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Die Fremde

von Inga Voigt (Autor:in)
103 Seiten

Zusammenfassung

Wir leben mit vielen und lieben Menschen zusammen und glauben sie zu kennen. Aber kennen wir sie wirklich? Oder tragen sie nur eine Maske? Oder verstecken wir uns hinter einer Maske? Ist das Leben vielleicht ein einziger Maskenball? Wir alle halten unser Leben in beiden Händen und wollen immer nur das Beste. Das ist natürlich und verständlich aber nicht immer einfach. Wenn sich die Gelegenheit bietet etwas zu ändern, dann sollten wir die Chance ergreifen aber bitte im Rahmen der Legalität. Und dann lebe dein Leben, denn ein zweites Leben bekommst du nicht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1 Sweet home

Es ist Sommer in Berlin, August 2013. Heiß, trocken, fast schon schwül. Vielleicht hängt irgendwo im Osten bereits ein Regengebiet. Noch ist es nicht zu sehen aber es ist so drückend, dass man es beinahe greifen kann. Oder ist es eher der Wunsch, DASS es endlich regnet? Laura ist sich nicht sicher, ob es der Wunsch nach Regen ist, der sie all das denken läßt oder woran es liegt, dass sie diese Gedanken hat.

Laura und Hannes Dunst wohnen in Berlin Spandau, in einer kleinen Seitenstraße, in einem schmucken Einfamilienhaus, Flachbungalow. Sie haben schon fürs Alter vorgesorgt, keine Stufen vor oder im Haus, alles ebenerdig. Besonders stolz sind sie auf ihren selbstgebauten Kamin.

Obwohl sie keine Kinder haben, haben sie sich für vier Zimmer entschieden, sie gönnen sich einfach den Luxus. Ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer war Minimum, dazu ein Gästezimmer und ein Büro. Ein PC auf einem Schreibtisch paßt weder ins Wohnzimmer, noch ins Schlafzimmer. Da genug Platz vorhanden ist, gibt es neben dem Bad noch ein Gäste-WC.

Sie schwang die Beine aus dem Wasserbett und schlurfte ins Bad. Hannes war schon zur Bank gefahren, er hatte heute sehr früh eine Konferenz anberaumt und so brauchte Laura kein Frühstück machen, sondern nur eine Tasse Tee für sich allein.

Hannes war Filialleiter einer berliner Bank in Spandau. Er hatte sich hier vor drei Jahren um den Posten als Filialleiter beworben und war auf Anhieb angenommen worden. Dieser Job war der reinste Glücksgriff, war er doch jahrelang bei der Konkurrenz über die Stelle als Anlagenberater nicht hinausgekommen.

Und ihre eigene Berufswahl? Sie hatte sich zur Fremdsprachensekretärin ausbilden lassen und arbeitete nun seit zwei Jahren bei BMW, in der Geschäftsleitung. Auch ihr Verdienst konnte sich sehen lassen, immerhin reichten ihre Gehälter für den Bau dieses schmucken Häuschens. Eine Putzfrau oder einen Gärtner hatten sie zwar nicht, aber das war ok.

Laura ließ noch einmal das vergangene Wochenende vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Diesmal war es schon ein wenig heftig gewesen, erst die Putzerei und dann noch die Grillparty. Heute würde sie es ruhiger angehen lassen als gestern.

Gestern hatte sie genug geackert.

Gestern - waren Hannes Eltern zum Grillen bei ihnen und es war anstrengend. Laura hatte tolle Steaks besorgt und die Salate alle selbstgemacht aber das war nicht gut genug. Ständig hatte Hannes Vater etwas zu nörgeln. Mal war das Fleisch zu blutig oder das Bier zu kalt. Er sei schließlich magenkrank und das habe wohl seine Schwiegertochter vergessen und so weiter und so weiter. Und Hannes Mutter mäkelte entweder am Garten herum, die Blumen stehen zu eng, die brauchen mehr Luft. Oder Kind du bist zu dünn, du mußt mehr essen, Hannes reißt sich ja noch Splitter ein. Gott sei Dank, war der Nachmittag dann irgendwann zu Ende und sie fuhren schließlich wieder nach Hause.

Egel. Es ist Montagmorgen und endlich ist das Wochenende vorbei.

Hannes und sie galten in ihrer Wohngegend als ein Vorzeigepaar. Beide verdienten gutes Geld, hatten sich ein Häuschen gebaut, alles sauber und ordentlich. Die Ehe galt als harmonisch und auch sonst verbreiteten sie immer und überall gute Laune. Kinder hatten sie allerdings keine. Warum eigentlich nicht? Die Nachbarn waren sich einig: die beiden würden hervorragende Eltern abgeben. Nachbarn sind eben so. Sie tratschen gerne. Laura wünschte sich, sie wären nicht immer so neugierig aber sie und Hannes hielten die Nachbarn stets ein wenig auf Abstand und das war gut so und klappte meistens auch ganz gut.

In der Küche angekommen warf sie einen Blick auf den Terminkalender für 2, hier hatte man auf einen Blick den ganzen Monat im Blick – eine Terminspalte für Laura und eine Spalte für Hannes. Jeder schrieb hier seine Verabredungen ein und so hatten sie ihre Termine und Verpflichtungen immer im Blick.

Was stand denn diese Woche so an? Ah, Hannes mußte von Mittwoch bis Freitag nach Frankfurt /Main fliegen zu einem Meeting der Geschäftsleitungen der Commerzbank. Stimmt, er sprach davon, daß sie Planungen vorsehen, mehrere Filialen zusammenzulegen. Nun mußte eine Lösung herbeigeführt werden, was mit dem Personal geschehen soll. „sozialverträgliche“ Kündigungen oder Umverteilungen.

Hannes würde also drei Tage außer Haus sein. Das klang doch gut. Laura könnte mal wieder etwas für sich machen. Shoppen. Solarium – oder…

Sie hatte ihren Tee ausgetrunken, zog die Lippen mit einem Lipgloss nach und verließ das Haus. Bis zu BMW am Julius-turm war es nicht weit aber sie fuhr trotzdem mit ihrem Mini Cooper zur Arbeit. Es gab immer ausreichend Parkplätze vor dem Werk und sie konnte nach der Arbeit auch schneller noch etwas einkaufen, wenn es erforderlich war. Laura wählte die kürzeste Strecke und so brauchte sie nur die Mareyzeile zu durchqueren, weiter durch die Wilhelmstr. und schon war sie - nach nur 17 Minuten Am Juliusturm. Es gab noch andere Wege aber da wäre sie dann schon mal 20 Minuten und mehr unterwegs, so war das gerade noch ok.

***

Ganz andere Sorgen hatte Marie. Marie Morgan lebte seit 20 Jahren auf der Straße. Sie sagte zwar immer, sie habe ein festes Dach über dem Kopf aber das war stark übertrieben, sie wohnte unter der Charlottenbrücke, nahe den Sportbootanlagen. Am Tag war sie in Spandau und Siemensstadt unterwegs und erbettelte sich ein paar Cent für einen Kaffee oder auch für ein Brötchen. An manchen Tagen lief es gut, an anderen weniger. Meistens saß sie in Spandau, in der Fußgängerzone vor der Charlotten-Apotheke. Der Apotheker war zwar nicht sehr begeistert eine Pennerin vor der Tür zu haben aber er duldete sie, weil er Mitleid mit ihr hatte.

Die meisten Menschen gingen achtlos an ihr vorüber, schauten sie nicht einmal an. Daran gewöhnt man sich. Wenn aber gar niemand ein paar Cent in ihren Becher warf und der Hunger unerträglich wurde, der Magen immer lauter knurrte, dann verließ sie auch schon mal ihren sicheren Platz und sprach die Menschen direkt an. „Haben Sie nicht ein paar Münzen, bitte? 20 Cent wären schon sehr viel für mich.“ Oder sie wurde ganz direkt: „Bitte, ich habe Hunger, könnten Sie mir etwas Geld geben?“

Daß die Menschen NICHTS gaben war schon grausam genug aber dass sie sie völlig ignorierten, den Blick abwendeten und so taten, als ob sie gar nicht da war – das schmerzte noch viel mehr. Diese Missachtung. Manchmal war sie richtig froh wieder unter ihrer „Brücke“ zu sein. Heute war mal wieder ein richtig guter Tag gewesen, ein Passant hatte ihr ein Brötchen geschenkt, ein Heringsfischbrötchen aus dem Fischladen „Nordsee“, ein paar Häuser weiter, ebenfalls aus der Charlottenstraße, wo sie immer saß. Heute Abend hatte sie jedenfalls keinen knurrenden Magen. Marie saß auf ihrer Isomatte, schaute über die Havel auf die eleganten Boote gegenüber, die in der Sportbootanlage vor Anker lagen und träumte von einem weißen Hausboot, mit dem sie über die Havel oder den Wannsee schippern würde und darüber schlief sie langsam ein. Aber dies würde immer nur ein Traum bleiben, ein schöner, zugegeben. Morgen würde sie mal zu den „Arkaden“ gehen und dort ihr Glück versuchen, vielleicht gab es da mehr zu holen.

Am nächsten Morgen wurde sie durch das Martinshorn der Berliner Feuerwehr geweckt, mit lauten Tatütata rasten sie über die Charlottenbrücke über Maries Kopf. Marie drehte sich aus ihrem Schlafsack, reckte sich kräftig und schlenderte runter zum Wasser. Sie hatte noch einen kleinen Schluck Wasser in ihrer Trinkflasche, das würde gerade noch zum Zähneputzen reichen. Die Flasche könnte sie ja dann wieder auf der Damentoilette in den Arkaden nachfüllen. Nein, sie hatte es nicht eilig. Die Arkaden öffneten erst um 10 Uhr, da haben es die Kunden nur eilig in die Geschäfte zu gelangen und würden an ihr nur vorbeigehen. Also plante Marie ein, nicht vor 12 oder 13 Uhr sich dort zu positionieren. Die Chancen standen einfach besser, wenn die Kunden eingekauft hatten und zufrieden die Arkaden wieder verließen, dann waren sie eher bereit ein paar Cent abzugeben. Was aber sollte sie bis 12 Uhr machen? Sie könnte ja mal nach Paul und Willy gucken. Sie hatte die beiden schon ein paar Tage nicht mehr gesehen. Vielleicht könnte sie hier noch ein Bier oder eine Zigarette schnorren.

Marie packte ihre Habseligkeiten zusammen und machte sich auf den Weg. Das letzte Mal hatte sie die beiden vor einem Supermarkt in Siemensstadt getroffen. Sie schlenderte zur U-Bahn und fuhr mit der U7 nach Siemensstadt. Einen Fahrschein hatte sie nicht und eine Kontrolle war ihr Gott sei Dank auch nicht über den Weg gelaufen. In der U-Bahn hatte sie die Fahrgäste angesprochen und um ein paar Cent gebettelt. Entweder stellten sich die Fahrgäste schlafend, waren mit ihren Smartphones beschäftigt oder lasen in ihren E-Books. Mit anderen Worten: sie ignorierten sie wieder einmal. Marie hatte noch genau 5€ in der Tasche, immerhin reichte es noch für eine Cola und es blieb noch etwas übrig.

In Siemensstadt angekommen, schlenderte sie über den kleinen Parkplatz, vor dem Einkaufszentrum und sah schon von weitem Paul auf einer Bank hocken, vor ihm lag sein Hund Willy. Paul hatte den Mischling vor einem Monat halb verhungert auf einem Baugelände gefunden. Paul hatte ihm seine letzte Stulle gegeben und ihm wahrscheinlich damit das Leben gerettet. Seitdem wich der Hund Paul keinen Schritt mehr vom Leib. Willy war undefinierbar, scheinbar eine Mischung von allen Hunderassen dieser Welt. Stullen bekam er jetzt keine mehr, er wurde sogar besser genährt als sein Herrchen, sein Fell war glatt und glänzte sogar etwas.

Marie ging auf die beiden zu und wurde sofort stürmisch von Willy begrüßt, er sprang an ihr hoch und versuchte ihr Gesicht abzuschlecken. Paul hob nur den Kopf, drehte ihn dabei in ihre Richtung und murmelte kaum hörbar „Hi, Süße“. Marie setzte sich zu ihm auf die Banklehne, legte kurz den Arm um ihn und drückte ihn. „Hast du mal‚ ne Kippe?“ Er reichte ihr die zerdrückte Packung und steckte mit seiner Zigarette die andere Zigarette an. So saßen sie schweigend eine Weile nebeneinander.

In der „Domäne“ hinter ihnen, einem etablierten Geschäft, in dem es alles zu kaufen gibt, was die gute Hausfrau braucht oder auch nicht, sogar Möbel und Kekse, lief das Geschäft schon auf vollen Touren. Marie und Paul wollten noch zu Ende rauchen und dann versuchen ein paar Münzen zu erbetteln und später dann gemeinsam nach Spandau fahren.

Kapitel 2 Das Café

Im Café Am Neuen See in Tiergarten saßen heute kaum Gäste, die Tische waren nicht einmal zur Hälfte besetzt. Die Kellnerinnen hatten mäßig zu tun, die wenigen Kaffeedurstigen waren meistens Stammgäste, die Touristen trafen erst am späten Nachmittag ein.

So saß unter einem Vordach ein einzelner Mann, seiner Kleidung nach konnte man ihn weder als Tourist, noch Einheimischen zuordnen. Er trug eine Sonnenbrille, gegen die Mittagssonne, blaue Jeans und ein Poloshirt, dazu dunkle Turnschuhe. Ganz normal. Eines allerdings unterschied ihn jedoch schon von den übrigen Gästen: sein Blindenstock, der zusammengeklappt und quer auf seinen Oberschenkeln abgelegt wurde, sobald er Platz genommen hatte.

Er kam jeden Tag um dieselbe Zeit, pünktlich um 16 Uhr erschien er und wenn möglich setzte er sich auch immer an denselben Tisch. Die Kellnerinnen kannten ihn alle und so war es für sie selbstverständlich, ab 15 Uhr ein Schild auf diesen Tisch zu stellen: Reserviert. Für ihn. Er war ein gern gesehener Gast, stets nett, gut gelaunt und freundlich. Man merkte ihm schon an, daß er eine gute Ausbildung hatte, sein Benehmen war ausgesprochen vorbildlich, nie nörgelte er herum oder war ungehalten, wenn er etwas warten mußte.

Auch heute hatte wieder Susanne Dienst und brachte ihm die Speisekarte, daß dies völlig unsinnig war, wußte sie. Es war ein Ritual, Jonas Kaufmann bestand darauf. Er schlug die Karte jedesmal auf, und fragte dann welchen Kuchen sie heute empfehlen könne, der nicht auf der Karte stehe. Jonas Kaufmann ließ sich mit seiner Entscheidung immer etwas Zeit „schaute“ wieder in die Speisekarte und entschied sich letztendlich für den Kuchen des Tages. Susanne betrachtete ihn in der Zwischenzeit und fragte sich zum x-ten Mal “Warum er? Warum war er blind? Ein so gut aussehender Mann?„ Sie schätzte ihn auf ungefähr 31 Jahre und mindestens 2m Größe. Man könnte schon sagen: ein Traummann, wenn da nicht…

Von diesen Gedanken ahnte Jonas Kaufmann natürlich nichts, er bestellte artig seinen Kaffee und Kuchen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Später würde er in seine kleine 1-Zimmerwohnung zurückkehren und den restlichen Abend auf dem Balkon verbringen. Er hatte es nicht weit bis nach Hause, sie war gleich hier in der Nähe, in der Thomas-Dehler-Str., das war sehr praktisch, alles zu Fuß erreichbar. Gut, zu seinem Arbeitsplatz, den Blindenwerkstätten wurde er jeden Tag mit dem Auto abgeholt und wieder nach Hause gebracht. Was er zum täglichen Leben benötigte, kaufte er in seiner Mittagspause ein, er brauchte ja nicht viel. Er lebte mit seinen 31 Jahren immer noch allein, er brauchte niemanden zu versorgen. Seine Eltern waren damals bei einem Autounfall ums Leben gekommen, er selbst, er war seinerzeit 10 Jahre alt, kam schwer verletzt ins Krankenhaus. Das Auto seiner Eltern war mit einem Mercedes zusammengestoßen, Jonas selbst war durch die Windschutzscheibe geflogen. Er hatte u.a. eine schwere Gehirnerschütterung, diverse Knochenbrüche, lag mehrere Wochen im Koma und war seitdem blind. So wuchs er bei seinen Großeltern auf und als sie starben, mußte er zum ersten Mal in seinem Leben allein zurechtkommen. Das war verdammt schwer aber heute gute 21 Jahre später, hatte er sein Leben im Griff und kam gut zurecht.

Eine Frau in seinem Leben hatte er bisher nicht vermißt, wie auch? Wie sollte das auch gehen: ein Blinder und eine Sehende? Bei einem Blinden müssen alle Gegenstände IMMER an derselben Stelle liegen. Die Stühle immer an derselben Stelle stehen. Die Türen immer offen sein.

Was wäre, wenn sie sich im Schlafzimmer (sofern man mehrere Zimmer hat) hinlegt, die Tür schließt und schläft? Er, Jonas, würde dies nicht erkennen und mit vollem Karacho gegen die geschlossene Tür rennen! Welch‘ eine Horror-Vorstellung! Ein Blinder bewegt sich in seiner Wohnung ebenso selbstsicher, wie ein Sehender in seiner Wohnung.

Vorausgesetzt, alles steht oder liegt, wie er es deponiert hat. Das ist schwer vorstellbar aber Tatsache. Wer Jonas bei sich zu Hause beobachten könnte, würde nie merken, daß er blind ist. Jonas bewältigt seinen Haushalt allein, bekocht sich und er sieht genauso Fernsehen, wie jeder andere auch. Darauf ist Jonas sogar sehr stolz. In den Blindenwerkstätten wird am nächsten Tag genauso heftig über ein Fußballspiel des Vorabends diskutiert, wie über einen Krimi. Einen Fußballkommentator liebte er besonders: Werner Hausch. Leider hat er sich mittlerweile schon zur Ruhe gesetzt und frönt dem Rentnerdasein, leider. Aber der war richtig gut und witzig.

Und eine Frau, die dasselbe Handicap hätte, wie er? Bisher hat sich noch nichts ergeben, auf seiner Arbeitsstelle sind die meisten Frauen verheiratet oder – pardon – zu alt.

Jonas ließ seine Gedanken weiter schweifen, wenn es etwas gäbe, das er vermißt, so wären es die langen Spaziergänge im Grunewald. Hier war er sehr oft mit seinen Eltern, irgendwo am Hüttenweg.

Sie hatten immer auf dem Parkplatz dort geparkt und waren dann in den Wald gegangen, vorbei an einer großen Eiche und dann an einem Feld mit vielen Farnen. Jonas hatte sich hier immer versteckt und seine Eltern mußten ihn dann suchen, ja, er kannte sich ganz gut hier aus.

Heute wäre dies, zumindest ohne Begleitung, undenkbar.

***

Laura Dunst saß an ihrem Schreibtisch und las die Korrespondenz auf dem PC nun schon zum dritten Mal durch, es durfte keinen Fehler geben, den sie übersah. Von diesem Auslandsauftrag hing ein Großgeschäft über mehrere Millionen ab. Sie hatte nicht mitbekommen, daß sich die Tür hinter ihr öffnete. Ganz langsam spürte sie, wie ein Finger über ihren Hals, vom Haaransatz zur Schulter, strich. Sie bekam eine Gänsehaut. Hinter ihr stand Chris Bergmann und küßte sanft ihren Hals. „Wie weit bist du? Schaffst du es bis zur Mittagspause?“ Laura grinste „Bin gleich fertig, dann können wir gehen.“

Chris Bergmann war Lauras direkter Vorgesetzter, 42 Jahre alt, ledig und leitender Angestellter bei BMW.

Er liebte sie abgöttisch, ihr Verhältnis dauerte zwar erst 1 Jahr, oder schon 1 Jahr? Je nachdem, wie man es betrachtete. Sie achteten streng darauf, daß es ihr Geheimnis blieb und auch bleiben sollte. „Ich habe eine Überraschung für dich.“ Laura sah ihn geheimnisvoll an und lächelte verschmitzt. „Ich sag’s dir beim Essen.“ Chris ging schon mal vor in die Kantine, damit er einen Tisch aussuchen konnte und sollte ihm ein Mitarbeiter noch ein Gespräch aufdrängen, könnte er es beenden, bevor Laura zum Essen käme. Sie würde sich dann zufällig zu ihm setzen, wie man das manchmal so macht: Chef und Sekretärin, ganz unverfänglich.

Chris wählte einen Tisch am Fenster, in einer Ecke. So konnte er die ganze Kantine überblicken und Laura wußte, wo sie ihn finden konnte.

Kaum hatte er sich hingesetzt, schlenderte auch schon der Mertens auf ihn zu. „Haben sie eine Minute Zeit für mich?“ „Können wir das bitte später besprechen, nach der Pause, gegen 14 Uhr? Ich habe gerade eine Konferenz hinter mir und brauche eine Pause - dringend.“ Mertens nickte und schlurfte wieder von dannen. DER hatte Chris gerade noch gefehlt, irgendwie kam Mertens immer im falschen Moment, Mertens machte nicht mal davor Halt, ihn auf dem Klo anzusprechen, um belangloses Zeug besprechen zu wollen.

Chris blickte auf und entdeckte Laura am Eingang zur Kantine, sofort erhob er sich und so standen sie gleichzeitig an der Essensausgabe. Laura schnappte sich einen Salat, wegen der Figur, wie sie zwinkernd sagte und Chris wählte das Tagesgericht. Als sie an ihrem Tisch ankamen, sah Chris sie erwartungsvoll an aber Laura hüllte sich in Schweigen und lächelte ihn nur an. „Und?“ „Was – und?“ „Na, die Überraschung, welche Überraschung hast du für mich?“ Laura knabberte lange auf einer Mohrrübe herum und ließ ihn zappeln. „Ich bin drei Tage solo…..wir könnten gemeinsam etwas unternehmen…“ Schon wieder näherte sich Mertens ihrem Tisch und Laura unterbrach das Gespräch, Mertens nickte Laura zu und ging vorbei. Sie wartete noch, bis Mertens wieder außer Hörweite war und nahm das Gespräch erneut auf. „Wir könnten doch vielleicht mal wieder zur Hütte fahren.“ Die Hütte war ein Wochenendhaus, mit einem herrlichen Blick auf die Havel. Genau genommen, war es ein ganz normales Einfamilienhaus, wurde aber von Chris nur am Wochenende oder im Urlaub genutzt, da der Weg zur Arbeit einfach zu umständlich war. Er konnte es sich schließlich leisten. Allein die Vorstellung mit Laura hier drei Tage und zwei Nächte hintereinander verbringen zu können, war mehr als verlockend, dafür würden sie beide den weiten Weg zur Arbeit gerne auf sich nehmen. Sie könnten nach der Arbeit ins Haus fahren, eine Flasche Champagner öffnen und den ganzen Abend und die Nacht im Schlafzimmer verbringen. Sollten sie noch einmal Hunger bekommen, könnten sie sich etwas liefern lassen. Somit brauchte keiner irgendwas einkaufen und schleppen. Wechselkleidung und auch kosmetische Artikel hatten sie bereits seit Längerem in den Schränken, sie brauchten tatsächlich nur ihre beiden Autos in die Doppelgarage fahren und die Türen hinter sich schließen. Und dann, was dann kam, ging nur sie beide etwas an.

„Chris…“ Er hatte Laura schon gar nicht mehr zugehört, so vertieft war er in seine Gedanken versunken. „Bist du damit einverstanden?“ Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. „Ich sagte gerade, daß ich am Mittwoch gegen 19 Uhr zu dir in den Bärbelweg komme und wir dann bis Freitag zusammenbleiben können.“ „Warum fahren wir nicht gleich nach der Arbeit zusammen dort hin?“ „Weil ich noch etwas besorgen möchte, hörst du mir eigentlich zu?“ Dann sah sie seinen verträumten Blick und wußte, WO er mit seinen Gedanken war. Er malte sich wohl schon aus, mit Laura im Schlafzimmer auf seinem Futonbett zu liegen und das Seidenlaken zerwühlen. Wie konnte sie ihm DAS verübeln? Sie schmunzelte und alles war wieder gut.

Kapitel 3 Tiergarten

Silvia Hofmann schlenderte durch den Tiergarten, einer der schönsten Grünanlagen Berlins, mitten im Herzen der Stadt und trotzdem glaubte man in einem riesigen Park außerhalb der Stadt zu sein. Hier fand man Ruhe und Erholung. Es gab auch Ecken, also Grünflächen, auf denen Bürger, die zu Hause keinen Garten oder Balkon hatten, sich mit der gesamten Familie trafen um zu grillen oder Fußball zu spielen. Natürlich war das nicht gestattet aber sie machten es trotzdem. Nebenan sonnten sich Studenten, tobten Kinder und spielten Hunde miteinander. Dennoch gab es ausreichend Flecken, an denen es ausgesprochen besinnlich zuging. Da saßen dann Rentner auf der Bank tauschten ihre Lebensgeschichten aus und fütterten nebenbei die Tauben.

Silvia Hofmann setzte sich auf eine Bank in der Sonne, schloß die Augen und ließ die Geräusche des Parks in ihren Kopf. Sie entspannte sich. Sie war auf der Suche nach Anregungen, für ihr neues Buch. Sie wollte etwas über Menschen schreiben, ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber, in der Familie oder Fremden gegenüber. Menschen zu beobachten gehörte mit zu den Recherchen, die sie immer machte, bevor sie ein neues Projekt in Angriff nahm und Leute gab es hier wahrlich genug. Auf der Liegewiese vor ihr lag in ca. 50m Entfernung ein junges, verliebtes Paar auf einer Decke. Sie machten aber kein Picknick, hatten auch wenig Interesse an ihrer Umgebung. Sie waren so mit sich beschäftigt, daß sie nicht einmal die Kinder bemerkten, die ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen geblieben waren und neugierig die beiden beobachteten. Vielleicht könnten sie ja noch was lernen? Silvia Hofmann schmunzelte.

In einem anderen Teil der Liegewiese hatte es sich eine türkische Familie gemütlich gemacht. Der Grill war bereits aufgebaut und auf den Decken drum herum standen diverse Schüsseln mit Fleisch, Gemüse und verschiedenen Beilagen. Natürlich auch mehrere Fladenbrote. Die Frauen räumten und schoben die Schüsseln hin und her, bis alles an seinem Platz stand. Die Kinder tobten über die Wiese, spielten Fußball oder Einkriegezeck, während die Männer auf einer anderen Decke saßen und rauchten. Weiter links spielten einige Frisbee und zwei Hunde versuchten ihnen die Scheibe abzujagen.

Während sie die Szenerie noch in sich aufnahm, hörte sie auf einmal ein klackendes Geräusch: tack – tack – tack – tack. Ein Mann blieb neben der Bank stehen und setzte sich am anderen Ende der Bank auf die äußerste Ecke. So saßen sie beide weit voneinander entfernt, jeder auf seiner Seite. Silvia hielt den Atem an und sah den blinden Mann an. Dann wandte sie den Blick wieder dem Liebespaar zu. „Guten Tag.“ Silvia erschrak, starrte wieder nach links. „Woher wissen Sie, daß ich hier sitze?“ „Ich kann Sie spüren und Ihr Haarspray riechen.“ Silvia lief puterrot an, es war ihr peinlich, sich nicht bemerkbar gemacht zu haben. „Sie können ruhig den Mund wieder zu machen.“ Silvia war verblüfft, wie geht das denn? Sie räusperte sich und rutschte unruhig hin und her. Dieser Mann war ihr unheimlich. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. „Tut mir leid, ich bin nur ein wenig irritiert.“ Jonas kannte diese Reaktionen, er hatte es schon öfter erlebt. Langsam kamen die beiden ins Gespräch, sie erzählte ihm, daß sie zur Zeit ein neues Buch schreiben wollte und hier im Park nach neuen Impulsen suche. Sie studiere das Verhalten von Menschen – das war jetzt taktlos. Jonas sah in ihre Richtung und grinste. Das was eben zwischen ihnen abgelaufen war, war doch fast schon, wie in einem Film, oder? Silvia Hofmann plapperte und plapperte und redete sich um Kopf und Kragen. Jonas amüsierte sich. So – war das immer mit den Sehenden, sie brachten sich in eine Situation, die ihnen unangenehm war, weil sie nicht wußten WIE sie sich einem Blinden gegenüber verhalten sollten und dann wußten sie nicht, wie sie wieder aus dieser Lage heraus kommen konnten.

Abrupt stand Silvia auf „Ich muß jetzt gehen, sorry.“ Wieder verhaspelte sie sich und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. „Sehen wir uns wieder?“ Jonas sah sie erwartungsvoll an. Silvia war verblüfft. „Äh ja, gerne, wie wär‘s mit Übermorgen, wieder hier? So wie heute?“ „Gern.“ Jonas hielt ihr die Hand entgegen und wartete, Silvia zögerte, dann ergriff sie die Hand und verabschiedete sich.

Was war denn DAS eben? War er nun blind, oder nicht? Hatte sie das eben wirklich erlebt? Hatte er alles nur vorgespielt? Selbst wenn, er schien recht nett zu sein, mal sehen was daraus wird. SEHEN – plötzlich bekam dieses Wort ein ganz anderes Gewicht. Sehen – sagte man das jetzt ausschließlich zu NICHT Blinden, durfte man in Gegenwart eines Blinden dieses Wort überhaupt verwenden? Sie würde sich beim nächsten Treffen jedes Wort genau überlegen müssen, sonst würde sie von einem Fettnapf in den nächsten stürzen. Das wird anstrengend, das wurde ihr klar. Silvia schlug den Weg zur Redaktion ein, verdoppelte ihre Schrittgeschwindigkeit und hatte schon bald ihr Büro erreicht. Im Dienstgebäude angekommen, nahm sie den Aufzug, fuhr in den dritten Stock und betrat ihr Büro. Sie teilte sich das Büro mit zwei weiteren Journalisten, die aber beide offensichtlich unterwegs waren. Sie fuhr den PC hoch und nutzte die Wartezeit um aus dem Fenster zu schauen und noch einmal an den unbekannten Mann zu denken. Ob sie vielleicht auch über ihn schreiben konnte? Wie lebt es sich in einer Welt, die man nicht sehen kann? War er schon immer blind? Worüber sollten sie reden? Würde er übermorgen überhaupt auftauchen?

Jonas saß noch eine Weile auf der Bank und ließ sich noch einmal die Begegnung mit der Frau, die eben noch neben ihm saß, durch den Kopf gehen. Sie hatte eine angenehme Stimme, war höchstwahrscheinlich noch jung, vielleicht 23-28 Jahre alt oder so. Ob sie übermorgen wirklich wiederkam? Er mußte zugeben, diese Frau war ihm sehr – ja was? Also, er würde sich freuen, wenn er sie wiedersehen könnte. Er sollte sich aber keine allzu große Hoffnung machen.

Die türkische Großfamilie hatte mit dem Grillen begonnen und die Duftschwaden von gegrilltem Fleisch zogen langsam zu Jonas herüber. Er bekam Hunger und beschloß, jetzt nach Hause zu gehen und sich eine Kleinigkeit zu kochen.

Kapitel 4 In den Arkaden

Es war endlich Mittwoch. Laura Dunst war früher aufgestanden als üblicherweise und war heute schon geschminkt und angezogen, als ihr Mann Hannes in die Küche kam. „Wann mußt Du auf dem Flughafen sein?“ „Ich muß um 8 Uhr einchecken, warum? Willst du mich hinbringen? Oder soll ich mir lieber ein Taxi rufen?“ Laura erbot sich ihn zum Flughafen Tegel zu bringen und anschließend ins Büro zu fahren.

Der Arbeitstag zog sich mal wieder endlos lang hin aber der Gedanke, bald drei Tage mit Chris Bergmann verbringen zu können, von den Nächten ganz zu schweigen, ließ ihre Laune sprunghaft steigen. Sie hatten sich beide freie Tage genommen, dann hätten sie noch mehr Zeit für einander. Laura hatte ihren Kollegen gegenüber behauptet mit ihrem Mann nach Frankfurt zu fliegen und Chris Bergmann hatte vorgetäuscht ein paar Tage an die Ostsee fahren zu wollen. Er wolle sich eine kleine „Auszeit“ gönnen. So kam niemand in der Firma auf den Gedanken, daß der Chef mit seiner Sekretärin gemeinsam unterwegs sein könnte. Guter Schachzug von beiden. Laura wollte gleich nach der Arbeit noch schnell in die Spandauer Arkaden fahren und sich verführerische neue Unterwäsche kaufen, eigentlich völlig unsinnig, weil ihr Chris diese sowieso im Liebesrausch vom Körper reißen und sie die zarte Spitze nur kurzfristig tragen würde. Aber das gehörte einfach zum Vorspiel. Sie könnte auch noch ein wenig Lachs kaufen und Kaviar, den Champagner wollte Chris mitbringen.

Langsam, eigentlich viel zu langsam rückte der Uhrzeiger auf 15 Uhr und Laura fuhr ihrem Computer herunter, schnappte sich die Handtasche und sagte allen kurz „Tschüs“ und weg war sie. Zehn Minuten später verließ sie das Parkhaus und betrat die Arkaden. Sie ließ sich ausgiebig bei Hunkemöller, einem bekannten und noblen Dessousgeschäft, beraten und erstand einen roten Kimono und sündhaft teure Unterwäsche. Laura machte noch schnell den Abstecher bei NETTO und verließ beschwingt die Arkaden. Da sie noch Zeit hatte, beschloß sie noch ein Eis zu essen. So verließ sie das Einkaufszentrum und schwenkte nach links. Vor ihr saß auf der Erde eine junge Frau oder war sie so alt, wie sie selbst? Und blättere in einem abgewetzten Buch die Seiten um, sie war so vertieft, daß sie nicht bemerkte, daß Laura vor ihr stehen blieb und in ihrem Portemonnaie kramte. Laura fand noch ein 2€ Stück und ließ es in den Plastikbecher fallen, durch das Geklimper aufmerksam geworden blickte die Pennerin hoch. Laura Dunst und Marie Morgan starrten sich beide an. Das gibt es doch nicht! Laura erschrak, diese Frau dort auf der Erde sah aus wie – sie! Wenn man davon absah, daß die Haare der Pennerin feuerrot gefärbt waren, die kurzen Fransen ihr wirr um den Kopf abstanden und sie aussah als wäre sie unter einen Rasenmäher gekommen, so hatte sie jedoch die gleichen blauen Augen, die leicht zu weit nach außen standen. Eine kleine, kurze Stupsnase und Sommersprossen. Lauras Haare waren hingegen blond und lang, sie trug einen Seitenscheitel und naja, die Haare glänzten wie Gold, sie waren eben gut gepflegt, was man bei der Person hier am Boden nicht gerade behaupten konnte.

Dennoch war Laura fasziniert von der Pennerin. Sie stand schon zu lange vor ihr, um einfach weitergehen zu können. „Hi.“ Die Frau am Boden starrte sie immer noch an, nickte und brummte „Hm.“ Einfallsreich war das nicht gerade aber ein Anfang. „Danke, haste noch ne Zigarette?“ Laura kramte in ihrer Tasche, obwohl sie wußte, daß sie gar keine Zigaretten hatte, weil sie gar nicht rauchte. Sie wollte nur Zeit schinden. „Ich habe sie wohl im Büro liegen gelassen, in der Packung war sowieso nur noch eine drin. Ich muß also welche nachkaufen. Bin gleich wieder da.“ Bei diesen Worten drehte sich Laura um und kehrte in die Arkaden zurück. Was zum Teufel machte sie hier gerade? Was sollte das Theater? Sie irrte ein wenig herum. Wo kauft man eigentlich Zigaretten? Dann fiel ihr wieder ein, daß sie an der Kasse von Netto Zigaretten gesehen hatte. Schnell wandte sie sich dem Supermarkt zu und erstand irgendeine Sorte und ein Feuerzeug. Sie wird schon nicht so wählerisch sein, dachte Laura. Einem geschenkten Gaul…usw. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Rothaarige immer noch auf der Straße sitzen sah. Marie sah auf „Was is’n nu mit der Zigarette?“ Irgendwie war Laura das Ganze hier unangenehm, trotzdem blieb sie stehen. „Wollen wir uns da hinten, hinter der Eisdiele auf die Bank setzen? Ich könnte jetzt auch eine Zigarette brauchen.“ Marie wollte nur die Lusche aber sie war auch neugierig geworden, denn die Ähnlichkeit mit der fremden Frau war ihr auch aufgefallen und hatte sie fasziniert.

Da saßen sie nun einträchtig nebeneinander, Marie rauchte und Laura hielt die Zigarette nur fest. Die beiden sahen so unterschiedlich aus, wie schwarz und weiß. Die Eine gepflegt, ordentlich, sauber, geschminkt, eine Frau die mit Sicherheit mehrere Kreditkarten in der Tasche hatte und bestimmt ein dickes Bankkonto besaß.

Und die Andere? Von allem genau das Gegenteil. Und trotzdem schien die beiden etwas zu verbinden. Es war wie ein unsichtbares Band, keine sagte etwas. Es war so, als wollten sie den Moment nicht zerstören, dieses Magische. So saßen sie mindestens eine halbe Stunde nebeneinander. „Mein Name ist Laura und du?“ „Marie.“ Verdammt, es kann doch nicht so schwer sein. „Sag mal Marie, ich habe das Gefühl, als würden wir uns irgendwie kennen.“ „Hm.“ Himmel noch mal. „Na ja, Berlin ist schließlich ein Dorf oder vielleicht hab ich dich einfach nur schon mal hier gesehen, keine Ahnung.“ „Hm.“ Sehr gesprächig war Marie in der Tat nicht. Dann starrten sie beide wieder vor sich hin und schwiegen eine Weile. „Ich muß dann mal wieder los. Vielleicht sehen wir uns ein andermal wieder. Tschö.“ „Hm.“

Marie sah der aufgedonnerten Blondine hinterher. Was wollte die eigentlich? Immerhin hatte sie ihr eine Lusche spendiert und sie hatte auch noch 2€ in ihren Becher geworfen aber so ganz schlau wurde Marie nicht aus der Blondine. Dennoch gestand sie sich ein, daß auch sie ein wenig neugierig geworden war. Aber zwischen ihnen lagen wirklich Welten, dennoch – was wollte sie? Wenn sie noch mal vorbeikommt, würde sie sie fragen. Mit Sicherheit werden wir uns aber eher nicht wiedersehen, wieso auch? Marie hatte jetzt andere Sorgen, ihr „Abendessen“ war noch nicht gesichert. Sie schlenderte zurück zu den Arkaden und ging gezielt auf die Passanten zu und bettelte fordernd um eine kleine Gabe, heute wollte sie nicht hungrig ins Bett gehen.

Als Laura Dunst das Parkhaus verlies, hatte es leicht zu nieseln begonnen, so schaltete sie den Scheibenwischer ein, rollte langsam durch die Ausfahrt und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Ihre Gedanken waren schon weit voraus. Sie würde als Erste Chris Haus erreichen und konnte einige Vorbereitungen treffen.

Kapitel 5 Im Liebesnest

Eine halbe Stunde später stand sie vor der großen Garage, öffnete sie per Fernbedienung, was bei dem Regen sehr praktisch war und parkte auf der linken Seite der Garage ihren Mini Cooper.

Laura durchquerte die Diele und begann sämtliche Fenster zu öffnen und zu lüften. Gestern war die Zugehfrau – ein altertümliches und schreckliches Wort aber Putzfrau ist auch nicht besser – war offensichtlich gestern da gewesen, denn es sah in allen Zimmern sauber aus. Sie hatte sogar neue Bettwäsche aufgezogen, hatte Chris sie darum gebeten? Es sollte ihr egal sein, Hauptsache die Wäsche war frisch.

Nun hatte sie ausreichend Zeit zum Duschen und konnte sich in aller Ruhe für den Abend vorbereiten. Sie dusche ausgiebig und schminkte sich neu, dann zog sie die neuen Dessous an und darüber den kleinen Kimono. Sie war gerade dabei sich die langen, blonden Haare zu bürsten als sie unten Chris rufen hörte. „Hallohoo, jemand zu Hause?“ Und dann sah er Laura langsam Stufe um Stufe die Treppe herunterschreiten, gaaaanz langsam. Sie war die personifizierte Versuchung. Sie öffnete ein wenig den Kimono und ließ etwas von ihrem neuen, verführerischen, roten BH erkennen. Dann stand sie vor ihm und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Ich will noch schnell den Champagner öffnen und dann können wir die Kissen zerwühlen!“ Chris schaute sie liebevoll an, er wußte, es würden drei herrliche Tage und Nächte werden. Während Chris die Flasche öffnete, füllte sie einen Teller mit Lachs, Kaviar und Kräckern. Sie stellte alles auf ein Tablett und dann neben das Bett auf die Erde. Laura gab Chris einen leichten Schubs und er landete rücklings auf dem Futonbett, dann setzte sich rittlings auf seinen Bauch und begann langsam sein Oberhemd zu öffnen. Sie schob sein Hemd über seine Schultern und küßte seine breiten Schultern und den Hals, dann ließ die Zunge über seinen Oberkörper gleiten, bis sie seine Hose erreicht hatte. Sie zog den Gürtel aus der Schnalle. „Halt, nicht so schnell, laß uns erst einen Schluck trinken.“ Chris rollte sich zur Seite und schenkte ihnen beiden die Gläser halb voll, zog sich dann die Hose ganz aus und hielt ihr ein Glas entgegen. „Auf eine wundervolle Zeit.“ Laura lächelte ihn an und schob ihm einen Kräcker mit Lachs in den Mund, dann prosteten sie sich zu und tranken. Chris nahm ihr das Glas wieder aus der Hand und schob sie zurück auf das Bett, er küßte sie und seine Hand glitt langsam ihren Körper entlang. Laura stöhnte und genoß seine Zärtlichkeiten. Er berührte sie an den intimsten Stellen einer Frau, erst mit den Fingern, dann mit der Zunge. Laura bekam eine Gänsehaut und begann zu zittern, dann nahm er sie mit all seiner männlichen Kraft und drang in sie ein.

Sie schliefen noch zwei Mal miteinander und danach sanken sie beide glücklich und zufrieden zurück und brauchten erst mal eine Pause.

Chris war sofort eingeschlafen und Laura betrachtete sein ebenmäßiges Gesicht. Könnte es nicht immer so sein? Einen liebenden Mann im Bett neben sich, der ihr alle Wünsche von den Augen ablas? Harmonie, heiße Nächte – oder auch Tage. ER kannte alle ihre Gedanken, noch bevor sie diese aussprach und erfüllte ihre Träume und Sehnsüchte. Laura lag auf dem Rücken und starrte die Zimmerdecke an. Es müßte einen Weg geben, diese Begierde zu verwirklichen.

Bei all ihren Überlegungen verdrängte sie, daß der Alltag auch sie wieder einholen würde. Denn eine Ehe oder ein Zusammenleben mit einem anderen Menschen besteht nicht nur aus Champagner, Sex and Rock ‘n roll. Sie müßten selbstverständlich beide wieder zur Arbeit gehen. Vielleicht könnten sie sich wenigstens öfter ein Wochenende erschleichen, auch wenn Hannes nicht nach Frankfurt fahren würde. Es muß eine Möglichkeit geben, denk nach, streng dich an, mahnte sich Laura.

Sie dachte wieder an die Pennerin, diese Ähnlichkeit mit ihr. Sicher, die Ähnlichkeit müßte man noch mehr zu tage bringen. Ihre Haarfarbe kann man ändern, ihre Haarlänge – nicht. Die Kleidung könnte sie von Laura bekommen aber wie verhält sie sich so? Sehr gesprächig war sie ja nicht gerade. Sprach sie mit einem Dialekt? Berlinerte sie? Was, wenn sie kaum deutsch sprach? Was, wenn sie nicht wußte, wie man mit mehreren Besteckteilen umging, wie in dem Film „Pretty woman“ ? Kann das überhaupt funktionieren? Kann man einen fremden Menschen so verändern, daß man sich einen Zwilling zurechtformt? Sollte sie dafür Geld verlangen, wäre das kein Problem. Wahrscheinlich läuft sowieso alles nur mit Geld.

Aber WO sollte sie mit – wie war gleich ihr Name? – ach, ja: Marie, überhaupt die Verwandlung vollziehen? Hier in diesem Haus geht es nicht und in ihrem eigenen Haus geht es ebenfalls nicht. Ich brauche eine Wohnung, sagte sich Laura. Eine 1-Zimmerwohnung reicht. Irgendwo. In welchem Bezirk, das ist unwichtig. Am Montag würde sie die Wohnungsanzeigen studieren und hoffentlich eine kleine Wohnung finden. Oder sollte sie erst mit Marie wieder Kontakt aufnehmen? Was wenn sie das alles nicht wollte? Wie sollte Laura überhaupt Marie dazu überreden können? Geld ! Alles geht nur über das Geld.

Laura hatte einen Entschluß gefasst. Sie würde mit niemandem darüber reden, auf gar keinen Fall ! Es muß einfach klappen! Bei diesen Gedanken schlief sie endlich ein.

Kapitel 6 Das Wiedersehen

Jonas Kaufmann konnte es kaum erwarten, heute wollte die Arbeit ihm gar nicht von der Hand gehen. Er war aufgekratzt und hektisch, unkonzentriert und übernervös. Die übrigen Mitarbeiter der Blindenwerkstatt fragten ihn immer wieder, was denn mit ihm heute los sei. Jonas wich einer Antwort immer wieder aus, er wollte sich nicht blamieren. Würde er den anderen erzählen, daß er heute eine Frau treffen würde und diese käme dann nicht, WIE würde er dann dastehen? Nein, das wäre zu peinlich. Die Blöße wollte er sich nicht geben.

Endlich war Feierabend, Jonas würde selbstverständlich seinen Kaffee im Tiergarten noch trinken und auch ein Stück Kuchen essen. Sollte die junge Frau nicht erscheinen, so hätte er wenigstens seinen Tagesablauf eingehalten. Außerdem wäre er sonst viel zu früh an der Bank im Tiergarten.

Obwohl er sein tägliches Ritual einhielt, war er trotzdem vor der jungen Frau an der verabredeten Bank. Er nahm Platz und wartete. Jonas klappte seine Blindenuhr auf und fühlte die Uhrzeit, wie lange sollte er warten? Plötzlich näherten sich Schritte, der Kies knirschte unter den Sohlen – aber die Schritte wurden leiser und der Spaziergänger war vorübergegangen. Sie war es nicht. Jonas entspannte sich wieder, sie kommt nicht, er wußte es.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739383422
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Mord Träume Sehnsüchte Thriller

Autor

  • Inga Voigt (Autor:in)

Mein kleiner Krimi spielt in Berlin West. Hier bin ich 1950 geboren und hier kenne ich mich aus. Nach meiner Ausbildung zur Apothekenhelferin, habe ich sehr bald den Beruf gewechselt und habe 40 Jahre im Öffentlichen Dienst gearbeitet. Die letzten 25 Jahre im gehobenen Dienst. Ich bin verheiratet, aber ich habe keine Kinder, keinen Hund und keine Katze. Ich wünsche Dir viel Spaß beim Lesen und spannende Stunden.
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Titel: Die Fremde