten sie in der wäldlichen Stille ein hinterhältiges Attentat vielleicht rechtzeitig gehört, aber wollte sie das überhaupt? Wäre es nicht besser, aus dem Hinterhalt überrascht zu werden? Retten hätten sie sich in diesem winterlichen Baumlabyrinth sowieso nirgends können. Ihre Spuren würden sie immer verraten, egal wohin sie liefen oder wo sie sich versteckten.

„Jetzt sind wir unter uns. Du kannst es mir also verraten. Dann sterbe ich wenigstens nicht informationslos. War da einmal was zwischen dir und Kathi?“ Die Neugier stand ihr ins runde und von der Anstrengung gerötete Gesicht geschrieben.

„Wie kommst du bloß auf derartigen Schwachsinn?“, tat er unbeteiligt, doch seine ertappte Miene verriet ihn. Seine dichten, dunklen Brauen waren angestrengt nach oben gezogen. Außerdem fuhr er sich unbeholfen durchs volle Haar. Das waren alles äußerst verräterische Gesten.

„Leugne es doch nicht! Es verletzt mich, dass du mich für so blöd hältst. Vielleicht merkt deine gefühlskalte Familie nicht, was du für Kathi empfindest, aber mir fällt so etwas auf.“

„Was willst du bemerkt haben?“, hakte er belustigt nach, „Ja, wir mögen uns. Wir haben früher oft gemeinsam gespielt.“ Charlys Tonfall sollte ihr eigentlich verdeutlichen, dass er ihre Wahrnehmung nicht ernst nahm. Stattdessen bewirkte er mit seiner gekünstelten, vorgetäuschten Stimmung nur das Gegenteil.

„Doktorspiele? War sie dein erstes Mal?“ In ihren grünen Augen blitzte Interesse auf.

Charly schnaubte verächtlich und fuhr sich mit der freien Hand wiederum durch die schwarzen Locken.

„Oder du ihres? Wohl eher!“, dachte Mary unverschämt laut nach.

„Du bist indiskret und impertinent. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“

„Ach, das höre ich häufig“, kicherte die Blondine vergnügt.

„Wir waren gut befreundet. Völlig harmlos“, bekräftigte er vehement.

„Okay, warum regst du dich dann auf, wenn alles angeblich soooo harmlos war?“ Mary schaute ihn aus großen Kulleraugen an und klimperte mit ihren falschen Wimpern.

„Weil du mir etwas unterstellst, das nie passiert ist!“

„Aber du hättest gerne, dass es passiert“, schlussfolgerte sie und zwinkerte keck, „So, wie du sie angeschmachtet hast, ist eindeutig, was du beabsichtigst. Sie schien nicht abgeneigt zu sein.“

„Quatsch mich jetzt bitte nicht voll mit naiver Laienpsychologie aus billigen Frauenmagazinen!“, jammerte er genervt.

„Du willst mir bloß ausweichen! Das Thema Kathi magst du nicht“, stellte sie bockig fest, „Vielleicht liege ich mit meiner Jugendliebe-Theorie gar nicht einmal so falsch. Was war euer Problem? Ist sie nicht standesgemäß?“

„Wir sollten besser den Weg verlassen. Die besten Bäume befinden sich nie direkt am Straßenrand.“

Charly bog nach rechts ab und stapfte durch den immer tiefer werdenden, harten, grausam knirschenden Schnee. Mary schauderte bei dem Gedanken an brechende Knochen, denn ausgerechnet daran erinnerte sie dieses grässliche Geräusch. Sie folgte ihm, obwohl es ihr das abrupte, unterschiedlich tiefe Einsinken bei jedem Tritt erschwerte, mit seinem Tempo mitzuhalten. Während ihrer Tortur überlegte sie fieberhaft. Indessen saugte ihre fliederfarbene Röhrenjeans, die in hellbraunen Raulederstiefeln samt kleinem, breitem Absatz steckte, das Wasser und die Kälte des Schnees auf. Sie hatte leider verabsäumt, ihr Schuhwerk zu imprägnieren. Fast bis zu den Knien im Tiefschnee zu stecken, machte den Marsch der nur 1,55 Meter kleinen Blondine nicht unbedingt einfacher.

„Sie ist nicht standesgemäß für deinen Papi“, schlussfolgerte sie triumphierend, weil sie sein Schweigen richtig interpretierte. Doch Charly antwortete immer noch nicht, sondern schritt stattdessen entschlossen voran und bahnte sich eine Schneise durchs dicht wuchernde, verschneite Unterholz. Er unterschätzte die Hartnäckigkeit seiner Begleiterin aber, denn Mary gab nicht auf. Weder ihre spärliche Fitness noch ihre journalistische Neugier gab sich ihm geschlagen. Obwohl sich der Abstand zwischen ihnen mit jedem zurückgelegten Schritt vergrößerte, folgte sie ihm unaufhörlich und plapperte währenddessen unentwegt. „Boah! Dein Vater ist echt das Allerletzte! Ein richtiger Vollidiot!“, schimpfte sie kurzatmig, „Versaut seinem Sohn die Chance auf die große, einzig wahre Liebe. Als würde man der Frau fürs Leben nur in Golfclubs, auf Upper-Class-Partys oder im Yachthafen an der Côte d’Azur begegnen.“

„Ich habe nie behauptet, Kathi sei meine große Liebe. Dass ihr Frauen ständig irgendetwas in jede Kleinigkeit hineininterpretieren müsst! Unglaublich!“, meinte er jedoch ziemlich kleinlaut und erbarmte sich wenigstens, auf die sogar in der Kälte schwitzende Mary zu warten. Ihr blondes Haar klebte ihr an der Stirn und sie schnaufte, als hätte sie gerade eben nach einem Marathon das Ziel erreicht.

„Du hoffst wohl auch noch auf den Prinzen, der dich eines Tages zur Prinzessin macht. Das Leben ist kein Märchen, Aschenputtel“, durchschnitt er ihre kindlichen Träume unbarmherzig.

Mary machte einen ungesunden Rundrücken, stützte eine Hand auf dem rechten Knie ab und drückte mit der andern fest gegen die Stelle, an der ihr das Seitenstechen Schmerzen bereitete. „Ja, was ist so schlimm daran? Kathi und du wärt wie Vivian und Edward.“

„Wie wer?“

„Julia Roberts und Richard Gere in Pretty Woman?“ In ihrer Erklärung schwang ein fragender Unterton mit.

„Ah. Nie gesehen.“

„Der Millionär und die Nutte“, versuchte sie, ihm auf die Sprünge zu helfen. Es war unfassbar, dass er diesen Film-Klassiker nicht kannte.

Mary richtete ihren Oberkörper wieder auf. Vor Anstrengung waren ihre pausbäckigen Wangen noch röter als sonst.

Charlys schmale Lippen formten einen verbissenen Strich. „Kathi arbeitet in einem Buchladen! Sie ist keine Prostituierte! Man müsste eigentlich anhand ihres gediegenen Kleidungsstils erkennen, dass sie einen anständigen Beruf ausübt. Das kann man von einigen anwesenden Personen hier nicht behaupten.“ Er fixierte sie finster.

„Willst du mich damit beleidigen? Du bist nicht der erste, der mir erklärt, dass ich billig angezogen bin, Karli. Na, und? Mir gefällt’s! Besser nuttig als versnobt!“

Die Erwähnung seines ungeliebten Spitznamens brachte ihn noch mehr in Rage. „Bezeichne Kathi nie wieder als Prostituierte, ansonsten stoße ich dich höchstpersönlich von der Brücke!“, knurrte er bedrohlich. In seinen schokobraunen Augen loderte purer Zorn.

Mary trat vorsichtig einen Schritt zurück und entschuldigte sich murmelnd mit gesenktem Kopf. Einen leisen Seitenhieb konnte sie sich jedoch nicht verkneifen: „Sie ist dir aber scheinbar nicht ganz egal. Sonst würdest du dich über dieses kleine Missverständnis nämlich nicht so aufregen. Ich habe jedenfalls nie behauptet, dass Kathi im liegenden Gewerbe ihre Brötchen verdiene, aber du bist sofort komplett ausgerastet.“ Jetzt starrte Mary ihn direkt an und zog herausfordernd eine schmale Braue nach oben.

„Du musst immer das letzte Wort haben, hm?!“ Das klang sehr nach einer Feststellung und Charly hatte Recht damit. Mary nickte bloß selbstsicher. „Sie war nicht standesgemäß“, bestätigte er ihre Vermutung bedrückt. Dann stapfte er stumm weiter.

Die Blondine überlegte kurz, ließ die Sache allerdings auf sich beruhen. Er hatte sich ihr nach langem Drängen schließlich doch anvertraut. Sie wollte ihr Glück nicht überstrapazieren, schwor sich gleichzeitig aber insgeheim, Charlys Liebesleben ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Das sollte ihre letzte gute Tat hier auf Erden werden – so viel Rühmliches hatte sie bisher nicht vollbracht. Vielleicht zählten die späten Leistungen doppelt und sie konnte sich mit dieser zündenden, unerwarteten Idee einige Jahre im Fegefeuer ersparen.

„Warte auf mich! Ich will mich nicht verlaufen, wenn hier wirklich ein durchgeknallter Verbrecher sein Unwesen treibt!“, rief sie Charly hinterher und eilte ihm nach, obwohl es ihr die sperrige Schneelage nicht einfach machte, aufzuholen.

„Pst!“, zischte er ähnlich herrisch wie sein Vater, „Willst du denn unbedingt sterben?“ Er drehte sich um und wartete auf seine langsame, heftig schnaufende Begleiterin. Währenddessen inspizierte er ängstlich die Gegend und lauschte auf jedes kleinste, verdächtige Geräusch. Für ein Stadtkind wie Charly hörte sich jedoch fast jeder Laut in einem Wald seltsam an. Obwohl er mit seiner Familie seit seiner Geburt die Weihnachtsfeiertage und den anschließenden Jahreswechsel immer auf ihrem Landsitz am Waldrand verbracht hatte, fühlte er sich unwohl, wenn ihn zu viel Natur umgab. Jetzt sah Charly nur noch verschneite Bäume und düsteres Licht, weil die Sonne tief im Wald ihre Strahlkraft verloren hatte. Das bereitete ihm Unbehagen. Selbst die Safari durch Kenias Steppe, die er vor wenigen Jahren mit einigen Freunden absolviert hatte, hatte seinen Puls nicht dermaßen in die Höhe schnellen lassen. Es war harmloser auf Elefanten, Löwen oder Nashörner zu treffen, als einem Matutz mit Diebesgut zu begegnen.

Mary schien die beklemmende Atmosphäre in dieser Wildnis nichts auszumachen. Sie wusste auch nicht, wem der Grund und Boden gehörte, auf dem sie soeben todesmutig herumspazierten. „Sollten wir nicht endlich eine Tanne fällen? Von mir aus auch eine Fichte, egal. Ich will mich hier nicht verirren“, flüsterte sie dennoch besorgt.

Offenbar hatte seine Angst sie bereits infiziert. Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass Frauen und auch die Geschäftswelt harte, selbstbewusste, furchtlose Männer bevorzugten. Fressen oder gefressen werden – so lautete Ludwig Rudolfs Devise. Dass sein Sohn in einem Wäldchen zum Weichei mutierte, würde dem Patriarchen bestimmt nicht gefallen. Vermutlich erwartete er jedoch genau das: das wiederholte Versagen seines unnützen Sohnes. Diese Genugtuung wollte ihm Charly nicht gönnen. Also sagte er so leise und tapfer wie möglich: „Hier ist nichts Hübsches dabei. Wir suchen weiter.“ Dennoch oder gerade deswegen fuhr er sich nervös durch die dichten schwarzen Locken. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und klammerte sich am Griff der Säge so sehr fest, als hinge sein Leben von diesem Werkzeug ab. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor.

Mary folgte ihm entschlossen. Er würde schon wissen, was er tat. Immerhin wollten sie einen geeigneten Christbaum für seine Familie besorgen. Sie maßte sich nicht an, bei dieser Entscheidung mitreden zu dürfen. Mary war sich sehr wohl bewusst, dass sie als Gast bei den Rudolfs nur äußerst ungern geduldet wurde. Obwohl sie dieses Gefühl inzwischen gut kannte, hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, immer und überall die komische, chaotische, dickliche Außenseiterin zu sein. Als hätte er ihre Gedanken erraten, begann sich Charly plötzlich für seine Begleitung zu interessieren. Er drosselte sogar sein Tempo, um ein geflüstertes Gespräch aufzubauen.

„Weshalb hast du dich eigentlich gerade kurz vor dem Heiligen Abend für den Freitod entschieden? Warum genau dieser Zeitpunkt? Ich verstehe zwar, dass du nicht mit der dir verbliebenen Verwandtschaft feiern wolltest, aber hast du denn keine Freunde?“

„Ich wollte ursprünglich alleine in meiner vertrauten Umgebung bleiben. Unser Weihnachtsbaum steht traditionsgemäß schon ein paar Tage früher perfekt geschmückt im Wohnzimmer. Das hat aber nichts genützt, sondern mich vielmehr bestärkt. Ich fühlte mich einsam“, antwortete sie ehrlich.

Ihre offene Erklärung stieß jedoch auf wenig Verständnis. „Hat sich denn niemand angeboten, dir Gesellschaft zu leisten?“ Charly kannte das nagende Gefühl, das einen plagte, wenn man völlig allein war, nicht. Er hatte ständig Menschen um sich – egal, ob er sie mochte oder nicht. Irgendwie drängte sich andauernd irgendjemand um ihn. Ruhe fand ein Rudolf, dem ein millionenschweres Erbe bevorstand, äußerst selten. Nicht einmal hier im Wald war er für sich, weil er eine potentielle Selbstmörderin mitgebracht hatte.

„Doch, doch. Sehr viele sogar. Ich will aber nicht, dass meine Freunde nur mit mir Weihnachten verbringen, weil sie Mitleid mit mir haben. Außerdem haben alle Partner oder schon eine eigene Familie gegründet. Ich mag Kinder, ja, aber manchmal können sie ziemlich anstrengend sein. Ich würde mir wie ein Eindringling vorkommen, wenn ich am Heiligen Abend in einem fremden Wohnzimmer sitze. Sogar mein Onkel hätte sich meiner erbarmt, aber dort fühle ich mich total unwohl.“

„Das sind doch deine Freunde und deine Familie. Wieso fühlst du dich dort nicht geborgen?“, warf er ein.

„Fühlst du dich im Kreise deiner Verwandtschaft denn geborgen?“, wiederholte Mary und machte sich seine Argumentation dabei zu Nutze.

„Chapeau!“, gestand er ihr diesen Sieg zu.

„Ich wollte nicht fett und einsam in unserem…meinem Haus sitzen und mich selbst beschenken. Wo liegen darin die Überraschung und der Sinn? Ich kaufe mir Anfang Dezember irgendetwas, das ich unbedingt haben will, verpacke es hübsch und lege es mir am Heiligen Abend unter den Christbaum. Außerdem gibt es das, was ich mir am sehnlichsten wünsche, sowieso nirgends zu erwerben. Nicht einmal deine Millionen könnten mir diesen einen Wunsch erfüllen.“ Ihre großen grünen Augen starrten traurig in die weiße Leere. „Ich bin fremd, egal wohin ich gehe oder mit wem ich feiere. Seit vier Monaten bin ich allein auf dieser Welt“, bedauerte Mary und klang dabei mehr als trostlos.

Er ahnte, was sie wollte. Am liebsten hätte er ihr angeboten, das Schicksal seines Vaters mit dem des ihren zu tauschen. Mary würde noch einige glückliche Jahre mit ihrem Papa verbringen können. Charly hingegen würde seinen Erzeuger nicht vermissen. Ludwig hatte ihn nie sonderlich geschätzt, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Seine Mutter lag ihm mehr am Herzen. Christian war stets Ludwigs Liebling: intelligent, ehrgeizig, makellos! An Charlys benachteiligter Position würde sich niemals etwas ändern, weil er sich mit seinem fehlerfreien, vorbildhaften, perfekten Bruder keinesfalls messen konnte. Chris ging aus jedem Zweikampf als Triumphator hervor. Charly war der geborene Verlierer. Alles, was er in Angriff nahm, misslang. Er war der Außenseiter in seiner eigenen Familie. Sogar die mollige, kleine Lena mochte sein fordernder Vater mehr als seinen jüngsten Sohn.

Charly wusste, dass er zahlreiche Schwächen hatte. Trost zu spenden, war eine davon. Ihm fehlten in traurigen Situationen stets die passenden Worte. Was sollte man auch sagen? Tut mir Leid. Ich kannte deinen Vater zwar nicht, aber das war bestimmt ein herber Verlust. Die Zeit heilt alle Wunden. Irgendwann kommst du darüber hinweg, dass er nicht mehr da ist.

Charly schwieg lieber und bog nach links ab.

Mary hatte sich eigentlich einen aufheiternden Kommentar erwartet. Weil dieser ausblieb, folgte sie ihm enttäuscht. Wortlos stapfte sie hinterher. Charly steuerte direkt auf eine etwa zwei Meter hohe Tanne zu. Vielleicht war es auch eine Fichte. Wie unterschied man die beiden Gattungen? Manchmal wäre das Volksschulwissen auch im Erwachsenenalter noch nützlich. Leider konnte sich frau nicht alles merken – solche Nebensächlichkeiten schon gar nicht. Wichtiges merkte sich sogar die chaotische Mary problemlos: die Geburtstage ihrer Eltern; wie viel Gramm Zucker in den Teig ihres Lieblingskuchens mussten, um den himmlischen Geschmack zu gewährleisten; und sämtliche Songtexte von Pink. Sie vergötterte diese Frau! Wie aufs Stichwort tönte diese unverkennbare kräftige Stimme plötzlich lautstark durch den stummen Wald. Panisch schaute sich Charly um und spähte durchs dichte, tief verschneite Unterholz. „Ist das dein verdammtes Telefon?“, fragte er aus trockener Kehle, als er feststellte, dass die Musik aus Marys Richtung kam, er aber sonst niemanden entdecken konnte.

„Sorry“, meinte sie und kramte sofort in ihrer leuchtend gelben Tasche nach dem lauten Übeltäter. Allerdings war es nicht so einfach, ein kleines Smartphone in den Untiefen der Unordnung, die im Inneren des knalligen Lederbeutels herrschte, aufzuspüren. Pink sang munter weiter. Der oder die AnruferIn gab offenbar nicht rasch auf.

„Los, jetzt! Stell‘ dieses Ding ab. Wenn es jemand hört, sind wir tot! Mausetot!“

„Jahaaa“, stöhnte Mary genervt. Sie hielt Charlys Ungeduld für übertrieben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit umgab sie wieder Stille. Erst wenige Sekunden später fand die Blondine ihr Mobiltelefon. Sie warf einen schnellen Blick aufs Display, ehe sie die Funktion lautlos betätigte. Wie befürchtet akzeptierte ihr Onkel eine läppische SMS nicht. Er wollte persönlich mit ihr sprechen. Selbst wenn sie sich nicht gerade strafbar machen und einer tödlichen Gefahr aussetzen würde, hätte sie dieses Gespräch nicht angenommen. Onkel Simon würde es garantiert wieder probieren. Er war ein Kontrollfreak. Ihr Onkel erinnerte sie häufig an einen Dackel – klein, konnte sich jedoch extrem verbeißen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte! Er würde sich erneut melden, aber sie würde auch dann nicht rangehen. In den letzten Tagen ihres Lebens wollte sie die lästige Verwandtschaft einfach ignorieren.

„Sorry“, entschuldigte sie sich erneut flüsternd, „Ich dachte nicht, dass man inmitten dieses Gestrüpps Empfang hat.“

„Tja, Denken zählt nicht zu deinen Stärken, Blondie.“

Dieses beleidigende Vorurteil konnte sie nicht ungesühnt lassen. Mary stopfte ihr Mobiltelefon zurück in ein völlig überfülltes Seitenfach ihrer Tasche. Dann bückte sie sich und formte aus dem harten, bröckelnden Schnee ein kleines Bällchen. Charly ahnte nichts von ihrem Plan, denn er stapfte flott weiter auf einen bestimmten Nadelbaum zu. Mary positionierte sich im Ausfallschritt – das linke Bein nach vorn gestellt. Mit der rechten Hand holte sie weit aus und warf. Genauso, wie sie es im Sportunterricht gelernt hatte. Allerdings merkte man heute immer noch, dass sie nie über ein mittelmäßiges Befriedigend hinausgekommen war. Das war sogar die schlechteste Note, die man in den sogenannten Leibesübungen überhaupt erlangen konnte. Eine Vier verteilte die Lehrerin anstandshalber nämlich nicht und darüber, dass man in diesem Schulfach nicht durchfallen konnte, herrschte stillschweigendes Einvernehmen.

Charly hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihn beschießen wollte, weil ihr Schneeball sein Ziel meterweit verfehlte, irgendwo in den niedrigen Ästen einer Tanne landete und das dünne Gehölz rhythmisch zum Wippen brachte. Zart rieselten die Eiskristalle auf den weißen Boden.

Also eilte sie ihm enttäuscht hinterher. Als sie ihn endlich eingeholt hatte, fiel Mary auf, dass er auf seinem Smartphone herumtippte und das Gerät anschließend in seiner Jackentasche verschwinden ließ. „Hast du etwa eben erst den Ton abgestellt?“

Erschrocken fuhr er herum und Mary trat rasch einen Schritt zurück. Immerhin hielt Charly seine Säge in der Hand und kam ihr damit unabsichtlich gefährlich nahe. Sie konnte sich einen schöneren, würdevolleren Tod vorstellen, als schmerzhaft einen Arm zu verlieren und anschließend qualvoll zu verbluten.

Er las Unbehagen in ihrem runden Gesicht und senkte vorsorglich sein Werkzeug, das man durchaus auch als Waffe gebrauchen konnte. Da kam ihm eine Idee: Falls sie erwischt würden, müssten sie nicht hilflos sterben. Mit diesem scharfen Stück in seiner rechten Hand konnte er sich wehren und verteidigen. Mary musste sich wohl darauf verlassen, schnell genug wegzurennen. Er ahnte, dass ihr das nicht gelingen würde. Tja, sie hatte vor einigen Stunden sowieso noch sterben wollen. Mit den eigenen Wünschen sollte man vorsichtig sein. Manche erfüllten sich schneller als erwartet.

„Ich habe bloß nachgesehen, ob auch ich hier Empfang habe. Notfalls könnten wir so die Polizei, die Rettung oder den Bestatter rufen“, log er mit ernster Miene. Tatsächlich hatte sie ihn nämlich gnadenlos ertappt.

„Aha!“, entfuhr es ihr, weil sie ihm nicht glaubte. „Kannst du nicht wenigstens einmal einen Fehler zugeben?! Zumindest im Angesicht des Todes könntest du ehrlich sein!“

„Oh, Gott! Du klingst wie mein Vater!“, stöhnte er gequält.

„Traurig, dass mich etwas mit diesem Tyrannen verbindet.“ Mary schüttelte sich angeekelt und zog eine schaurige Fratze. „Er traut dir offenbar auch nicht ganz. Woran das wohl liegt?“

„Er traut mir nicht viel zu. Das ist ein eklatanter Unterschied. Deshalb beweisen wir ihm das Gegenteil.“

Damit war das lästige Mobiltelefonthema für ihn beendet. Mary wollte nicht länger darauf herumhacken, denn sie wusste, dass Männer es hassten, wenn sie nicht Recht hatten. Frauen ebenso. Doch die Klügere gab nach. Sie wollte ihn nicht weiter reizen. Immerhin trug er das überdimensionale, scharfkantige Messer in Händen. Stattdessen beobachtete sie ihn schweigend. Charly umschlich die Tanne (oder Fichte?), die in etwa so hoch war wie seine Begleiterin, und begutachtete sie konzentriert von allen Seiten. Stellenweise klopfte er fest gegen den dicken Stamm. Dabei bildeten sich drei kleine Fältchen auf seiner Stirn. Dann strich er den Schnee sanft von einigen Ästen, um das Immergrün des Nadelbaumes zu überprüfen.

„Das ist sie!“, behauptete er schließlich freudestrahlend.

„Damit bist du zufrieden? Wir haben also endlich das perfekte Exemplar gefunden?“, vergewisserte sie sich.

Ich habe es entdeckt“, betonte er sofort, „Und ja, sie ist prächtig.“

„Ist sie groß genug?“, neckte sie ihn.

„Zu mickrig? Findest du? Etwas Höheres können wir allerdings nur schwer transportieren. Verdammt, ich hätte mir den Geländewagen des Försters ausborgen sollen.“ Unsicher fuhr sich Charly durchs dunkle Haar. Nachdenklich kaute er auf seiner vollen Unterlippe.

Mary war überrascht, dass ihre schelmische Frage seinen Wankelmut geweckt hatte. Das hatte sie nicht beabsichtigt. Er wirkte unerschütterlich, doch offenbar täuschte dieser äußere Schein. Wieso betäubte jemand seinen Kummer mit Alkohol und Drogen, wenn man innerlich nicht unsicher war? Das hätte sie bedenken sollen, bevor sie ihn wegen seines ungewöhnlichen Perfektionszwangs aufzog. „Das war ein Scherz“, beschwichtige sie, „Die Tanne ist wunderbar.“

„Die Fichte“, korrigierte er und musterte Mary skeptisch.

Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und streckte beide Daumen nach oben. „Ist doch egal. Woran erkennst du das?“

„Was? Die Pflanzengattung? Keine Ahnung! Ich finde einfach, dieses Grünzeug sieht eher nach einer Fichte aus.“

„Du weißt es gar nicht?“

„Hallo?! Ich bin ein Stadtkind. So etwas muss ich nicht wissen. Von dir hätte ich jedoch ausgiebige Naturkenntnisse erwartet.“ Er schmunzelte frech.

„Will dein Vater denn unbedingt eine Fichte? Falls ja, haben wir ein Problem. Keiner von uns glänzt durch besondere botanische Fähigkeiten.“

Charly schüttelte den Kopf. „Ein anständiger Christbaum reicht: hoch, schön, dicht.“

„Na, toll! Dann haben wir ja endlich, was wir brauchen. Darf ich vorstellen? Ein Nadelbaum! Bereit zum Fällen!“ Mary pustete sich eine blonde Strähne aus dem runden Gesicht und klopfte sanft auf ihre geröteten Wangen, um ihnen wieder Leben und Wärme einzuhauchen. „Bitte rasch! Mir ist kalt.“

Charly nickte und grinste voller Vorfreude. Was zog Männer bloß an Werkzeugen dermaßen an? Schuhe waren schön anzusehen, nicht immer tragbar, aber zumindest optisch eine Augenweide. Werkzeuge sahen wenig attraktiv aus. Was war an ihnen faszinierend?

Scheinbar scheute das Millionärssöhnchen körperliche Arbeit nicht, obwohl er mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war und seither bestimmt nie etwas missen musste – zumindest nichts, was man mit Geld erwerben konnte. Die Liebe und Zuneigung seines Vaters fehlten im offensichtlich und darum kämpfte er bis heute verbissen. Auch jetzt ging es einzig und allein darum!

Charly setzte die Säge knapp über der Schneegrenze am Stamm an. Dann erhob er sich aus seiner gebückten Position wieder. Mary beobachtete ihn amüsiert. Sie konnte förmlich sehen, wie sich sämtliche Rädchen im Inneren seines Kopfes fieberhaft drehten. Offenbar hatte er noch nie einen Baum eigenhändig umgeschnitten.

„Soll ich dir helfen? Deine Säge hat zwei Griffe. Das hat einen Grund“, erklärte Mary.

Charly runzelte die Stirn, als er darüber nachdachte. Vermutlich hatte dieses blonde, mollige, lebensmüde Landei Recht. „In Ordnung. Komm‘ her und hilf‘ mir.“

„Bitte!“, forderte sie.

Bitte“, wiederholte er mit verkniffenen Lippen. Ein Rudolf ließ sich nicht gerne vorführen. Allerdings durfte er sie jetzt nicht vergraulen, denn er benötigte ihre Unterstützung.

Dieses Bedürfnis kostete Mary nun voll aus. „Geht doch!“, triumphierte sie grinsend und platzierte sich auf der gegenüberliegenden Seite des Baumes. Dann ergriff sie die Halterung der Säge und ging in die Knie. Charly tat es ihr gleich. „Immer gleichmäßig hin und her ziehen“, erläuterte sie, nachdem sie das Sägeblatt am Holz angesetzt hatte und ruckartig den ersten Schnitt tat.

Nur der dumpfe, röchelnde Ton des Werkzeugs umgab sie. Ansonsten herrschte friedliche Stille im Wald, die gelegentlich von Marys oder Charlys schweren Atemzügen unterbrochen wurde. Er war zwar gut trainiert, aber diese Arbeit war anstrengender als erwartet.

Plötzlich hielt Mary mitten in der Bewegung inne und schaute sich nach allen Seiten um. Charly überraschte ihre Kraft. Er versuchte trotz ihres Widerstandes weiterzusägen, doch die Gerätschaft bewegte sich keinen Millimeter.

„Was ist? Mach weiter! Wir können uns nicht ewig in einem fremden Waldstück tummeln“, drängte er.

„Pst“, tadelte sie flüsternd und lauschte angestrengt. Auch Charly spitzte seine wohlgeformten Ohren. „Hörst du das?“, murmelte sie.

„Nein, nichts. Werde jetzt bloß nicht paranoid. Das ist wohl der unpassendste Moment dafür überhaupt.“

So sehr sich Mary auch bemühte, sie vernahm nun wirklich nichts mehr. Also setzte sie die Säge wieder knirschend in Bewegung. Ein mulmiges Gefühl blieb dennoch zurück.

Eine Weile arbeiteten die beiden weiter – flotter als zuvor. Auf einmal hörte Mary das Geräusch von vorhin erneut: diesmal näher und lauter. Deshalb konnte sie es jetzt auch zuordnen.

„Da bellt ein Hund“, sagte sie über das leise Röcheln hinweg und sägte noch rascher. Jetzt hörte Charly es auch. Panisch hielt er ihrem Tempo stand. Das Bellen wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter. Wahrscheinlich würde zwischen den Bäumen bald eine Bestie auftauchen und sie zerfleischen, ehe das dazugehörige Herrchen die Reste ihrer geschundenen Leichen beseitigte. Er kannte die Familie und er kannte ihre feindlich gesinnten Haustiere.

So wollte Mary keinesfalls sterben und er auch nicht.

Angsterfüllt ließ sie die Säge los und rappelte sich hoch. „Lauf!“, kreischte sie schrill.

Charly hatte ihre Flucht befürchtet. Er reagierte schneller und vor allem anders, als sie angenommen hatte. Ohne das Arbeitsgerät aus der Hand zu legen, machte er in gebückter Haltung einen flinken Schritt auf sie zu und klammerte sich an ihrer knallgelben Tasche fest. Erst jetzt realisierte Mary, dass ihr grelles Lieblingsaccessoire sie vielleicht zur Zielscheibe machte.

„Uns fehlen nur noch wenige Zentimeter. Mach‘ gefälligst weiter!“ Seine fordernden schokobraunen Augen und sein fester Griff, der sich inzwischen auf ihre Hüfte ausgeweitet hatte, zwangen sie zurück in ihre hockende Stellung.

Irgendetwas in seinem Blick schüchterte sie ein. Daher sägte Mary gemeinsam mit Charly eifrig weiter. Ständig rieselte aufgrund der ruckartigen Bewegungen Schnee auf sie herab. Dass die weiße Pracht seine Frisur zerstörte, passte Charly offenbar gar nicht, aber er hatte Recht. Sie hätten ihre Beute bald erlegt. Allerdings spürte der Hund seine Beute währenddessen auch auf. Mittlerweile war er so nahe, dass man bereits schon eine Männerstimme hören konnte, die mehrmals Goliath brüllte. Mary bezweifelte, dass ein liebes, kleines, verspieltes Hündchen auf sie zu hechtete. Eher stieß in riesiger Wolf auf eiligen Pfoten zu ihnen vor. Wenn ein Tier Goliath hieß, musste es ein Monster sein. Wer nannte ein niedliches Schoßhündchen denn Goliath? Bello, Cäsar oder Hansi waren normale, gängige Namen, oder?

Endlich spürte Mary keinen Widerstand mehr. Sie war erleichtert, bemerkte jedoch Charlys Ahnungslosigkeit. Seine Miene, die sie aufgrund der dichten Äste und der weißen Schneewand zwischen ihnen nur teilweise erkannte, wirkte unentschlossen. Zischend erklärte Mary ihm durchs dichte Zweigwerk, was er zu tun hatte. Sie platzierte die Säge in den Schnee neben sich und dann legten sie auch die Tanne oder Fichte vorsichtig, aber zügig auf dem kalten Boden ab.

Jetzt erklang das Bellen der Bestie schon bedrohlich nahe. Mary erhob sich und begann, zu laufen. Sie hoffte natürlich, Charly würde ihr folgen, doch nachdem sie nach einem wenige Meter weiten Sprint längst müde geworden war und ihr sportlicher Begleiter sie noch immer nicht überholt hatte, zweifelte sie daran. Todesmutig hielt sie an und drehte sich um. Heftig atmend stemmte sie ihre Hände in die schmerzende Bauchregion. Eine Pause kam ihr gerade recht.

Tatsächlich stand Charly noch neben dem Baumstumpf und versuchte verzweifelt, ihre gestohlene Beute durch den Schnee zu zerren. Alleine würde er das niemals schaffen. Er scheiterte kläglich, stürzte mehrmals und bald würde ihn das ununterbrochen kläffende Vieh zerfleischen.

„Komm! Beeil dich!“, rief Mary verzweifelt, „Lass den Baum liegen!“ Sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte, denn Charly gab nicht auf, obwohl dieses Unterfangen unmöglich war und tragisch enden würde. Die tierischen Laute kamen eindeutig aus östlicher Richtung. Mary schaute auf diese Seite und sah ein riesiges braunes Etwas auf sie zu springen. Wenn sie länger hier stehen blieben, wären sie bald tot – bestialisch zerbissen. „Lass das, verdammt nochmal!“

Offenbar hatte inzwischen auch Charly bemerkt, dass ein hungriges Monster auf ihn zu hechtete. Die Goliath-Rufe ertönten ebenfalls immer lauter und näher durch den Wald. Panisch weiteten sich Charlys Augen. Endlich setzte er sich in Bewegung, den Baum und die Säge ließ er schweren Herzens zurück. Charly rannte auf Mary zu. Jetzt lief auch sie weiter – fort von dem Monster und seinem Herrchen, die sie verfolgten.

Nach einigen Metern hatte der fitte Lockenkopf schon zu ihr aufgeschlossen und überholte sie mühelos. Heftig atmend rief er ihr zu: „Beeilung! Der alte Matutz wird uns umbringen!“

„Wer?“, fragte Mary kraftlos und ebenso kurzatmig. Sie war keineswegs so fit wie ihr trainierter Begleiter und konnte ihm kaum noch folgen.

Charly dachte aber keinesfalls daran, sein Tempo zu reduzieren. Schwäche bedeutete Tod – das hatte sein Vater stets gepredigt. Charly hätte niemals erwartet, seinem Erzeuger für diesen Rat einmal dankbar zu sein. Nun war er der Stärkere. Christian war nicht hier. Charly fand sich in einer unbekannten Position wieder. Doch Zweifel tauchten auf. Durfte er Mary opfern, um selbst zu überleben?

„Wer?“, drang es nochmals in seine Ohren. Die Stimme der Blondine klang brüchig und erschöpft.

„Unser Nachbar. Dem Matutz gehört das Grundstück neben uns. Dieser Wald quasi!“

Für einen kurzen Moment beruhigte sich Mary. Bloß Charlys Nachbar war hinter ihnen her, kein Psychopath. Vermutlich war er nur friedlich mit seinem Hund durch die winterliche Gegend spaziert, bis sich das Tier von der Leine gerissen hatte, weil es Fremde witterte. Oder war dieser ominöse Matutz verrückt? War er womöglich ein leidenschaftlicher Jäger, der seine Flinte auch auf Menschen richtete? Immerhin wollten sie ihn bestehlen und hatten unbefugt seinen Besitz betreten. Wie würde er darauf reagieren?

Mary rechnete jeden Moment damit, von einer Kugel getroffen zu werden. Sie spürte den brennenden Schmerz förmlich. Bald würde sie auf den eisigen Boden sinken und im Schnee verbluten. Sie sah buchstäblich vor sich, wie sich das Weiß rot färbte.

Nein, so wollte sie nicht abtreten. Definitiv nicht! Daher nahm sie ein letztes Mal ihre gesamte Kraft zusammen, presste die Lippen entschlossen aufeinander und lief um ihr Leben, das sie plötzlich wieder als wertvoll erachtete, während das Gebell hinter ihr zunehmend lauter wurde und sie darauf wartete, von einem Schuss niedergesteckt zu werden.

KAPITEL 7

Mary wunderte sich, als Charly plötzlich die Richtung änderte. Bisher waren sie nach Westen gelaufen, doch nun zweigte er nach Norden ab, sofern sie dies mit ihrem mäßigen Orientierungstalent beurteilen konnte. Egal, Charly hatte jedenfalls die Richtung geändert.

Wieso? Sie fragte sich, ob er sich inmitten dieser Masse an Bäumen überhaupt zurechtfinden konnte. Wusste dieser Stadtjunge denn, was er tat?

Inzwischen war Mary das ziemlich egal. Sie wollte nicht alleine sterben, also folgte sie ihm. Es wunderte sie sowieso, dass sie immer noch lebte. Doch Mary zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sich dieser Status ihres Wohlbefindens bald ändern würde. Die Goliath-Rufe und die Bestie dieses Namens verfolgten sie beharrlich. Bisher war allerdings noch kein Schuss durch die Stille des Waldes geknallt. Lange konnte es bestimmt nicht mehr dauern!

Sie war am Ende – physisch sowie psychisch. Bald würde sie abtreten. Genau genommen wollte sie sterben. Von einem Monster zerfleischt zu werden, hatte sie sich zwar nicht gewünscht, aber die Chance, ihren Tod selbstbestimmt zu wählen, hatte sie bekanntlich vertan. Selbstmord zu begehen, galt als Sünde schlechthin. Offenbar waren auch schon der Gedanke daran und ein gescheiterter Versuch Grund genug für Gott, die schwarzen Schafe grausam zu bestrafen. Sie würde bekommen, was sie wollte – allerdings in abgewandelter und schmerzhafter Form! Was Mary jedoch nicht verstand, war, warum auch ihr Retter sterben sollte. Charly hatte zwar Ähnliches geplant gehabt, doch er war viel früher wieder vernünftig geworden. Weshalb sollte auch er nun bestraft werden?

Momentan schien es jedoch nicht so, als müsste er sein Leben lassen. Während das Gebell der hungrigen Bestie hinter Mary zunehmend lauter wurde, entfernte sich Charly immer weiter von ihr. Ihre mangelnde Kondition und ihre ausgeprägte Leidenschaft für gutes Essen wurden Mary zum Verhängnis. An ihr hätte das Vieh wohl lange zu knabbern, ehe es zu seinen heiß geliebten Knochen vorstieß.

Mary ahnte nicht, welch innerer Kampf in Charly tobte. Sie war bloß froh, dass er es vermutlich schaffen würde. Vielleicht ließ er ihre geschundenen Reste sogar bestatten. Charly hingegen fragte sich, ob er Mary opfern durfte, weil sie eigentlich eine Fremde war und er sehr wohl gute Überlebenschancen hatte. War er ein gefühlloser Egoist oder ein tapferer Gentleman? Die Antwort seines Vaters wäre wohl: ein feiger Nichtsnutz. Charly konnte es nicht ertragen, wenn der Alte Recht hatte. Daher beschloss er, zu handeln. Abrupt hielt er an, machte kehrt und sprintete auf die Blondine zu, die sich nur gemächlich fortbewegte, obwohl hinter ihr der sichere Tod lauerte.

Als Mary begriff, was er tat, rief sie: „Spinnst du?! Lass mich zurück! Allein kannst du es schaffen! Ich bin doch nur eine Last!“

Nach wenigen Sekunden hatte er sie erreicht. „Das ist nicht der passende Augenblick, um selbstlos zu sein. Du bist das schwache Geschlecht. Benimm‘ dich gefälligst so und erlaub‘ mir, dir zu helfen.“

Mary sah furchtbar aus. Ihr Haar war nass vom Schnee, der von ihrer Beute während des Sägens unaufhörlich heruntergerieselt war. Der Schweiß tat das Übrige. Zahlreiche blonde Strähnen klebten in ihrem fülligen Gesicht. Die restlichen Stellen, die nicht durch ihre Haarpracht verdeckt waren, glänzten rot. Sie wirkte erschöpft und konnte die Beine, die bei fast jedem Schritt ruckartig im harten, alten Schnee einsanken, nur noch schwer heben und zum Fortbewegen zwingen. Ihr freches Mundwerk war jedoch noch fit. „Schwach? Wir bekommen die Kinder!“, konterte sie atemlos.

„Das Baby-Argument, natürlich! Wenn du weiterhin hier herumtrödelst, wirst du niemals Nachwuchs in die Welt setzen. Dieses Monster wird sich nach diesem Festmahl aber gestärkt fortpflanzen.“

„Mir egal“, sagte sie trotzig wie eine Dreijährige.

Charly sah sich kurz um. Weder ihr menschlicher noch ihr tierischer Verfolger waren im verschneiten Dickicht zu erkennen, aber immer noch deutlich zu hören. Er packte seine Begleiterin grob am Oberarm und riss sie mit sich. All ihre verbalen Proteste bleiben wirkungslos. Mary musste Charlys flottem Tempo standhalten, ob sie wollte oder nicht. Er war stärker und zog die Blondine gnadenlos hinter sich her.

„Du bist brutal“, klagte sie außer Atem. In der Kälte bildeten sich auf ihrer Stirn sogar Schweißtropfen, die wie Tränen über ihre pausbäckigen Wangen kullerten, ehe sie der rosa Schal aufsaugte.

„Wieso? Ich halte mich vielmehr für einen Helden.“

„Du zwingst mich mit Gewalt zu etwas, das ich nicht kann.“

„Du läufst großartig! Wir sind schneller als erwartet. Du bist gar nicht so lahm, wie ich dachte“, motivierte er sie unbeholfen.

Dennoch schien sein Lob zu wirken. Mary fühlte sich tatsächlich nicht mehr ganz so mies. Sie wagte es sogar, sich kurz umzuschauen. Immerhin waren das Bellen und die Rufe inzwischen deutlich leiser geworden. Oder täuschte sie sich? Mary konnte zwischen all den Bäumen niemanden entdecken. Stattdessen erspähte sie etwas anderes.

„Da!“, kreischte sie.

Charly zog erschrocken den Kopf ein wie eine Schildkröte. Mary kicherte deswegen leise. Jetzt übernahm sie die Führung. Karli folgte ihr unschlüssig, weil sie nun einige Schritte zurückgingen. Schließlich begriff er, worauf sie ständig freudestrahlend zeigte.

„Ein Hochsitz“, stieß er erleichtert hervor.

Mary nickte bloß und erklomm als Erstes die hohen Stufen der hölzernen Leiter. Charly trieb sie zur Eile, denn das Gebell wurde nun wieder lauter. Das Ungetüm Goliath hatte offenbar ihre Fährte erneut aufgenommen. Daher kletterte Charly dicht hinter der schwerfälligen Blondine.

„Zügig! Hopp, hopp!“, zischte er ungeduldig.

Sein Drängen machte sie nervös und Mary rutschte mit der nassen Sohle am feuchten Holz ab. Mit den Händen klammerte sie sich an der oberen Sprosse fest, während ihr Hintern ruckartig auf Charlys Kopf knallte. Ein leiser, dumpfer, undefinierbarer Laut drang aus seiner Kehle.

Ein erstickter Schmerzensschrei?

„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt. Unterdessen suchte sie verzweifelt Halt für ihre baumelnden Füße.

„Gehirnquetschung oder doch bloß eine -erschütterung? Ich bin mir nicht sicher.“

„Du denkst ziemlich klar und bist sogar zu Beleidigungen fähig. So viel kann dir also nicht fehlen“, urteilte sie erleichtert.

Stöhnend ließ er mit seiner stärkeren, rechten Hand das schützende Holz los und hievte ihr seiner Meinung nach überdimensional großes Hinterteil nach oben, bis sie wieder auf einer Sprosse zum Stehen kam.

„Ich nahm einmal an einer Safari in Afrika teil. Dort sah ich Elefanten. Selbst deren Hintern waren schlanker. Los! Weiter!“ Er gab ihr einen kräftigen Klaps auf den drallen Po.

Mary unterdrückte einen Schrei. „Du bist gemein! Vielleicht sind das die letzten Worte, die ich je in meinem Leben hören werde. Sehr unhöflich von dir!“ Schimpfend setzte sie den beschwerlichen Aufstieg fort.

„Keine Sorge, der alte Matutz wird mit uns reden, bevor er uns tötet. Er wird uns definitiv umbringen, wenn du dich nicht beeilst. Mach also unsere klitzekleine Überlebenschance nicht zu Nichte.“

„Ich kann auch strampeln und dich in die Tiefe stoßen“, drohte sie halbernst.

„Na, los! Aufwärts! Jetzt!“, trieb er sie an und kniff ihr dabei in den Hintern.

Mary kicherte. Oben angekommen schleppte sie sich erschöpft und enttäuscht auf die schmale, hölzerne Bank, auf der bloß zwei Menschen Platz fanden. Auch für diese beiden würde es äußerst eng werden. Noch dazu war sie etwas fülliger gebaut als die meisten Frauen ihres Alters.

Ihre Rettung entpuppte sich als Reinfall. Hier konnten sie sich nicht verstecken. Vielmehr würden sie diesem ominösen Matutz und seiner Bestie sofort auffallen. Wenn man keine grüne oder braune Jägertarnkleidung trug, präsentierte man sich auf diesem Hochsitz dem Gegner auf dem Silbertablett.

Das winzige, überdachte Holzhäuschen war nämlich fast von allen Seiten her deutlich einsehbar. Hier warteten sie nun auf ihren Abschuss und sie würden die Kugel auf sich zufliegen sehen. Aus dem Hinterhalt, nichtsahnend erschossen zu werden, musste schlimm sein, aber dem Tod direkt, unaufhaltsam auf einen zurasen zu sehen, musste bei Weitem furchtbarer sein.

Mary schloss die Augen, so als könnte sie dadurch das drohende Unheil abwenden oder zumindest ignorieren.

Dieser Moment währte nur kurz, denn schon bald holte Charly sie in die grausame Realität zurück. „Verdammt! Wo sollen wir uns denn hier verstecken? Hier entdeckt uns sogar ein Blinder und der alte Matutz hat trotz seiner fast 90 Lebensjahre gesunde, scharfe Augen und offenbar auch eine ausgezeichnete Kondition. Der Typ und sein Hund verfolgen uns immer noch“, jammerte er, „Von einem Landei wie dir hätte ich mehr erwartet. Welch‘ zündende Idee, hier heraufzuklettern! Großartig, Blondie!“

Seine unfairen Vorwürfe ertrug sie nun nicht. Mary war wütend und vergrub ihre eiskalten Hände in den Manteltaschen, während das Gebell und das Geschrei unter ihnen zunehmend lauter wurden. Noch konnten sie umgeben von schneebedeckten Bäumen niemanden erkennen, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis ihre Verfolger sichtbar wurden – und sie auch.

Ich hatte wenigstens eine Idee! Jetzt hock‘ dich hin, dann warten wir ab. Vielleicht laufen sie an uns vorbei“, sprach sie sich grimmig Mut zu.

Charly verließ die Leiter und quetschte sich neben Mary auf die winzige, enge, kühle Bank. Er schüttelte sich fröstelnd, weil die Kälte durch seine Hose drang, da seine Jacke nicht bis über den Hintern reichte. Mary saß in ihrem knielangen pinken Mantel deutlich bequemer. Ihre knallgelbe Handtasche presste sie schützend vor ihren Oberkörper. Sie zitterte, weil die Angst ihren Körper erbeben ließ.

„Wir sind tot“, wiederholte Charly regelmäßig und verzweifelt stammelnd.

Mary wusste nicht, wie sie ihn aufheitern sollte. Wahrscheinlich hatte er sogar Recht. Auch Beten würde nichts nützen, also fing sie erst gar nicht damit an. Bisher hatte ihr Gott noch nie geholfen, obwohl sie ihn schon oft angefleht hatte. In der Schule wurde sie gehänselt, weil sich ihre Mutter freiwillig das Leben genommen hatte und Mary seit diesem Vorfall immer dicker wurde. Sie futterte sich Kummerspeck an, denn Essen tröstete sie. Sie hatte sich seit jeher nach einem netten, anständigen Kerl, der es ernst mit ihr meinte, gesehnt, aber war immer noch allein. Ihr Vater wurde nicht gesund, obwohl sie Gott mehrmals täglich darum bat. Wozu also beten?

Mary schaute sich in ihrem Rückzugsort um. Hier gab es wirklich nichts, was sie irgendwie schützen oder gar verschwinden lassen könnte. Auf dieser Bank würden ihre Leichen bald von Kugeln durchbohrt aneinander sinken und ihre Herzen gemeinsam ihre letzten Schläge tun. Das kühle Holz, auf dem sie nun saß, würde sich rot färben und das Blut als Erinnerung an den qualvollen Tod zweier Fremder, die sich erst seit wenigen Stunden kannten, ewig in den Ritzen des spröden Holzes gerinnen.

Die Bank! Natürlich! Warum war ihr das nicht schon viel früher eingefallen?

„Unsere Überlebenschancen haben sich schlagartig vergrößert“, teilte sie Charly freudestrahlend mit, „Steh‘ kurz auf.“

„Was?! Ich werde bestimmt nicht die menschliche Zielscheibe spielen, hinter der du dich verstecken kannst! Bist du völlig übergeschnappt?“, schimpfte er erbost.

„Vertrau‘ mir! Ich habe eine Idee, aber sie wird dir nicht gefallen.“ Sie blickte ihn unschuldig aus großen, grünen Kulleraugen an.

Welche Wahl blieb ihm denn? Sie mussten es wohl versuchen, denn ihm fiel nichts ein. Also erhob er sich und zog den Kopf ein, um sich kleiner zu schummeln.

Mary legte sich auf die schmale Bank und hielt sich mit einer Hand an der Holzverkleidung hinter ihrem Kopf fest, um nicht hinunterzufallen.

Charly beobachtete sie skeptisch. „Was soll das werden? Stellen wir uns tot?“

„Bei einem Bärenangriff hilft diese Taktik und auch Opossums machen das. Mein Einfall ist allerdings besser“, erklärte sie stolz, „Leg‘ dich auf mich.“

„Niemals! Ich ziehe es vor, erschossen und anschließend zerfleischt zu werden.“

Seine vehemente Ablehnung kränkte Mary. Sie bemühte sich ehrlich, doch er wollte partout nicht über seinen Schatten springen. Er wollte lieber sterben, als sich ihr anzunähern. „Ich aber nicht!“, entgegnete sie schroff, „Stell dich nicht so an! Los! Auf mich!“

Charly blickte nachdenklich in die verschneite Ferne. Neben einem blattlosen Laubbaum, dessen weißen Äste wie dürre Finger apokalyptisch in den grauen Himmel ragten, bewegte sich etwas. Ein riesiger brauner Köter schnüffelte rund um den Stamm und visierte dann Charlys Richtung an. Bildete er sich das bloß ein oder fixierte ihn dieses Tier genau? Seine Atmung beschleunigte sich und er warf sich förmlich auf Mary. Sie schrie kurz auf, weil er sie mit seinem Sprung überrumpelt hatte. Doch die Blondine deutete seine Reaktion falsch. „Na, erregt? Das ist gut. Du hast Schauspieltalent und du hast mich offenbar schon durchschaut, ehe ich dich eingeweiht habe.“

„Was?“ Er runzelte verwirrt seine Stirn. Charly klammerte sich mit einer Hand an der Rückenlehne fest. Die Kälte durchzuckte seinen ganzen Leib, weil das Holz sich eisig anfühlte. „Der Hund hat mich gesehen. Das ist ein Riesenvieh“, stammelte er ängstlich.

„Dann müssen wir nicht mehr still sein. Er wird sein Herrchen bald hierher führen. Wir werden sowieso auffliegen. Ich erwarte also eine tolle Show von dir.“

Charlys Miene war verständnislos, wurde bald jedoch panisch und fahl, weil Mary anfing, lautstark obszön zu stöhnen. Rasch hielt er ihr den Mund zu, doch sie biss ihn, sodass er seine schmerzende Hand zurückzog und weinerlich betrachtete.

Unterdessen stöhnte Mary ungeniert weiter. „Aaah, oooh! Ja! Jaaahaaa! Oh, mein Gott! Uh, ah, oh!“, drang aus ihrer Kehle.

Obwohl ihre Situation durchaus ernst war – immerhin hatte längst jemand ihr Todesurteil gefällt und würde es auch bald vollstrecken – musste Charly lachen. Er war in sexuellen Belangen nicht prüde, doch etwas derartig Komisches und Verrücktes hatte er noch nie erlebt.

„Spielst du mir gerade einen Orgasmus vor?“, stieß er zwischen prustenden Lachern mühsam hervor, „Du verscheuchst sämtliches Wild mit deinem wüsten Brunftgeschrei.“

Sie schlug ihm tadelnd auf den massigen Oberarm und schob ihre Ledertasche, die ihr als Kissen diente, unter ihrem Kopf zurecht. „Daaas ist soooo guuhuuut!“, rief sie in die Stille.

Nun bellte die Bestie eindeutig direkt unter ihnen. Man hatte sie entdeckt – kaum verwunderlich.

Charlys Belustigung verflüchtigte sich eilig. Jetzt stand ihnen ein grausamer Tod unausweichlich und unmittelbar bevor.

Um den kalten Hauch des Sensenmannes nicht bald im Nacken spüren zu müssen, näherte sich Charly auf ihr sitzend ihrem Gesicht an. Mit den Händen, die als letzter Widerstand zu Fäusten geballt waren, stützte er sich auf dem eisigen Holz neben ihrem Kopf ab. Mary schenkte ihm zwischen obszönen Schreien ihr strahlendstes Lächeln. Charly stellte sich einfach vor, er würde diesen tragischen Moment mit Kathi teilen. Sie beide – bis in alle Ewigkeit vereint! Mit diesem Bild vor Augen war er bereit, diese Welt zu verlassen. Also bildete er sich ein, über Kathi zu knien und fast Wange an Wange bis für alle Zeit unsanft zu entschlafen. An die Qualen, die dem Paradies vorangehen würde, wollte er gar nicht denken.

Dennoch ließ sich der Trübsinn nicht vermeiden. Anstatt Kathis hübsches Antlitz vor Augen zu haben, dachte er zu spüren, wie der alte Matutz ihm den kalten Lauf der Flinte in den Nacken drückte.

All das passierte, während Mary unaufhörlich stöhnte und schrie.

Plötzlich unterbrach eine bedrohlich klingende Männerstimme Marys unsittliche Laute. „Sagt mal! Geht’s noch?! Sex auf meinem Hochsitz hat man entweder mit mir oder gar nicht!“

Mary drehte ihren Kopf zur Seite, doch Charlys Körper raubte ihr die Sicht. Daher sah sie nur jemanden in einem schwarzen Mantel auf der Leiter stehen.

„Dann mach doch mit!“, lud sie den kopflosen Mantel vorlaut ein.

Charly zuckte zusammen. Man durfte den Matutz nicht reizen, was diese dumme Blondine jedoch soeben gemacht hatte. Jetzt würde ihr Tod noch grausamer ausfallen.

Der Hund bellte ohne Unterlass. Er wartete am Boden ungeduldig auf sein Futter. Abgesehen davon herrschte Stille. Offenbar hatte ihr freches Angebot dem Matutz die Sprache verschlagen. Seine Irritation währte jedoch nur kurz.

„Ruhe, Goliath! Und sitz!“, befahl er und das Tier gehorchte aufs Wort. Dann wandte er sich an die aufmüpfige Frau. „Normalerweise widerspricht man mir nicht.“

„Ich weiß, ich bin sehr mutig“, trieb sie es weiter.

„Übermut tut selten gut.“

„Sie meint es nicht so. Bitte, Entschuldigung. Das war eine blöde Idee von uns. Es wird nicht mehr vorkommen. Wir verschwinden sofort. Entschuldigung, nochmals“, beschwichtigte Charly demütig und drehte sich um, um seinen Mörder anzusehen. Vielleicht hatte er Erbarmen, wenn er seinem Opfer in die um Gnade flehenden Augen sah.

Erstaunen zeichnete sich auf Charlys Miene ab. „Peter, der Junior.“

„Ach, nein! Charly Rudolf! Welche Überraschung. Gilt in eurer protzigen Hütte Enthaltsamkeit oder warum treibt ihr es auf meinem Grund und Boden?“

„Wir…wir…haben nicht…“, stammelte er nervös, rappelte sich hoch und schob Marys Beine unsanft beiseite, sodass er genügend Platz zum Sitzen hatte.

Jetzt hatte Mary freie Sicht auf ihren gefährlichen Verfolger. So gemein und bösartig wirkte er gar nicht. Seine Miene wirkte streng, das Gesicht war kantig, die Haare kurz und dunkelbraun. Vorne hatte er es frech und jugendlich nach oben gegelt. Der Kerl erweckte sogar einen sympathischen Eindruck, obwohl er sie stechend aus seinen grünen Augen musterte. Hatte ihn Karli vorher Junior genannt? War er denn gar nicht der alte Matutz?

„Sie sind also der Sohn“, mutmaßte Mary und kämpfte sich auch in eine aufrechte, sitzende Position hoch. Ihre Tasche hielt sie dennoch wie ein kanariengelbes Schutzschild vor ihren Körper gepresst.

„Der Enkel. Mein Vater wurde Senior genannt, mein Opa immer nur der alte Matutz“, erklärte er, „Du brauchst mich übrigens nicht zu siezen. So alt bin ich noch nicht. Ich heiße Peter und auf falsche Förmlichkeiten verzichte ich gern.“

„Mary“, stellte sie sich ebenfalls vor und schenkte ihm ein bewunderndes Lächeln.

Charly beobachtete die Szene skeptisch. Offenbar erlag auch eine selbstbewusste, freche, aufmüpfige Blondine dem verlogenen Charme eines hinterhältigen Verbrechers. Wieso schaffte es dieser Typ eigentlich, jede Frau, die er traf, binnen Sekunden um den Finger zu wickeln? War die dunkle Seite der Macht wirklich so anziehend? Warum schreckte das die Damenwelt nicht ab, was seiner Ansicht nach doch die normale Reaktion sein sollte?

„Wie geht’s deinem Großvater?“, erkundigte sich Charly zwanglos.

„Ach, wie es einem 89-Jährigen eben geht: Das Augenlicht wird schwächer, die Beine müder und die Kraft geringer. Ich habe bereits vor drei Jahren die Geschäfte übernommen.“

„Du bist Unternehmer?“, hakte Mary nach.

„Mein Opa gründete in den späten 1940ern eine Bar mit speziellen zusätzlichen Dienstleistungen. Er expandierte und nun führe ich das Haupthaus und die Nebenstellen fort.“

Aphrodite!“, ergänzte Charly und hoffte, ihr würde bei der Erwähnung eines derartig eindeutigen Namens ein Licht aufgehen.

Tatsächlich begriff Mary sofort. Immerhin war sie in der Umgebung aufgewachsen und wohnte inzwischen schon seit fünfundzwanzig Jahren in der Nähe. Jede(r) kannte die Aphrodite, ein Bordell am hiesigen Ortsrand im Schatten eines Bergmassivs. Der Handyempfang sollte dort angeblich extrem schlecht sein. Dennoch lief das Geschäft berauschend.

Den Eigentümer hatte sie bislang noch nicht kennen gelernt.

„Man hört, es soll gut besucht sein“, meinte sie vorurteilsfrei. Nicht den Chefs von Freudenhäusern war ein Vorwurf zu machen, sondern den Gästen, die ihre Ehefrauen mit leichten Mädchen betrogen, ihre Kinder enttäuschten und ihr Geld für diesen kurzzeitigen Spaß verschwendeten. Ihr Onkel Simon zählte übrigens zu den regelmäßigen Kunden solcher Einrichtungen. Bestimmt hatte er auch schon die Aphrodite mehrmals beehrt.

„Ich kann nicht klagen. Der Euro rollt“, gestand Peter offen und grinste. Dabei zeigte er makellose, perfekt geformte weiße Zahnreihen. Er drehte sich ein wenig nach links, um seinen Halt auf der schmalen, hölzernen Sprosse zu verbessern. Erst jetzt bemerkte Mary, was er über die Schulter gehängt hatte: ein Gewehr. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und ein mulmiges Gefühl beschlich sie. War Peter vielleicht doch gar nicht so nett, wie er vorgab? Trafen Charlys Befürchtungen womöglich zu? Immerhin schienen sich die beiden zu kennen. Würde sie dieser einnehmende Kerl gleich erschießen, ohne mit der Wimper zu zucken? Irgendwie traute sie ihm ein solch brutales Blutbad nicht zu. Er wirkte eigentlich sanft und zahm. Dass er auch intelligent war, bewies seine nächste Frage: „Wieso seid ihr eigentlich vollständig angezogen? Bei dem Gebrüll, das quer durch den Wald zu hören war, habe ich eigentlich eine heiße Orgie erwartet.“ Peter betrachtete die beiden enttäuscht.

Das vermeintliche Liebespaar sah sich panisch an. Flog jetzt alles auf?

Nach kurzer Überlegung wusste die schlagfertige Blondine darauf jedoch eine Antwort. „Du hast uns gestört. Karlis Küsse bringen mich schon dermaßen in Wallung. Hach, unglaublich! Wahnsinn! Jetzt ist die ganze Stimmung leider dahin.“ Sie setzte eine traurige und zugleich vorwurfsvolle Miene auf, obwohl ihr dieses Schauspiel peinlich war. Irgendetwas an Peter fand sie anziehend und faszinierend. Sie wollte keinesfalls, dass er von ihrer angeblichen Verlobung erfuhr, doch dieser Wunsch schien unerfüllbar. Sie demonstrierten ihre Beziehung soeben vor ihm. Alles andere würde vermutlich fatal enden.

Charlys Gesicht lief tomatenrot an, obwohl eine solche Verfärbung bei ihm äußerst selten der Fall war. Mary ahnte, dass nicht die Kälte schuld daran war, sondern dass ihm diese Situation schlicht und einfach unangenehm war. Sie konnte es nachempfinden. Es war ihr völlig klar, dass ihm die Vorstellung, was Peter denken könnte, nicht passte. Wenn sogar die hübsche, intelligente, schlanke Buchhändlerin nicht standesgemäß für die Rudolfs war, wieso sollte eine freche, weniger belesene, mollige Cateringmitarbeiterin gut genug für diese gehobene Familie sein? Vermutlich zerbrach sich Peter momentan genau darüber sein attraktives Köpfchen.

Nach langem Schweigen fand auch Charly seinen Mut wieder, doch die Blässe kehrte gleichzeitig damit auf sein ebenso hübsches Antlitz zurück. „Talent ist angeboren. Manche schaffen es, Frauen schon mit einfachsten Mitteln zu befriedigen, andere werden das nie lernen“, stichelte er. In diesen Sätzen mischte ein wenig Angst mit, obwohl er eigentlich sehr selbstbewusst klang.

„Tja, toll! Was du alles kannst! Bringst Damen zum Schreien, solange sie noch angekleidet sind. Danach herrscht bei dir aber vermutlich tote Hose.“ Das Wort tot ließ die beiden kurz erschrocken zucken. „Meine Mädels erleben ihren Höhepunkt erst, wenn sie nackt unter mir liegen. Oder auf mir. Ich bin in dieser Hinsicht äußerst flexibel und anpassungsfähig.“ Peter grinste schelmisch und leckte sich mit der Zunge über die vollen Lippen. „Na, Mary, Lust das auszuprobieren?“

Sie hatte Lust. Oh, ja! Allerdings vermischte sich dieses euphorische Gefühl mit Zweifeln. Einerseits konnte sie nicht glauben, dass ein gutaussehender, erfolgreicher, charmanter Kerl wie Peter ausgerechnet sie wollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er eher nur Charly eines auswischen wollte, war zu groß. Andererseits würde sie sich im Falle einer Zustimmung nicht nur blamieren, sondern auch ihre Tarnung leichtfertig aufs Spiel setzen. Schweren Herzens lehnte sie daher ab.

„Schade“, meinte Peter ehrlich betroffen, „Du bist eine treue Seele. Ich hoffe nur, dass du dein Auserwählter das zu schätzen weiß und dich nicht irgendwann enttäuschen wird. Er wechselt bekanntlich seine Gespielinnen öfter als seine Unterwäsche. Vielleicht überlegst du es dir noch einmal, bevor der Ludwig-Sprössling dich eines Tages achtlos ersetzt.“

„Danke für die Warnung, aber so weit wird es mit uns nicht kommen“, beschwichtigte Mary, „Wenn hier jemand den anderen verlässt, werde ich es sein, die geht.“

Charly schaute sie entsetzt an. Ihm war der entschlossene Unterton in ihrer schrillen Stimme natürlich nicht verborgen geblieben und daher befürchtete er das Schlimmste – einen Gang ohne Wiederkehr. Doch Mary schenkte ihm ein beruhigendes, unschuldiges Lächeln.

Das schien Peter zu imponieren, denn er nickte anerkennend und bekräftigte: „Richtig so! Lass‘ dir bloß nichts gefallen! Was ist mit deinen Püppchen passiert, Charly? Seit wann magst du solche Kaliber von Frauen, die es wagen, dir Paroli zu bieten?“

Der Angesprochene biss sich angespannt auf die Unterlippe. „Nun ja, ich bin fähig, mich weiterzuentwickeln. Ich vergnüge mich eben nicht nur mit meinen Angestellten, die sogar noch dafür bezahlt werden, den Chef zu verwöhnen. Was machst du, wenn sich eine weigert? Darf sie bleiben oder schickst du sie sofort weg?“, entgegnete er gehässig.

„Höre ich da etwa Neid heraus? Du bist immer noch nicht der Boss, oder? Blöd, wenn der Alte das Zepter einfach nicht aus der Hand legen will und wenn man einen Bruder hat, der Papis Idealbesetzung für die Nachfolge perfekt verkörpert. Charly, du bist chancenlos! Nimm es sportlich!“ Peter lachte höhnisch.

Mary ahnte, dass sie diesen Konflikt rasch beenden musste, ehe einer von beiden doch noch Peters Gewehr benutzte. Noch bekriegten sie sich mit Worten, doch dieser unterschwellige Streit konnte jederzeit eskalieren. Und dann gäbe es Verletzte oder gar Schlimmeres. Es war eindeutig, dass sich die zwei nicht mochten. Den Grund dafür würde sie in den letzten paar ihr verbleibenden Tagen schon noch herausfinden, denn das interessierte sie nämlich sehr.

„Entschuldige nochmals. Wir werden sofort auf Karlis Grundstück zurückkehren“, schlichtete sie mit sanfter Stimme. „Was hast du eigentlich im Wald gemacht? Bist du auf der Jagd?“

Er merkte, dass sie ängstlich sein Gewehr betrachtete. „Wenn Goliath Auslauf braucht, marschieren wir gerne durch den Wald. Weil man nie weiß, wer oder was einem begegnet, habe ich meistens eine Waffe dabei. Wäre doch schade, wenn ich einen stattlichen Hirsch laufen lassen müsste.“

Mary und Charly schluckten schwer. Das wer im vorherigen Satz war ihnen keineswegs entgangen.

„Als ich euer Brunftgeschrei hörte, musste ich selbstverständlich nach dem Rechten sehen“, fuhr Peter fort.

„So verbleiben wir also? Du lässt uns unbehelligt ziehen?“, erkundigte sich Charly unsicher.

„Natürlich. Es sei denn, ihr habt etwas damit zu tun.“

„Womit?!“, fragte das vermeintliche Paar wie aus einem Mund. Ihre Kehlen waren staubtrocken.

„Einige Meter entfernt liegt eine meiner besten Tannen umgeschnitten im Schnee, die Säge noch daneben. Fußspuren führen in eure Richtung, doch Goliath war von euch so abgelenkt, dass er die Fährte dieser verdammten Diebe verloren hat.“ Sein stechender Blick schüchterte die zwei ein.

Wie viel wusste er wirklich und was ahnte er bloß? Hielt er sie tatsächlich für die Täter oder täuschte er sie nur, um sie aus der Reserve zu locken? Deutete überhaupt irgendetwas Verdächtiges auf sie hin?

Ja, momentan verriet sie etwas ganz bestimmt: Charlys Nervosität. Sein rechtes Bein bebte. Sanft, aber bestimmt legte ihm Mary ihre Hand aufs Knie. „Ist dir kalt, Schatz? Wir gehen ja gleich.“ An Peter gewandt fuhr sie fort: „Wir sind niemandem begegnet. Eine Frechheit! An Weihnachten, dem Fest der Liebe und des Friedens, einen Baum zu stehlen, ist eine Ungeheuerlichkeit!“

„Fast gestohlen“, korrigierte er sie, „Entweder ihr oder ich haben ihn beziehungsweise sie gestört. Warum lässt man sonst freiwillig das Tatwerkzeug und die Beute zurück?!“

„Stimmt! Wir haben allerdings nichts mitbekommen. Stimmt’s, Karli?“

Aufgeregt trommelte er mit seinen Fingern auf dem linken Oberschenkel, während er antwortete: „Ich…ich…habe nichts bemerkt.“

„Ach, ja? Wieso bist du eigentlich so nervös?“ Peter zweifelte offenbar an ihrer Geschichte und strich herausfordernd über den Lauf seines Gewehres.

Mary hatte Charly inzwischen unauffällig dort gekniffen, wo ihre Hand unscheinbar lag. Das hatte ihm geholfen, seine Fassung wiederzuerlangen.

„Meine Familie besitzt genügend Geld. Wir haben es nicht nötig, dir eine mickrige Tanne zu stehlen. Was willst du mir unterstellen? Unser Baum befindet sich schon längst in unserem Wohnzimmer – festlich geschmückt, natürlich. Wer auch immer dich beklauen wollte, wir waren das definitiv nicht!“, echauffierte er sich erhobenen Hauptes.

Mary grinste stolz. Endlich war der Kerl vom Weichei zum Helden mutiert! Sie musste ihn nun nicht mehr verteidigen oder verbal retten. Charly traute sich endlich etwas zu. Selbst von diesem Gegner ließ er sich nicht mehr einschüchtern. Vielleicht würde er so bald auch seinem herrischen Vater gegenübertreten. Man durfte sich im Leben einfach nichts gefallen lassen – von niemandem! Das war Marys Devise. Anscheinend hatte das mittlerweile auch Charly begriffen.

Vom schroffen Ton fühlte sich Peter provoziert. Deshalb entgegnete er ebenso feindselig: „Schön! Mich zu bestehlen, hätte euch nämlich nicht gut bekommen. Verlasst jetzt sofort mein Waldstück!“ An Mary gewandt fügte er höflich hinzu: „Bitte.“

Daher begannen alle drei mit dem Abstieg. Peter ging voran, da er sich bereits auf der Leiter befand. Unten angekommen traute Mary ihren Augen nicht. Goliath war ein großer, dicklicher Golden Retriever mit zutraulichem Blick. Er wirkte zahm und umschlich die beiden Fremden schnüffelnd. Dieser Hund war keine furchteinflößende, todbringende Bestie, obwohl sein Gebell während der Verfolgung darauf hatte schließen lassen. Mary schmunzelte beim Gedanken daran und bückte sich, um das Tier zu kraulen.

„Du bist aber ein Süßer. Goliath heißt du, hm? Sooooo niedlich!“

Ihre Liebesbekundungen gefielen ihm, denn der Hund jaulte zufrieden und kam sogar näher an Mary heran. Er streckte seinen Kopf und seinen massigen Körper vor ihr aus, ungeduldig darauf wartend, weiter gestreichelt zu werden.

„Das mag er“, stellte Peter fest, „Und dich scheint er auch zu mögen. Normalerweise lässt sich Goliath von Unbekannten nicht gerne anfassen.“

„Das wundert mich kaum, ist ja schließlich dein Haustier. Beißt er ihnen die Hand ab?“, stichelte Charly und seine Begleiterin bedachte ihn mit einem bösen Blick. Goliath änderte seine Position und drehte dem Lockenkopf beleidigt sein Hinterteil zu. Charly zog verächtlich eine Augenbraue nach oben.

„Ja, fein! Lass dich von dem Kerl nicht ärgern“, säuselte sie in Babysprache.

„Was ist das hier? Ein Weight-Watchers-Treffen?“

„Du bist unglaublich charmant, Karli. Weshalb hat sich Babsi bloß jemand anderen gesucht?! Woran könnte das wohl liegen, hm?“ Nun nahm Goliath sogar ohne Befehl vor ihr im Schnee Platz und ließ seelenruhig sein Haupt betätscheln.

„Ach, ne! Das Model hat dich verlassen?“, mischte sich Peter ein und konnte seine Schadenfreude darüber kaum verbergen.

„Das kann passieren, wenn man Frauen nicht nur als Ware, sondern als selbstbestimmte, freie Geschöpfe betrachtet und auch dementsprechend behandelt. Liebe kommt und geht.“

Liebe? Welch bedeutungsvolles Wort aus deinem Hallodri-Mund!“

„Schluss jetzt!“, unterbrach Mary die neu aufkeimende Diskussion, „Wir trennen uns. Jeder geht wieder seines Weges. Auf Wiedersehen, Peter. Komm mit, Karli!“

„Wartet! Wir begleiten euch noch ein Stück“, bot Peter an.

„Nein, lieber nicht. Ich muss noch austreten. Dabei hätte ich gerne so wenig Zuschauer wie möglich“, bat Mary und verschwand winkend im nahen Dickicht aus Schnee, Gestrüpp und Ästen.

Gemächlich trottete Goliath hinterher, doch Peter pfiff ihn zurück. Mit wehmütigem Blick nach Mary gehorchte der Golden Retriever seinem Herrchen.

„Auf Wiedersehen, Mary! Darauf hoffe ich wirklich sehr!“, rief Peter ihr nach und setzte sich in Bewegung.

„Ich auch! Es würde mich sehr freuen!“, antwortete sie schreiend.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739433509
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Liebesroman zeitgenössisch Winter Romantik Romance Komödie Weihnachten Familiengeheimnisse Humor

Autor

  • Hanna E. Lore (Autor:in)

Hanna E. Lores Leben besteht aus Geschichte(n) und dem Schreiben solcher. Auf ein Studium der Geschichtswissenschaft folgte die Mitarbeit in Archiven und Museen, an Ortschroniken und historischen Projekten. 1989 in einer kleinen Pongauer Gemeinde geboren, lebt sie heute immer noch da und ersinnt dort Charaktere für neue Abenteuer. Liebe, Romantik und eine Prise Humor sind die Zutaten für ihre Romane.
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Titel: Festtagsbekenntnisse