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Zur Hölle mit Schneewittchen

von Alice Alderwood (Autor:in)
232 Seiten

Zusammenfassung

Ich wollte nicht von dieser verdammten Brücke springen! Schon gar nicht aus Liebeskummer! Soviel Herzschmerz hat Leon, dieser Verräter, gar nicht verdient! Dumm nur, dass ich trotz dieser guten Vorsätze trotzdem von der Brücke fiel. Noch dümmer, dass ich nicht im Wasser landete, sondern auf einem Drachenrücken … Felicitas, genannt Feli, ist dreiundzwanzig Jahre jung und schwer enttäuscht von der Welt. Ihre große Liebe Leon hat sie im Regen stehengelassen, ihr langweiliger Job ödet sie an und der Vermieter ist ein fieses Ekel. Kein Wunder, dass man da auf schräge Gedanken kommen kann! Feli will es eigentlich bei jenem Gedankenspiel belassen, doch der berühmte unglückliche Zufall in Gestalt einer alten Dame will es, dass Felicitas ganz unfreiwillig doch noch von der Brücke stürzt, geradewegs hinein in ein turbulentes Abenteuer. Wenn Sie glauben, Märchen wären nur Lügengeschichten für kleine Kinder, dann lassen Sie sich eines Besseren belehren! Schließlich kann es jedermann – pardon, natürlich jederfrau! - passieren, für das verschwundene Schneewittchen einspringen zu müssen! Und ganz im Vertrauen gesagt, die Zwerge sind nicht die liebenswertesten Gesellen!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Feli – der Absturz

Dieser milde Sommerabend war perfekt: Mondlos, aber sternenklar. Dummerweise kannte ich nur ein einziges Sternbild, den Großen Wagen, der, wie mich Leon immerzu belehrt hatte, eigentlich der Große Bär war. Ach, Leon …

Der Abend war also doch nicht perfekt, denn was ihn vollkommen gemacht hätte, fehlte mir. Leon spazierte nicht mit mir durch den Stadtpark, sondern zog mit Melissa durch die Kneipen. Ausgerechnet mit Melissa! Ich hätte es ahnen müssen, dass es kein Zufall war, als diese hochnäsige Ziege bei unserer letzten Party auftauchte.

»Wir kennen uns von der Uni, Leon!«, hatte sie ihn angesäuselt und ihre langen Wimpern dabei heftig klappern lassen. »Ich studiere dort Lehramt, Geschichte und Geografie!« Mit einer grazilen Bewegung landete ihre flache Hand auf Leons Brust. »Wie ich hörte, willst du dich auf Mediävistik spezialisieren? Ich finde das ja so aufregend! Das Mittelalter ist eine mystische Zeit, voller Legenden und Geheimnisse!« Die letzten Worte hatte sie mehr gehaucht als gesprochen, und ihre knallrot lackierten Katzenkrallen krümmten sich, als würde sie damit Leon das Herz herausreißen wollen. Was sie ja dann auch getan hat. Zwei Wochen später machte er mit mir Schluss. Ich würde nicht seinem intellektuellen Horizont entsprechen – das konnte nur auf Melissas Mist gewachsen sein!

Das Wasser unter mir sah tiefschwarz aus, wie weicher Samt, auf dem hier und da eine kleine aufgestickte Silberpaillette aufblitzte, wenn Wellen das Sternenlicht oder die fernen Stadtlichter spiegelten. Die Versuchung, mich in diesen Samt einzuhüllen und das Kleid des großen Vergessens anzuziehen, war für einen Wimpernschlag lang da. Mir kann keiner erzählen, der schon mal in den Abgrund eines handfesten Liebeskummers getappt ist, dass ihm dabei keine tieftraurigen Gedanken gekommen sind, einschließlich der zuckersüßen Vorstellung von der eigenen Beerdigung, bei der sich derjenige, der die entgegengebrachte Liebe mit Verachtung strafte, die Augen aus dem Kopf heult. Im Gesträuch am Ufer tummelten sich Glühwürmchen, grüngoldene Fünkchen tanzten behäbig durch die Zweige. So viel Romantik tat richtig weh, wenn man sich von aller Welt verlassen fühlte! Ich begrüßte es außerordentlich, dass hier auf der Mitte der Brücke die Straßenlaterne ausgefallen war. Eine neongrelle Beleuchtung hätte absolut nicht zu meinen trüben Gedanken gepasst. Der Fluss murmelte vor sich hin, und mir kam der Gedanke, dass der Strom viel zu erzählen hatte, schließlich war er schon lange unterwegs. Schade, dass ich ihn nicht verstehen konnte, vielleicht hätten wir uns angeregt unterhalten können.

Wenn unter mir der alte Vater Rhein dahingeflossen wäre und nicht die unscheinbare Wacker, dann hätte ich durchaus dieser Verlockung erliegen können, mich in seine Arme zu werfen. Die Vorstellung, hinunterzusinken zum Versteck des Nibelungenschatzes, den weiland der böse Hagen irgendwo versenkt hatte, würde sicher auch Melissa mit ihrem Faible für die Geheimnisse des Mittelalters zusagen. Sollte ich die Möglichkeit haben, meine Nebenbuhlerin irgendwo in der Tiefe eines Gewässers verschwinden zu lassen, würde ich sofort aktiv werden, Nibelungenschatz hin oder her!

Allerdings eignete sich die brave Wacker jetzt im Sommer weder für den perfekten Mord noch für einen reibungslosen Suizid. Das Wasser unter mir war höchstens einen halben Meter tief. Als Kinder hatten wir alle oft verbotenerweise am und im Fluss gespielt, deshalb machte ich mir über den Wasserstand unter mir keine Illusionen. Ein Sprung von dieser Brücke hier im Park würde mir allenfalls ein paar Knochenbrüche einbringen. Oder ich fiel mit dem Rücken auf einen der großen runden Steine in der Flussmitte und blieb mein Leben lang gelähmt. Darauf konnte ich verzichten! Denn dann könnte ich Leon, diesem Verräter, nicht einmal mehr einen gehörigen Arschtritt verpassen!

Mit einem abgrundtiefen Seufzer ergab ich mich den realistischen Möglichkeiten, die mir blieben. Ich würde mich darauf beschränken, nur einige Rachegelüste bezüglich Melissa und meine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Leon in der guten alten Wacker zu versenken. Zu diesem Zwecke kletterte ich auf die Mauer, die den Fußweg von den gut sechs Metern Tiefe bis zum Flussbett trennte und ließ mich auf der Brüstung nieder. Ich machte das nicht zum ersten Mal. Jeder Teenager in unserer Stadt probiert irgendwann aus, wie sich das anfühlt, mit den Beinen über dem Abgrund zu baumeln. Bis jetzt ist noch keiner abgestürzt.

Tröstlich gurgelte die Wacker unter mir über die Steine in ihrem Bett. Ich schaute hinunter und betrachtete abwechselnd die Lichtreflexionen auf dem nachtschwarzen Wasser und meine Schuhspitzen. Die Sneaker, die ich an diesem Abend trug, waren nicht mehr besonders schick. Ich beschloss, am nächsten Montag einen ausgiebigen Einkaufsbummel zu starten. Neue Schuhe würden mich gewiss dazu motivieren, die Erinnerung an Leon in die Mülltonne zu werfen und optimistisch nach vorn zu schauen!

Die Idee war gut. Dabei war mir klar, dass es nicht funktionieren würde. Selbst nach dem Kauf von zehn Paar High Heels würde ich noch an Leon denken. In meiner Brust krampfte sich etwas zusammen. Liebeskummer kann durchaus körperlich schmerzhaft sein. Um das zu kompensieren, beugte ich mich nach vorn und starrte konzentriert in die Dunkelheit unter mir. Falls sich dort jetzt ein wirklich bodenloser Abgrund aufgetan hätte, meinetwegen bis zur Hölle oder bis zum Mittelpunkt der Erde, dann wäre ich absolut nicht abgeneigt gewesen, mich einfach fallen zu lassen. Aber dort unten blubberte nur ein klitzekleiner Fluss, der eigentlich nur im Frühjahr nach der Schneeschmelze genug Wasser führte, um diese Bezeichnung zu rechtfertigen. Trotzdem, die Versuchung war groß. Vielleicht war die Wacker heute tief genug ...

Ich wollte nicht springen, ehrlich nicht! Als ich auf die Krone des alten steinernen Geländers stieg, wollte ich da nur sitzen, die Beine über dem Wasser baumeln lassen und dem Gewisper des Flusses zuhören. Wenn diese alte Hexe mit ihrem fetten Mops nicht gekommen wäre, wäre ich nach gefühlten hundert Stunden zurück auf die Brücke geklettert und nach Hause gegangen, um mich ins Bett zu legen und zehn bis zwanzig Taschentücher vollzuheulen. Vielleicht hätte ich mir unterwegs eine Flasche Ramazzotti besorgt, der bitte Geschmack entsprach meinem Seelenleben.

»Um Himmelswillen, junge Frau! Machen Sie bloß keinen Blödsinn!«, kreischte es hinter mir. Ich zuckte zusammen und drehte meinen Kopf zur Seite, um sehen zu können, was da hinter mir passierte. War das Geschrei etwa auf mich gemünzt? Eine kleine weißhaarige Frau stürmte in einer erschreckenden Geschwindigkeit auf mich zu. Der fetteste Mops, den ich je in meinem Leben gesehen hatte, konnte ihr nicht mehr auf seinen krummen Beinchen folgen, er schlitterte auf seinem Bauch hinter Frauchen über den Asphalt und dankte vermutlich dem lieben Gott dafür, dass seine Leine nicht an einem Halsband, sondern an einem dieser Brustgeschirre für Hunde festgemacht war. Sein Frauchen hätte ihn wohl sonst glatt erwürgt!

Ich konnte nicht viel mehr tun, als entgeistert die Augen aufzureißen. Mit ausgestreckten Armen keuchte mir die alte Dame entgegen.

»Warten Sie … ich halte Sie … nicht springen … es kann nichts so schlimm sein … dass man deswegen … sein Leben wegwirft!«, schnaufte sie. Ich bewunderte ihre Kondition. Der Mops hechelte erbarmungswürdig, während sie mir noch während ihres Laufes philosophisch tiefschürfende Worte zuprusten konnte.

Ich war viel zu verblüfft, um rechtzeitig zu reagieren. Die hilfreiche Retterin stolperte auf mich zu, und ehe ich mich versah, rammte sie mir ihre Hände in den Rücken. Die Rettungsmission verkehrte sich prompt ins Gegenteil, ich verlor das Gleichgewicht. Ich weiß noch, dass ich verzweifelt mit den Armen ruderte, aber da war nichts, an dem ich mich hätte festhalten können. Nur schwarze Nacht und das Murmeln der schläfrigen Wacker.

Es stimmt nicht, dass im Angesicht des Todes das ganze Leben an dem inneren Auge des Betroffenen vorbeizieht. Mein inneres Auge hatte nicht einmal Zeit, die Beleuchtung für das große Kino anzuknipsen, so schnell ging es abwärts. Und dann schlug ich auf. Nicht in das Wackerwasser, nicht auf irgendwelche Steine. Das Ding unter mir war weich und glatt und federte wie ein Sprungkissen. Instinktiv grabschte ich in die rabenschwarze Finsternis, um mich irgendwo festzuhalten. Das war keine rationale Reaktion, das kam aus den tiefsten Tiefen des Hirnstammes, wo unsere Vorfahren zu ihren Reptilienzeiten alles abgespeichert hatten, was das Überleben sicherte.

Meine Hände fanden Halt an etwas Kompakten. Es fasste sich an wie eine mit Leder bespannte Leiste. Auf das, was dann passierte, war ich ebenso wenig vorbereitet wie auf meinen Absturz von der Brücke. Vor meinem Gesicht glommen zwei riesige Augen auf und funkelten mich goldgelb an. Die längsgeschlitzte Pupille schien Funken zu sprühen.

»Lass’ sofort meinen Flügel los, du dummes Ding!«, fauchte mich ein Rachen an, der einem Urzeit-Krokodil zur Ehre gereicht hätte. Die Zähne, die darin aufblitzten, waren so lang wie meine Hand. Mein überforderter Verstand beschloss, den Notschalter umzulegen. Die Nacht um mich her glitt hinüber in ein absolutes Nichts.

Vorsichtig klappte ich ein Auge auf. Vielleicht hatte ich das alles ja nur geträumt. Über mir schwankten einige Äste vor dem Sternenhimmel im Wind. Ich hoffte, dass es tatsächlich die Äste waren, die schwankten, und nicht etwa ich! Nein, ich schien auf beruhigend festem Boden zu liegen. Ich wagte es, das andere Auge aufzumachen. Über mir schwebte ein Lichtpünktchen zwischen den Sternen dahin. Wahrscheinlich ein Spionagesatellit. Oder die Raumstation. Irgendwo in den Staaten drüben über dem großen Wasser saß jetzt wahrscheinlich ein CIA-Agent über den neuesten Aufnahmen von Europa und lachte sich scheckig über mich.

»Guck mal, die blöden Krauts baden mitsamt ihren Klamotten!«, würde der Agent zu seinen Kollegen sagen. »Und auch noch in der kaum knietiefen Wacker! Kein Wunder, dass wir den Leuten in good old Germany noch immer das Händchen halten müssen!«

Apropos baden – ich war nass, pitschenass. Ach ja, ich war schließlich in die Wacker gefallen, logisch, dass ich nass war. Aber Moment! Da war doch etwas unter der Brücke gewesen, das meinen Sturz gebremst hatte! Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Wo war das Ding abgeblieben, dieses Ding mit den riesigen Zähnen im Maul? Halluzinierte ich? Und wie war ich ans Ufer gekommen?

»Wir sollten hier verschwinden, bevor die da oben nach dir zu suchen beginnen!«, sagte plötzlich jemand an meiner Seite. Ein männlicher Jemand. Ich vergaß vor Schreck zu atmen und schaute in die Richtung, aus der die Worte zu mir vorgedrungen waren.

Der Kerl hockte neben mir auf der Wiese, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich konnte bei der spärlichen Sternenbeleuchtung nicht viel erkennen, nur so viel, dass dieser Mann keineswegs ein spilleriger Hänfling war. Er wirkte sehr kompakt. Angesichts der zuckenden Blaulichter auf der Brücke begriff ich auch, was er mir sagen wollte. Kein Zweifel, die besorgte Dame, die mich vom Brückengeländer gekippt hatte, hatte sich Verstärkung besorgt. Ich konnte ihre aufgeregte schrille Stimme zwischen dem Kläffen ihres kugelrunden Mopses hören. Die Lichtkegel von mehreren Taschenlampen huschten über das Flussbett der Wacker. Ich sprang auf und winkte mit beiden Armen.

»Hier bin ich, hier ...« Weiter kam ich nicht. Eine eisenharte Hand legte sich über meinen Mund, ein nicht minder kräftiger Arm umfasste meine Taille von hinten.

»Lass’ den Blödsinn, Mädchen! Mag sein, dass du dich gern finden lassen willst, aber ich halte für meine Person überhaupt nichts davon, entdeckt zu werden! Besitzt du eine Auswahl von Gewändern in deinem Heim?«

»Umpf«, machte ich. So ein Spaßvogel! Wie sollte ich ihm antworten, wenn er seine Hand auf meine Lippen presste? Er lockerte seine Finger über meinem Mund etwas und raunte mir ins Ohr: »Wenn du schreist, drehe ich dir den Hals um!«

War ich einem Psychopathen in die Hände gefallen? Meine Knie wiesen plötzlich die Konsistenz von Pudding auf. Unter der Wackerbrücke lauerte ein Ungeheuer aus der Kreidezeit und hier am Ufer trieb sich ein irrer Serienmörder herum. Ich war eindeutig im falschen Film gelandet! Mir wurde übel und schwindlig, und zwar gleichzeitig. Meine Beine beschlossen, dass sie mich nicht mehr tragen wollten. Bevor ich wieder auf dem Boden aufschlug, fing Mister Psycho mich auf. Urplötzlich lehnte ich an seiner Brust. An seiner nackten Brust! Jetzt wusste ich, was mich an seiner Silhouette so irritiert hatte: Der Kerl trug keine Kleidung! Meine Nasenflügel blähten sich animalisch auf. Er roch so ganz anders als Leon. Keine Spur von sündenteurem Herrenduft oder gar Aftershave aus der angesagten Parfümerieserie. Was in meiner Nase kitzelte, war Schweiß, Moschus, Aggression – Mann pur. Ein Tier eben ...

»Gewänder? Von welchem Stern kommst du denn?«, krächzte ich und bereute augenblicklich, dass ich wieder einmal geplappert hatte, ohne nachzudenken. Jetzt würde er mir den Kopf abreißen! Oder auch nicht ...

Er seufzte tief auf. »Wir können nicht länger hier herumstehen! Also, du führst mich jetzt zu deinem Heim?«

Ich konnte an der Bewegung seines Kopfes erkennen, dass er in Richtung der Brücke blickte. Die Blaulichter dort oben vermehrten sich rapide. Energische Männerstimmen drangen herunter zu uns.

»Die Leute von der Feuerwehr werden gleich das Ufer absuchen!«, murmelte ich, während ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden. Meine Hände stemmten sich gegen seine Brust. Ich hätte auch versuchen können, eine stählerne Säule, deren Fundament zwei Meter tief in den Boden einbetoniert war, wegzuschieben, so hart fühlten sich die Muskeln unter meinen Fingern an. »Lass‘ mich sofort los! Sonst brülle ich lauter, als du dir vorstellen kannst!«

»Das wirst du nicht tun, Mädchen!«, erwiderte er beinahe sanft, umfasste mich urplötzlich mit beiden Händen an der Taille und hob mich hoch, als würde ich nicht mehr wiegen als eine Tüte Frühstücksflocken. Ich landete wie ein Sack Mehl bäuchlings auf seiner Schulter, und anstatt lauthals nach Hilfe zu rufen, kam nur ein mattes »Pfft« aus meiner Kehle. Der Aufprall hatte mir alle Luft aus der Lunge getrieben, und als ich mich endlich wieder gefasst hatte, stapfte mein Entführer längst mit mir durch das Gestrüpp am Wackerufer. Er hielt erst inne, nachdem er die Uferstraße erreicht hatte. Ein getunter Golf rauschte dröhnend an uns vorbei, zu schnell, um herauszuhören, zu welcher Melodie die wummernden Basstöne gehörten, die das Auto hinter sich herzog wie eine ohrenbetäubende Schleppe.

»Wie ich sehe, hat sich viel verändert, seit ich zum letzten Mal die Grenze überschritten habe!«, murmelte mein Entführer und stellte mich erstaunlich sanft zurück auf meine Füße. »Du musst dich in trockene Kleider hüllen, sonst wirst du dir das Lungenfieber holen! Und ich brauche etwas, um meine Blöße zu bedecken, damit ich keinen Anstoß errege und mich ohne Aufsehen aus deiner Welt entfernen kann!«

Dieser Irre hatte wohl zu viele historische Romane gelesen, oder was war sonst mit ihm los? So gestelzt redete doch kein normaler Mensch daher! War er irgendwo aus der Psychiatrie ausgebrochen? Ich wagte es endlich, ihn genauer zu mustern. Hätte ich das bloß gelassen! Der Kerl war tatsächlich nackt! Fast jedenfalls! Um seinen Unterleib schlang sich in Windungen etwas, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Schlangenleib hatte. Grüngoldene Schuppen glänzten im matten Schein der Straßenlaternen, und ich wünschte mir, unsere Stadtverwaltung hätte aus Sparsamkeitsgründen nicht nur jede zweite, sondern alle Lampen abschalten lassen.

»Wa…wa…wa…«, stammelte ich und hatte dabei das ungute Gefühl, mir würden gleich die Augäpfel aus dem Schädel springen und über das Straßenpflaster kullern.

»Drachenschwanz. Es ist mein Drachenschwanz, was du so verdattert anstarrst, Mädchen! Ich habe immer leichte Probleme mit der Wandlung, manchmal bleibt einfach irgendeiner meiner Körperteile in der jeweils anderen Daseinsform hängen. Das ist momentan sogar praktisch, denn somit kann ich meine Scham bedecken. Es wäre sehr unhöflich von mir, dir so dreist mein Geschlecht zu präsentieren!«

»Äh … Ja doch! Drachenschwanz!« Ich schlug mir hysterisch kichernd die flache Hand vor die Stirn. »Darauf hätte ich gleich kommen sollen! Ist doch selbstverständlich, dass jemand mit einem um die Hüften gewickelten Drachenschwanz herumläuft!«

Ich kicherte noch immer, als der Chaot mit dem Drachenschwanz sich unverfroren bei mir einhakte. Ich wollte diesen mysteriösen Fremden nicht zu mir nach Hause führen, so wenig, wie ich von der Brücke fallen wollte. Aber ganz plötzlich hatte ich keinen eigenen Willen mehr. Meine Füße bewegten sich wie von selbst …

Drago – das Missgeschick

Natürlich, sein Ausflug in die Menschenwelt misslang wieder einmal gründlich! Nachdem Drago das ganze Königreich akribisch nach der verschwundenen Prinzessin abgesucht hatte, war ihm der Einfall gekommen, auf der anderen Seite der Welt nachzuschauen. Das Schneewittchen wäre nicht das erste Lebewesen aus Dragos Heimatkosmos gewesen, das sich auf diese Weise davongemacht hätte. Irgendjemand hatte den Menschen schließlich diese ganzen Geschichten von all den Zauberern, Hexen und Ungeheuern erzählt, die nun von Generation zu Generation weitergegeben und immer blumiger ausgeschmückt wurden. Zu Dragos Leidwesen wurden auch die Drachen von den Menschen völlig verkannt und für schreckliche Bestien gehalten, wobei er zugeben musste, dass einige seiner Verwandten ihre unrühmliche Aktie an diesem unguten Ruf hatten. Der Lindwurm Fafnir, ein Großonkel Dragos, stiftete beispielsweise vor einiger Zeit beträchtliche Unruhe in der Menschenwelt rings um die Nordsee, bis er ein unrühmliches Ende durch die Hand eines Helden namens Sigurd fand. Seither gab es die Vorschrift, dass sich die Angehörigen des Drachenvolkes nur in Ausnahmefällen und ausschließlich unsichtbar auf dieser Seite der Welt bewegen durften.

Drago hatte sich brav an dieses Gebot gehalten. Nachdem er das Tor an der Quelle des kleinen Flüsschens durchquert hatte, folgte er dem Wasserlauf und versuchte, die Witterung der Prinzessin aufzunehmen. Bislang war ihm kein Erfolg bei seiner Suche beschieden, ganz im Gegenteil!

Dabei hatte er alle Anweisungen für Drachenbesuche in der Menschenwelt genau eingehalten. Der unsichtbare Drago hatte sich sogar vorsichtshalber unter einem Brückenbogen versteckt, als ihm seine empfindlichen Nüstern die Nähe von Menschen signalisierten. Er hatte Gerüchte gehört, dass es auch unter den Sterblichen einige wenige Gesegnete geben sollte, deren Sinne so fein waren, dass sie die Eindringlinge in ihr Universum spüren oder gar sehen konnten. Doch alle Vorsicht hatte Drago nichts genützt, diese dumme Menschenfrau war ihm geradewegs auf den Rücken gesprungen!

Die Berührung mit der sterblichen Frau hatte seine Tarnung zerstört, und er hatte im Bruchteil von Sekunden entscheiden müssen, sich zum Menschen zu wandeln, um kein Aufsehen zu erregen. Diese Welt war nicht vorbereitet auf den Anblick eines schuppigen Wesens mit mächtigen Flügeln, einem Maul, aus dem es Flammen hervorfauchen konnte und Krallen an den Pranken, die so lang wie eine Menschenelle waren. Selbst der unselige Fafnir hatte sich nur wenigen Menschen gezeigt.

Drago blies unwillig die Luft durch seine Nase, während er der Frau suggerierte, ihn zu ihrem Heim zu bringen. Es war nicht leicht gewesen, ihren Geist zu lenken. In ihrem Kopf schwirrten unzählige Gedanken durcheinander, von denen kein einziger für Drago einen Sinn ergab. Nur ganz vage begriff er, dass sie Angst vor ihm hatte. Kein Wunder, es war selbst in jener Welt, aus der Drago stammte, nicht üblich, nackt und mit einem um die Lenden gewundenen Rest von einem Drachenschwanz umherzulaufen.

Ganz langsam zog er seinen Willen aus dem Kopf der Menschenfrau zurück und stellte zufrieden fest, dass sie trotzdem weiterhin zielstrebig durch die Straßen lief.

»Ich sollte zur Polizei gehen! Ja, das sollte ich! Jetzt! Sofort!«, brabbelte sie. »Wenn die alte Hexe, die mich von der Brücke geschubst hat, den Notruf gewählt hat, müsste dort inzwischen nicht nur die Feuerwehr eingetroffen sein, sondern auch ein Streifenwagen. Oder sogar mehrere! Ich bin schließlich einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen! Die suchen mich in der Wacker, dabei laufe ich mit einem Perversen durch die Gegend! Meine Güte, vielleicht bilde ich mir das alles nur ein! Ich bin mit dem Kopf auf einen der Wackersteine in der Wacker aufgeschlagen! Ich liege auf der Intensivstation, bekomme eimerweise Morphium und meine Synapsen tanzen Tango!«

Sie lachte nervös auf. Drago fragte sich, wie man so gänzlich ohne Punkt und Komma reden und dabei auch noch kichern konnte. Holte diese Frau überhaupt keine Luft? Sie plapperte tatsächlich schon weiter: »Wackersteine in der Wacker, ist das nicht lustig? Gewiss liege ich im Koma und träume das alles hier! Hallo, ich will aufwachen!«

Besorgt legte Drago seine Stirn in Falten. War die arme Frau etwa verrückt geworden? Das hatte er nicht gewollt! Es gehörte zu den Regeln für Drachenbesuche in der Menschenwelt, dass niemand zu Schaden kommen durfte!

Eines dieser lauten und unglaublich schnellen Fahrzeuge brauste an Drago und der Frau vorüber. Er zuckte zusammen und nahm schaudernd den Windhauch auf seiner verletzlichen Menschenhaut wahr, den dieses lärmende Ding ausgelöst hatte. Bei seinem letzten Besuch in dieser Welt spannten die Menschen noch Pferde vor ihre Kutschen, gelegentlich auch Ochsen oder Esel. Vielleicht hatten die armen Tiere endlich beschlossen, den Menschen nicht länger zu Diensten zu sein. Vielleicht war es auch irgendwelchen Dämonen gelungen, sich in den neuartigen Kutschen festzusetzen und sie so rasend über die Straßen zu treiben. Er würde diese junge Frau danach fragen, falls sie wieder zu Sinnen kam!

Sie steuerte zielstrebig auf eines der Häuser am Straßenrand zu und kramte in ihren Hosentaschen. Drago fand es traurig, dass ein so hübsches Ding – wenn man davon absah, dass dieses Mädchen nass und schmutzig war – keine ordentlichen Kleider zu besitzen schien und viel zu enges Mannszeug am Leibe trug. Er konnte sich vorstellen, dass die Kleine in einem zartblauen, mit Rüschen und Spitzen verzierten Ballkleid allerliebst aussehen würde. Blau war Dragos Lieblingsfarbe, leider war das ein Farbton, den weder Prinzessin Whita noch ihre Stiefmutter Isigunde bevorzugte.

Der Schlüssel, den die Frau endlich hervorholte, war winzig, und dennoch passte er perfekt in das Schloss der Tür. Deutlich hörbar knarrte das Türblatt in seinen Angeln.

»Du solltest nach deiner Zofe rufen, damit sie dir aus der nassen Gewandung hilft!«, empfahl Drago und musterte misstrauisch die Lampe an der Decke des Flures, den er hinter der Frau betreten hatte. Das Licht war wie von Geisterhand entflammt. Drago nickte anerkennend. Die Menschen schienen in den letzten zweihundert Jahren gelernt zu haben, gewisse Zaubersprüche anzuwenden. Das Beleuchten dunkler Räume mit einem schlichten Lichtzauber gehörte zwar zu den Anfängerlektionen von Hexenmeistern in Dragos Welt, aber wenn man bedachte, dass übersinnliche Fähigkeiten bei der Menschensippe nur selten ausgeprägt waren, nötigte ihm die ohne Flammen, Rauch und Ruß leuchtende Lampe an der Decke des Hausflures Respekt ab.

»Bewegungsmelder«, flüsterte die Frau. »Der Hauswirt ist ein verdammter Geizhals!«

Drago hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, doch darüber nachzudenken, blieb ihm keine Zeit. Instinktiv wirbelte er herum und stellte sich schützend vor die junge Frau, um sie vor jeglicher Gefahr abzuschirmen, ganz so, wie er es im heimatlichen Schloss bei seiner Königin getan hätte. In der Tür, die sich plötzlich geöffnet hatte, stand eine durchaus merkwürdig zu nennende Gestalt, die Dragos Begleiterin mit einem leisen: »Ach du Scheiße!« höchst undamenhaft kommentierte.

Der Mann trug eine hässliche ausgebeulte Hose und ein nicht mehr ganz sauberes Unterhemd. Seine schütteren, grau melierten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, und sein Körper strömte einen unangenehmen Geruch aus, den selbst Dragos derzeitig unzulänglicher Geruchssinn – in Menschengestalt musste er sich leider mit allen Schwächen dieser Spezies zufrieden geben – eindeutig als eine Mischung aus Schweiß und schalem Bier identifizierte. Wie eine gezogene Waffe schnippte der ausgestreckte Zeigefinger des Mannes nach vorn.

»Fräulein Müller!« Er spuckte das angestaubte »Fräulein« aus wie eine giftige Kröte, die es sich versehentlich auf seiner Zunge bequem gemacht hatte. »Es ist morgens um vier, und Sie stören mit ihrem Lärm die Nachtruhe der anständigen Mieter in diesem Haus! Außerdem schleppen sie einen Mann an! Einen nackten Mann! Ist das hier etwa ein Bordell?«

»Darf ich bemerken, dass ich nicht völlig nackt bin? Ich bedecke mit dem Rest meines Drachenschweifes meine Blöße!«, warf Drago leicht gekränkt ein.

»Drachenschweif? Sind da etwa Drogen im Spiel? Jetzt reicht es, Fräulein Müller! Ich rufe die Polizei!«

Dragos rechte Hand schnellte nach vorn, umklammerte den Hals des Mannes und presste ihn gegen die Wand. Aus dem Mund des Überraschten drang ein ersticktes Gurgeln und seine Augen weiteten sich unnatürlich. Es sah aus, als würden seine Augäpfel jeden Augenblick aus dem Schädel springen, zu Boden fallen und vor die Füße der jungen Frau rollen.

»Soll ich diesen groben Knecht züchtigen? Es mangelt ihm sichtlich an Respekt!«, wandte sich Drago an seine Begleiterin, völlig ungerührt von den zappelnden Bemühungen seines Opfers, sich zu befreien.

»Bloß nicht! Das ist der Hausbesitzer! Ach egal, nach dieser Nummer hier setzt der mich sowieso auf die Straße«, seufzte sie.

»Dann eben nicht!« Drago hob seine Schultern kurz an und ließ den Mann los, der sich mit der Hand an den Hals fuhr und trocken hustete.

»Das hat ein Nachspiel!«, krächzte er. »Ich erstatte Anzeige wegen Mordversuchs! Dafür kommt ihr beide in den Knast, das verspreche ich euch!«

Drago sah ihm starr geradewegs in die Augen. »Du hast uns gar nicht gesehen! Du hast schlecht geträumt, weiter nichts!«

Der Hauswirt ließ seinen Arm langsam sinken. Es gelang ihm nicht, seinen Blick von dem seltsamen nächtlichen Besucher abzuwenden. »Ich … habe … schlecht … geträumt«, flüsterte er schließlich schläfrig, wandte sich um und verschwand hinter seiner Wohnungstür. Krachend fiel sie ins Schloss.

»Wie hast du das gemacht? Mit Hypnose?«, staunte Dragos Begleiterin. Sie rieb sich in einer unbewussten Geste den Hals, als wäre sie desgleichen gewürgt worden. Drago konnte ihr Unbehagen spüren. Er wich ihrer Frage dennoch aus.

»Du musst keine Angst vor mir haben! Sobald ich ein Gewand gefunden habe, in dem ich mich ohne Aufsehen durch diese Welt bewegen kann, verschwinde ich, versprochen! Übrigens, ich werde Drago genannt! Ich weiß, das ist einfallslos, aber die Königin Isigunde konnte meinen Drachennamen nicht aussprechen und meinte, Drago würde hervorragend zu mir passen.«

Die Frau machte ein Geräusch, das ebenso ein Lachen wie auch ein unterdrücktes Schluchzen sein konnte, dann stieg sie die Treppe hinauf. Drago folgte ihr. Ihm war kurz der Gedanke gekommen, sich in der Wohnung des Rüpels, der ihnen hinter der Haustür aufgelauert hatte, Kleidung zu besorgen, doch dann hatte er sich an den furchtbaren Geruch des Mannes erinnert. Das wollte er sich nicht antun. Für heute war ihm genug Unbill wiederfahren, und das Mädchen würde sicher Kleidungsstücke für ihn auftreiben, selbst wenn er sie dafür mit einer Lage Stoff zum nächsten Schneider schicken musste.

Feli – das Angebot

Drago! Dieser Psychopath hatte einen eindeutigen Drachen-Tick! Mit meinen Lateinkenntnissen war es nicht weit her, aber so viel wusste ich, dass Drago nichts anderes als Drachen bedeutet. Wahrscheinlich war der Kerl aus der Sicherheitsverwahrung ausgebrochen! Himmel, er hätte beinahe meinen Vermieter erwürgt! Nicht, dass ich das sehr bedauert hätte, aber so etwas gehört sich nicht in einem zivilisierten Land!

Der Drachenmensch schlüpfte nach mir in die Wohnung, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, in das Heim wildfremder Menschen einzudringen. Der Gedanke, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, war verlockend gewesen, doch dieser Drago war einfach zu schnell. Ich sah, wie sich über seiner Nasenwurzel eine steile Falte bildete, während er sich in meinem engen Flur umsah.

»Dein Gemach ist beklemmend«, sagte er. Wie wahr! Dabei hatte er noch gar nicht das kleine Loch von Badezimmer gesehen, das mir der Vermieter als Wellnessoase offeriert hatte!

Ich nahm mir endlich die Zeit, meinen Quasi-Entführer genauer zu betrachten. An seinem Gesicht war einfach alles so, wie man es sich bei einem Männer-Model vorstellte: Markantes Kinn, markante Nase, markante Wangenknochen, markanter dunkler Bartschatten, der vorzüglich zu der wilden schwarzen Lockenmähne passte, die ihm bis zu den Schultern reichte. Und diese Muskeln erst! Nein, auf seinen Armen wölbten sich keine solchen übertriebenen Pakete wie bei den Bodybuildern im Fitness-Studio an der Straßenecke, von denen ich wusste, dass sie ihrer Pracht mit diversen Mittelchen nachgeholfen hatten. An dem Mann, den ich vor mir stehen hatte, waren die Muskeln echt. Für einen wie ihn wäre ich glatt in Versuchung gekommen, auf der Stelle Leon zu vergessen. Schade nur, dass dieser Drago hier komplett durchgeknallt war. An seinen Drachenschwanz mochte ich gar nicht denken. Zunächst hatte ich angenommen, er hätte sich eine Art aufblasbares Schwimmtier über seine Hüften geschoben, um anstandshalber seine besten Teile zu bedecken, wenn er schon ansonsten völlig nackt herumlief. Aber diese schuppigen Windungen lebten, ich hatte das fingerdünne Ende des Gebildes zucken sehen, als Drago den Hauswirt anging. Hatte er irgendwo eine Schlange geklaut und schleppte das arme Tier mit sich herum? Das wäre immerhin eine Erklärung …

Der Flur war eindeutig zu schmal für zwei Menschen, von denen einer nur aus kompakten Muskeln bestand. Ich quetschte mich an Drago vorbei ins Wohnzimmer. Natürlich, er folgte mir stehenden Fußes. Wie wurde ich den Kerl nur wieder los? Und vor allem, wie brachte ich ihn dazu, mir nichts anzutun?

Ich hatte einmal irgendwo gelesen, dass es gut wäre, eine emotionale Bindung zu einem potentiellen Entführer oder Gewalttäter aufzubauen, damit dieser sein Opfer als reelle Person und nicht nur als Objekt wahrnimmt. Mit zittriger Stimme versuchte ich mich an dieser Theorie und stellte mich dem Drachenmenschen vor: »Ich heiße übrigens Felicitas. Aber alle nennen mich Feli!«

Er verneigte sich leicht, griff nach meiner Hand und hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken. Wenn er einen schicken Anzug oder meinetwegen Jeans und T-Shirt getragen hätte, dann hätte mich diese Geste glatt zum Erröten gebracht. Wer verteilt denn heutzutage noch Handküsse! Wie romantisch und exzentrisch zugleich! Leider rief der Handkuss von einem nackten Mann keine schwärmerischen Gefühle bei mir wach, im Gegenteil. Ich biss mir vorsichtshalber auf die Unterlippe, um nicht wieder in ein irres Kichern auszubrechen.

»Felicitas. Wie schön! Du solltest trockene Kleider anziehen! Leider sehe ich hier nirgends einen Kamin, den ich inzwischen anzünden könnte, damit du dich wärmen kannst!«

Erst jetzt merkte ich, dass ich den Teppich volltropfte. Aus meinen Haaren und aus den Klamotten träufelte noch immer Wacker-Wasser. Dieser Drago hatte recht, ich musste dringend unter die Dusche und danach in frische Wäsche.

»Du machst es dir inzwischen bequem, ja?«, sagte ich zögerlich und meinte es nicht ganz ernst. Mir wäre es bedeutend lieber gewesen, wenn er sich in Luft aufgelöst hätte. Halbherzig deutete ich auf die Couch, die mir auch als Bett diente. In meinem winzigen Apartment existierte kein separater Schlafraum, was ich jetzt abgrundtief bedauerte, denn ich musste unter Dragos aufmerksamen Blicken in den Schränken nach meiner Unterwäsche wühlen.

»Wenn du erlaubst, ich gehe mich ein bisschen frisch machen!«, verabschiedete ich mich in Richtung Wellnessoase. Ich kam nicht weit.

»Wo gehst du hin, Frau Feli?«

Er hing an mir wie eine Klette. Wie eine nackte Klette mit einem Drachenschwanz. »Feli reicht. Wo werde ich wohl hingehen? Unter die Dusche natürlich!«, stöhnte ich genervt. Er griff unter meinem Arm, auf dem ich meine sauberen Klamotten trug, hindurch und stieß die Tür zum Badezimmer auf. Seine Brauen, die dunkel wie Vogelflügel über seinen braunen Augen schwebten, ruckten nach oben.

»Was ist das? Deine Heimlichkeit?«

»Heimlichkeit trifft es! Jetzt lass’ mich da rein! Du siehst doch, da drin ist es so eng, da passt nur eine halbe Person rein! Ich will mir den Dreck abspülen und trockene Sachen anziehen!«

»Klingt vernünftig!« Er nickte und trat zurück. Mit einem Aufatmen wollte ich die Tür hinter mir zuziehen, doch Drago hielt dagegen. »Du verschwindest auch nicht da drin? Das ist kein Zauberkasten?«

»Zauberkasten? Aus welchem Universum bist denn du entsprungen? Das ist eine ganz normale Duschkabine! Und stell dir vor, meistens gibt es sogar warmes Wasser in diesem Haus, was man bei diesem Besitzer gar nicht vermuten möchte, so selten nimmt er diesen Luxus selbst in Anspruch!«, giftete ich. Angst hin oder her, dieser Drago ging mir allmählich auf die Nerven!

»Zeig’ mir das!«

Ich warf meine Sachen auf den Toilettendeckel und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du in diesem Ton mit mir sprichst, zeige ich dir gar nichts!«

»Du bist genauso zickig wie die Prinzessin! Also, würdest du mir bitte zeigen, wie dieser Kasten Wasser ausspuckt?«

Das klang versöhnlicher, auch wenn mir die Erwähnung einer ominösen Prinzessin gewaltig auf die Nerven ging. Der Mann brauchte dringend Hilfe von kräftigen Sanitätern mit der Zwangsjacke im Gepäck. Ich hatte nur keinen Plan, wie es mir gelingen könnte, unauffällig einen Notruf abzusetzen!

»Aber bitte! Dein Wunsch ist mir Befehl!«, fauchte ich. Wenn ich eine Katze gewesen wäre, hätte ich auch noch mein Rückenfell gesträubt. Entführer hin oder her, irgendwann hat auch das geduldigste Opfer die Nase voll! Ich drehte die Dusche auf, und es war mir völlig gleich, dass ich das ganze Bad überschwemmte, weil ich den Vorhang ja schlecht von außen schließen und gleichzeitig das Wasser zu Demonstrationszwecken aufdrehen konnte.

»Wundervoll!« Der Psychopath mit dem Drachenschwanz war sichtlich beeindruckt. »Ein künstlicher Regen! Und auch noch so angenehm warm!«

Ehe ich mich versah, stand der Kerl unter der Dusche und brummte auch noch genüsslich, während ihm das Wasser über den Körper rann. Mir klappte wortwörtlich der Unterkiefer herunter. Als er auch noch seinen angeblichen Drachenschwanz von seinen Hüften ringelte, verfiel ich fast in eine Kiefersperre. Unter dem schuppigen Ding verbarg sich tatsächlich, nun ja, was einen Mann eben zum Mann macht. Wenn der Rücken dieses Prachtexemplars von Mann allerdings in einem langen Reptilienschweif endete, der auch noch auf dem Boden meiner Duschwanne mit der Spitze heftig zuckte, musste irgendetwas faul sein. Entweder ich wurde wirklich langsam verrückt, oder in meinem Bad räkelte sich soeben ein Monster unter der Dusche!

»Willst du dich nicht auch an diesem lauen Guss laben, bevor der Zauber endet?«, entband mich Drago von meinen Überlegungen. Ich hätte ihm sagen können, dass ich mittlerweile sowieso patschnass war und nicht im Geringsten daran dachte, für den Wasserschaden in der Wohnung unter mir aufzukommen, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich gab nur einen kleinen erschrockenen Quietscher von mir, als mich Dragos Hand plötzlich am Oberarm packte und in die Dusche zog. Mitsamt meinen Klamotten! Nicht, dass das allzu tragisch gewesen wäre, die waren von meinem unfreiwilligen Bad in der Wacker sowieso nass, aber es ist doch sehr unüblich, vollständig bekleidet zu duschen.

Selbst Drago schien das einzusehen. Er betrachtete mich stirnrunzelnd, während ihm das Wasser über das Gesicht lief.

»Dieses Gewand ist verdorben!«, blubberte er und griff in den Ausschnitt meines Shirts. Ich hörte das Reißen des Stoffes. Natürlich hatte ich mir schon einmal in wilden Träumen ausgemalt, wie mir ein Mann die Kleider vom Leib reißt, halb wahnsinnig vor Leidenschaft und Verlangen. Mit meiner Fantasievorstellung hatte das hier allerdings nichts zu tun. Ganz sachlich und konzentriert schälte mir Drago die Sachen vom Körper, so ähnlich, wie man eine Frucht schält, um genüsslich hineinbeißen zu können.

Ich stieg freiwillig aus den Jeans, weil ich gar nicht wissen wollte, wie es diesem Verrückten gelingen würde, mich aus der Hose zu schütteln. Bei der Unterwäsche half Drago mit beiden Händen nach, nachdem er seine Stirn in noch tiefere Falten gelegt hatte. Soviel zur Qualität der Stoffe von Alltagsdessous!

Obwohl das Wasser auf eine angenehme Temperatur eingestellt war, zitterte ich am ganzen Leibe. Was würde jetzt passieren? Dummerweise kam mir die gruselige Szene aus Hitchcocks Film Psycho in den Sinn. Drago hatte zwar kein Messer in der Hand, aber dieser Echsenschwanz, der immer wieder meine Füße berührte, hatte ebenfalls kein schlechtes Gruselpotential.

»Wirst du mich jetzt vergewaltigen?«, piepste ich schlotternd. Seine Männlichkeit war unübersehbar angeschwollen.

»Was bedeutet das?«, fragte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger fühlten sich rau und schwielig an, dennoch wirkte die Geste fast zärtlich.

»Bist du wirklich so blöd?«, zischte ich. Mir war klar, mein loses Mundwerk plapperte sich gerade um Kopf und Kragen, aber es platzte einfach so aus mir heraus. »Du wirst dein verdammtes Ding in mich reinstecken, und wenn du genug von mir hast, wirst du mich umbringen! Darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr? Nun mach schon, damit ich es hinter mir habe!«

»Mein verdammtes Ding?«

Ich holte tief Luft, was sich als nicht sehr klug erwies, schließlich stand ich noch immer mit diesem Monster unter der fröhlich vor sich hinplätschernden Dusche. Das eingeatmete Wasser ließ mich husten und niesen zugleich. Mit zittrigen Fingern deutete ich auf seinen stattlich erigierten Penis.

Er prustete amüsiert. »Ach das! Es ist ganz natürlich, dass mein menschlicher Körper auf äußere Anreize wie den Anblick eines wohlgeformten jungen Weibes reagiert! Ich würde es auch nicht ablehnen, wenn du mir anbieten würdest, mir diesbezüglich Erleichterung zu verschaffen, aber harsch einfordern werde ich das freilich nicht! Ich habe schließlich eine gute Erziehung genossen!«

Erziehung? Wo denn? In den Monsterakademie? Ich war sehr froh, dass mir das diesmal nicht lauthals über die Lippen rutschte. Vielleicht lag diese plötzliche Besonnenheit auch nur daran, dass ich noch immer Wasser aus der Nase schniefte. Das war doch alles surreal! Wenn ich geglaubt hatte, nach meinem Brückensturz auf den Rücken eines Urzeitviehs, von dem ich nicht einmal konkret wusste, wie es aussah, meinem nächtlichen Spaziergang durch die Stadt an der Seite eines nackten Mannes mit einem Drachenschwanz und einer anschließenden Dusch-Session mit ebenjenem Mischwesen konnte es gar nicht mehr irrwitziger kommen, sollte ich mich täuschen! Doch das konnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht wissen …

Da stand ich nun Haut an Haut mit Drago in der kleinen Duschwanne, um meine Füße kringelte sich ein Echsenschwanz und ich gab mir die größte Mühe, nicht ständig auf Dragos Männlichkeit zu schielen, was mir nicht so recht gelingen wollte. Ich war dermaßen damit beschäftigt, nicht verrückt zu werden, dass ich erschrocken zusammenzuckte, als mich Drago mit seinen ausgestreckten Fingern an meinem Dekolleté berührte, nur ganz leicht, ganz sanft und vorsichtig mit den Fingerspitzen.

»Deine Haut ist so zart und weiß wie die der Prinzessin!«, sagte er, und ich glaubte, so etwas wie unverhohlene Bewunderung in seiner Stimme zu erkennen. Doch die ehrfürchtig vorgetragene Anerkennung galt sicher nicht mir, sondern seiner mysteriösen Prinzessin!

»Wenn man den ganzen Tag an der Supermarktkasse hockt und Waren übers Band schiebt, wird man nicht braun und knackig! Ich habe keine Muse, in der Sonne zu braten!«, grollte ich grimmig. Mein käseweißer Teint war stets eine Angriffsfläche für Leons Spötteleien gewesen. Ich hatte weder Zeit noch Geld dafür, mich wie Melissa jede Woche zweimal auf die Sonnenbank zu legen. Ich konnte mich nur halbwegs damit trösten, dass Melissas Haut jetzt aussah wie gegerbtes Ziegenleder. Leon hatte sie letztendlich doch verführerischer als mich gespensterweißes Wesen gefunden …

»Warum sollte sich ein mit solch schneeweißer Haut gesegnetes Mädchen bräunen lassen? Gewiss bist du hochedler Herkunft!«

Hochedle Herkunft! Wenn das meine Mutter gehört hätte, die mich allein großziehen musste, als unser Vater das Weite gesucht hatte! Frühmorgens ging sie putzen und am Abend half sie in einer Kneipe aus, um uns über Wasser zu halten. Natürlich zeugte harte Arbeit meiner Meinung nach mehr von Adel als blaues Blut und ein ellenlanger Stammbaum bis in die Steinzeit, aber Drago benahm sich derart aus der Zeit gefallen, dass er gewiss etwas anderes mit seiner lächerlichen Bemerkung gemeint hatte. Ich schaffte es, über den Schuppenschweif hinweg- und aus der Dusche herauszusteigen, ohne zu stolpern und zu Boden zu fallen. Dieser Unfug reichte mir jetzt! Ich musste sehen, dass ich Drago irgendwie im Bad einsperren und die Polizei rufen konnte!

Auf einem zentimeterhohen Wasserfilm schlitterte ich hinaus auf den Flur und knallte die Tür hinter mir zu. Einen Schlüssel zum Abschließen des Badezimmers gab es nicht, der hätte logischerweise auch von innen gesteckt. Unter Aufbietung aller Kräfte schob ich die alte Kommode, in der ich meine Schuhe aufbewahrte, vor die Tür. Drago verhielt sich erstaunlich still dort drinnen. Ich hörte nur das Wasser rauschen.

Jetzt brauchte ich nur noch den Notruf zu wählen, rasch etwas anzuziehen und aus der Wohnung zu flüchten, möglichst in dieser Reihenfolge. Ich wuselte in mein Wohn-Schlaf-Zimmer und erstarrte zur berühmten Salzsäule. Mein günstig erstandenes asiatisches Smartphone-Schnäppchen – es war nicht da! Wahrscheinlich lag es auf dem Grund der Wacker. Der erste Teil meines Planes scheiterte also schon einmal daran, dass ich keinen Festnetzanschluss besaß. Wozu auch? Ich musste zum nächsten Punkt kommen: Anziehen, raus ins Treppenhaus rennen, an die Wohnungstüren der Nachbarn trommeln und notfalls, falls mir niemand anderes öffnete, den widerlichen Hausbesitzer bitten, die Polizei anzurufen! Dieser Kerl lag schließlich Tag und Nacht hinter seinem Türspion auf der Lauer!

Ich riss eine Schublade auf, von der ich wusste, dass darin mein Jogginganzug schlummerte. Für große Garderobe hatte ich jetzt keine Zeit!

Ein gewaltiges Krachen im Flur sagte mir, dass mein Vorhaben gänzlich zum Scheitern verurteilt war. In der Tür zum Badezimmer klaffte plötzlich ein großes Loch, und die Kommode rutschte rumpelnd über den Boden. Lässig schob sich Drago durch den Türspalt, noch immer nackt, noch immer mit einer unübersehbaren Erektion, noch immer mit Drachenschwanz. Meine Knie fühlten sich an, als hätten sich die Gelenke in Gelee verwandelt. Verzweifelt knäulte ich meinen ausgewaschenen Schlabberpulli, den ich schon aus der Schublade gefischt hatte, vor meiner Brust zusammen und kreischte Drago mit dem Mut der Verzweiflung an: »Hau doch endlich ab, du Drachenmonster!«

Meine Courage erschöpfte sich damit, und ich klappte förmlich zusammen. Die Couch war so nett, mich aufzufangen. Ich saß da wie ein Häufchen Elend und starrte Drago entgegen. Mit federnden Schritten kam er langsam auf mich zu, tropfnass und mit einem unheimlichen Leuchten in seinen Augen.

»Du bist wunderschön, wenn du wütend bist, Frau Feli!«

Resigniert ließ ich die Schultern hängen. Der Alptraum endete einfach nicht! Jetzt setzte er sich auch noch neben mich! Den Drachenschwanz schwenkte er dabei elegant zur Seite.

»Du siehst der Prinzessin wirklich ähnlich! Gut, dein Haar ist heller, aber dafür findet sich sicher eine Lösung! Die Königin Isigunde färbt sich ihre Wimpern schwarz, und mit diesem Mittel könnte sie dein Haar behandeln! Was hältst du davon, wenn ich dich mitnehme? Du könntest für die Prinzessin einspringen, bis wir sie wiedergefunden haben!«

Ich starrte ihn an, als wäre er eines dieser kleinen grünen Männchen vom Mars, obwohl mich ein solches wahrscheinlich weniger irritiert hätte als ein ansehnliches, muskelbepacktes Mannsbild auf meiner Couch, das ein schuppiges Körperteil zu viel mit sich herumtrug.

»Davon halte ich gar nichts! Was ist denn das für ein verrücktes Angebot? Von welcher Prinzessin sprichst du eigentlich? Ist Lady Di wieder auferstanden?«

»Entschuldige, Frau Feli! Ich spreche von Prinzessin Whita! Aber im Allgemeinen nennt man sie Schneewittchen!«

Das war der ausschlaggebende Moment, in dem ich beschloss, mich selbst in die Psychiatrie einzuweisen.

Drago – die Heimkehr

Die Menschenfrau Felicitas erwies sich als ein schwierig zu handhabendes Exemplar ihrer Gattung. Als Drago ihr das durchaus ernstzunehmende und ehrenvolle Angebot gemacht hatte, mit ihm in das Schloss der Königin Isigunde zurückzukehren und für die wie vom Erdboden verschluckte Prinzessin Whita einzuspringen, war Feli erneut in ein hysterisches Kichern verfallen. Er hatte beide Hände an ihre Schläfen pressen müssen, um ihren Geist zur Ruhe zu zwingen. Drago hielt nicht viel davon, anderen Wesen auf diese Weise seinen Willen aufzudrängen, aber in diesem Falle hatte er sich erneut nicht anders zu helfen gewusst. Felicitas‘ unkontrolliertes Glucksen hatte nur einen nützlichen Effekt gehabt – Dragos Penis war wieder geschrumpft und schlaff geworden. Der Drache in ihm fand es jedes Mal ein wenig lästig, wenn sich dieses Teil der menschlichen Anatomie so penetrant von seinem Verstand abkoppelte.

Es war Drago gelungen, den künstlichen Regen in der kleinen Kammer abzustellen, er hatte nach dem Durchsuchen der Kasten und Truhen der Menschenfrau sogar Kleidung gefunden, in die er sich hineinzwängen konnte. Der Bund der Hose aus grobem blauen Gewebe ließ sich nicht schließen, selbst dann nicht, als Drago die hintere Naht aufgerissen hatte, um seinen Schuppenschweif hindurchzuschieben. An den Oberschenkeln presste der Stoff unangenehm seine Muskeln zusammen und das langärmlige Wams kniff unter den Achseln, aber immerhin war seine Blöße bedeckt, und auf den ersten Blick würde er nicht sonderlich auffallen. Er konnte nur hoffen, dass niemand einen zweiten Blick an ihn verschwendete! Da draußen soeben erst der Morgen dämmerte, war es vielleicht möglich, ohne allzuviel Aufsehen das Tor zu seiner Heimatwelt im Quellbrunnen des Flusses zu erreichen. Zu dieser frühen Stunde war gewiss noch nicht viel Volk auf den Straßen unterwegs.

Felicitas hatte ihm, nachdem sie sich unter seinen Händen beruhigt hatte, nachdenklich dabei zugesehen, wie er sich in die unpassenden Kleidungsstücke quälte. Nun lächelte sie sogar ein wenig.

»Du siehst furchtbar aus in Leons Klamotten! Und dieser Schwanz da hinten – irgendwie pervers!«

»Wer ist Leon? Dein Knecht?« Drago zupfte an den viel zu kurzen Ärmeln des Sweatshirts.

»Kann man so sagen. Der Knecht hat allerdings den Dienst bei mir aufgekündigt!« Ihr mattes Lächeln erreichte nun auch die Augen, obwohl es noch immer sehr verkrampft wirkte. Drago atmete auf. Die Menschenfrau schien endlich wieder zur Vernunft gekommen zu sein. Er hatte befürchtet, ihr Geist hätte sich völlig verwirrt. Er nickte ihr verständnisvoll zu.

»Ich kenne das. Es ist sehr schwer, verantwortungsvolles Personal zu bekommen. Seit ich der Königin Isigunde diene, musste ich schon mehrmals diese aufmüpfigen Bergleute zur Rede stellen. Ständig verlangen sie höhere Anteile an der Erzausbeute!«

»Aha! Vermutlich sind diese Bergleute in einer Gewerkschaft organisiert!« Feli faltete die Hände vor ihrem Bauch und verschränkte die Finger ineinander. Dragos Blick folgte dieser Bewegung. Die Frau hatte einen fein gerundeten, weichen Bauch, und das Fellchen zwischen ihren Beinen sah aufreizend klein aus, als hätte sie es zurechtgezupft und kurzgeschoren. Seltsame Sitten hatte man in dieser Welt! Drago konnte seinen Gedanken, die sich ausgiebig mit jener Körperregion beschäftigten, die Felicitas zwischen ihren zusammengekniffenen Schenkeln verbarg, nicht länger hingeben, denn sie fragte ihn jetzt beinahe beiläufig: »Sagtest du vorhin tatsächlich, ich soll für das Schneewittchen einspringen? Ich habe mich verhört, nicht wahr?«

Er schüttelte ernsthaft den Kopf. »Warum solltest du dich verhört haben? Königin Isigunde befindet sich in einer ernsten Notlage, weil Prinzessin Whita davongelaufen ist. In einigen Tagen soll die Hochzeit von Schneewittchen mit dem Prinzen des Nachbarreiches stattfinden, und jetzt ist die Braut weg. Das kann schlimme Konsequenzen haben! Die dreizehnte Fee ist die Patentante von Prinz Samir. Wenn die verärgert ist, belegt sie ganze Landstriche mit ihrem Schlafzauber …«

»Bist du eigentlich noch ganz dicht?« Feli unterbrach ihn und deutete mit ihrem Zeigefinger auf ihre Stirn. »Ich habe gleich vermutet, dass du irgendwo ausgebrochen bist! Wahrscheinlich aus einem geheimen Militärlabor, das versucht, Eidechsen mit Menschen zu kreuzen. Dabei hast du nicht nur diesen komischen Schwanz abbekommen, sondern auch das Gehirn von einem Lurch!«

Drago kniff beleidigt seine Lippen zusammen.

»Du solltest dich ankleiden, Frau Feli!«, sagte er schließlich. »Wir gehen!«

»Wir gehen? Du gehst! Ich bleibe hier! Du glaubst doch nicht etwa, ich laufe noch einmal mit dir durch die Straßen! Mit einem Kerl, der behauptet, das Schneewittchen zu kennen und dem ein komischer Schwanz am Arsch angewachsen ist! Vergiss es! Außerdem muss ich um elf auf der Arbeit sein, sonst feuern die mich! Ich brauche den Job, so sehr er mich auch ankotzt!«

»An deiner Ausdrucksweise müssen wir noch etwas arbeiten!« Drago vertiefte sich erneut in die Schubladen. »Hier, zieh‘ dir das über!«

Neben Felicitas klatschten ein Shirt und eine Jeans auf die Couch. Sie hob sarkastisch eine Braue an.

»Du hast ja recht, die Unterwäsche spare ich mir lieber, sonst zerreißt du die guten Stücke nur wieder!« Felicitas hob mit spitzen Fingern das Shirt an. »Nicht gerade die beste Wahl. In Mintgrün sehe ich noch blasser aus!«

Er warf ihr einen dermaßen grimmigen Blick zu, dass Felicitas sich seufzend das Shirt über den Kopf streifte und in die Hose schlüpfte.

»Kann uns dein Hausdiener die Pferde vor deine Kutsche spannen?«

Feli holte tief Luft, prustete sie geräuschvoll wieder aus und versuchte, nicht allzu bissig zu klingen: »Kann er nicht. Die Pferde sind beim Schlachter und bei der Kutsche ist der TÜV abgelaufen!«

»Ich habe den Eindruck, du nimmst mich nicht ernst!« Drago schaute noch finsterer drein. »Besitzt du wenigstens eine solche pferdelose Kutsche, wie ich sie auf der Straße gesehen haben, als wir zu deiner Heimstatt gingen?«

»Ein Auto? Nö!« Feli betrachtete ihre nackten Fußzehen, um ihren ungebetenen Gast nicht länger ansehen zu müssen. Sie wackelte ein wenig mit der rechten großen Zehe und erklärte: »Ist mir zu teuer. Das Finanzamt will Kfz-Steuern, ich müsste eine sündenteure Haftpflichtversicherung abschließen, die Benzinpreise sind nicht ohne und die Autowerkstatt hält auch noch die Hand auf. Vom TÜV gar nicht zu reden! Verbrennungsmotoren sind außerdem Gift für die Umwelt!«

Drago packte Felicitas am Handgelenk und zog sie unsanft von der Couch hoch. »Dieser TÜV scheint ein mächtiger Herrscher zu sein! Dann müssen wir bis zur Quelle laufen!«

»Wir? Moment mal!« Feli stemmte ihre Fersen in den verblichenen Teppichboden. Das nützte nicht viel. Unerbittlich zog Drago sie mit sich, hinaus auf den Flur.

»Halt!«, jammerte sie. »Ich kann doch nicht ohne Schuhe …«

Drago knurrte nur, und nur mit einer akrobatischen Verrenkung gelang es Felicitas, ihre tropfnassen Sneaker zu ergreifen, bevor sie hinter dem eindeutig durchgeknallten Schwanzträger hinaus ins Treppenhaus stolperte.

Zum ersten Mal, seit sie in diesem Haus wohnte, wünschte sie sich, dass der Hauswirt ihr wie üblich im Erdgeschoss auflauerte, um ihr Vorhaltungen über falsch getrennten Müll zu machen. Oder über ihren Lebenswandel im Allgemeinen, obwohl der Spruch, jeder solle zuerst an seiner eigenen Nase zupfen, bei diesem Mann voll ins Schwarze traf. Aber der Hausbesitzer hatte entweder bewusste Nase von der nächtlichen Begegnung mit Drago gestrichen voll, oder die geheimnisvolle Hypnose wirkte noch immer nach. Die erhoffte Chance, bei einem neuerlichen Schlagabtausch der beider Männer entwischen zu können, erfüllte sich also nicht.

Die Morgendämmerung hing wie ein rotgoldenes Tuch am Himmel, als Felicitas hinter Drago auf die Straße stolperte. Die Betonsteine des Pflasters auf dem Fußweg fühlten sich eisig an unter ihren nackten Fußsohlen. Ein wenig verzweifelt betrachtete sie die Schuhe in ihrer Hand. Diese nassen Dinger überzustreifen, würde die Situation nur unwesentlich verbessern. Drago ließ endlich ihr Handgelenk los und hob den Kopf wie ein witterndes Tier an. Dabei zog er auch noch die Nase kraus. Ihm schien es nichts auszumachen, nur sehr unvollständig bekleidet und barfuß in der morgenkühlen Luft zu stehen.

»Die Quelle des Flusses liegt in dieser Richtung!«, stieß er schließlich aus und deutete mit dem Zeigefinger ins Nirgendwo. Nebelwölkchen lösten sich bei seinen Worten aus seinem Mund. Obwohl die letzten Nachtfröste schon einige Wochen zurück lagen, war es in dieser Nacht doch empfindlich abgekühlt. Felicitas begann zu bibbern und ließ ihre Sneaker fallen, um sich die Arme zu reiben.

»Die Quelle der Wacker? Du hast nicht nur eine Latte ab, sondern einen ganzen Lattenzaun! Ich weiß nicht mal, wo dieser verdammte Fluss entspringt, und bis zur Quelle dürften es etliche Kilometer sein! Willst du etwa dorthin laufen? Ohne Schuhe und in diesem Aufzug?« Felicitas hüpfte von einem Bein auf das andere, doch sie spürte ihre Füße schon gar nicht mehr. Sehnsüchtig blickte sie zurück zur Haustür. Mit einem schnellen Sprint könnte sie versuchen, diesem wahnsinnigen Drachenmenschen zu entkommen. Allerdings gab es da ein klitzekleines Problem: Die Tür war ins Schloss gefallen und der Schlüssel lag irgendwo oben in ihrer Wohnung bei den nassen Klamotten.

»Kilometer? Das sind eure Meilen, nicht wahr?«

»Hmm«, brummte Felicitas missmutig. Sie hatte absolut keine Lust mehr, auf solche schwachsinnigen Fragen zu antworten.

»Du bist also der Meinung, es würde zu viel Zeit beanspruchen, die Quelle zu Fuß zu erreichen? Eine Kutsche steht uns auch nicht zur Verfügung, es bleibt also nur eine Möglichkeit …«, murmelte er und griff erneut nach Felicitas‘ Hand. »Durch deine Berührung habe ich vorerst die Gabe verloren, mich unsichtbar zu machen. Glaubst du, ich würde sehr viel Aufmerksamkeit erregen, wenn ich mich in meine Drachengestalt zurückversetze?«

»Ein ganzer Drachen erregt weniger Aufmerksamkeit als ein Mann mit Drachenschwanz in viel zu engen Klamotten!«, antwortete Felicitas bissig.

»Das klingt gut! Ich werde dich in meinen Klauen mit mir tragen und mit wenigen Flügelschlägen die Quelle des Flusses erreichen. Natürlich werde ich sehr, sehr vorsichtig sein. Königin Isigunde würde mir nie verzeihen, wenn ich einen Ersatz für die Prinzessin zu ihr bringe, der völlig zerkratzt ist!«

»Du wirst den Teufel tun! Ich habe weder die Absicht, deine Königin Isigunde kennenzulernen, noch das Schneewittchen zu spielen!« Felicitas lief los, egal wohin, nur weg von diesem Spinner! Jetzt war sie froh, dass ihre Fußsohlen kältetaub waren, schließlich war sie es nicht gewohnt, mit bloßen Füßen über den Asphalt zu preschen. Sie wagte es nicht, sich umzusehen, jedenfalls hörte sie keine Schritte hinter sich. Um diese Zeit war es noch still in diesem Viertel, wenn er ihr folgte, hätte sie es wahrnehmen müssen …

Es waren keine Schritte, die schließlich an Felicitas‘ Ohren drangen. Das Keuchen ihrer eigenen Atemzüge – sie bedauerte, nicht öfter eine Joggingrunde im Park gedreht zu haben, dann wäre sie nicht so rasch außer Puste geraten – mischte sich mit einem eigenartigen Rauschen. Ein Schatten schob sich über sie. Felicitas versuchte, schneller zu laufen, doch schon spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen unter ihren Rippenbögen. Seitenstechen! Sie war einfach nicht auf einen solchen Sprint trainiert! Der Schatten bewegte sich mit ihr, wurde dunkler und dunkler. Dann griff etwas nach ihr, umklammerte von hinten ihren Leib. Es fühlte sich an, als habe jemand Stahlbänder um ihren Körper gelegt. Felicitas wollte schreien, hatte allerdings keine Kraft mehr dazu. Sie versuchte, um sich zu schlagen, doch ihre zu Fäusten geballten Hände boxten ins Leere. Ihre Füße traten plötzlich ins Nichts. Als Felicitas begriff, dass sie über dem Boden schwebte und immer höher getragen wurde, beschloss ihr Gehirn wieder einmal, den bewussten Notschalter zu aktivieren. Sie wurde ohnmächtig und verpasste die einmalige Gelegenheit, den gesamten Flusslauf der Wacker von der Stadt bis hin zu der Quelle von oben zu betrachten.

Als sie zu sich kam, starrte sie in Dragos fröhlich grinsendes Gesicht. Über ihm zogen schäfchenweiße Wölkchen an einem postkartenblauen Himmel dahin.

»Was ...«, krächzte sie heiser und richtete sich auf. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn in ihrem Kopf begann sich ein zentnerschweres Mühlrad zu drehen. Stöhnend presste sie sich die Handflächen gegen ihre Schläfen, hinter denen ein Tornado tobte.

Dragos Grinsen verschwand und wich einer ehrlich besorgten Grimasse. »Geht es dir nicht gut, Frau Feli?«

»Wenn du dieses blöde ›Frau Feli‹ Gequatsche bleiben und mich endlich in Ruhe lässt, geht es mir gleich besser!« Felicitas verspürte einen Hustenreiz und schloss gequält die Augen, als sie ihm nachgab. Das Mühlrad in ihrem Kopf hatte sich beim Husten in das komplette Geläut eines Doms verwandelt. »Wenn du jetzt abhaust, verzichte ich auf eine Anzeige wegen Entführung, sexueller Belästigung und Nötigung, versprochen! Oder lass' mich wenigstens deine Pfleger anrufen, damit die dich abholen können, ja?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Frau Feli! Jedenfalls kann ich deinem Wunsch nicht entsprechen, dich hier allein zurückzulassen, denn du würdest dich völlig verirren! Und glaube mir, es gibt Orte in diesem Land, an die du nicht einmal deine ärgsten Feinde wünschen würdest!«

»Im Moment wünsche ich nur dich an irgendeinen grässlichen Ort!«, grummelte Felicitas und riss ihre Augenlider erschrocken wieder auf. Ihre Hände rutschten kraftlos von ihren Schläfen herab. »Moment mal! Was hast du eben gesagt? In diesem Land …?«

»Nun ja, diese Welt unterscheidet sich doch ein wenig von deiner gewohnten Umgebung! Darf ich dir auf die Füße helfen, Frau Feli? Wir sollten uns so rasch als möglich in das Schloss von Königin Isigunde begeben! Ich habe bereits einen Botenfalken abgesandt, damit uns eine Kalesche entgegenkommt!«

Felicitas sprang hoch wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen. Sie befand sich auf einer endlos scheinenden unwirklich grünen Wiese. Roter Mohn, weiße Margeriten und zartrosa Blüten des Wiesenschaumkrautes standen in einem Farbenkrieg mit gelben Butterblumen und kornblumenblauen – nun ja, Kornblumen eben. Unzählige Schmetterlinge und Libellen taumelten, huschten und schwirrten über diesen Farbrausch dahin und vervollständigten die Palette des Regenbogens. Irritiert drehte sich Felicitas im Kreis. In unmittelbarer Nähe befand sich ein Bauwerk, das sie entfernt an die seltsam unfertig wirkende Ruine erinnerte, die auf einem Hügel an der Wacker kurz vor der Stadt thronte. Von der einstigen Ritterburg waren nur Reste der Mauern und des Turmes geblieben. Das Ensemble stellte ein beliebtes Ziel für Wandertage an den Grundschulen der Stadt dar. Felicitas war als Schülerin mehrmals in den Genuss eines Ausfluges zu den verwitterten Steinen gekommen. Einmal hatte die Klasse am Tag danach einen Aufsatz mit dem Thema ›Wie stelle ich mir das Leben der Menschen im Mittelalter vor‹ verfassen müssen. Felicitas hatte ein dickes ›ungenügend‹ kassiert, weil sie geschrieben hatte, dass die alten Ritter ihren Nachwuchs gewiss nicht mit Aufsätzen über langweilige Wandertage gequält hatten.

Der Torbogen, der hier unvermittelt aus dem idyllischen Wiesengrün ragte, bestand aus dicken, von Moos bewachsenen Steinquadern. Und er führte ins Nichts. Rund um das Tor herum gab es nur Gras und gemächlich im Wind nickende Blüten. In einiger Entfernung spendete ein weit ausladender alter Obstbaum etwas Schatten, und noch weiter entfernt glaubte Felicitas ein einsames Haus zu erkennen. Den Horizont säumte das blaugrüne Band eines Waldes. Es brauchte nicht sehr viel an Kombinationsgabe, um Felicitas erkennen zu lassen, dass sie sich definitiv nicht in der Nähe ihrer Wohnung befand, nicht einmal in der Nähe der Stadt!

»Du verdammter Idiot! Wo bin ich hier! Wo hast du mich hingeschleppt?« Felicitas war viel zu empört, um Angst zu verspüren. Die Wut, die in ihr hochkochte, vertrieb sogar die bohrenden Kopfschmerzen. Sie hob ihre Fäuste an und hämmerte auf die Brust des Mannes ein, der sie auf diese kitschige Wiese verschleppt hatte. Fehlte nur noch, dass die Biene Maja mit ihrem Freund Willi hier entlang summte!

Drago setzte wieder sein verhaltenes Grinsen auf. Er hinderte Felicitas auf eine sehr wirkungsvolle Weise daran, noch länger auf ihn einzuschlagen – er schlang kurzerhand seine Arme um ihre Schultern und zog sie fest an sich. Ihr Unterbewusstsein registrierte, dass er ein tannengrünes Wams aus weichem Wollstoff und Hosen aus hellbeigem Wildleder trug, seine Füße steckten in kniehohen schwarzglänzenden Stiefeln. Keine Spur von einem Drachenschwanz!

»Der Schwanz!«, schnappte sie tonlos. »Er ist weg! Und diese Klamotten! Wo kommen die auf einmal her? Ich habe Halluzinationen!« Felicitas vergaß sogar, sich gegen die Umarmung Dragos zu stemmen. Die Möglichkeit, selbst den Verstand verloren zu haben und in einer irrationalen Gedankenwelt zu leben, erschreckte sie zutiefst.

»Nun ja, der Schwanz …« Drago hüstelte verlegen. »Es ist mir immer wieder etwas peinlich, zuzugeben, dass ich Probleme bei der Gestaltwandlung habe. Irgendetwas bleibt stets hängen!« Er hielt ihr die linke Hand vor das Gesicht, und Feli zuckte erschrocken zurück. Statt in normalen Fingernägeln zierten Dragos Fingerkuppen gefährlich aussehende Klauen. Die junge Frau stieß einen Laut aus, den man ebenso als verzagtes Wimmern als auch als eine Art verzweifeltes Lachen deuten konnte.

»Und meine Kleidung hatte ich natürlich hier am Tor abgelegt, bevor ich meine Drachengestalt annahm, um in eurer Welt nach Prinzessin Whita zu suchen! Die Königin spendiert nicht ständig ein neues Jagdmeister-Gewand, nur weil ich es beim Wandeln unweigerlich zerreißen würde, wenn ich es anbehielte! Frau Feli, wir müssen der Kalesche der Königin entgegengehen! Die Frau Holle hat es nicht gern, wenn man sich allzu lange hier aufhält und ihre schöne Wiese zertrampelt!« Er schob seinen Arm um ihre Taille – freundlicherweise jenen, der nicht in einer Drachentatze endete - und schob Felicitas vorwärts.

»Ja, klar doch, ist ja logisch! Ganz in der Nähe vom Schneewittchen wohnt die Frau Holle!«, grummelte sie. »Und gleich laufen uns Hänsel und Gretel über den Weg und streuen Brotkrumen, damit wir uns nicht verlaufen!«

»Geht es dir wirklich gut, Frau Feli?« Besorgt musterte Drago seine unfreiwillige Begleiterin. Sie nickte nur und kniff die Lippen zusammen. Das Glas war weich und schmeichelte ihren nackten Fußsohlen, und so kam in ihr kein Gedanke an die nassen Sneakers auf, die sie auf der Straße vor ihrem Wohnhaus fallengelassen hatte, und die jetzt einsam und verloren ihrem unweigerlichen Schicksal im Schoße der städtischen Müllabfuhr entgegenharrten. Felicitas war viel zu verwirrt, um sich gegen den sanften Druck von Dragos Arm zu stemmen. Ein lauter und lauter werdendes Murmeln ließ sie jedoch aufhorchen. Feine Stimmchen einten sich zu einem Chor, und endlich verstand sie auch, was die Stimmen riefen: »Schüttle mich, schüttle mich! Meine Äpfel sind alle miteinander reif!«

»Hör‘ bloß nicht auf diesen Apfelbaum!«, flüsterte Drago ihr eindringlich ins Ohr, als er bemerkte, dass Felicitas‘ Schritte langsamer wurden. »Das ist nur so ein Trick von der Alten, sie sucht jemanden, der ihr die Hausarbeit macht! Wenn man die Äpfel abschüttelt und brav in die Körbe legt, braucht man dem Baum nur den Rücken zuzudrehen – und schwupps, hängen die Äpfel alle wieder an den Ästen!«

»Äh, die Alte, ist das etwa Frau Holle? Irgendwie ist mir das anders in Erinnerung!«, protestierte die junge Frau halbherzig. »Gibt es nicht auch noch einen Backofen voller Brote?«

»Gewiss! Hast du die Absicht, dir die Finger zu verbrennen? Oder willst du die Kissen der Alten aufschütteln? Darf ich dich daran erinnern, dass es in deiner Welt jetzt Sommer ist? Du müsstest noch ein halbes Jahr das Haus der Alten putzen, bis du an die Schneekissen darfst! Außerdem bist du nicht hier, um die Schneewolken zu füllen, schon vergessen?«

»Ich will überhaupt nicht hier sein!«, protestierte Felicitas und versteifte sich. Scheinbar aus dem Nichts heraus donnerte ein Gespann auf sie zu. Vier stämmige Schimmel kamen stampfend und schnaubend nur wenige Schritte vor ihr und Drago zum Stehen.

»Habt Ihr etwa die Prinzessin gefunden, Meister Drago?«, rief der Kutscher, ein vierschrötiger Kerl, von seinem Kutschbock herunter. Das lange zottige Haar hing ihm tief ins Gesicht, sodass Felicitas bezweifelte, dass der Mann überhaupt etwas sehen konnte. Der rötliche Pelz bedeckte sogar seine Hände und die muskelbepackten Arme, die aus der Weste aus grobgewebtem beigefarbenen Wollstoff herausragten wie dicke knorrige Äste.

»Beinahe, Hans, nur beinahe!« Drago klopfte liebevoll den Hals eines Pferdes ab und deutete mit dem Kinn in Richtung des Kutschbocks. »Das ist der Eisenhans! Eine ganz treue Seele, aber nicht sehr helle im Kopf! Er behauptet, ein verwunschener König zu sein!«

»Ah … ja!«, machte Felicitas und ließ sich widerstandslos von Drago in die offene Kutsche heben. Ehrfürchtig strich sie über die purpurroten Samtbezüge der weichen Sitze, auf Bequemlichkeit wurde hier offenbar Wert gelegt.

»Du solltest dich schon hinsetzen, Frau Feli! Hans fährt wie ein Henker!« Drago schwang sich zu ihr hoch und zog sie neben sich auf das Polster. »Es kann losgehen, Hans!«

»Ho!«, rief der haarige Kutschenlenker, so laut, dass Felicitas die Ohren dröhnten. Seine Peitsche knallte, die Schimmel schnaubten und fielen fast aus dem Stand in den Galopp. Erschrocken krallte sich Felicitas mit beiden Händen an Dragos Oberarm fest.

»Ich kann nicht behaupten, dass mir das missfallen würde!«, lächelte er verhalten, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Du solltest die Fahrt genießen, Frau Feli!«

Feli – die Verwandlung

Die Fahrt genießen? Dieser Drago bewies wieder einmal einen recht eigenartigen Sinn für Humor! Die Kalesche war heftig angeruckt, ich wäre fast hintenüber herausgefallen! Ich hätte nie geglaubt, dass es mir einmal angenehm sein würde, wenn er mich in seine Arme nahm! Aber die Fahrt mit diesem Verrückten auf dem Kutschbock verlief so rasant, ich vermutete, selbst der Beelzebub höchstpersönlich wäre mir willkommen gewesen, wenn er mich nur festhielt und vor einem Sturz aus diesem Gefährt bewahrte!

Die Landschaft flog nur so an mir vorbei, und ich konnte nicht sagen, ob wir nun durch einen Wald fuhren oder über Felder und Wiesen. Das Gespann hätte bei der Formel Eins mithalten können! Normale Pferde waren das jedenfalls nicht! Aber was war schon normal, seit ich von der Brücke gefallen war …

Ich vermutete, während der ganzen Fahrt die Luft angehalten zu haben, so tief atmete ich auf, als die Kutsche endlich zum Stehen kam. Die Pferde stampften und schnaubten, warfen ihre schönen schlanken Köpfe hin und her und rollten mit den Augen, als würden sie es zutiefst bedauern, dass die Reise schon zu Ende war. Der Eisenhans fuhr mit seinen Pranken durch seine Haarmähne und strich sie sich aus der Stirn, während er sich zu uns umsah. In seinen erstaunlich klaren hellgrauen Augen, die ich jetzt endlich sehen konnte, funkelte so etwas wie Spott. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass dieser Kutscher von seiner Umgebung einschließlich Drago völlig unterschätzt wurde.

»Wir sind da!«, dröhnte der Eisenhans.

»Was du nicht sagst, Hans!« Drago nahm seinen Arm von meiner Schulter, stand auf und sprang aus der Kalesche. Er streckte mir beide Arme entgegen, aber ich reagierte nicht. Ich sperrte einfach nur Mund und Augen auf, wie man so schön sagt. Die Kutsche hatte vor einer breiten Freitreppe gehalten, deren Stufen so weiß leuchteten wie frisch gefallener Schnee. Und die Treppe führte hinauf zu einem Traumschloss. Neuschwanstein konnte einpacken! Wenn dieses Gemäuer hier in Japan bekannt wurde, würde man sich vor fotowütigen Touristen nicht mehr retten können! Mir gingen die Augen über, und es gelang mir nicht, das mächtige Gebäude als Ganzes zu erfassen. Es gab Türme und Türmchen, Galerien mit Säulen, Wehrgänge und Zinnen, Tore und Fenster in allen Größen und Formen …

»Frau Feli!« Dragos Stimme riss mich aus meiner Erstarrung. »Du kannst nicht bis in alle Ewigkeit in dieser Kalesche sitzenbleiben!«

Warum eigentlich nicht? Die Polster waren weich, die Kulisse atemberaubend!

»Soll dich der Eisenhans bei den Pferden im Stall einquartieren?«

Das klang schon ein wenig ungeduldiger. Wie in Trance erhob ich mich von dem weichen Polster und stolperte geradewegs in Dragos Arme. Er fing mich mühelos auf. Ich hatte mich an seinen Oberarmen abgefangen, und unter meinen Fingern konnte ich das Spiel seiner Muskeln spüren. Es fühlte sich gut und irgendwie selbstverständlich an, ihn schon wieder zu berühren. Selbst die Krallen an seiner linken Hand fand ich nicht mehr abstoßend oder außergewöhnlich. Dennoch war ich erleichtert, dass er mich mit seiner anderen, der menschlichen Hand am Unterarm stützte, als wir nun Seite an Seite die Treppe emporstiegen.

Wie phantastisch musste man sich fühlen, wenn man in einem kostbaren Kleid, behängt mit edlem Schmuck und festlich frisiert hier emporschreiten konnte! Leider war ich weit entfernt davon, ein Ballkleid am Leibe zu tragen. Ich konnte nicht einmal einen Schuh verlieren wie das Aschenputtel, denn ich war ja barfuß!

Das riesige Tor, auf das wir zugingen, war weit geöffnet. Wachsoldaten in kunterbunten Livreen standen wie starre Holzfiguren links und rechts des Torbogens. Die Hellebarden in ihren Händen glänzten silbrig, und ich bemühte mich, den Wächtern nicht in die Gesichter zu sehen. Wer weiß, vielleicht hatten sie den Befehl, abgerissenen Gestalten wie mir den Zutritt zum Schloss zu verwehren? Doch die Männer zuckten nicht einmal mit den Augenlidern. Vielleicht waren sie wirklich nur leblose Figuren? Drago ließ mir keine Zeit, länger über die Schlosswachen nachzudenken, er schob mich mit sanfter Gewalt vorwärts. Wir überquerten einen Hof, der ebenso riesig war wie der gesamte Gebäudekomplex. Mehrere Springbrunnen plätscherten inmitten von Rosenbeeten vor sich hin, Männer und Frauen in altertümlicher Kleidung hasteten geschäftig hin und her, vor unseren Füßen stob ein Taubenschwarm auf. Das Gefieder der Vögel war stilgerecht ebenso schneeweiß wie die Mauern ringsum.

Durch ein weiteres Portal führte unser Weg in das Innere des Gebäudes. Unter meinen nackten Fußsohlen spürte ich glatten Marmor, der sich warm anfühlte. Gab es hier etwa eine Fußbodenheizung? Ich vermisste jedenfalls meine verlorengegangenen Schuhe kein bisschen. Ich schaffte es nicht, meine Umgebung eingehend zu betrachten, Drago schob mich allzu eilig vorwärts, vorbei an farbenprächtigen Wandteppichen und Gemälden, Möbelstücken voller Goldauflagen und Intarsienarbeiten. Jeder Museumskurator wäre mit Tränen in den Augen auf die Knie gefallen angesichts der bunten Pracht, die an mir vorüberrauschte. Drago hielt erst inne, als wir eine hohe Flügeltür erreichten. Zwei Wachleute verwehrten uns mit gekreuzten Hellebarden den Zutritt.

»Was soll das?«, fauchte Drago. »Ich bin der Jagdmeister! Gebt den Weg in den Thronsaal frei!«

Stoisch starrten uns die Wächter an, einer schüttelte schließlich wie in Zeitlupe den Kopf. »Nur mit Genehmigung des Haushofmeisters!«

Drago rieb sich genervt die Stirn – mit der Drachenklaue. Ich sah, wie die Soldaten bei diesem Anblick leicht zusammenzuckten, aber dennoch die Contenance wahrten.

»Und wo hält sich der Haushofmeister derzeit auf?«, fragte Drago, und seinem Tonfall war leicht zu entnehmen, dass er sich sehr anstrengen musste, die Ruhe zu bewahren.

»Im Thronsaal natürlich!«

»Im Thronsaal bei Königin Isigunde? Sehr schön! Könnt ihr beiden Spaßvögel mir dann bitte erklären, wie ich mir bei ihm die Genehmigung zum Betreten des Thronsaales einholen soll, wenn der sich Genehmigungsgeber in ebenjenen Räumen befindet, die ich nur mit seiner Erlaubnis betreten darf?«

»Äh?«, machte der sichtlich überforderte Soldat. Ich fühlte mich irgendwie an eine Amtsstube in meiner Welt erinnert und unterdrückte ein Lachen. Ein leises Glucksen entfuhr mir doch, und Drago warf mir einen eigenartigen Blick zu. Siedend heiß durchfuhr es mich: Himmel, jetzt hatte sich dieser Schwachsinn schon in mein Gehirn eingenistet! Ich dachte schon in den gleichen Dimensionen wie mein merkwürdiger Entführer – meine Welt, seine Welt! Als ob es ungezählte Varianten von Welten geben würde!

Zu weiteren philosophisch-physikalischen Überlegungen kam ich nicht, denn Drago packte mein Handgelenk. Er war wieder so freundlich, dafür seine menschliche Hand zu verwenden. Die Krallen nutzte er dafür, mit einer raschen Armbewegung die Hellebarden der Wächter beiseite zu fegen und blitzschnell die Tür aufzustoßen. Die beiden Türflügel schwangen auf und gaben den Blick in einen riesigen lichtdurchfluteten Raum frei. Wenn Drago mich nicht energisch hinter sich hergezerrt hätte, wäre ich vor Ehrfurcht über diese Erhabenheit erstarrt!

Bodentiefe filigran gearbeitete Fenster aus bunten Glasmosaiken zauberten ein phantastisches Lichtspiel auf den mit hellen Steinplatten gefliesten Boden. Die Kuppel des riesigen Saales war mit einem Gemälde bedeckt, das ineinander verschlungene Blütenranken darstellte, über denen sich ein azurblaues Himmelszelt mit weißen Schäfchenwolken wölbte. Farbige Banner mit eingestickten Wappen zierten die Pfeiler zwischen den Fenstern, und da der Thronsessel auf dem Podest an der Stirnseite des Raumes das einzige Möbelstück war, wirkte diese Prunkhalle noch exorbitanter.

Man hätte die in einen weißen Pelz gehüllte Gestalt auf dem Thron glatt übersehen können, zumal sich ein Mann von beträchtlichem Körperumfang zwischen uns und dem Herrschersitz aufbaute.

»Wie kannst du es wagen, unangemeldet vor der Königin zu erscheinen!«, blaffte der Dicke Drago an. Ich zählte wahrscheinblich gar nicht, und ich war auch nicht böse darum. Vorsichthalber hielt ich mich hinter Dragos Rücken und war froh, dass er so breite Schultern hatte. Der Haushofmeister – um diesen schien es sich hier zu handeln – war mir unheimlich. Noch nie hatte ich einen Menschen mit einem so langen Bart gesehen! Das eisgraue Gesichtsfell reichte ihm bis fast zu den Füßen! Er war sehr unvorteilhaft gekleidet, ein bodenlanger tiefblauer Mantel ließ ihn wie eine in Samt verpackte Mülltonne aussehen. In der rechten Hand hielt er einen großen Stab, an dessen oberen Ende sich das Licht in den geschliffenen Facetten eines großen Kristalls brach. Nun rammte er den Stab auch noch wütend auf den Boden. »Ich sollte dich wegen Ungehorsams auspeitschen lassen!«

»Dir bin ich weder Gehorsam noch Rechenschaft schuldig! Ich bin der Jagdmeister der Königin!« Drago legte sichtlich viel Wert auf diesen Titel. »Und ein Wesen, welches mir mit der Peitsche zu drohen vermag, muss erst noch geboren werden!« Er streckte demonstrativ die Krallenhand gegen den Haushofmeister aus. Der lange Bart begann verdächtig zu beben und die Mülltonne unter dem Mantel schwoll gut sichtbar an. Gleich würde der Kerl vor Wut platzen!

»Schluss damit!« Die schneidende Frauenstimme ließ sowohl den Dicken als auch Drago zusammenzucken.

»Verzeiht, meine Königin! Man wollte mich nicht zu Euch vorlassen! Dabei habe ich mich nach Kräften bemüht, Eure Stieftochter zu finden!« Drago schob sich mit mir im Schlepp an dem Haushofmeister vorbei und legte einen perfekt anmutenden Kratzfuß vor dem Thron hin.

»Drago! Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dieses Ding da …«, ein Arm schnellte aus dem weißen Hermelinpelz hervor und ein ringbesetzter Zeigefinger stach über Dragos gebeugten Rücken hinweg in meine Richtung, »… dieses Ding da wäre Prinzessin Whita!«

Drago richtete sich auf und blickte Königin Isigunde geradewegs ins Gesicht. Von ihrer Figur war nicht viel zu erkennen, aus der Pelzwolke schauten nur Kopf, Hände und ihre Füße heraus, die in zierlichen silberfarbenen Pantoffeln steckten. Ihr Haar glänzte in einem satten rotgoldenen Ton und war im Nacken zu einem Knoten hochgesteckt. Ein aus sphärisch feinem Silberdraht gefertigtes und mit funkelnden Steinen besetztes Diadem zierte ihre Stirn, und das alterslose ebenmäßig geschnittene Gesicht schien irgendjemand mit Photoshop bearbeitet zu haben – kurzum, diese Frau wirkte unirdisch schön.

Drago schüttelte kaum merklich seinen Kopf und kniff seine Lippen zusammen. Seine Finger umschlossen mein Handgelenk jetzt so fest, dass ich nur mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrückte. Die Königin starrte Drago an, und Drago starrte zurück. Wenn Blicke fähig gewesen wären, zu töten, wären jetzt wohl beide mausetot zu Boden gefallen. Aber diese wortlose Kommunikation schien Früchte zu tragen. Die Königin stemmte sich aus dem für ihre schmale Gestalt viel zu großen Thronsessel auf und wandte ihren Blick endlich von Drago ab.

»Ich werde mich mit meinem Jagdmeister jetzt in meine privaten Gemächer zurückziehen. Ich wünsche, nicht gestört zu werden!«, sagte sie zu dem samtblauen Bartträger. Der Haushofmeister quälte sich eine Verbeugung ab, und Isigunde rauschte an uns vorbei. Die Pelztoga schleifte wie eine Schleppe hinter ihr über den Boden. Die hiesige Putzfrau würde sich freuen, sie würde etwas weniger kehren müssen. Drago folgte der Königin wie ein braves Hündchen. Notgedrungenerweise folgte ich auch. Dragos Griff war unerbittlich. Ich spürte meine Finger schon gar nicht mehr.

Die Tür hinter dem Thronpodest, durch die Isigunde nun den protzigen Saal verließ, war so unscheinbar und unauffällig in die Wandverkleidung eingearbeitet, dass ich sie gar nicht bemerkt hatte. Wir durchquerten mehrere Räume und ein Foyer, in das meine Wohnung bestimmt mehrmals hineingepasst hätte, bis wir schließlich in einem Zimmer ankamen, dass sich durch eine große, arkadenartige Fensterfront auszeichnete. Ein riesiges Himmelbett dominierte die ansonsten dürftige Einrichtung. Ich entdeckte noch eine Art Kommode, einen Ohrensessel und eine Truhe, außerdem hing an der ansonsten schmucklosen Wand ein mannshoher Spiegel in einem mit hübschen Schnitzereien verzierten und vergoldeten Rahmen. Ohne Zweifel waren wir im königlichen Schlafzimmer gelandet. Das war freilich nicht der Grund, warum ich erleichtert aufatmete. Drago hatte mich endlich losgelassen. Verstohlen wackelte ich mit meinen tauben Fingern und rieb mir mit der anderen Hand das Gelenk.

»Du hast also in der Menschenwelt nach dem Schneewittchen gesucht und statt der Prinzessin dieses …« Sie schien nach einem für mich passenden Wort zu suchen: »… Mädchen mitgebracht!«, stellte Isigunde sachlich kühl fest und begann, mich mit langsamen Schritten zu umwandern. Ich fühlte mich wie ein Kaninchen in der Falle, das von einem hungrigen Wolf umkreist wird. Hinter Isigundes makelloser Schönheit erahnte ich eine eisige Kälte. Abschätzig zog sie ihre Mundwinkel nach unten. »Was hast du dir dabei gedacht, Jagdmeister?«

»Sie sieht Whita ähnlich«, sagte Drago. Mehr nicht. Es hörte sich an wie eine beiläufige Bemerkung, kein Wort von dem Vorschlag, den er mir unterbreitet hatte. Isigunde wusste offenbar nichts von seinem irrwitzigen Plan, mich als das Schneewittchen auszugeben.

Die Königin hielt endlich inne mit ihrer Wanderung um mich herum und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, ihre Stirn kräuselte sich leicht. In dieser nachdenklichen Pose ließ sich erahnen, dass sich hinter der schönen Fassade keine allzu junge Frau verbarg. Sie wandte sich von mir ab und betrachtete ihr Abbild in dem großen Spiegel.

»Was meinst du? Ähnelt dieses Mädchen meiner geliebten Stieftochter Whita?«

Mit wem sprach die Königin? Sie drehte uns den Rücken zu und starrte in ihren Spiegel – sprach sie etwa mit diesem Ding? Ich fuhr leicht zusammen, denn ich erinnerte mich, dass ein sprechender Spiegel im Märchen von Schneewittchen eine tragende Rolle spielte. Meine Halluzination – für eine solche hielt ich alles, was momentan mit mir passierte, noch immer – wurde immer detailgetreuer.

Aus Richtung des Spiegels kam nur ein abfälliges: »Phfff!« Der magische Spiegel war nicht in Laune!

Isigunde seufzte theatralisch auf. »Also gut! Du willst erst deinen Zauberspruch hören! Bitte, da ist er!« Sie stellte sich in Positur und deklamierte: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

»Was soll ich jetzt zu Euch sagen? Dass Ihr in diesem Pelzsack ausseht wie ein fetter Staubwedel? Außerdem ist es unethisch, für ein solches Kleidungsstück unzählige süße kleine Hermeline zu meucheln!«

Alle Achtung, der Spiegel nahm kein Blatt vor den Mund! Isigunde verzog den Mund. »Ich habe dich nicht gefragt, ob meine Kleidung deinem Geschmack entspricht!«

»Frau Königin, über meine Antworten auf Eure Fragen entscheide ich noch immer selbst!«

Isigunde stampfte ganz und gar nicht hoheitsvoll mit dem Fuß auf: »Ich will von dir wissen, ob diese Sterbliche dem Schneewittchen ähnelt! Bist du schwerhörig? Ich sollte dich einschmelzen lassen!«

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier …«, seufzte der Spiegel auf. »Aber Schneewittchen …«

»Ist verschwunden!«, unterbrach die Königin rasch, packte mich an den Schultern und schob mich vor den Zauberspiegel.

»Oh ja, diese zarte weiße Haut, das Feuer der dunklen Augen! Die Größe und die anmutige Gestalt entsprechen auch der Prinzessin! Aber ihr Haar ist viel zu hell! Und schmutzig ist sie auch! Mit den dreckigen Füßen könnt Ihr diese Frau unmöglich als das Schneewittchen ausgeben!«

»Wer hat denn gesagt, dass ich so etwas vorhabe?«, fauchte Isigunde, und ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Schultern.

»Das müsst Ihr nicht sagen, Frau Königin! Das kann ich an Eurem Gesicht ablesen! Schon vergessen, ich bin ein Zauberspiegel!«

Isigunde nahm endlich ihre Hände von mir, mit geballten Fäusten trat sie auf den Spiegel zu. Ich kniff die Augen zusammen in der Erwartung, dass sie das respektlose Ding zu Scherben zerschlug.

»Erlaubt, dass ich Euren Spiegel verhülle!«, hörte ich Drago mit sanfter Stimme sagen. Voller Neugier blinzelte ich und sah, wie er eine Decke über den Spiegelrahmen zog.

Die Königin keuchte, es hörte sich an, als würde Luft aus einem Ballon entweichen. Sie trat auf ihr protziges Bett zu und zog an einer Kordel, die zwischen den duftigen Batistbahnen ihres Betthimmels hing. Irgendwo außerhalb des Raumes schlug eine Glocke an.

»Jagdmeister, du hast zwar Whita nicht gefunden, aber ich danke dir trotzdem für deinen Einfallsreichtum! Die Gefahr ist zwar noch nicht gebannt, irgendwann wird Prinz Samir den Betrug bemerken. Aber wir haben Zeit gewonnen, und die Hochzeit kann wie geplant zum nächsten Vollmond stattfinden! Damit hat weder Samirs Vater, König Sath, einen Grund, unser Land mit seinen Kriegsknechten zu verwüsten, noch kommt die dreizehnte Fee in Versuchung, uns in einen ewigen Tiefschlaf zu versetzen. Sehr gut!«

Ich wollte heftig protestieren, weil hier offensichtlich über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, dass ich einen Märchenprinzen heiraten sollte. Doch in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und zwei ältere Frauen in langen schwarzen, bis zum Hals hochgeschlossenen Kleidern kamen hereingestürmt. Sie konnten unterschiedlicher nicht sein, die eine Dame war groß und dünn, die andere klein und beleibt. Nichtsdestotrotz trugen sie beide die gleiche Frisur, ein strenges Knötchen auf dem Hinterkopf, und beide hatten sich blütenweiße Schürzen umgebunden. Sie stellten sich wie Soldaten in Habachtstellung vor Isigunde auf.

Die Königin sah an ihnen vorbei und musterte mich streng. »Das sind meine persönlichen Zofen Hedwig und Wigburg. Ich erwarte, dass du ihnen gehorchst! Sie werden dich in die Gemächer der Prinzessin bringen, dich säubern und einkleiden. Ich erwarte dich zum Abendmahl im Salon, du brauchst noch einige Verhaltensregeln! Wie heißt du eigentlich?«

»Feli… Felicitas Müller«, stammelte ich.

»Ab sofort bist du Whita! Nehmt sie mit!« Der letzte Befehl war an die Zofen gerichtet, die schneidig links und rechts an meine Seite traten. Sie gedachten mich also zu eskortieren wie Gefängniswärter! Ich warf einen hilfeheischenden Blick zu Drago, doch mein Entführer hob nur leicht seine Schultern an und vermied es demonstrativ, mir in die Augen zu sehen. Die beiden Zofen hakten mich unter und schleppten mich aus dem Zimmer. Ich hörte gerade noch, wie Isigunde Drago anwies: »Und du, Jagdmeister, sorgst schleunigst dafür, dass zu den Hochzeitsfeierlichkeiten genug Wildbret auf die Tafel kommt!«

Dieser verdammte Drago! Mein Zorn galt ganz und gar diesem Drachen…dings! Erst schleppte er mich in dieses irrwitzige Abenteuer hinein, und dann ließ er mich schmählich im Stich! Grimmig akzeptierte ich meine Umgebung als Realität, auch wenn es mir noch immer schwerfiel. Das Vorhandensein einer Märchen-Dimension widersprach nun einmal dem gesunden Menschenverstand. Die energischen Zofen konnte ich allerdings schwer als Hirngespinste abtun! Sie dirigierten mich über den endlosen Flur in einen Raum, der an extravaganter Ausstattung dem Gemach der Königin nicht nachstand. Wieder gab es ein wuchtiges, überdimensioniertes Himmelbett, die Wände waren mit rosafarbenen Seidentapeten bespannt, hinter den duftigen Vorhängen sah ich bodentiefe Fenster, die auf einen großen Balkon führten. Unter den Füßen spürte ich dicke Teppiche. Zum näheren Betrachten der Möbel kam ich gar nicht, ich erhaschte nur ein paar rasche Blicke auf Sessel mit elegant geschwungenen Beinen, ein Intarsientischchen, eine Frisierkommode mit Spiegel – konnte der auch Gespräche führen? – und einen Kamin aus bemalten Kacheln. Das Schneewittchen legte demnach Wert auf eine heimelige Atmosphäre und liebte ihrem Namen zum Trotz kuschelige Wärme.

»Zieh‘ diese scheußlichen Lumpen aus!«, befahl mir die lange Zofe. War das nun Hedwig oder Wigburg? Egal! Ich holte tief Luft, um der Dame mitzuteilen, dass mich diese Jeans eine Stange Geld gekostet hatte. Doch dann stieß ich die Luft völlig unbenutzt wieder aus. Wie hätte ich erklären sollen, dass es eine Parallelwelt gab, in der die Hosen umso teurer waren, je abgewetzt und schäbiger sie aussahen? Und momentan fühlte ich mich ja tatsächlich nicht wohl in meinen hastig übergeworfenen Sachen und so gänzlich ohne Unterwäsche. Nach kurzem Zögern streifte ich das Shirt ab und schlüpfte aus der Hose. Ich musste zugeben, dass die Klamotten auf meiner nicht ganz freiwilligen Reise ziemlich gelitten hatten. Das Shirt war sogar nicht nur schmutzig, sondern auch am Rücken ganz zerrissen. Dragos Drachenklauen hatten also doch Spuren hinterlassen, und ich konnte froh sein, dass meine Haut nicht ebenso aussah.

Mit spitzen Fingern packte die Lange meine Kleidung und trug sie mit gerümpfter Nase vor sich her aus dem Raum, als wurde sie etwas Kontaminiertes entsorgen. Ich fröstelte. Schließlich war ich nun völlig nackt, und niemand hatte es für nötig erachtet, Schneewittchens Kamin anzuheizen. Die dicke Zofe erkannte mein Dilemma und warf mir ein Laken über die Schultern.

»Du frierst ja, Schätzchen!«, meinte sie gutmütig. »Ich bin die Hedwig! Willst du dich vor dem Bad erleichtern?«

»Was?«, irritiert schaute ich zu ihr hinunter. Ihr wie mit dem Lineal gezogener Scheitel hätte glatt unter mein Kinn gepasst. Sie legte mir ihre Knubbelfinger auf den Rücken und lenkte mich zu einer zweiten Tür, die ich erst jetzt bemerkte.

»Hier hinein!«

Ich fand mich in einem Mädchentraum wieder. Auf langen Stangen hingen unzählige Kleider, die jeden Kostümverleih oder Filmausstatter vor Neid hätten platzen lassen. Es war ein Rausch aus Tüll und Seide, eine Sinfonie aus Weiß, Rosa, Mintgrün und Himmelblau. Die passenden Schuhe standen in mehreren Regalen aufgereiht zwischen den Kleiderständern an den Wänden. Mir klappte die Kinnlade herunter, und ich befühlte andächtig den erstbesten Stoff, einen pastellgrünen Satinrock, der sich unter einem schwarzen Samtmieder bauschte.

Hedwig klopfte mir leicht auf den Handrücken. »Aber doch nicht mit diesen schmutzigen Fingern!«, tadelte sie. »Die Örtlichkeit befindet sich hinter dieser Tür!«

Eine Tür? Ich hätte sie nicht entdeckt, wenn Hedwig sie mir nicht zuvorkommend geöffnet hätte. Die Örtlichkeit entpuppte sich als eine Toilette. Ich nahm das Angebot dankend an. Während meiner unvermittelten Reise mit Drago hatte ich glatt vergessen, dass ich gewisse körperliche Bedürfnisse hatte, so irrwitzig war das Ganze verlaufen. Es beruhigte mich, dass auch Märchenprinzessinnen aufs Klo gehen müssen, das machte sie … nun ja, menschlich halt. Und nein, es gab weder eine goldene Toilettenbrille noch Wasserspülung, dafür zog es unangenehm von unten. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wohin mein kleines Geschäft entschwand.

Als ich mit Hedwig in Whitas Schlafgemach zurückkehrte, stand schon ein riesiger Bottich bereit. Skeptisch betrachtete ich den Dampf, der von dem heißen Wasser darin aufstieg. Es duftete durchdringend nach Salbei.

»Wollt ihr mich darin kochen?«

»Bewahre!«, machte Hedwig und patschte entsetzt ihre Hände zusammen. Wigburg war so freundlich, meine Frage ehrlich zu beantworten.

»Nur, wenn die Königin es befohlen hätte!«, sagte sie mit einem schmallippigen Grinsen. »Wenn die neue Prinzessin nun bitte die Güte hätte, in das Badewasser zu steigen?«

Ein wenig zögerlich ließ ich das Laken von den Schultern gleiten und prüfte mit einer Hand das Wasser. Es war nicht so heiß, wie ich befürchtet hatte, und so tat ich den beiden Zofen den Gefallen und kletterte in den Bottich. Das Wasser schmiegte sich wohltuend an meine an meine Haut. Um ehrlich zu sein, war ich froh, den Schmutz meiner ungewöhnlichen Reise abspülen zu können. Das angenehme Gefühl der Entspannung ließ in jenem Augenblick rapide nach, als Hedwig und Wigburg ihre Ärmel hochkrempelten. Das konnte nichts Gutes bedeuten!

Tatsächlich sollte ich mich alsbald in einem Wirbel aus Händen, Seifenschaum und kratzenden Schwämmen wiederfinden. Die Frauen rubbelten an mir herum, als würden sie mir die Haut abziehen wollen. Zur Krönung des Ganzen legte Wigburg plötzlich ihre Hand auf meinen Kopf und tauchte mich unter. Ich hatte nicht mit einem solchen Anschlag gerechnet und hustete und prustete heftig, nachdem die Zofe mich an den Haaren wieder nach oben gezogen hatte. Musste ich mich jetzt freuen, weil das doch kein ernstgemeinter Mordanschlag war, sondern nur eine Haarwäsche? Was rieben die beiden Frauen mir da ins Haar? Sollte das schwarze schmierige Zeug das hiesige Shampoo sein, dann gute Nacht!

Ich fühlte mich wie gerädert, als ich endlich aus dem Wasser steigen durfte. Wigburg und Hedwig tupften mich mit weichen Tüchern trocken, im krassen Gegensatz zu der groben Wäsche im Badebottich behandelten sie mich jetzt wie ein rohes Ei. Ich war einfach nur dankbar, mich nicht bewegen zu müssen. Hedwig kämmte mein nasses Haar aus und machte dabei Geräusche wie eine zufriedene Katze. Ein verstohlener Blick zum Spiegel der Frisierkommode sagte mir auch warum: Mein Haar war jetzt schwarz wie Rabenschwingen!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129557
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Drachen Gestaltwandler Märchen Liebesroman Liebe

Autor

  • Alice Alderwood (Autor:in)

Das Spiel der Möglichkeiten faszinierte Alice Alderwood schon in ihrer Kindheit, deshalb schreibt sie am liebsten Erzählungen mit phantastischem Hintergrund - die immer auch eine Liebesgeschichte enthalten. Alice Alderwood liest selbst nicht gern Bücher ohne Happy End, und so sorgt sie dafür, dass die Protagonisten ihrer eigenen Romane nach all den erdachten Widrigkeiten zueinander finden. Oder vielleicht doch nicht? Finden Sie es heraus!
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Titel: Zur Hölle mit Schneewittchen