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Bardenlieder von Silbersee - Die Drachenreiter 2

Schattenreich

von Manuela P. Forst (Autor:in)
284 Seiten

Zusammenfassung

Das Tropfen des Wassers hallt von den Felsen wider. Immerwährend. Es ist das einzige Geräusch in den lichtlosen Tunneln. Der Herzschlag der Erde. Wie die Schritte eines nie rastenden Geistes. Linara steigt hinab und hinab in das Reich der Schatten. Was sie dort erwartet, weiß sie nicht. Mit jedem Schritt in der Dunkelheit scheint ihre Mission mehr den Sinn zu verlieren. Der sie überall umgebende kalte Fels spottet nur der heißen Leidenschaft, welche die junge Elfe voll Überzeugung zu diesem Weg gedrängt hat. Was bleibt, ist ein Gefühl der Leere. Linara war aufgebrochen, um Antworten zu finden. Letztendlich erhofft sie sich, ihre eigene Identität zu ergründen. Doch im Reich der Schatten wartet nur der Tod. Teil 2 des packenden Fantasy-Epos führt die junge Waldelfe Linara tief hinab ins Schattenreich und in die Hochburg ihrer Erzfeinde. Indessen spinnt der Herzog von Silbersee ein Netz aus Intrigen, um die Drachenreiter ins Verderben zu stürzen. illustrierte Ausgabe

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Prolog

 

 

Wasser tröpfelte unentwegt von der Decke und perlte über die Wände, um sich in Pfützen zu sammeln, von wo es schließlich zwischen kaum sichtbaren Ritzen im Gestein versickerte.

Der Klang der aufprallenden Tropfen hallte von den Felsen wider. Immerwährend. Es war das einzige Geräusch in den endlosen Tunneln. Der Herzschlag der Erde. Wie die Schritte eines nie rastenden Geistes.

Linara blieb stehen und sah über die Schulter zurück. Ihr bot sich der Anblick eines schmalen Ganges durch schroffen Fels. Einige Gesteinsbrocken waren herabgestürzt und lagen verstreut auf dem Boden. Die junge Waldelfe richtete die Augen wieder auf den Weg, der vor ihr lag. Er präsentierte sich ihr ebenso trostlos – tot. Seit Stunden hatte sie nichts anderes gesehen, keine Pflanze, kein Tier.

Sie war allein.

So war es gewesen, als sie diesen Weg eingeschlagen hatte. Und so war es auch jetzt. Nichts hatte sich verändert. Das sagte ihr Verstand.

Trotzdem hatte sie Angst.

Ihre Fantasie gaukelte ihr vor, den Tritt verstohlener Füße zu hören, wo nur das Wasser tropfte. Sie sah Gestalten, die sich als bizarre Felsformationen entpuppten.

Linara biss sich auf die Lippen und ermahnte sich zur Ruhe. Wenn sie der Furcht erlaubte, Besitz von ihr zu ergreifen, wenn sie ihren Gaukelbildern folgte, dann würden ihre Sinne und Instinkte sie im Stich lassen. Dann wäre sie verloren.

Ihrer Angst zum Trotz und um sich selbst zu beweisen, dass sie keine Gejagte ihrer Fantasien war, nahm sie den Rucksack ab und setzte sich hin, wo sie stand, um einige Bissen zu essen. Es war nicht viel, was sie in der Eile eingepackt hatte. Neben einer Decke und dem Wasserschlauch fand sich geräuchertes Fleisch, Brot, einige Äpfel und eine rotbraune Fellkugel.

Eine rotbraune Fellkugel?

»Squizi! Was machst du hier?« Linara stieß den flauschigen Ball mit dem Zeigefinger an, woraufhin das Eichhörnchen verschlafen ein Auge öffnete und sie missbilligend anblinzelte. So jedenfalls schien es der Elfe, obgleich sie bezweifelte, dass das Tier in der absoluten Dunkelheit überhaupt etwas sehen konnte.

Sie seufzte.

Vor Beginn ihrer Reise hatte sie versucht, ihrem vierpfotigen Freund begreiflich zu machen, dass er in den Wald gehen und nicht auf ihre Rückkehr warten sollte. Ein Tier, wie er, gehörte auf die Bäume und nicht unter die Erde.

Linara sah auf und musterte die Felsendecke über ihr – bedrückende abertausend Tonnen Gestein. Der Gedanke drängte sich ihr auf, dass auch sie in den Wald gehörte und nicht hierher. In dem verschlungenen Tunnellabyrinth des Gebirges tief unter der sonnenbeschienenen Oberfläche fühlte sich die junge Waldelfe fremd wie an keinem anderen Ort je zuvor.

Sie hatte diesen Pfad eingeschlagen, nicht wissend, was sie an seinem Ende erwarten würde. Alle hatte sie verlassen: ihren Ziehvater und Mentor Makantheo, Atharis, den sie wie einen Bruder liebte, und ihre Freunde. Letztendlich hatte sie auch das Eichhörnchen Squizi zurücklassen wollen. Niemand sollte sie begleiten auf dieser Reise – einer Reise, die, wie ihr wohl bewusst war, sehr wahrscheinlich eine Reise ohne Wiederkehr sein würde. Kaum jemand war je in das Reich der Siath, der Schattenelfen, gegangen und niemand war wieder zurückgekehrt, niemand, von dem die Barden in den Tavernen der Stadt ein Lied zu singen wussten. Sämtliche Geschichten endeten stets nur mit dem spurlosen Verschwinden all der Unglücklichen, die je diesen dunklen Pfad beschritten hatten. Trotzdem war Linara aufgebrochen, um dem Weg zu folgen, der sie ins Kalkspitzengebirge und von dort tief in die Tunnel und Höhlen unter der Erde führen würde. Hier wollte sie ihren Todfeind suchen, um Antworten zu finden.

Fast anderthalb Dekaden hatte Linara ohne Vergangenheit gelebt, ohne Erinnerung an ihre Kindheit und an ihre Eltern. Heute wusste sie, dass ihre gesamte Sippe einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen war.

Linara war erst acht Jahre alt gewesen, als Schattenelfen ihr Dorf überfallen und alle Bewohner abgeschlachtet hatten. Sie selbst war mit ihrem Vater auf der Jagd gewesen, sonst wäre auch sie gewiss damals gestorben. Und ihr Vater? Die letzte Erinnerung, die sie an ihn hatte, war ein entsetzlicher Schrei.

Meister Makantheo hatte die kleine Elfe bei sich aufgenommen und sie mit einem Vergessenszauber belegt. Trotzdem hegte Linara keinen Groll gegen ihn. Unter seiner Führung war sie zu einer selbstsicheren Kämpferin herangewachsen, willensstark und mutig genug, um sich in das Reich der Schattenelfen zu wagen und hier nach ihrer Vergangenheit zu suchen.

Für Linara war ihre Herkunft eng verknüpft mit ihrer Identität. Sie wollte wissen, wer ihre Eltern waren. Sie wollte herausfinden, ob sie tatsächlich die Letzte ihrer Sippe war. Und sie wollte erfahren, warum ihre Verwandten hatten sterben müssen.

Ein dunkler Pfad zwischen kaltem Gestein war der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte. Der Weg, den die Mörder vor fast anderthalb Dekaden genommen hatten. Der Weg, der ins Schattenreich führte.

Nicht zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise fragte sich Linara, wie ein Elf, welche Farbe auch immer seine Haut hatte, in solch einer Umgebung überleben konnte. Nein. Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Genau genommen konnte sie sich nicht vorstellen, wie überhaupt irgendein Wesen imstande war, zwischen kahlem Fels in nie endender Finsternis zu leben. Konnte sie es den Schattenelfen wirklich verübeln, angesichts dieser feindlichen Umgebung zu dem geworden zu sein, was sie heute waren? Die ewige Nacht hatte dunkle Gedanken in Herzen hervorgebracht, die vergessen hatten, wie die Sterne funkelten. Vielleicht war es die einzige Konsequenz gewesen, die einzige Alternative, um nicht verrückt zu werden! Denn es schien Linara, als müsse sie selbst den Verstand verlieren, wenn sie nur für Wochen hier verweilte. Oder würde auch sie zu einer Schattenelfe werden? Der Gedanke erschreckte sie. Und im gleichen Moment hatte sie zum ersten Mal Mitleid mit den Siath, die sie doch eigentlich so sehr hasste, wegen des Mordes an ihren Eltern und all der anderen grausamen Taten, die sie in den vergangenen Jahrhunderten verübt hatten.

Einst waren die Siath Elfen des Lichts gewesen, wie auch Linara selbst. Doch sie hatten sich gegen das Königshaus gestellt. Im Krieg waren sie vertrieben worden und hatten sich unter die Erde geflüchtet. Über Jahrhunderte glaubte man, sie wären für immer verschwunden. Dann tauchten sie wieder auf. Doch sie hatten sich verändert. Und aus den Schatten führten sie ihren Krieg fort.

Bislang war Linara überzeugt davon gewesen, die Siath seien vom tiefsten Grund ihres Herzens böse, nicht besser als Dämonen und auf jeden Fall viel gefährlicher als Orks. Nun aber zweifelte sie, was sie vorfinden würde, wenn sie die Heimat der Schattenelfen tatsächlich erreichte. Wäre es der Schlund der Hölle, wie manch einer behauptete, oder doch eine ganz gewöhnliche Elfenstadt, wie es sie auf der Oberfläche gab?

Linara ging nicht so weit zu hoffen, alle Probleme und Fragen ließen sich in einem friedlichen Gespräch mit ihren Rassenfeinden aufklären. Was genau sie aber tun wollte, um mehr über das Schicksal ihrer Familie zu erfahren, das wusste Linara nicht. Sie hoffte nur, man würde sie nicht sofort töten und ihr zumindest Gelegenheit geben, zu Wort zu kommen.

 

 

1 – Immer diese unliebsamen Helden

 

Die geflügelte Riesenschlange erhob sich flatternd in die Luft, um den messerscharfen Krallen zu entrinnen. Noch in der Aufwärtsbewegung schob sie ihren Körper um den Nacken des Tigers und zog die Schlinge fest und fester. Die Raubkatze fauchte und hieb mit den Pranken um sich, sprang und warf sich herum. Vergebens. Ihr Gegner ließ nicht von ihr ab. Schon verloren ihre Bewegungen sichtlich an Kraft.

Das Fell des Tigers färbte sich schwarz. Seine Schnauze wurde länger, glich immer mehr der eines Bluthundes. Aus seinen Schultern wuchsen zwei Höcker, die sich rasch zu ebensolchen Hundeköpfen ausbildeten, wie der eine, welcher hilflos im Würgegriff seines Gegners nach Luft japste. Flammen züngelten über den Rücken des gerade eben noch katzenhaften Geschöpfs.

Im nächsten Moment schnappten die neu entstandenen Kiefer nach der Schlange, welche sich unnachgiebig um den Hals des mittleren der Köpfe wand. Von dem Verlangen getrieben, das weiche Fleisch herabzureißen und zu verschlingen, knurrte der Höllenhund aus zwei Kehlen, während die dritte nur ein schwaches Keuchen zustande brachte.

 

 

Gierig biss er zu. Seine Fangzähne knackten.

Enttäuschtes Winseln wurde dreistimmig laut, als seine Kiefer gegen den erbarmungslos harten Panzer des Skorpions prallten, der jetzt dort saß, wo sich noch einen Wimpernschlag zuvor die Schlange befunden hatte.

Bevor die neue Manifestation ihren Giftstachel in den feurigen Rücken des Höllenhundes treiben konnte, packte eine der Schnauzen erneut zu und schleuderte sie auf den Marmorboden. Die beiden anderen Köpfe verschwanden wieder, Beine wurden länger und Pfoten zu den harten Hufen eines Nachtmahrs, die sogleich in schnellem Rhythmus auf den polierten Stein zu hämmern begannen, um die Panzerung des Schalentiers zu zertrümmern.

Doch schon im nächsten Augenblick bekam das gehörnte Dämonenpferd im wahrsten Sinne des Wortes kalte Füße. Denn wo eben noch der Skorpion hilflos auf dem Rücken liegend mit den Beinen gezappelt hatte, war nun nichts als weißer Nebel. Eiskristalle bildeten sich auf dem Fell des Nachtmahrs, was darauf schließen ließ, dass es sich um einen niederen Elementargeist der Kälte handelte.

Das Dämonenpferd sprang steifbeinig mit allen Vieren in die Luft, während sich zeitgleich lederne Schwingen an seinen Seiten entfalteten. Das Fell wich einem leuchtend roten Schuppenkleid. Den langen Hals biegend, starrte der soeben entstandene Drache auf seinen wenig körperlichen Widersacher hinab.

Der Nebel erzitterte, waberte hier hin und da hin, konnte jedoch nicht schnell genug zu einer neuen, festen Form finden.

Ein Schwall aus Feuer fuhr in den Elementargeist. Magie explodierte, als die gegensätzlichen Elemente aufeinander krachten. Blitzende Schauer liefen über die schimmernde Schutzkuppel und ließen ihre Oberfläche bedenklich vibrieren.

Herzog Karatek von Hufwald zuckte zusammen und zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern.

Die magische Barriere würde standhalten, sie würde gar dem Ansturm eines Dämons aus den Höllendimensionen widerstehen, so versicherten die Veranstalter im Zauberpalais ihrem Publikum immer aufs Neue. Tatsächlich hatte das Haus in den letzten Dekaden beachtlich wenige Unfälle zu verzeichnen gehabt.

»Nichts ist wirklich sicher, wenn Magie im Spiel ist«, murmelte der Herzog, um vor sich selbst seine Schreckhaftigkeit zu rechtfertigen, und fiel dann in den rauschenden Applaus des Publikums mit ein.

Es war ein wahrhaft erstklassiges Duell, das heute im Zauberpalais dargeboten wurde. Zwei hochkarätige Magier, Lerimus aus der alten Schule des Xylvar und Silystaro vom Vergessenen Turm, der wohl heute wieder in vieler Gedächtnis gerufen wurde, boten sich nun schon in der dritten Runde eine bislang unentschiedene Schlacht der magisch erschaffenen Kreaturen – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt, da nun Lerimus’ Drache das Elementar seines Rivalen augenscheinlich vernichtet oder zumindest erheblich geschwächt hatte.

Die Magier saßen zu beiden Seiten der schillernden Schutzkuppel einander gegenüber auf gepolsterten Stühlen, welche unter ihren ausladenden Roben kaum noch sichtbar waren. Silystaro schwitzte, als er mit fahrigen Bewegungen versuchte, einen Zauber zu wirken, um eine neue Kreatur aus den verbliebenen Dampfwölkchen seines Elementargeistes zu materialisieren. Er wurde lautstark angefeuert von einigen Adeligen, die offenbar eine nicht zu verachtende Goldsumme auf einen Ausgang des Zauberduells zu seinen Gunsten gesetzt hatten, was Silystaros Konzentration leider wenig förderlich war. Indes lehnte sich Lerimus entspannt zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während sein Drache spielerisch in die Dampfwölkchen blies und sie durcheinanderwirbelte, was die Schweißperlen auf Silystaros’ Stirn noch mehrte.

»Eine wahrlich dramatische Zurschaustellung höchster Zauberkunst!«

Karatek wandte den Blick von der längst wieder zur Ruhe gekommenen Schutzkuppel und richtete ihn auf den Mann zu seiner Linken. Erst jetzt merkte er, dass sein erster Sekretär, der bislang auf diesem Sitz dem Duell beigewohnt hatte, aufgestanden war, um einem recht beleibten Aristokraten mittleren Alters Platz zu machen. Dieser saß nun an seiner Seite, die grauen Augen auf ihn gerichtet, wie es jemand tat, der eine ganz bestimmte Reaktion erwartete.

Der Herzog durchstöberte seine Erinnerungen. Er sollte diesen Mann wohl kennen, mit seinem spärlichen, weißblonden Haar und dem üppig mit Halbedelsteinen besetzten Gilet, das er über einem sandgelben Rüschenhemd trug – keine vortreffliche Wahl, da die Farben mit seinem hellen Teint zu einem fahlen Brei zu verschmelzen schienen, auf dem die dunklen Steine wie Rosinen schwammen.

»Ich grüße Euch, mein lieber Egomon!«, rief Karatek nach einer merklich zu langen Pause aus und hielt seinem neuen Sitznachbarn die Rechte entgegen, welche dieser in beide Hände nahm, um sie überschwänglich zu schütteln und zu drücken, wobei die vielen Goldringe an seinen Fingern gegeneinander schlugen und knirschten.

»Es ist eine ganze Weile her.« Der Herzog entwand seine Hand dem festen Griff und brachte sie so unauffällig wie möglich an die Seite, um sie schmerzerfüllt zu bewegen.

Egomon nickte bestätigend. »Beim Bankett am Hofe Ler Lemoras. Ich fand seither noch nicht einmal Gelegenheit, Euch zu fragen, ob denn das Geschmeide, das ich Euch damals überbringen ließ – eine vortreffliche Wahl übrigens, wie ich erneut betonen möchte – bei Eurer Angebeteten Zustimmung fand.«

»Oh, es tat seine Wirkung hervorragend.« Karatek grinste breit, als er sich der Gefügigkeit der hübschen Blonden erinnerte, nachdem er das Smaragdcollier um ihren Hals gelegt hatte. Oder war es das Saphirarmband gewesen? Nein, das hatte er wohl der Brünetten überreicht und er hatte es von einem Händler aus Intirana erstanden. Oder? Letztendlich war das aber belanglos.

Auch das Lächeln auf Egomons Gesicht wurde breiter, da er seinen Kunden ganz offenkundig zufriedengestellt hatte. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit, einen Folgeauftrag zu gewinnen. Seine Miene verdüsterte sich schlagartig, als ihm wieder einfiel, aus welchem Grund er eigentlich das Gespräch mit dem Herzog gesucht hatte.

»Nun, wenn sich die Dinge weiter in diese Richtung entwickeln, mag es gut sein, dass diese Kostbarkeit eine der letzten Meisterleistungen meiner Goldschmiede bleiben könnte«, murmelte er wie beiläufig und richtete seinen Blick auf die Arena, wo Silystaros es mittlerweile zuwege gebracht hatte, einen kleinen Falter zu erschaffen, der jetzt durch die Energiekuppel flatterte, wobei er die letzten verstreuten Dampfschwaden ansteuerte. Der Dunst legte sich auf seine Flügel, was ihn stetig an Größe gewinnen ließ.

Karatek musterte Egomon von der Seite und stellte dann die Frage, welche dieser ganz offenkundig zu provozieren suchte. »Von welchen Entwicklungen sprecht Ihr?«

Der Juwelenhändler wandte sich ihm sofort wieder zu, was Karatek zu der Annahme brachte, seine Aufmerksamkeit überhaupt nicht erst verloren zu haben.

»Nun«, begann Egomon gedehnt. »Es ist wohl ein offenes Geheimnis, dass nur wenige Edelsteinminen im Besitz von guten Bürgern Silbersees sind. Ich muss einen Großteil der Rohmaterialien zukaufen, und zwar von nichtmenschlichen Lieferanten. Die Elfen bieten zweifelsohne erstklassige Ware, jedoch zu astronomischen Preisen, wodurch ich meine zuvorkommende Preisgestaltung nie halten könnte.«

Karatek wippte mit dem Kopf, da er bereits ahnte, worauf die Erörterung abzielte. Die meisten Edelsteine, die an den blassen Hälsen edler Damen funkelten, waren einmal durch die schmutzigen Klauen von Goblins und Orks gegangen, bevor Männer wie Egomon sie von diesen erwarben, wobei fraglich blieb, ob bei dergleichen Geschäften tatsächlich Goldmünzen als Zahlungsmittel galten.

»Seit geraumer Zeit nun schon«, fuhr Egomon fort, »leiden die nicht zivilisierten Rassen im Einzugsbereich meiner Handelsbeziehungen unter der Bedrohung der Klingen selbst ernannter Helden, die unter der Leitung Eures Mündels zu stehen scheinen. Das soll heißen, gute Geschäftspartner von mir verlieren ihr Leben aufgrund eines naiven Weltbildes von Gut und Böse, das Eure Nichte, wie allgemein bekannt ist, zügellos vertritt. Und ich verliere wertvolle Lieferanten.«

Karatek öffnete den Mund, wohl um Worte der Beschwichtigung vorzubringen, doch Egomon ließ ihm dazu erst gar nicht die Gelegenheit.

»Korrigiert mich, sollte ich irren, wenn ich davon ausgehe, dass immer noch Ihr es seid, geschätzter Herzog Karatek von Hufwald, der das Zepter dieser Stadt nicht nur hält, sondern auch zu schwingen imstande ist, und keineswegs dieses junge Dirndl. Ich gehe daher des Weiteren davon aus, dass Ihr dieses Problem kompetent und ohne unnötiges Aufsehen zu lösen wisst, da Ihr gewiss die Unterstützung meiner durchaus machtvollen Verbindungen in Silbersee nicht missen wollt. Man stelle sich nur vor, wenn Stimmen laut würden, die Eure Kompetenz anzweifeln oder gar ein neues Regierungsoberhaupt fordern, das nicht Eurem traditionsreichen Blut angehört.« Die grauen Augen bohrten sich eindringlich in Karatek, der hastig nickte.

»Natürlich! Betrachtet das Problem als so gut wie nicht mehr existent!«

»Gut.« Egomon erhob sich und gab den Platz für den ersten Sekretär frei.

Karatek wandte sich mit einem Seufzen wieder dem Geschehen in der magischen Schutzkuppel zu, wo der Drache soeben seine gespaltene Zunge vorschnellen ließ, welche zielsicher den Falter fand, der im nächsten Augenblick zwischen den Zähnen des Reptils verschwand.

 

2 – Das Gesetz der Unterwelt

 

 

Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die weichen Sohlen ihrer Stiefel verursachten kaum ein Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster. Wie beiläufig lag ihre Hand an ihrer Hüfte, unterstrich verführerisch die geschmeidigen Bewegungen ihres Beckens und war doch nur zu dem einen Zweck so positioniert, um mit der Schnelligkeit eines Lidschlags den Dolch ziehen zu können. Ihre Augen huschten umher, registrierten jeden Schatten, jede verdächtige Bewegung.

Hier war sie keine Drachenreiterin. Sie konnte sich nicht auf den Beistand der Truppe verlassen. Es gab niemanden, der ihr den Rücken deckte. Hier war sie die Katze. Und das Einzige, was sie schützte, waren ihre eigene Wachsamkeit und ihre Kampffertigkeiten. So war es immer, sobald sie die Stadt betrat. Und so war es auch an diesem Abend.

Aster strich sich die rotbraunen Locken aus dem Gesicht und nutzte die Bewegung, um einen längeren Blick in eine schmale Gasse zu werfen, ohne durch ihre erhöhte Wachsamkeit Argwohn bei den Passanten zu schüren.

Unwillkürlich musste sie lächeln, als ihr dieses Verhalten bewusst wurde.

Kaum, dass sie die Drachenfarm verließ und Silbersee betrat, änderte sie nicht nur ihr Gehabe, sondern auch ihre Art zu denken. Es war, als würde das Stadttor ein Portal zu ihrem früheren Leben darstellen, zu dem Leben als Gesetzlose.

Aster wusste selbst nicht genau, warum sie weiterhin jeden Abend dieses Tor durchschritt. Atharis hatte ihr längst angeboten, sie könne ein eigenes Zimmer auf der Drachenfarm beziehen. Doch sie hatte ihn ein ums andere Mal vertröstet. Es war gewiss nicht so, dass sie ihre schäbige, kleine Dachgeschosswohnung in der Nähe des Hafens vermissen würde. Viel mehr bedeutete dieser Umzug für sie einen endgültigen Bruch mit ihrer Vergangenheit, zu dem sie noch nicht bereit war. Dabei hatte sie sich schon lange geschworen, einen Schlussstrich zu ziehen. Immerhin verband sie mit den zwei Jahren, die sie als Drachenreiterin verbracht hatte, wohl mehr schöne Erinnerungen, als mit ihrem gesamten Leben davor. Trotzdem. Es war eben dieses Leben, das sie ausmachte – das sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war. Auch wenn Atharis ihr die Möglichkeit bot, sie selbst zu sein – Aster zu sein –, wäre ihre Persönlichkeit doch unvollständig ohne jenen Teil, der die Katze war. Und es war die Katze, die es immer wieder zurückzog in die dunklen Gassen der Stadt, wo weder die Herrin Kartiana noch der Herzog regierten. Soldaten der Stadtwache sah man hier keine. Die Unterwelt Silbersees hatte ihre eigenen Gesetze und sie hatte gnadenlose Vollstrecker.

Ein Vergehen – vielleicht das fatalste von allen – war die Unachtsamkeit.

Es waren gewiss nur wenige Augenblicke gewesen, in denen Aster ihren Gedanken erlaubt hatte, fortzugleiten. Deshalb hatte sie die dunkle Gestalt in ihrem Rücken nicht bemerkt, bis diese sie hart von hinten packte. Ihre Hand wollte zum Dolch, wurde jedoch im selben Moment von einem erbarmungslosen Griff zurückgehalten. Der Angreifer musste diese Reaktion von ihr vorhergesehen haben, schoss es Aster durch den Kopf, während sie unsanft durch eine Tür und Treppen hinab gestoßen wurde.

Es war dunkel. Muffiger Geruch nach feuchtem Lehm und Schimmel ließ Aster zu dem wenig hilfreichen Schluss kommen, sich in einem kaum genutzten Keller zu befinden. Nur durch eine halb geöffnete Fensterluke sickerte Licht und malte einen rechteckigen Fleck auf den Boden vor ihren Füßen.

In dieses beleuchtete Feld trat jetzt eine dunkel gekleidete Gestalt.

Der Umstand, dass sie nicht länger festgehalten wurde, brachte Aster zu der Annahme, dass es sich um ihren Angreifer handelte. Jetzt war sie sich auch sicher, dass er ihre Abwehrreaktion vorhergesehen hatte. Sie kannte ihn. Und er kannte ihre Kampftaktiken wohl wie kein Zweiter.

»Hallo Rikastor!« In ihrer Stimme lag so viel Herzlichkeit wie im Schlag einer Dämonenpeitsche.

»Ist das die Art, wie du mich heute begrüßt?«, fragte Rikastor und verzog die Lippen zu einem Schmollen. »Wir sind …«

»Sei froh, dass ich dich mit Worten begrüße!«, unterbrach Aster ihn barsch.

Er nahm die Drohung mit einem Nicken hin und sein Blick wurde ernst. »Du hältst mich für deinen Feind, obwohl ich nicht erkennen kann, wodurch ich das verdiene.«

»Soll ich dir eine Liste geben?«, fauchte sie ihn an.

»Hat Atharis sie für dich geschrieben?«, schoss Rikastor zurück.

Die Erwiderung war für Aster wie ein Schlag ins Gesicht. So viele Jahre hatte sie sich wie eine Marionette unter Rikastor, dem Anführer einer der größten Banden der Diebe und Assassinen in der Stadt, gefühlt. Jetzt unterstellte er ihr, ebensolch eine Spielfigur unter Atharis’ Willen zu sein.

»Auch jetzt bin ich nur hier, um dich zu warnen«, fuhr Rikastor fort, da er keine Antwort auf die letzte Frage benötigte. Für ihn war Aster ein nur zu leicht zu lesendes Buch. Es missfiel ihm, dass sie unter dem Einfluss dieses Soldaten stand, der das Weltbild eines Paladins zu vertreten pflegte. Doch es war kein Umstand, den er nicht auch für seine Zwecke zu nutzen verstand.

Aster kniff die Augen zusammen und er wusste, dass die letzte Bemerkung ihr Interesse geweckt hatte, auch wenn sie etwas anderes sagen würde.

»Die Drachenreiter sind dem Untergang geweiht«, erklärte er ohne Umschweife. »Es sind Kräfte am Werk, die selbst dein schillernder Beschützer nicht aufhalten kann. Um deinetwillen rate ich dir, das sinkende Schiff zu verlassen, bevor es zu spät ist.«

Aster stieß verächtlich die Luft aus. »Dann ist dies hier also nichts weiter als einer deiner plumpen Versuche, mich zurückzuholen? Du willst, dass ich angekrochen komme und darum bettle, dass du mich nach Hause holst. Doch das wird nicht passieren!«

»Ohne mich wärst du längst verloren gewesen! Hast du vergessen, was ich alles für dich getan habe?«

»Nein.« Sie sah ihm fest in die dunklen Augen. »Das habe ich nicht. Und es ist der einzige Grund, warum du ein freier Mann und noch am Leben bist.«

Rikastors Miene wurde hart. Er trat zurück und in die Dunkelheit.

»Dein Hochmut wird dich das deine kosten!«, hörte Aster seine Stimme.

Hinter ihr schwang knarrend eine Tür auf und das fahle Licht der Abenddämmerung zeichnete die Umrisse einer schmalen Holztreppe nach.

Aster warf noch einen Blick in die Dunkelheit. Doch sie konnte Rikastor nirgends mehr ausmachen.

Mit gemischten Gefühlen wandte sie sich ab und ging die Stufen hinauf zurück auf die Straße.

 

 

Tage waren vergangen oder Wochen, Linara wusste es nicht. Und sie versuchte mittlerweile, nicht mehr darüber nachzudenken. Anfangs hatte sie die Nächte gezählt – wie oft sie geschlafen hatte. Doch in der ewigen Dunkelheit hatte sie ihre innere Uhr vollends im Stich gelassen.

Sie war Tunnel entlang gelaufen, hatte Höhlen durchquert und war Steilwände hinab geklettert, bemüht, einen Pfad zu finden, der sie stetig fort von Silbersee und in den Schoß des Gebirges führte. Manche Wege endeten abrupt an massivem Fels oder sie waren eingestürzt, sodass Linara zum Umkehren gezwungen wurde. Andere wiederum verzweigten sich zu einem Labyrinth ungezählter Gänge – einige hoch und geräumig, andere so eng und niedrig, dass ein Halbling sich den Kopf gestoßen hätte.

Spuren der Schattenelfen hatte Linara bislang keine gefunden. Lediglich ein paar kleine, sonderbar anmutende Tiere hatten ihren Weg gekreuzt und sich bei ihrem Nahen hurtig in Löcher und Spalten zurückgezogen.

Die Waldelfe folgte einem weiteren der zahllosen Tunnel. An seinem Ende glomm ein schwaches Licht. Es wirkte kalt. Dies war nicht der Schein des Lagerfeuers eines Reisenden. Trotzdem weckte es Hoffnung.

Linara duckte sich an die Wand und schlich vorsichtig näher.

Aquamarinblaue Flechtengewächse überzogen die Wände einer Kaverne. Dünne Auswüchse der Pflanzen hingen in durchscheinenden Vorhängen von der Decke oder spannten sich wie die Fäden eines Spinnennetzes zwischen Felsvorsprüngen.

Linara blieb mit vor Staunen offenem Mund stehen. Fernab jedes Sonnenlichts hatte sie nicht erwartet, Pflanzen zu sehen. Blasser Schimmer glomm über die filigran verzweigten Stränge – eine schwache Fluoreszenz, welche die gesamte Höhle in fahles Blau tauchte.

Die Elfe blinzelte. Es schien so lange her, seit sie ihren Augen erlauben konnte, in den Farben des Lichts zu sehen.

Vorsichtig ging sie einige Schritte voran, zwischen dieses Gespinst, das ihr aus Mondlicht gewoben zu sein schien, obgleich diese Pflanzen wohl seit Beginn ihres ersten Keims niemals den Nachthimmel gesehen hatten. Der Gedanke säte Wehmut in Linaras Herzen. Sie sehnte sich nach den Sternen, nach einem Blick, der weiter reichte, als bis zur Höhlenwand.

Ein aquamarinfarbener Faden streifte ihre Wange – brennend und zugleich eisig kalt. Linara zuckte zur Seite, was zur Folge hatte, dass sich weitere Pflanzenauswüchse um ihre Schultern legten. Ein klebriger Film überzog das gesamte Gespinst und sorgte dafür, dass die Fäden an der Elfe haften blieben. Zwar konnte die gleich Nesseln brennende Flüssigkeit das feste Leder ihrer Kleidung nicht durchdringen, trotzdem stieß Linara einen leisen Schrei aus und ließ sich auf die Knie fallen. Der Boden war der einzige Bereich, welchen die Flechten noch nicht vollständig für sich erobert hatten. Selbst die Luft schien ihnen zu gehören.

Geduckt auf den Absätzen hockend, erkannte Linara jetzt, was dieses gigantische, glimmernde Netz in Wahrheit war. Sie saß in einer riesigen Falle, über die Zeit hinweg gewachsen für den seltenen Umstand, dass sich ein Lebewesen hierher verirrte. Das Netz würde sein Opfer mit klebrigen Fäden umschließen und vielleicht würden die Pflanzen sein Blut trinken, wie seine Artgenossen an der Oberfläche das Wasser. Linara wollte es nicht erproben. Doch der Schmerz an ihrer Wange ließ sie erahnen, welche Qualen ein Wesen erleiden mochte, das nicht durch eine Rüstung geschützt war.

Mit gesenktem Kopf robbte sie auf Ellbogen und Knien weiter durch die Höhle. Auf der gegenüberliegenden Seite war schwach eine Öffnung in der Wand zu erahnen. Wenn die Elfe Glück hatte, handelte es sich um einen Ausgang, der zu weiteren Tunnelsystemen führte. Vielleicht war es auch nur erneut eine Sackgasse.

In dieser hilflosen Position wurde Linara schmerzhaft klar, dass sie ihre Umwelt nicht kannte. Sie war hier nicht nur eine Fremde, nein, sie wusste überhaupt nichts über die Fauna und Flora der Welt unter ihrer Welt, welche Gefahren hier lauerten, was essbar war und von was man sich besser fernhielt. Auf der Oberfläche gab es kaum brauchbare Berichte über das Reich, das die Siath beherrschten. Aber Linara musste sich eingestehen, dass sie auch diese nicht kannte. Sie war aufgebrochen, ohne in der Bibliothek von Silbersee oder auch nur in den Aufzeichnungen ihres Bruders recherchiert zu haben, worauf sie sich eigentlich einließ. Nun drängte sich ihr der Verdacht auf, dass ihre Eile ihr tödlichster Fehler gewesen sein könnte.

Weitere Fäden berührten ihren Rücken und blieben augenblicklich daran haften. Linara erschauderte und kroch eng an den Boden gepresst weiter, wobei sie deutlich spüren konnte, wie ein Pflanzenstrang nach dem anderen widerstrebend riss.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass ihre Rüstung gesprenkelt war von leuchtenden Flechtenstücken, die an ihr klebten wie blaue Würmer. Ekel stieg in ihr hoch, doch sie widerstand dem Bedürfnis, sich auf dem Rücken zu wälzen, wobei sie den nesselartigen Pflanzensaft gewiss nur noch mehr verteilt hätte.

Ein glitzernd blauer Vorhang verdeckte den Ausgang der Kaverne fast vollständig. Die Lücken in dem Geflecht waren kaum groß genug, dass Squizi hindurch zu schlüpfen vermocht hätte.

Wie bei all den Dämonen sollte sie dieses Hindernis überwinden, ohne es zu berühren?

Als wäre es die Antwort auf ihre Frage, fühlte die Elfe einen Stein unter den Fingern und packte ihn kurz entschlossen.

Behindert durch das sie umgebende Netz, konnte sie nicht mit dem Arm ausholen und ihr Wurf hatte wenig Kraft. Der Stein flog in flachem Bogen auf den Vorhang zu. Linaras Lippen formten tonlos einen Fluch, da sie erwartete, ihr Geschoss würde an den klebrigen Strängen hängen bleiben.

Der Stein flog durch ein Loch im Geflecht, ohne die Pflanzen auch nur erzitterten zu lassen.

Der stille Fluch wurde zu lautstarkem Schimpfen. Sich nicht länger Gedanken über die Konsequenzen machend, rollte Linara auf den Rücken und zog ihre Schwerter in einer engen Bewegung über ihren Körper, die in einer Scherenposition über ihrem Kopf endete. Doch bevor sie diese übergroße Heckenschere einsetzen konnte, wodurch die Flechten gewiss erheblich gestutzt worden wären und ihr beißender Saft wie ein Sprühregen auf alles niedergegangen wäre, blitzte eine Erinnerung in den Gedanken der Elfe auf. Über die gekreuzten Klingen hinweg sah sie einen Baum wie eine Fackel brennen und hörte den scherzhaften Tadel ihres Ziehvaters. He, pass mir bloß auf, mein Mädchen! Es hat schon länger nicht geregnet. Ich kann hier oben keinen Waldbrand gebrauchen!

Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf Linaras Lippen aus. »Nun?«, fragte sie spöttisch an die Pflanzen gerichtet. »Habt ihr hier unten schon mal ein Gewitter erlebt?«

Sie legte die Klingen aufeinander und konzentrierte sich auf den Fluss der ihnen innewohnenden Energien. Neben dem blauen Feuer der magischen Blitze wirkten die Flechten mit einem Schlag entzaubert, farblos und stumpf – wie nasse, zerrissene Wolle.

Linara schrie triumphierend auf, als sie die knisternde Entladung der Energie in ihren Waffen spürte. Funken sprühend schoss ein Kugelblitz von den Klingen und auf die Barriere vor dem dunkel dahinter gähnenden Tunnel zu.

Linara kniff die Augen zusammen. Instinktiv erwartete sie eine Explosion, dann Feuer, wenn die Flechten lodernd vergingen.

Nichts dergleichen geschah. Die Magie ihrer Waffen sauste knisternd aus der Kaverne und tauchte den Gang dahinter für einen Augenblick in gleißendes Licht. Dann verging die Energie in flammenden Entladungen, die über die Felsen zuckten.

Linara blinzelte in die Dunkelheit. Der Pflanzenvorhang war verschwunden. Nur einige wenige Stummel, die noch an der Decke hafteten, umspielt von kleinen, zuckenden Blitzen, erinnerten an sein Schicksal.

Erleichtert atmete Linara auf, rappelte sich hoch und beeilte sich, die Höhle zu verlassen.

Die letzten Meter lief sie und erreichte einen schmalen Gang, der einmal mehr lediglich kahlen Fels aufwies. So sehr sie sich gewünscht hatte, auf Leben zu treffen, so erleichtert war sie jetzt, wieder totes Gestein um sich zu haben.

 

 

Aster beschleunigte ihren Schritt. Sie wollte das dunkle Gassenwerk möglichst schnell hinter sich bringen. Für gewöhnlich war es genau dieser Teil der Stadt, in welchem sie sich am besten zurechtfand. Hier kannte sie jeden Winkel und jedes Schlupfloch. Doch es war auch Rikastors Revier. Und sie wollte nichts weniger, als an diesem Abend einem weiteren bekannten Gesicht aus ihrer Vergangenheit zu begegnen.

Sie eilte um eine Biegung und gelangte in einen Hinterhof. Stapel leerer Kisten türmten sich hier. In einer Ecke stand ein alter Karren, dem ein Rad fehlte. Die Läden von den Fenstern der Häuser zu beiden Seiten waren verschlossen. Manche waren vernagelt. Dazwischen spannten sich Wäscheleinen wie das Netz einer Spinne. Sie dienten kaum noch ihrem ursprünglichen Zweck. Hier und da hing der Rest eines vergessenen Kleidungsstücks – von der Witterung arg in Mitleidenschaft gezogen.

Ein struppiger Hund zeigte knurrend die Zähne, als er den Eindringling bemerkte.

»Pst. Sei brav, Rattl!«, zischte Aster.

Natürlich war das nicht sein richtiger Name. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Namen. Er war ein Streuner. Nachdem Aster ihn wiederholt hier angetroffen hatte, war sie irgendwann der Versuchung erlegen, ihn Rattl zu nennen, zumal sie ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen tatsächlich für eine sehr große Ratte gehalten hatte.

Jetzt wischte Rattl müde mit dem Schwanz über den staubigen Boden. Für Aster genügte das als Zeichen, dass er sie erkannt hatte und nicht beabsichtigte, durch lautes Kläffen Aufsehen zu erregen.

Bedachtsam schob sie sich an dem Gerümpel vorbei zu einer Holzwand, welche den Hof zu einer Seite hin begrenzte. Hier war eine Latte locker. Aster zog sie vorsichtig zurück und spähte durch den Spalt. Es war niemand in unmittelbarer Nähe und so schlüpfte sie schnell auf die andere Seite und schloss die Luke sorgsam wieder hinter sich. Immerhin wollte sie nicht, dass jemand anderes ihren Geheimweg entdeckte und womöglich den Schaden an der Wand behob.

Hastig klopfte sie sich den Staub von der Kleidung und strich ihre Haare zurecht. Sie befand sich jetzt auf einer der beiden Hauptstraßen, die parallel zueinander vom Hafen zum großen Platz des Zentralmarktes führten. Leute aller Gesellschaftsschichten eilten hier entlang. Man sah Elfen, die ihre Pferde am Riemen führten. Zwerge zogen Karren voller Metallwaren hinter sich her. Ein Halbling verkaufte Backwaren aus seinem Bauchladen. Er wurde umringt von einer Schar neugieriger Kinder, die ihre Hände immer wieder gierig nach den Süßigkeiten ausstreckten, was ihn zu manch einer unwirschen Abwehrbewegung zwang. Als er einmal mehr mit den Armen wedelte und sich zur Seite drehte, um seine Ware außer Reichweite zu bringen, kollerte prompt ein Karamelltörtchen über den Rand des Ladens und klatschte auf den Boden. Die Kinder jauchzten und fielen wie hungrige Kojoten über die Beute her.

»Und wer bezahlt mir das jetzt, ihr Lausebengel! Ihr treibt mich in den Ruin! Dann gibt es keine Kuchen mehr für euch! Du da! Bezahl das gefälligst oder ich sage deinen Eltern, dass du ein kleiner Dieb bist!«, wetterte der Halbling, während die Kinder nur lachten.

»Platz da! Aus dem Weg!«

Die kleine Meute stob auseinander. Der Süßwarenhändler stolperte rückwärts und konnte nur im letzten Moment eine Zuckerbrezen vor dem Absturz bewahren.

Unmittelbar vor seinen Füßen holperte eine Kutsche über das Pflaster. Sie wurde flankiert von vier Männern in silberglänzenden Rüstungen, was nicht zuletzt Aufschluss über den hohen gesellschaftlichen Status des Reisenden gab. Die Vorhänge des Wagens waren zugezogen, weshalb man nicht sehen konnte, wer darin saß.

Aster hatte sich nach dem Lärm umgedreht und musterte das Wappen auf der lackierten Tür des Gefährts. Es zeigte Sichel und Schwert vor einer goldenen Ähre, was sie zu der Annahme brachte, dass es sich um einen Großgrundbesitzer von außerhalb der Stadt handelte. Wahrscheinlich unterhielt er einen Wehrbauernhof, derer es auf der östlichen Ebene mehrere gab. Angesichts des weiten Weges entlang des Kalkspitzengebirges, wo sich nicht nur wilde Tiere, sondern auch Orks, Goblins und sogar Trolle herumtrieben, schien Aster die bewaffnete Eskorte durchaus gerechtfertigt.

Einer der Soldaten hatte ihren musternden Blick bemerkt und funkelte sie warnend an. Sie schenkte ihm ein neckisches Lächeln und strich mit den Fingern liebkosend über den Griff ihres Krummschwertes. Der Mann kniff die Augen noch etwas mehr zusammen, wohl um drohend dreinzusehen. Doch auf seinen Wangen zeigte sich ein verräterisch roter Schimmer.

Aster lächelte in sich hinein. Selbst zu Zeiten, als sie noch für Rikastor gearbeitet hatte, wäre sie nie so vermessen gewesen, ein Gefährt wie dieses anzugreifen. Niemand würde es wagen, diese Kutsche zu überfallen, solange sie sich auf der beleuchteten und hoch frequentierten Straße befand. Selbstverständlich trieben sich gerade hier zahlreiche Diebe herum, die nur darauf warteten, dass ein Geldbeutel für einen Moment ungeschützt war und aus der Tasche des Besitzers in ihre geschickten Finger wechselte. Doch selbst der dreisteste Räuber würde es nicht wagen, einen offenen Kampf zu riskieren. Das Hauptquartier der Stadtwache in der Alten Festung, welche gleichzeitig den Kerker enthielt, war kaum fünfhundert Meter entfernt. Jeder Tumult würde augenblicklich eine Schar bewaffneter Gesetzeshüter herbeirufen.

Aster wusste das nur zu gut. Deshalb rückte sie ihre Waffen zurecht, die gut sichtbar für jeden an ihrer Hüfte hingen, und schritt selbstsicher die Straße entlang Richtung Norden, dem Hafen zu.

 

 

Sie passierte das Stadttor, ohne von den Wachen angehalten zu werden. Zu ihrer Linken öffnete sich nun ein großer Platz, der sich auf der gesamten Länge der Alten Festung erstreckte und fast ebenso breit war. Zu der Zeit, als die Regenten Silbersees noch hier residiert hatten, war er als Paradeplatz des Militärs angelegt worden. Heute hatten die zahlreichen Wagen, welche Güter von den Schiffen des nahen Hafens in die Stadt karrten, die freie Fläche für sich eingenommen. Handelswaren verschiedenster Art wechselten den Besitzer. Es wurde abgeladen, umgeladen, gefeilscht und betrogen. Viele Frächter und Händler warteten längst nicht mehr, bis die Waren den zentralen Marktplatz erreicht hatten, sondern wickelten gleich hier ihre Geschäfte ab, noch bevor die Güter an den strengen Augen und geldgierigen Händen der Zollbediensteten vorbei kamen, die an den Stadttoren zu beiden Seiten der Alten Festung warteten.

Aster hielt sich abseits des Tumultes und erreichte bald darauf den Fischmarkt, der nordöstlich an den Platz anschloss und sich bis zu den Docks hin erstreckte. Um diese Uhrzeit waren die meisten der hölzernen Stände verwaist. Marder und Ratten durchstreiften das Gelände auf der Suche nach Abfällen. Und derer gab es reichlich. Nicht wenige Fischer ließen verdorbene Ware über Nacht hier zurück, da sie wussten, dass sich die Tiere aber auch Straßenkinder und die Menschen, welche die Slums an der östlichen Stadtmauer bewohnten, um die Beseitigung kümmern würden.

Angesichts des penetranten Geruchs nach Fisch, der mindestens einen Tag lang in der Sonne geschmort hatte, rümpfte Aster die Nase und beschloss, diesem Gebiet weiträumig auszuweichen. Sie umrundete den Markt und gelangte zu einem breiten Holzsteg, der sich an den Hallen der Fischerei vorbei und die Bucht entlang zog. Eine leichte Brandung umspülte die Pfähle, an denen zahlreiche kleinere und größere Boote vertaut lagen. Fangnetze lagen hier überall zwischen leeren Kisten. Aster verlangsamte ihren Schritt, um sich nicht in den festen Seilen zu verstricken und zu stolpern.

Ein alter Fischer, der damit beschäftigt war, den Rumpf seines Bootes zu streichen, musterte sie von unten herauf.

»He, Mädel! Wie viel verlangst du?«

Aster hielt inne und sah ihn an. Es war eine Frage, die sie früher oft gehört hatte. Doch in den letzten zwei Jahren hatte kein Mann mehr danach gefragt, nicht, seitdem sie es wagte, ihre Waffen offen sichtbar zu tragen.

»Mehr, als du zu zahlen gewillt bist«, stellte sie fest.

Doch der Fischer gab nicht so schnell auf. »Ich habe heute einen guten Fang gemacht! Dafür habe ich einige Goldstücke erhalten. Wenn du gut bist, kannst du sie dir verdienen und den besten Fisch bekommst du auch.« Er wedelte mit dem Malerpinsel in die Richtung einiger Kisten, die an der Seite des Steges abgestellt waren. »Der wird dir schmecken! Also, sag einfach, was du verlangst!«

Aster lächelte. »Dein Leben!« Sie bleckte die Zähne und fauchte wie eine Raubkatze.

Der Fischer ließ vor Schreck den Pinsel fallen und erbleichte. »Du bist …«

»Einen schönen Abend noch!« Wieder ein entwaffnendes Lächeln auf den Lippen winkte Aster ihm zu und setzte ihren Weg fort. Ihr war klar, dass der Mann bald darauf in der Kneipe all seinen Kumpanen erzählen würde, dass er die Katze leibhaftig gesehen und überlebt hatte. Der Gedanke amüsierte sie. Ja, es schien, dass sie dieses Spiel noch gut beherrschte. Doch sie gedachte es nicht erneut für Rikastor zu spielen. Nie wieder!

Die Erinnerung an ihr Gespräch mit dem Bandenführer an diesem Abend ließ ihre gute Laune wie eine Seifenblase zerplatzen.

War sie wirklich erneut nur eine hübsch aussehende Puppe, die von Atharis kontrolliert wurde, so wie Rikastor es zuvor getan hatte?

Atharis und Rikastor. Die beiden Männer waren grundverschieden. Und sie waren einander doch sehr ähnlich. Sie hatten ihre festgesteckten Ziele, die sie unnachgiebig verfolgten und nicht selten mit Waffengewalt durchzusetzen versuchten. Doch während Rikastor immer danach gestrebt hatte, Macht in der Unterwelt von Silbersee zu erlangen, und sich nach und nach einen gewaltsamen Weg an die Spitze einer einflussreichen Söldnerbande gebahnt hatte, wurde Atharis stets angetrieben von seinem Wunschbild einer gerechten und sicheren Welt. Aber diese Gerechtigkeit war ebenso blutig erkauft.

Recht, so fand Aster, war ohnehin immer ein zweischneidiges Schwert.

Die Rechtsprechung von Silbersee hätte Aster ohne zu zögern zum sofortigen Tod durch den Strang verurteilt, hätte sie auch nur um den Bruchteil ihrer Taten gewusst. Atharis wusste um mehr als diesen Teil und trotzdem hatte er sie aufgenommen. Er hatte eine Söldnertruppe aufgebaut, um seine Sicht der Welt mit Waffengewalt zu verteidigen. Es gab nicht wenige in Silbersee, die sich ebenso wünschten, ihn als Gesetzlosen zu entlarven, wie sie Rikastors Kopf forderten – Männer, die hohe Positionen in der Stadt besetzten.

Letztendlich waren Atharis und Rikastor einander wohl viel ähnlicher, als sie selbst es wollten und als es Aster lieb war.

Sie hatte das Ende des Steges erreicht und setzte sich auf eine niedrige Begrenzungsmauer aus aufgeschichteten Steinen. Von hier konnte sie die gesamte Bucht einsehen.

Am Hafen wurden nach und nach Öllampen entzündet. Ihr Widerschein tanzte wie Glühwürmchen auf den Wellen. Immer noch eilten Gestalten auf dem Pier umher und entluden Frachtkisten.

Aster heftete den Blick auf die Schiffe, die träge schaukelnd vor Anker lagen. Sie waren lediglich schwarze Silhouetten vor der Sonne, die soeben hinter dem Horizont verschwand und einen letzten feuerroten Gruß über den Himmel sandte. Doch allein aufgrund der unterschiedlichen Form konnte Aster erkennen, dass einige der Schiffe aus weit entfernten Ländern kamen. Die wenigsten davon konnte sie zuordnen. Selbst wenn sie die Namen der Heimathäfen gekannt hätte, wäre sie weder imstande gewesen, ihre Lage auf einer Karte zu bestimmen, noch, etwas über die Eigenheiten dieser Orte und der dort lebenden Völker zu berichten. Sie wusste nichts von der Welt jenseits der Einflussgrenzen von Silbersee. Ja, es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ihre ganze Welt mit den Stadtmauern und dem Meer geendet. Damals war sie oft hierher gekommen und hatte die Schiffe beobachtet, die im Hafen anlegten und wieder in See stachen. Und sie hatte davon geträumt, eines Tages in eines dieser fernen Länder aufzubrechen, um dort ein neues Leben anzufangen. Die Angst davor, dass sie in einer neuen Stadt abermals als das in Lumpen gekleidete Mädchen beginnen musste, als das sie sich einst in den Straßen von Silbersee hatte durchschlagen müssen, hatte sie zurückgehalten. Sie hatte sich davor gefürchtet, ohne Rikastors starke Hand verloren zu sein.

Dann war Atharis gekommen. Er hatte ihr nicht nur die Möglichkeit geboten, auf dem Rücken eines Drachen einen weiteren Horizont zu sehen. Viel wichtiger war, dass er ihr Selbstvertrauen gegeben hatte. Seither, so wurde sich Aster in diesem Moment bewusst, war sie nicht mehr zu ihrem Lieblingsplatz hier in der Bucht gekommen. Nach zwei Jahren saß sie erstmals wieder auf der kleinen Mauer und blickte hinüber zu den Schiffen. Und heute würde sie es wagen, zum Hafen zu gehen und für eine Überfahrt anzuheuern.

Doch sie wollte nicht mehr weg.

Es war nicht so, dass diese unbekannten Länder weit jenseits des Horizontes keinen Reiz mehr auf sie ausübten. Doch sie hatte jetzt etwas hier, was ihr viel wichtiger war: Freunde.

Vielleicht war das der größte Unterschied! Rikastor war ihr Beschützer und ihr Anführer gewesen. Atharis war allem voran ihr Freund.

 

3 – Squizi auf Tauchgang

 

 

Der Tunnel wand sich in steilen Kurven nach unten. Seine Oberfläche war blank, wie poliert. Linara hatte Mühe, auf dem glatten Fels sicheren Tritt zu finden. Sich mit ausgestreckten Armen an den Seiten abstützend, schob sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen hinab. Es war ein halsbrecherisches Unterfangen, dessen war sie sich bewusst. Doch an Umkehren dachte sie nicht. Zum einen wollte sie nicht zurück in das Flechtennetz, zum anderen führte dieser Weg hier nach unten, wohin sie ja zu gelangen beabsichtigte, wenn sie auch einen weniger direkten Abstieg bevorzugt hätte.

Meter um Meter kletterte Linara hinab in eine schwarze Tiefe.

In dem Versuch, den weiteren Verlauf besser erkennen zu können, kniff sie die Augen zusammen. Doch der Gang schien ins Nichts zu führen. Erschwerend kam nun hinzu, dass die Oberfläche des Steins nach und nach feuchter wurde und zunehmend glitschig. Eine dünne Algenschicht überzog Wände und Boden in Schlieren. Linara rutschte auf dem Hosenboden weiter. Obwohl sie sich mit aller Kraft abstützte, wurde ihr Abstieg ungewollt schneller. Der Tunnel war zu einem Schacht geworden, der nun fast senkrecht abfiel.

Linaras Finger glitten ab. Mit einem erschrockenen Aufschrei schlitterte sie in die Tiefe.

Ihre verzweifelten Versuche, sich mit Armen und Beinen rudernd an Ausbuchtungen abzufangen, brachte sie ins Trudeln. Windungen im Verlauf wirbelten sie um die eigene Achse.

Der Felsschacht verwischte zu einer glänzenden Röhre, die sich immer enger um sie zusammenzog.

Ihr Sturz schien endlos.

Linara begann sich vorzustellen, was sie am Ende erwartete. Ihre Knochen würden splittern wie trockenes Holz. Ihr Genick würde brechen.

Dann schlug Linara auf. Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Ihre Umgebung verschwamm hinter einem undurchdringlichen Schleier.

Kälte.

Sie fühlte sich schwerelos.

Es dauerte endlose Momente, bis sie erkannte, dass ihre Sinne immer noch arbeiteten.

Sie war nicht tot. Sie spürte ihre schmerzenden Muskeln. Ihre Haut brannte. Gleichzeitig war ihr kalt. Sie öffnete den Mund, um nach Atem zu ringen. Und sie schluckte Wasser.

Da begriff Linara. Sie musste in ein unterirdisches Becken gefallen sein.

Heftig strampelnd versuchte sie die Oberfläche zu erreichen. Erst spät erkannte sie, dass sie die Orientierung verloren hatte und überhaupt nicht wusste, ob sie wirklich nach oben schwamm oder stattdessen immer tiefer tauchte. Die aufsteigende Panik niederkämpfend, versuchte sie, ihre eigenen Luftblasen zu beobachten – das bisschen Luft, das sie noch hatte. Aber durch das Wasser zeigte ihr ihre Nachtsicht nur verzerrte Bilder. Irgendwo glomm bläuliches Licht. Linara entschied, in diese Richtung zu schwimmen.

Endlich erreichte sie die Oberfläche, hustete und atmete dankbar ein.

Hastig tastete Linara nach ihrem Rucksack und fischte ein nasses, zerzaustes Eichhörnchen hervor. Squizi sah jämmerlich aus, aber er lebte. In dem Rucksack war ausreichend Luft eingeschlossen geblieben. Linara setzte das zitternde Tier auf ihren Scheitel, um es in Sicherheit vor dem Wasser zu bringen.

Erleichtert aufatmend ließ sie sich minutenlang treiben – auf einem See aus Schwärze.

Erst als sie vor Kälte zitterte, sah sie sich nach einem Ufer um.

Das Wasser füllte ein gigantisches, unterirdisches Becken – eine Höhle, etwa dreihundert Meter in der Breite und gut doppelt so lang. Leuchtende Schemen an der Decke verrieten, dass auch hier die aquamarinfarbenen Flechten wuchsen. Sie verliehen der Umgebung eine gespenstische Atmosphäre. In ihrem schwachen Licht konnte die Elfe ihre Umgebung gut erkennen. Nach allen Seiten hin ragte der Stein steil auf, zu einem Dom, in dem ein winziges Loch wie ein Nadelstich saß. Es war die Öffnung des Schachtes, durch den Linara hinab gestürzt war. Kein anderer Tunnel war zu sehen, der herein oder hinausführte. Es gab weder flache Sandbänke noch aufragende Felsen. Das Wasser musste viele Meter tief sein, denn es war der Elfe unmöglich, hinab bis zum Grund zu sehen.

Linara sank der Mut. Sollte sie ihren rasanten Abstieg überlebt haben, nur um letztendlich hier zu ertrinken, nach Stunden im Wasser, sobald sie die Kräfte endgültig verließen?

Noch war es nicht soweit. Um das Becken eingehender zu untersuchen, schwamm sie zum Rand hin und stetig die Felswand entlang. Diese war nicht annähernd so glatt, wie Linara gedacht hatte. Schmale Spalten und flache Simse erlaubten ihr, sich daran festzuhalten. An einem etwa anderthalb Meter tiefen Vorsprung zog sie sich hoch, um zu rasten und ihre Situation zu überdenken.

Auch wenn es doch nicht ihr Schicksal schien, hier zu ertrinken, so hatte sich ihre Lage immer noch nicht wesentlich gebessert. Das Wasser des Sees war klar und gewiss würde sie nicht verdursten. Vielleicht würde sie sogar Fische finden, die sie essen konnte – roh, denn an Feuer war in der feuchten Umgebung nicht zu denken. Trotzdem war sie eine Gefangene und letztendlich dem Tode geweiht, wenn sie keinen Ausweg fand. Der beunruhigende Gedanke drängte Linara, ihre Pause kurz zu halten. Erneut sprang sie ins Wasser. Nur Squizi und ihren Rucksack ließ sie auf dem Vorsprung zurück.

Das Eichhörnchen war emsig damit beschäftigt, sein Fell trocken zu lecken. Linara warf ihm einen abschätzenden Blick zu und beschloss, dass es keiner Anweisung bedurfte, um das Tierchen dazu zu bringen, hier auf sie zu warten.

Dann pflügte sie durch die spiegelglatte Seeoberfläche.

Es hätte ein erholsames Bad sein können, nach langen Tagen in staubigen Tunneln. Auch die klebrigen Reste der Flechten war sie nun losgeworden. Linara hätte es genossen, wenn sie nicht gleichzeitig eine Gefangene ihres ganz privaten Badebeckens gewesen wäre.

Derart für sich alleine, wie die Waldelfe anfangs glaubte, hatte sie den See jedoch nicht. Kleine Fische kamen bald neugierig herbei, um den sonderbaren Gast zu beäugen. Manche waren gar so dreist, an ihrer Kleidung zu knabbern. Sie waren zu klein, um Schaden anzurichten, und Linara erlaubte sich einen ausgelassenen Moment und drehte sich lachend in ihrer Mitte. Wenn es Tiere in diesem Gewässer gab, so hoffte sie, dass auch ein Zustrom und Abfluss existierte, durch welchen diese letztendlich hierher gelangt waren. Zumindest glaubte Linara, dass im Grundwasser nicht automatisch Fische schwammen. Immerhin erwies es sich für gewöhnlich als sinnlos, in einem Brunnen zu angeln.

So versuchte sie, mit den Tieren zu kommunizieren, damit diese ihr den Weg wiesen. Schon bald musste sie allerdings feststellen, dass es ein Unterschied war, ob man sich mit einem Drachen, einem Eichhörnchen oder mit einem Fisch zu unterhalten versuchte. Kurzum, sie erhielt keine erkennbaren Reaktionen auf ihre Bemühungen. Unwillig mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche schlagend, gab Linara auf. Sie musste wohl selbst den Weg finden.

Da sie keine Strömung im Wasser wahrnehmen konnte, blieb ihr letztendlich nichts anderes übrig, als den gesamten Beckenrand abzusuchen. Immer wieder tauchte sie tief hinab ins Wasser. Der Grund des Sees entzog sich weiterhin ihrem Blick. Sie hoffte inständig, dass sich der Weg, nach dem sie suchte, nicht gerade dort befand. Niemals würde sie dermaßen tief abtauchen können.

Nachdem Linara fast zwei Drittel des Beckens abgesucht hatte, war sie ziemlich erschöpft, weshalb sie den schwarzen Schemen zuerst für eine Täuschung ihrer übermüdeten Augen hielt. Erst als sie näher kam, erkannte sie, dass kaum fünf Meter unter der Wasseroberfläche ein Durchlass oder zumindest ein tiefes Loch im Felsen war.

Linara tauchte hinab.

Weit konnte sie nicht sehen. Nach mehreren Metern beschrieb der Tunnel eine Biegung. Aber das Wasser war hier wärmer, weshalb die Waldelfe hoffte, dass es sich tatsächlich um einen Zustrom handelte.

Sie tauchte auf und stieß einen übermütigen Jubelschrei aus. Ihre Stimme hallte vielfach von dem steinernen Dom wider. Linara schrak zusammen. Seit Tagen hatte sie ihre eigene Stimme lediglich gehört, wenn sie flüsternd zu Squizi gesprochen hatte.

Squizi! Wie sollte sie ihn heil durch den Durchlass bringen? Sie glaubte kaum, dass ein Eichkätzchen auch nur annähernd so lange die Luft anhalten konnte wie ein Elf. Aber zurücklassen konnte sie ihn nicht. Es wäre ebenso sein Todesurteil. Wieder schien die Situation aussichtslos. Konnte sie Squizi verlassen, nur um sich selbst zu retten? Bei dem Gedanken traten Linara Tränen in die Augen, während sie zu ihrem kleinen Freund schwamm. So durfte es nicht enden. Sie musste eine Lösung finden!

Die aberwitzigsten Ideen kamen Linara in den Sinn, während sie zurückkehrte und auf den Vorsprung neben Squizi kletterte. Sie dachte sogar daran, den Kopf des Eichhorns in den hohlen Mund zu nehmen.

Ihr Blick fiel auf ihre Habe – auf den Rucksack und den Wasserschlauch. Linara schüttelte den Kopf. Nein, es war ein ebenso verrückter Einfall. Doch während sie sich setzte, um zu rasten, ließ ihr der Gedanke keine Ruhe. Könnte es wirklich funktionieren?

Sie musste es versuchen! Gemeinsam würden sie ihren Weg fortsetzen, gemeinsam würden sie entkommen. Der Gedanke beruhigte Linara. Die Augen fielen ihr zu und sie schlief ein.

 

 

Linara erwachte, weil sie sich bewegt hatte und vom Felsvorsprung gerutscht war. Der Fall ins kalte Wasser ließ sie sofort hellwach werden.

»Es wird Zeit, dass wir hier verschwinden«, sagte sie zu Squizi, der zu ihr herab spähte. Sein Schwanz zuckte, als lache er sie insgeheim aus.

»Dir wird die Schadenfreude noch vergehen, wenn du merkst, was ich mit dir vorhabe. Wir werden jetzt tauchen!«

Sie zog sich an dem Felsen hoch und nahm das Jagdmesser, das in ihrem Gürtel steckte. Dann griff sie nach dem Wasserschlauch, entleerte ihn in den See und schnitt das obere Ende ab. Mit einem prüfenden Blick maß sie Squizi und dann das entstandene Loch und nickte zufrieden.

Das Eichhörnchen stieß ein protestierendes Quietschen aus, als Linara es umfasste und behutsam mit dem Kopf voran durch die Öffnung schob. Sorgsam achtete sie darauf, dass möglichst viel Luft nebst dem entsetzten Squizi den Wasserschlauch füllte. Dann schnürte sie das offene Ende fest zusammen. Den so entstandenen Ballon band sie an ihrem Gürtel fest, nahm den Rucksack und stieg hinab ins Wasser – vorsichtig diesmal, denn sie wollte Squizi in seinem ungewöhnlichen Transportbehälter nicht unnötig durchschütteln.

Ob der Ballon tatsächlich wasserdicht hielt, konnte sie nicht beurteilen. Deshalb ermahnte sie sich zur Eile, während sie zu dem dunklen Loch zurückkehrte.

Nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte, tauchte sie erneut ab. Sie schwamm schnell, denn sie wusste nicht, wie lang der Kanal sein mochte und ob es an seinem Ende überhaupt Luft gab. Der mit Squizi gefüllte Wasserschlauch hüpfte wie eine Boje an ihrem Gürtel.

Der Tunnel war nicht annähernd so glatt wie jener, durch den sie hinab in das Becken geschlittert war. Zwischen schmalen Spalten hausten kleine Fische, die nicht selten drohend ihre Rückenflossen aufrichteten, sobald sich die Elfe näherte. Büschel von Algen wiegten träge in der schwachen Strömung und bildeten eine bauschige Behausung für zahllose Schnecken, die wie glänzende Früchte an ihnen baumelten.

Linara warf einen prüfenden Blick auf den Squiziballon. Feine Luftbläschen stiegen in einer Perlenkette von der Verschnürung auf. Noch schien er prall und sprang munter auf und ab. Dass dies lange so bleiben würde, wagte die Waldelfe zu bezweifeln.

Sich erneut zur Eile ermahnend, richtete sie ihren Blick wieder auf den Tunnel vor ihr – gerade rechtzeitig, um das gepanzerte und viel gegliederte Bein zu bemerken, das sich verstohlen um eine Felsenkante schob. Ihm folgten zwei weitere, jedes einzelne so dick wie Linaras Oberschenkel und mit bösartigen Widerhaken besetzt, die sich wie die Zähne eines Sägeblattes über die Seiten zogen.

Linara stoppte ihren Vorwärtsschwung abrupt, indem sie ihren Stiefel in einem Felsspalt einharkte. Was immer sich ihr da näherte, es schien ihr nicht von der kooperativen Sorte zu sein. Auch wenn es sich lediglich um ein sonderbar anmutendes Tier handelte und nicht um ein blutrünstiges Ungeheuer, so war die Waldelfe hier zweifelsohne der Eindringling, den es zu verscheuchen galt – im annehmlichsten aller Fälle. Möglicherweise war sie auch die willkommene Mahlzeit.

Für den Bruchteil einer Sekunde befiel Linara verlangendes Begehr nach ihrem Bogen, den sie unter ihren Rucksack an ihren Rücken geschnallt trug. Das war natürlich ein unsinniger Gedanke. Selbst wenn die Waffe gespannt und einsatzbereit gewesen wäre, hätte sie ihr unter Wasser kaum gute Dienste geleistet.

Hinter den Beinen erhob sich jetzt ein Felsen. Zumindest erschien es Linara zunächst so, da ihre Augen ihr in der Dunkelheit aufgrund des Wassers nur sehr verzerrte Bilder zeigten. Dann bemerkte sie lange Augenstiele, die sich jetzt alle gleichzeitig ihr zuwandten. Zwei kräftige Scheren hoben sich drohend aus dem Algenteppich und zerteilten schnappend das Wasser.

Linara betrachtete die Krabbe mit einer gehörigen Portion Unwillen. Dieses Monstrum versperrte den Tunnel, welcher Linaras Weg in die Freiheit bedeuten mochte, sofern man in dieser Unterwelt jemals frei sein konnte. Der Elfe missfiel es, gegen die Krabbe zu kämpfen, nicht nur, weil sie das Geschöpf nicht töten wollte, sondern weil die Auseinandersetzung Zeit fordern würde, die sie mitunter nicht hatte. Doch daran, einfach an dem Tier vorbeizuschlüpfen, war nicht zu denken. Mit ihrem massigen Körper füllte die Krabbe gut zwei Drittel des Tunnelquerschnitts aus. Ihre Schale war an der Oberseite mit einer Reihe speergleicher Stacheln bewehrt. Daran aufgespießte, wenig appetitliche Überreste verrieten, dass sie schon so manchem Wasserbewohner zum Verhängnis geworden waren. Nein, einfach würde es nicht werden, an dem Ungetüm vorbei zu gelangen. Trotzdem musste Linara es versuchen.

Ihre Finger tasteten nach den Drachenköpfen ihrer Schwerter, doch dann entschied sie sich dagegen, die Waffen zu ziehen. Ihre Klingen würden die kräftigen Zangen kaum effektiv abwehren können und die Panzerung des Tiers bestenfalls mit größter Anstrengung durchdringen. Linara war flinker und wendiger ohne die langen Klingen und mit freien Händen.

Kräftig austretend stieß sie sich von dem Vorsprung ab, der ihr bislang festen Halt geboten hatte.

Indes begnügte sich die Krabbe mit Drohgebärden, indem sie sich, so weit es ihr möglich war, auf den Beinen aufrichtete. Es kam selten vor, dass sich ein derart großer Eindringling in ihr Gewässer wagte. Genau genommen war es bislang noch nie vorgekommen. Aber andererseits war auch diese Elfe nicht besonders groß und kaum ein gefährlicher Räuber, viel eher eine ausgiebige Beute.

Linara gewahrte den einladend freien Raum unter dem Körper der Krabbe und hielt darauf zu. Wenn sie Glück hatte, behinderten die Felswände das Tier ausreichend, sodass es seine Scheren nicht schnell genug in eine geeignete Position bringen konnte, um nach ihr zu schnappen.

Die Krabbe schien die Absichten der Elfe zu durchschauen. Anstatt ungelenk einen Versuch zu unternehmen, eine der dicken Zangen unter den eigenen Körper zu bringen, ließ sie sich einfach auf den Boden sinken, um den Weg zu versperren.

Linara sah, wie sich die Vorderseite des gepanzerten Körpers über sie neigte. Das Gewicht des Ungetüms allein würde ausreichen, sie auf dem Fels einzuquetschen.

Umgehend vollführte die Elfe eine Rolle, um die Richtung zu ändern und in einem flachen Bogen an der Krabbe vorbei zur Decke zu schwimmen. Doch das Ungetüm richtete sich sogleich auf und versperrte erneut den Weg.

Dies mochte nun endlos so hin und her gehen, bis sie zum Umkehren gezwungen war, fürchtete Linara. Ihr blieb jedoch wenig Zeit, über das Problem zu grübeln.

Von links näherte sich etwas Dunkles. Und als sie in die Richtung schaute, erblickte sie die geöffnete Zange, welche auf ihre Mitte zielte. Sie war kräftig genug, die Beine der Waldelfe vom Rumpf zu trennen.

Linara zog die Knie zur Brust hoch.

Mit einem Knacken schlugen die Scheren unter ihr aufeinander.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte sich die Waldelfe sofort wieder. Ihre Füße trafen die feste Schale. Das beeinträchtigte die Krabbe recht wenig. Die gewaltige Zange wich kaum wenige Zentimeter. Doch Linara erhielt durch ihren Abstoß ausreichend Schwung, um sich über den Rücken der Krabbe zu katapultieren.

Lange Augenstiele fuhren herum und verfolgten das Manöver aufmerksam. Viele große und kleine Fische hatten bereits versucht, diesen vermeintlich freien Weg zu passieren. Sie hatten allesamt das gleiche Ende gefunden – aufgespießt auf den langen Panzerstacheln, wo die Krabbe seelenruhig Stücke von ihnen mit den Scheren abzupfen konnte, um sie zu verspeisen.

Aber Linara war nicht so einfältig, ihren augenscheinlich plumpen Gegner zu unterschätzen. Zumal verrieten ihr zahlreiche durchbohrte Fischgerippe genug über die bevorzugte Jagdstrategie der Krabbe, um nicht leichtgläubig in die Falle zu schwimmen. Kurz bevor Linara die Stachelreihe passieren konnte, korrigierte sie ihren Kurs leicht nach unten.

Wie erwartet, stemmte sich die Krabbe hoch und die speergleichen Panzerauswüchse stachen gegen die Decke. Während die Stacheln nur wenige Zentimeter an ihrer Schulter vorbei fuhren, stieß Linara unsanft gegen den Rückenpanzer. Um nicht von den plötzlichen Verwirbelungen des Wassers abgetrieben zu werden, griff sie nach einem der Panzerspeere. Was sie dabei übersah, waren die winzigen Widerhaken, mit welchen die Stacheln über und über bedeckt waren. Linara biss schmerzerfüllt die Zähne zusammen, als sich diese Dornen in ihre Handflächen bohrten.

Die Augenstiele tanzten aufgeregt, als sie erkannten, dass die Beute knapp der Attacke entgangen war. Sofort hob die Krabbe eine Schere, um den Fehler zu korrigieren. Doch um die gewaltige Zange zwischen Rückenpanzer und Felsendecke schieben zu können, musste sie den Spalt ein wenig vergrößern, indem sie den Körper senkte.

Linara wartete nicht auf eine zweite Gelegenheit. Obgleich jedes Mal, wenn sie ihren Griff um die Panzerstacheln löste oder erneut zupackte, Schmerzen ihre Hände durchzuckten, nutzte sie diesen Halt, um sich durch die schmale Öffnung zu zwängen, welche die Krabbe zum Felsen hin freigab. Die zweite Schere schnellte heran, um die Flucht zu vereiteln, kam jedoch zu spät für die flinke Waldelfe.

Vier Augen bogen sich verlangend zur Seite und glupschten der fliehenden Beute hinterher, die mit weit ausholenden Bewegungen schon um eine Biegung im Tunnel entschwand.

Linara erkannte bald, dass sie nicht verfolgt wurde. Trotzdem wurde sie nicht langsamer. Ihr Brustkorb schmerzte bereits wie unter dem Druck stetig enger werdender Stahlriemen. Ihre Lungen verlangten dringend nach Luft.

Langsam stieg der Tunnel an – unendlich langsam.

Linara war klar, dass sie kaum auf Luft treffen würde, wenn sie nicht auf gleiche Höhe mit der Oberfläche des Sees gelangen konnte. Sie forderte das Letzte von ihrem Körper und schwamm mit kräftigen Bewegungen weiter. An Umkehren war längst nicht mehr zu denken. Wenn dies eine Sackgasse oder der Zustrom aus einer tief liegenden Quelle war, war ihr Leben verwirkt.

Ertrinken. Es war nicht die Art, wie eine junge Kriegerin auf einer Expedition ins Reich der Schatten sterben sollte. Man stelle sich ein Lied der Barden vor, das dann mit der Zeile endet: »Und sie schied dahin, allein im dunklen Nass.« Niemand würde solch eine Geschichte hören wollen. Und niemand würde sie erzählen, denn wer sollte davon erfahren, vom Schicksal der letzen Elfe einer vor vielen Jahren ausgelöschten Sippe?

In der Dunkelheit sah Linara die Wasseroberfläche nicht und ruderte einen Moment mit den Armen in der Luft, bis sie erkannte, dass sie dem Tunnel entkommen war.

Vor ihr lief das Wasser zu einem flachen Steinufer hin aus. Linara kraulte darauf zu und rollte sich an Land. Sie hustete und keuchte. Dennoch gönnte sie sich keine Sekunde der Erholung. Umgehend zog sie ihr Jagdmesser und schnitt den Wasserschlauchballon auf, der jetzt sichtbare Eindellungen hatte. Ihre Finger zitterten, als sie Squizi hervorzerrte, der in seinem Zustand mehr an eine nasse Ratte denn an ein flauschiges Eichhörnchen erinnerte. Das arme Tier fand kaum noch die Kraft, den Kopf zu heben, um ihr durch die Dunkelheit vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen, rollte sich unter ihrer blutigen Hand ein und fiel in einen erschöpften Schlummer.

Nach einem prüfenden Blick, der ihr verriet, dass sie sich in einer niedrigen aber weitläufigen Höhle befand, in der sich augenscheinlich nichts regte – von der immer noch aufgewühlten Wasseroberfläche und einem schwer atmenden Eichhörnchen einmal abgesehen – sank Linara neben Squizi nieder, um es ihm gleichzutun.

 

 

4 – Die ultimative Waffe

 

»Das dort sollte für unsere Zwecke genügen!« Cirano zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine kleine Sandinsel – eine flache Erhebung inmitten der wogenden See, die etwa zweihundert Meter in der Breite und kaum doppelt so viel in der Länge maß.

Aster nickte bestätigend. »Lass uns landen!«

Keine weitere Reaktion abwartend, drückte sie die Zügel ihres Reittiers nach unten. Augenblicklich folgte der Drache der Bewegung, senkte den langen Hals und hielt mit weit ausgebreiteten Schwingen auf den Sandhügel zu. Als sie nur noch wenige Meter vom Boden trennten, zog Aster die Zügel ruckartig an, was das Reptil dazu veranlasste, den Kopf hochzunehmen. Wenige rasche Flügelschläge ließen den Drachen in der Luft stoppen und behutsam auf der Insel aufsetzen.

»Gut gemacht, Feuersturm!«, lobte Aster.

Ein Blick in den Himmel zeigte ihr, dass Cirano eine wesentlich weniger behutsame Landung im Sinn hatte. Sein Drachenweibchen stieß soeben in einer schwindelerregenden Spirale herab. Unwillkürlich zog Aster den Kopf zwischen die Schultern, als Drache und Reiter knapp über sie hinweg brausten. Sie flogen eine enge Kehre über dem Meer, wobei Flammenroses Schwanzspitze rauschend die Wellen durchpflügte, bevor der Lindwurm in donnerndem Galopp an Land preschte.

»Angeber!«, murrte Aster und wischte sich Sand aus den Augen.

Cirano sprang aus dem Sattel und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Mein Können im Umgang mit dem Drachen zu nutzen, würde ich keineswegs als Angeberei bezeichnen. Und sind wir nicht gerade deshalb hier, um die Fähigkeiten unserer Drachen zu fördern?«

Aster verzog den Mund. »Ich sehe es durchaus als Herausforderung, mit einem tonnenschweren Drachen eine annähernd lautlose Landung durchzuführen. Es mag sogar schwieriger sein, als der halsbrecherische Absturz, den ihr vorgezeigt habt. Letztendlich aber zählte Verstohlenheit noch nie zu deinen Stärken!«, stichelte sie. »In eurem Fall liegt es also nicht am Gewicht des Drachen, sondern doch eher am Ego des Reiters, wenn ihr versagt.«

»Ha! Absturz? Mir scheint, du verwechselst uns mit Imares und seinem flügellahmen Nachtfalter! Eine zielgenaue Landung nach einem Sturzflug erfordert höchste Konzentration und Beherrschung des Reittiers.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Aster auf die Furche, welche Flammenrose im Galopp durch den Sand gezogen hatte. »Zielgenau?«, echote sie ungläubig.

»Du bemühst dich doch nur, deine Angst vor einem gewagten Flugmanöver zu vertuschen, während du aus Feuersturm ein Plüschkätzchen zu machen versuchst«, konterte der Krieger. »Mir jedoch ist bewusst, dass Drachen für Kraft und Schnelligkeit stehen. Und genau das will ich fördern, anstatt ihnen etwas anzutrainieren, das ihrer Natur widerspricht.«

»Letztendlich wirst du doch nie verstehen, dass Kraft und Gewandtheit einander nicht ausschließen müssen«, behauptete die Katze und sprang leichtfüßig aus dem Sattel.

Mit einem betont aufreizenden Hüftschwung trat sie an die Seite des Kriegers und strich über seinen nackten Oberarm. »Was hast du eigentlich gegen Kätzchen?«, fragte sie schmollend, während ihre Finger seine ausgeprägten Muskeln nachzeichneten.

»Sie sind nicht für den Kampf geeignet«, behauptete Cirano ungerührt.

»Sind sie nicht?« Plötzlich lag ein Dolch in Asters Hand, den sie gegen die Kehle des Kriegers drückte.

»Willst du mich herausfordern?«, fragte dieser. In seiner Stimme schwang nun doch ein Hauch von Unsicherheit mit.

»Vielleicht sollte ich das?«, überlegte Aster und drehte die Waffe vor seinem Gesicht, sodass die blanke Klinge in der Sonne blitzte.

Sie ließ den Blick über die kleine Insel hinweg schweifen. Weit im Süden war die Küstenlinie erkennbar. Dahinter ragte das Kalkspitzengebirge wie ein gigantischer Grenzwall auf. Eine schmale Reihe bauschiger Schäfchenwolken folgte seinem Grat nach Westen, wo der hohe Turm der Burg von Silbersee in der Ferne kaum auszumachen war.

Aster drehte sich einmal im Kreis. Zu allen anderen Seiten hin wogte das dunkle Wasser des Akarta-Binnenmeeres. Abgesehen von ihnen war keine Menschenseele weit und breit. Es war der perfekte Ort für den Kampf, den Cirano vorschlug. Außerdem wäre es ein guter Platz für eine zwischengeschlechtliche Herausforderung ganz anderer Art, überlegte die Katze. Ihr Blick wanderte zurück zu dem Krieger und blieb an seiner Brust hängen, wo die beschlagene Weste nur teilweise geschlossen war und einen großzügigen Blick auf sonnengebräunte Haut gewährte. Sonne, Strand und Meer … und Ciranos athletischer Körper direkt vor ihrer Nase! Und alles, für das der Krieger seine Muskeln einzusetzen gedachte, war der Kampf. Es war eine Schande!

Mit einem resignierenden Seufzer fuhr Aster durch ihr rostbraunes Haar, als könne sie so den Gedanken beiseite wischen.

»Einverstanden!« Sie steckte den Dolch zurück an den Gürtel. »Lass uns kämpfen.«

»Du willst tatsächlich gegen mich kämpfen?« Der Ausdruck auf Ciranos Gesicht spiegelte nun vollkommene Verwirrung wider. Zögernd nahm er die große Doppelaxt, die an einem Riemen über seiner Schulter hing, und sah die Waffe unschlüssig an.

Doch Aster wandte ihm den Rücken zu und griff nach Feuersturms Zügel. »Ja. Und zwar in der Luft! Wir sind hierher gekommen, um die Fähigkeiten unserer Drachen zu testen. Was wäre dafür besser geeignet als ein Luftkampf?«

»Du meinst …?«, setzte Cirano an. Aber die Katze war bereits in den Sattel gesprungen und wendete ihren Drachen. Offenbar war sie nicht gewillt, ihr Vorhaben genauer zu erläutern. Mit kräftigen Flügelschlägen stieg Feuersturm in den Himmel und ließ sich hoch über der Insel auf den Winden treiben.

Kopfschüttelnd wandte sich Cirano seinem eigenen Reittier zu. Mit einem Satz war er im Sattel und trieb Flammenrose an, um Aster zu folgen, die mit ihrem Lindwurm bereits hoch über der Insel kreiste.

»Wie soll so ein Luftkampf denn aussehen?«, brüllte der Krieger, als er endlich zu seiner Gefährtin aufgeschlossen hatte. »Ein Treffer meines Drachen würde dich sofort töten!«

Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen vollführte Asters Drache plötzlich einen Looping. Ehe sich Cirano versah, war Feuersturm hinter und über ihm und schnappte mit den kräftigen Kiefern nach dem Kopf des Südländers. Mit einem Aufschrei warf sich Cirano nach vorn auf den Hals seines Reittiers. Im nächsten Moment fegten dolchgleiche Klauen über ihn hinweg.

»Bist du verrückt?«, schrie er und meinte sowohl den Drachen als auch dessen Reiterin.

»Hast du Angst vor einem Plüschkätzchen?«, hörte er Asters Stimme und sah gerade noch rechtzeitig auf, um den geöffneten Rachen des Ungetüms zu sehen, das erneut versuchte, nach ihm zu schnappen.

»Verflucht!«

Einer Eingebung folgend, zwang Cirano seinen Drachen in eine Seitwärtsrolle. Flammenrose gehorchte umgehend. Ihr Flügel traf Feuersturm am Kopf, was beide Reptilien aus ihrer Flugbahn warf. Asters Drache fing sich schnell und stieg wieder höher. Flammenrose hingegen stürzte viele Meter tief ab, bevor sich der Himmel endlich wieder über und das Meer unter ihr befand.

»Das beantwortet dann wohl die Frage. Keine Regeln und bis zum Tod – na, wie du willst«, murmelte Cirano und blickte hoch, wo seine Gegner soeben in einen Sturzflug übergingen. »Du überhebliches kleines Kätzchen! Dir werden wir’s zeigen!« Er verzog grimmig das Gesicht.

Während er die Flugbahn des heranpreschenden Lindwurms weiter studierte, ließ er Flammenrose noch tiefer sinken und knapp über den Meereswellen entlang gleiten. Wie er erwartet hatte, versuchte Feuersturm erneut, von hinten anzugreifen. Geduldig wartete er, bis der Drache dicht heran war.

Cirano grinste selbstgefällig. Er wusste, dass sein Reittier bei seinem Plan mitmachen würde. Flammenrose liebte es, mit den Meereswellen zu spielen. Alles, was der Krieger zu tun brauchte, war, sie noch ein kleinwenig tiefer über das Wasser zu lenken. Unverzüglich peitschte sie ihren Schwanz gegen die Wogen.

Eine Wasserfontäne spritze auf, genau in dem Moment, als Feuersturm das Maul aufriss, um zuzuschnappen.

Cirano ballte triumphierend die Faust, als er sah, wie der gegnerische Drache angewidert den Kopf schüttelte. Auch seine Reiterin hatte einen guten Teil der Dusche abbekommen. Ihre Haare klebten ihr klitschnass am Kopf und sie wischte sich mit wütenden Bewegungen das Salzwasser aus den Augen.

»Ja, ja, Katzen baden nicht gerne!«, frohlockte Cirano.

»Nennst du das etwa kämpfen?«, gab Aster eingeschnappt zurück.

»Ich beherzige nur deinen Rat und setzte auf Wendigkeit anstatt auf Kraft«, konterte der Krieger grinsend und trieb Flammenrose an, um steil in den Himmel zu steigen.

Aster folgte ihm dichtauf.

Er wäre auch wahrlich enttäuscht gewesen, hätte sie es nicht getan. Immerhin hatte er nun eine Idee, wie er sie möglicherweise besiegen konnte. Der Anblick von Flammenroses leuchtend roter Schwanzspitze, als sie rauschend durch das Wasser pflügte, hatte ihn daran erinnert, welchen Kontrast der Elemente dies im Grunde darstellte – Feuer, das mit Wasser spielte.

Erst ein einziges Mal hatte Cirano erlebt, dass ein Drache seinen Odem infolge eines Befehls seines Reiters eingesetzt hatte. Unter Linaras Kommando hatte der Eisdrache Mondkristall eine Horde von Orks mit seinem gefrierenden Atem angegriffen.

Flammenrose war ein Roter Drache. Ihr Feuerodem war die ultimative Waffe.

Die Sache hatte nur einen Haken: Cirano wusste nicht, wie man sie aktivierte. Wie sollte er seinem Reittier begreiflich machen, was er von ihm wollte? Den Jungtieren auf der Drachenfarm wurden keine Kommandos für das Feuerspeien beigebracht. Im Allgemeinen war man froh, wenn man ihnen abgewöhnt hatte, regelmäßig den Stall abzufackeln.

Cirano musste einen anderen Weg finden.

Was hatte Linara ihm einmal gesagt? Er müsste versuchen, sich in ein Tier hineinzuversetzen. Aber, wie sollte er das denn anstellen, während er auf dem Rücken dieses Tieres saß? Die Elfe schien mit jedem Geschöpf kommunizieren zu können. Manchmal fragte sich Cirano, ob sie sogar mit Stechmücken plauderte.

Flammenrose stieß ein Brüllen aus und Cirano zuckte zusammen. Aus irgendeinem Grund stoppte der Drache im Steigflug, obwohl sich seine Schwingen hektisch bewegten.

»He, wo wollt ihr denn hin?«, hörte der Krieger Aster rufen und sah über die Schulter zurück.

Unmittelbar hinter ihm flog Feuersturm. Der Lindwurm hielt Flammenroses Schwanzspitze im Maul und zog augenscheinlich daran. Das Drachenweibchen flatterte indes hilflos, während es wütend knurrte und fauchte. Kleine Rauchwölkchen stießen aus ihren Nasenlöchern hervor.

»Du bist wütend, meine Schöne?«, murmelte Cirano. »Sehr gut!« Abrupt riss er die Zügel an.

Da Flammenrose ohnehin nicht weiter steigen konnte, tat sie das Einzige, was ihr übrig blieb: Sie stürzte ab. Doch der andere Drache hielt immer noch ihren Schwanz fest, weshalb sie kopfüber gegen seine Brust krachte. Ihre Klauen schlugen und krallten nach ihrem Gegner, der sich seinerseits mit Vorder- und Hinterbeinen zur Wehr setzte.

 

 

Cirano klammerte sich mit aller Kraft am Sattel fest, um nicht abgeworfen zu werden.

Die Drachen hatten sich völlig ineinander verkeilt. Sie bissen und kratzten. Dabei drehten sie sich immer schneller in der Luft, sodass Cirano Mühe hatte, die Orientierung zu behalten.

»Lass ihn los, Flammenrose! Ich habe eine bessere Idee!«, brüllte er und zerrte wild an den Zügeln.

Aber das Drachenweibchen knurrte nur umso wütender und warf den Kopf hin und her.

Schließlich war es Feuersturm, der Cirano unbeabsichtigt zu Hilfe kam. In dem Versuch, sich seiner Gegnerin zu entledigen, peitschte er seinen kräftigen Schwanz gegen ihre Brust. Flammenrose verlor den Halt und fiel. Augenblicklich versuchte sie zu wenden, um erneut anzugreifen, doch Cirano riss mit aller Kraft ihren Kopf nach unten. Das Drachenweibchen brüllte und kleine Feuerzungen leckten um ihr Maul.

»Willst du Rache?«, schrie Cirano ihr zu. »Ich gebe dir deine Rache! Runter mit dir!«

Flammenrose wollte nicht. Sie wollte hoch, wo der dreiste Feuersturm auf sie wartete. Aber ihr Reiter ließ ihr keinen Raum, um den Kopf zu heben. Seine Schenkel hielten ihre Schultern wie ein Schraubstock umschlossen und seine Füße behinderten ihre Schwingen.

Flammenrose stürzte wie ein feuriger Pfeil dem Meer zu.

»Fangt uns doch!«, brüllte Cirano über die Schulter zurück. Aber das war gar nicht nötig. Feuersturm jagte bereits im Sturzflug hinter ihnen her.

»Sehr schön!«, brummte der Krieger und richtete den Blick angestrengt nach unten, wo die Wasseroberfläche in atemberaubendem Tempo auf ihn zu kam.

Als ihn kaum noch dreißig Meter von den Meereswellen trennten, trat er mit den Fersen dermaßen hart gegen Flammenroses Brust, dass es selbst einem Drachen wehtun musste. Gleichzeitig brüllte er, so laut er konnte: »Feuer!«

Flammenrose knurrte zornig.

Cirano verlor keine Zeit damit, darauf zu warten, ob sie begriff, was er von ihr wollte. Unverzüglich grub er seine Stiefel unter ihre Schuppenplatten und trat erneut zu.

»Feuer!«

Flammenrose handelte instinktiv. Sie stieß eine Stichflamme aus, geradewegs in das Wasser unter ihr.

Cirano riss an den Zügeln.

Es wurde heiß, unendlich heiß.

Der Krieger kniff die Augen zusammen, als Flammen und Wasser zu beiden Seiten hochschossen. Das Meer schäumte und zischte. Dampf quoll in einer dicken Wolke auf.

Cirano spürte, wie die Schwerkraft ihn in den Sattel drückte, als sein Drache die Schwingen ausbreitete, um den Sturz abzufangen. Wie knapp sie sich tatsächlich über der Wasseroberfläche befanden, konnte er nur erahnen. Der Nebel nahm ihm jegliche Sicht.

Plötzlich hörte er ein lautes Platschen unmittelbar hinter sich. Da wusste er, dass sein Plan funktioniert hatte.

»Komm, Flammenrose! Fischen wir sie aus dem Wasser«, forderte er sein Reittier auf und lenkte es in einer Kehre zu der Stelle, von der das Geräusch gekommen war.

Die beständige Brise über dem Meer sorgte dafür, dass sich der Dampf schnell verzog. Jetzt konnte Cirano auch erkennen, dass Flammenrose kaum fünf Meter über den Wellen hinweg segelte. Und er sah den zweiten Roten Drachen, der in einiger Entfernung unbeholfen in den Fluten planschte.

Siegessicher grinsend dirigierte der Krieger sein Reittier unmittelbar über ihn und sprang auf Feuersturms Rücken. Dessen Reiterin saß nicht mehr im Sattel. Doch Cirano brauchte sie nicht lange zu suchen. Aster schwamm wenige Meter entfernt und versuchte soeben, näher heranzukommen, ohne von einem der hilflos schlagenden Flügel erwischt zu werden.

»Danke für das Thermalbad!«, rief sie, als sie den Südländer bemerkte.

»Hat dir niemand beigebracht, dass man Rüstung und Waffen ablegt, bevor man schwimmen geht?«, spottete Cirano unverwandt grinsend.

»Dann zieh dich doch aus und komm herein!«, forderte Aster.

»Hm«, brummte der Krieger und musterte das immer noch schäumende Meer. »Ich denke, ich springe besser nicht in ein Gewässer, in dem eine bewaffnete Raubkatze und ein gedemütigter Drache schwimmen!«

»Glaubst du, wir wollen uns rächen?« Aster warf einen Seitenblick auf ihren Drachen, der eindeutig nicht in seinem Element war. Nur quälend langsam bewegte er sich auf die kleine Sandinsel zu, wobei die Katze nicht sagen konnte, ob er dies aus eigener Kraft tat oder ob die Strömung ihn dorthin trieb.

»Gestehst du eure Niederlage ein?«, wollte Cirano wissen.

»Nur, wenn du mir zeigst, wie du das gemacht hast! Wie hast du Flammenrose dazu gebracht, Feuer zu speien?«

»Einverstanden! Ich hoffe nur, dass sie auf das Kommando reagiert, ohne sie zuvor buchstäblich zur Weißglut reizen zu müssen.« Der Krieger sah hoch, wo Flammenrose ihre Kreise zog. Bildete er es sich ein oder umspielte tatsächlich ein schadenfrohes Grinsen ihr Maul, während sie immer wieder zu Feuersturm hinab schielte?

»Aber zuvor müssen wir deinem Drachen das Schwimmen beibringen. Komm!«

Er half Aster, auf den Rücken ihres Reittiers zu klettern.

Mit viel Geduld und gutem Zureden schafften sie es schließlich, den Lindwurm an Land zu dirigieren. Auf einen Zuruf von Cirano landete Flammenrose ebenfalls auf der Insel und stapfte zu ihrem Reiter. Dabei bog sie den Hals wie ein Schwan und lüftete mehrmals die Schwingen, den Blick unverwandt auf den tropfnassen Feuersturm gerichtet.

Aster überprüfte ihren Waffengurt und wrang Wasser aus ihrem Haar. »Nun? Du wolltest uns etwas beibringen.« Sie warf den Kopf zurück, sodass ihre Locken gegen ihren Rücken klatschten, und sah erwartungsvoll zu Cirano hinüber.

Der Krieger kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ich habe Flammenroses Wut ausgenützt. Ob ein Kommandowort allein ausreicht, damit sie es freiwillig tut, kann ich nicht sagen.« Er musterte seinen Drachen.

Flammenrose erwiderte den fragenden Blick. In diesem Moment wirkte sie alles andere als wütend. Nicht das kleinste Rauchwölkchen zeigte sich um ihr Maul.

Cirano zuckte die Achseln, wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Brandung und rief: »Feuer!«

Flammenrose drehte den Kopf hin und her, als wäre sie nicht sicher, auf was ihr Herr da zeigte.

»Feuer!«, wiederholte Cirano mit Nachdruck.

Das Drachenweibchen blinzelte ihn an und wandte sich erneut dem Meer zu.

Enttäuscht ließ Cirano die Hand sinken. »Das war ja klar …«, begann er sich zu beschweren, unterbrach sich jedoch irritiert.

War dies nur eine Reflexion der Sonne oder glühte das Schuppenkleid des Drachen im Brustbereich feuriger als normalerweise?

Flammenrose schloss halb die Augen. Rauchkringel begannen aus ihren Nasenlöchern aufzusteigen. Im nächsten Moment öffnete sie das Maul und ein Feuerball rollte über den Strand und aufs Meer hinaus, wo er eine zischende Spur auf den Wellenkronen hinterließ, bevor er sich zu vielen tanzenden Flammen verlief und schließlich erlosch.

Aster nickte anerkennend. »Wenn ihr so weitermacht, verwandelt ihr Akarta in ein Becken voll gekochter Fischsuppe.«

»Es ist die perfekte Waffe!«, behauptete Cirano schwärmerisch. »Stell dir vor, wie wir mit den Drachen auf diese Weise flüchtige Orks scharenweise zur Strecke bringen könnten! Die Zeiten, als wir jeden Einzelnen mit der Armbrust erschießen mussten, sind vorbei! Wenn wir das allen Drachen beibringen, sind wir unschlagbar!«

Aster verzog ob der Euphorie ihres Gefährten das Gesicht. Natürlich dachte er auch jetzt wieder nur an Waffen und Kämpfe.

»So einfach wird das nicht«, versuchte sie seine Begeisterung für dieses Bild der Zerstörung, das er da malte, zu dämpfen. »Moorfee ist ein Walddrache und verfügt über keinen derart vernichtenden Odem. Mondkristall ist derzeit ohne Reiterin und Nachtfalter ... Möchtest du tatsächlich riskieren, dem Schwarzen Drachen ins Bewusstsein zu rufen, dass ihm von Natur aus ein fürchterlicher Säureatem gegeben ist? Mir zittern die Knie bei dem Gedanken, was das Vieh unter Imares’ Kommando anrichten könnte, wenn beiden klar wird, welche Macht sie eigentlich kontrollieren könnten – oder eben nicht kontrollieren können.«

»Hm«, brummte Cirano. »Dann beschränken wir uns besser nur auf unsere beiden Roten Drachen hier. Wahrscheinlich ist es ohnehin viel Arbeit, die beiden so zu trainieren, dass sie auf Kommando Feuer speien.«

Aster seufzte. »Jetzt bräuchten wir Linara. Sie könnte den Drachen leicht beibringen, wofür wir vermutlich Stunden brauchen.«

»Die Elfe kann uns aber nicht helfen. Wer weiß, ob wir sie je wiedersehen.« Der Krieger straffte selbstsicher die Schultern. »Es sind unsere Drachen! Sie sollen uns gehorchen, also werden wir sie auch trainieren. Dazu brauchen wir keine Elfen.«

Aster starrte zu Boden. »Glaubst du das? Ich meine: Glaubst du, wir sehen sie nie wieder?«

»Willst du eine ehrliche Antwort?«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich nicht.«

»Nun dann: Aber natürlich werden wir sie wiedersehen. Wahrscheinlich ist sie schon jetzt auf dem Weg nach Hause.« Cirano gab sich keine Mühe, die Aussage auch nur annähernd glaubwürdig klingen zu lassen.

Trotzdem behauptete Aster: »Danke, Cirano. Das macht mir Mut.«

Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Meinst du das ernst?«

Sie zwang sich zu einem Grinsen, als sie zu ihm aufblickte. »Willst du eine ehrliche Antwort?«

»Eigentlich nicht«, scherzte er und sein Lachen klang ehrlich. »Jetzt komm! Wir haben zwei Drachen zu trainieren! Die Elfe soll Augen machen, wenn sie zurückkommt und sieht, was wir ohne ihre Hilfe geschafft haben!«

Aster empfand seine Reaktion als kaltherzig. Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass sein Selbstbewusstsein einen positiven Einfluss auf ihre Stimmung hatte. »Du hast recht! Und Mondkristall wird sich beeilen müssen, wenn er das nächste Mal Orks schockfrosten will, denn er wird sie gut durchgegrillt vorfinden!«

 

5 – Wo das Herz zu Hause ist

 

 

Ein magerer Vierbeiner, der möglicherweise entfernt mit einer Ratte verwandt war, brutzelte über einem kläglich kleinen Feuer. Es war nahezu unmöglich, in diesem unterirdischen Labyrinth Brennholz zu finden. Nur selten sprossen genügsame Pflänzchen zwischen Steinritzen, die wenig mit ihren sattgrünen Vettern an der Oberfläche gemein hatten. Flechten unterschiedlichster Art bedeckten oft ganze Höhlenwände – zum Glück waren sie nur selten von derart gefährlicher Natur wie die blassblau leuchtende Netzflechte, mit welcher Linara bereits eine unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte. Auch fasriges Moos fand man zuweilen. Von derartigen Pflanzen hatte die Waldelfe vertrocknete Reste zusammengescharrt, doch sie gaben den Flammen kaum ausreichend Nahrung.

Eine gefühlte Ewigkeit war Linara nun schon die Tunnel und Gänge im Herzen des Kalkspitzengebirges entlanggelaufen. Mittlerweile hatte sie jeden Sinn für Richtungen verloren. Sie wusste nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte, wenn sie weiter ins Innere der Erde vordringen wollte, noch konnte sie sagen, wo es nach Hause ging.

Die Elfe warf eine weitere Handvoll Flechten in die Flammen. Als das Feuer hungrig zischte und Funken stoben, blickte sie verunsichert nach den Seiten in die Dunkelheit der kleinen Höhle, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatte. Sie war sich des Risikos durchaus bewusst, das ein offenes Feuer in der absoluten Dunkelheit dieser Wildnis im Schoß der Erde barg. Für empfindliche Augen mochte dieses Licht selbst in den schmalen Tunneln viele hundert Meter weit zu sehen sein. Doch der Verzehr von rohem Fleisch entsprach keinesfalls Linaras Gewohnheiten. Ihr Magen rebellierte schon bei dem bloßen Gedanken an abgemagerte, zähe Nagetiere, die so frisch geschlachtet waren, dass ihr Blut noch warm war.

Die Waldelfe kramte die letzte trockene Brotscheibe aus ihrem Rucksack hervor – alles, was von ihrem Nahrungsvorrat aus der Heimat noch übrig war – brach eine Ecke ab und warf sie Squizi zu. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie ihn beobachtete, wie er mit seinen Vorderpfoten nach dem Krümel langte und dann eifrig daran zu knabbern begann.

Wie froh sie doch war, dass ihr treuer, vierbeiniger Gefährte an ihrer Seite war. Es war ein selbstsüchtiges Gefühl. Das wusste sie. Sehr wahrscheinlich würde er hier unter der Erde mit ihr sterben. Doch der Tod lauerte nicht in der Gestalt mordlüsterner Schattenelfen, wie sie immer gedacht hatte. Letztendes erschien es ihr immer unwahrscheinlicher, dass sie die Siath noch finden könnte. Vielmehr würde sie vorher verhungern – sie und ihr geliebter Tiergefährte mit ihr.

In absoluter Dunkelheit wanderten sie alleine zwischen den schroffen Falten im Herzen des Kalkspitzengebirges. Ein kahler, steinerner Tunnel fügte sich an den nächsten – Stunden zerflossen zu Tagen und Tage zu Wochen.

Linara hatte sich heillos verlaufen.

Es war die nüchterne Wahrheit. Und doch schien sie ihr falsch. Genau genommen hatte sie ihren Weg nie gekannt. Wie also sollte sie davon abgekommen sein? Womöglich war sie genau dort, wo sie sein sollte.

Nein. Linara lachte verbittert auf. Ihre Stimme hallte von den Felsen wider. Es klang, als würde das Gebirge selbst sie auslachen. Die Vorstellung schien ihr nur allzu passend. Das kalte, harte Gestein spottete der heißen Leidenschaft, welche sie vor so vielen Wochen voll unumstößlicher Überzeugung zu ihrer Mission gedrängt hatte. Was blieb, war ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere. Sie war überhaupt nicht dort, wo sie sein sollte – nicht dort, wo sie hingehörte.

Ohne zu wissen, worauf sie sich einließ, war sie aufgebrochen, weil sie geglaubt hatte, ohne Antworten nicht mehr leben zu können. Sie wollte Klarheit über das Schicksal ihrer Sippe bekommen – Antworten auf die Frage des Warum und Gewissheit, wo Hoffnung auf weitere Überlebende bestand. Diese Antworten, so hatte Linara geglaubt, waren der Schlüssel zu ihrem eigenen Selbst. In ihrer verschütteten Vergangenheit hatte sie stets nach ihrer Identität gesucht.

Aber hier gab es niemanden, der ihr Antworten geben konnte. Womöglich gab es hier nicht einmal Schattenelfen! Vielleicht war alles nur ein Trick, eine tödliche Falle, in welche die Siath ihre Feinde lockten. Ein Gefängnis aus Stein – ein Labyrinth, aus dem niemand mehr entkam.

Die Antworten waren nicht hier. Sie waren nie hier gewesen.

Linara vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Eine Waldelfe ging unter die Erde, um sich selbst zu finden? Das war doch lächerlich! Hier würde sie nie herausfinden, wer sie war. Hier konnte sie sich nur verlieren!

»Jacharthis! Warum hast du mich nicht aufgehalten?«

Die Antwort darauf konnte sie sich leicht selbst geben. Letztendlich hatte sie ihm keine Chance gelassen, sie zurückzuhalten. Es hatte nichts gegeben, mit dem er sie hätte überzeugen können. Sie hatte ihm ja überhaupt nicht zugehört. Und hätte er versucht, sie mit Gewalt zu zwingen, hätte sie ihm die Freundschaft gekündigt.

Nein. Ihn traf keine Schuld. Trotzdem brachte es ihr eine gewisse Erleichterung, ihre Frustration in Worte zu fassen.

Vorsichtig nahm sie das rattenähnliche Tier vom Feuer und begann, das fasrige Fleisch von den Knochen zu nagen. Es schmeckte nicht. Und es würde längst nicht reichen, ihr die Kräfte zurückzugeben. Es verhinderte nur, dass sie verhungerte.

Apathisch starrte Linara in die Flammen.

Die Konturen der Höhle um sie her verschwammen.

Anstelle kantiger Felsen reckten alte Eichen ihre knorrigen Äste in einen schwarzen Nachthimmel. Das Feuer schlug höher.

Zwischen den Flammen tauchten Gesichter auf. Elfen. Sie lachten und sie tanzten um die Flammen. Ein Elf mit langem, schwarzen Haar nahm sie bei den Händen und zog sie mit in diesen ausgelassenen Tanz. Vertraute Musik begleitete ihre Schritte. Immer schneller drehten sie sich. Linara warf den Kopf in den Nacken und jauchzte.

Als ihre Stimme verhallte, erstarb auch die Musik.

Es war plötzlich still. Nur das Feuer knisterte und fauchte.

Im nächsten Moment zerriss ein Schrei die Nacht. Der Elf hielt nicht länger ihre Hände. Linara stürzte. Um sie her züngelten die Flammen hoch. In ihrem grellen Licht sah sie noch immer die Gesichter der Elfen. Doch sie lachten nicht mehr. Ihre Mienen waren voll Grauen verzerrt. Ihre Augen starrten ausdruckslos ins Nichts.

Linara schlug hart auf dem Boden auf. Das Feuer war erloschen. Die Elfen waren fort. Dunkelheit. Nur Dunkelheit.

»Was machst du da? Hallo! Geht es dir gut?«

Das sommersprossige Antlitz eines Jungen tauchte über ihr auf. Zerzaustes, braunes Haar hing ihm tief in die Stirn.

»Du bist eine Elfe, oder?«

Linara fuhr hoch. »Atharis?!«

Das Gesicht verblasste. Zurück blieb der Anblick einer schroffen Höhlendecke. Es war dunkel. Das Feuer war erloschen. Letzte Reste der Glut verglommen langsam.

Daneben hockte Squizi und mühte sich ab, den Rest der Brotscheibe aus dem Rucksack zu ziehen.

»Atharis!«

Das Eichhörnchen zuckte zurück und warf der Elfe einen Blick zu, der zu sagen schien: Ich weiß, dass ich das nicht tun soll. Aber ich hab noch immer Hunger!

»Ach, Squizi!« Tränen traten Linara in die Augen. »Ich vermisse ihn so!«

Das Tierchen kam heran und legte fragend den Kopf schräg.

»Ich vermisse sie alle! Sindra, Aster … Ja, sogar den ewig missmutigen Cirano! Ich will nach Hause! Ich will heim zu meinem Bruder und zu Vater. Ich … ich meine zu Atharis und zu Meister Makantheo.« Sie schniefte. »Ach … Wie konnte ich sie nur verlassen?! Ich habe immer nach denen gesucht, die ich verloren hatte und ganz und gar die übersehen, die mich geliebt haben. Dass ich eine Elfe bin, hat Meister Makantheo nie davon abgehalten, mich wie eine Tochter zu lieben. Und ich war doch immer Atharis’ kleine Schwester. Aber ich habe sie verlassen und nun bin ich ganz alleine. Nun habe ich auch sie verloren!«

Wie um ihr Trost spenden zu wollen, kletterte Squizi auf ihren Schoß. Doch Linara fühlte sich deswegen nicht besser. Sie wusste jetzt, dass sie ihre Identität niemals verloren gehabt hatte. Linara war stets Linara gewesen und geblieben. Denn obwohl sie selbst zu verblendet gewesen war, um es zu erkennen, hatten ihre Freunde sie immer als das gesehen, was sie war. Die Frage ihrer Rasse und Herkunft hatte Atharis nie davon abgehalten, sie als seine Schwester zu lieben. Sie war, wer sie war … ob nun von Elfen geboren oder von Meister Makantheo aufgezogen ... sie war Linara, und daran würde sich – das wusste sie nun mit Sicherheit – nichts ändern, egal, was sie in der endlosen Dunkelheit der Unterwelt zu finden erhofft hatte. Doch war es jetzt für diese Erkenntnis womöglich zu spät. Sie konnte nicht einfach umkehren und nach Hause laufen.

»Werde ich sie jemals wiedersehen?«, fragte sie an das Eichhörnchen gewandt, obwohl sie keine Antwort erwartete. »Ich war eine Närrin! Ich bin in meinen eigenen Untergang gelaufen. Du hättest niemals mit mir kommen dürfen.«

Squizi rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und blinzelte müde zu ihr auf.

Sie hob ihn behutsam hoch und bettete ihn in ihre Armbeuge, während sie selbst versuchte, eine halbwegs bequeme Position für die Nachtruhe einzunehmen.

»Aber ich bin froh, dass du bei mir bist!«

 

 

»Kurz vor deinem Eintreffen erreichte mich dieses Schreiben per Brieftaube.« Kartiana schwenkte das Blatt Papier wie eine Friedensfahne, was Atharis’ Blick kurzweilig vom Südfenster auf ihre Gestalt lenkte.

»Es ist ein Hilferuf. Demnach haben Kobolde eine Farm angegriffen und halten die Menschen dort als Geiseln.«

»Kobolde?«, echote Atharis. Seine Augen wanderten wieder hin zum Fenster. Durch die offenen Flügel bot sich ein atemberaubender Blick über das Villenviertel der Stadt bis hin zum Gebirge. In der klaren Luft des Morgens zeichneten sich die felsigen Zinnen und Einschnitte beinahe unnatürlich scharf gegen den azurnen Himmel ab. Doch Atharis hatte überhaupt kein Interesse an den Steilwänden und Schluchten des Kalkspitzengebirges. Seine Gedanken hingen an einem ihm unbekannten Ort tief unter dem Gestein, das er mit seinem Blick nicht durchdringen konnte, so unermüdlich er auch darauf starrte.

Kartiana ließ den Brief sinken und musterte Atharis eine Weile schweigend. Er schien nicht einmal zu bemerken, dass sie auf seine halbherzige Frage nicht reagierte.

Der Soldat trug eine Lederhose, ein Leinenhemd und darüber einen ärmellosen Kettenpanzer, wie immer, wenn er sich informell mit ihr traf. An dem Waffengurt hing ein auffälliges Bastardschwert. Kartiana hatte den Soldaten noch nie unbewaffnet gesehen und sie fragte sich unwillkürlich, ob er die lange Stahlklinge auch in sein Schlafgemach mitnahm. Auf dem kurzen Weg von der Farm bis zur Festung drohten ihm kaum Gefahren, zumal er die Strecke auf dem Rücken eines Drachen zurückzulegen pflegte.

Kartianas Blick suchte den seiner nussbraunen Augen, doch Atharis sah unverwandt aus dem Fenster und seine Gedanken schienen weit fort. Sie wusste, dass er um seine Schwester trauerte. Angesichts des dunklen Ortes, an den Linara gegangen war, hatte Atharis jede Hoffnung aufgegeben, die Elfe könnte jemals zu ihm zurückkehren. Kartiana hätte ihm gerne Trost in dieser schweren Zeit geboten.

»Ich kann die Angelegenheit der Stadtwache überlassen, wenn du das möchtest«, meinte sie schließlich. »Allerdings entgeht uns damit eine Gelegenheit, einem Großgrundbesitzer zu helfen und auf diesem Weg unseren Ruf bei der wohlhabenderen Bevölkerung zu steigern. Das könnte auch den Argwohn meines Onkels den Drachenreitern gegenüber mindern.«

Atharis wandte sich mit einem Ruck vom Fenster ab. »Nein. Es ist schon in Ordnung. Ich übernehme den Auftrag.«

Er streckte die Rechte nach dem Brief aus. Doch Kartiana entzog das Papier seinem Griff und legte stattdessen ihre Hand in seine. Sie trat dicht an ihn heran, bis sie seinen Geruch wahrnehmen konnte – eine Mischung aus Reptil, Leder und Rüstungspolitur, die ihr jedoch nicht unangenehm erschien.

»Sie wird zurückkommen. Ganz bestimmt.«

Atharis ließ die Hand sinken und wandte sich von ihr ab. »Das wird sie nicht! Und das weißt du genauso gut wie ich!«

Kartiana seufzte, drängte unwirsch an ihm vorbei und drückte ihm das Papier in die Hand. »Hier! Dein Einsatzplan.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte sie zur Tür. »Ein schriftlicher Bericht genügt mir. Ich lasse nach dir schicken, wenn ich dich wieder brauche.«

Atharis nickte mechanisch und sah ihr durch die weit aufgerissene Tür nach. Kartianas rasche Schritte verhallten bereits auf dem Flur.

Noch nie hatte die Herrin von Silbersee ihn grußlos stehen gelassen. Doch so eigenartig ihr Verhalten auch sein mochte, so gab es doch andere Sorgen, die ihm zurzeit viel wichtiger schienen.

Geistesabwesend den zerknitterten Plan in seinen Händen glättend, trottete er auf den Flur hinaus und die breite Wendeltreppe hinunter in den Schlosshof, wo mehrere Wachleute mit misstrauischen Mienen Moorfee umringten.

»Diese Ketten halten das Biest nie und nimmer«, kommentierte ein Mann halblaut, als Atharis an ihm vorbeiging. Dieser ignorierte die Bemerkung einfach.

Genau genommen dienten die angesprochenen Ketten lediglich dazu, den Vorschriften Silbersees und insbesondere des Schlosses nachzukommen, die besagten, dass Reittiere jeglicher Art stets gebunden geführt werden müssen. Um einen Drachen zu binden, benötigte man mehrere massive Eisenketten und solide Verankerungen – folglich konnte man sie nicht einfach in die Tasche stecken wie eine Hundeleine. Wenn Moorfee ausbrechen wollte, konnte sie das jederzeit tun. Doch ein Drache diente einem Menschen aus freien Stücken oder gar nicht. Niemals hätte Atharis Gelegenheit gehabt, auf Moorfees Rücken zu steigen, wenn diese es nicht gebilligt hätte. Zwar waren Zuchtdrachen kleiner und auch zahmer als ihre wilden Verwandten, dennoch konnten sie einen Menschen verschlingen oder schlicht durch ihren Odem töten. Deshalb hatte Atharis auch keine Bedenken, dass Moorfee ihn ohne triftigen Grund verlassen könnte. Und wenn sie es dennoch gelegentlich tat, vertraute er auf ihre baldige Rückkehr.

Selbstverständlich war nicht jeder Drache dermaßen treu und zuverlässig. Imares musste Nachtfalter stets Ketten anlegen, damit dieser nicht auf und davon flog. Zwar waren auch sie nicht sonderlich solide, doch zum Glück war der Lindwurm bislang noch nicht auf die Idee gekommen, dass er letztendlich doch der Stärkere wäre. Eine einfache Fußfessel genügte gewöhnlich, damit sich der Schwarze nur noch hinkend vorwärts schleppte.

Mehr Vorsicht geboten war da schon bei den Jungtieren auf der Farm. Solange sie sich in den Stallungen befanden, waren sie fest angekettet und die engen Räumlichkeiten verhinderten, dass sie ihre Schwingen voll entfalten konnten. Aber auf dem Abrichtegelände kam es zuweilen zu dem einen oder anderen Fluchtversuch.

Atharis löste die beiden Ketten, welche er nachlässig um einen Mauerpfeiler geschlungen hatte, und verstaute sie am Sattel. Dann stieg er auf Moorfees Rücken und nahm die Zügel auf.

Die Wachleute wichen eilig zurück, als sich das Walddrachenweibchen mit raschen Flügelschlägen senkrecht in die Luft arbeitete, um dann aus dem Innenhof in Richtung der Drachenfarm zu fliegen.

 

 

Sindra hatte sich an ihrem Kräutergärtchen vor dem Wohnhaus zu schaffen gemacht. Für das Halbling-Mädchen war dies ihr eigenes kleines Reich. Sindra hatte in ihrem jungen Leben nie viel besessen, genau genommen hatte sie überhaupt nichts besessen, was sie sich nicht unerlaubt angeeignet hatte. Auf diesem Fleckchen Erde auf dem Hof der Drachenfarm konnte sie walten, wie sie wollte, säen und ernten. Hier und in der Küche, die Atharis ihrer Obhut überlassen hatte, war sie die Anführerin und ihr Gefolge hatte einen erheblichen Vorteil: Es konnte nicht widersprechen.

Als nun ein Schatten für einen Moment die Sonne verdunkelte, sah sie überrascht auf. Moorfee landete unweit von ihr und Sindra kniff zum Schutz vor dem aufwirbelnden Staub die Augen zusammen.

»Das war eine ungewohnt kurze Besprechung«, bemerkte sie mit einem Blick auf die Sonnenuhr.

»Ruf die Drachenreiter zusammen. Es gibt Arbeit!« Atharis sprang vom Rücken seines Reittiers und lief auf die Eingangstür des Haupthauses zu. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, Moorfee abzusatteln, was Sindra ahnen ließ, dass er es tatsächlich eilig hatte, bald wieder fortzufliegen – offenbar zusammen mit seinen Rekruten.

»Ein Auftrag?«, rief sie hoffnungsvoll aus. In den Wochen seit Linaras Verschwinden hatte sie beobachten müssen, wie sich Atharis in Trauer und Selbstmitleid verlor. Ein Einsatz würde ihn zumindest vorübergehend auf andere Gedanken bringen, hoffte sie.

Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und lief zu einem der Nebengebäude. Es handelte sich um ein lang gestrecktes Bauwerk aus Lehmziegeln und Holzbalken. Im Erdgeschoss waren Aufenthaltsräume für die Bediensteten der Drachenzucht eingerichtet.

Eine Mischung von Küchendampf und Tabakrauch wallte Sindra entgegen, als sie die Tür aufriss. Sie grüßte knapp in Richtung der Gemeinschaftsküche, aus der Geschirrgeklapper und gedämpfte Stimmen zu vernehmen waren.

»Hallo, Sindra, meine Kleine! Lust auf ein spätes Frühstück?« Das unrasierte Gesicht des alten Stallknechts Horat schälte sich aus den Rauchschwaden.

»Nein, keine Zeit!«, rief Sindra und hastete die Treppe hoch ins Dachgeschoss. Auf halbem Weg zögerte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie soeben eine Einladung zu einem Essen ausgeschlagen hatte. »Oder … vielleicht später!«

Am oberen Treppenabsatz angekommen, fand sie sich zwischen zwei Türen wieder. Auf der Rechten stand mit Kreide geschrieben: »FÜR EINE AUDIENTS BEIM GROSEN DRACHENKRIGER BITE KLOPFEN!« Die Rechtschreibkünste des Verfassers ließen erahnen, dass dieser seine Schulbildung vorzeitig abgebrochen hatte. Doch Sindra hatte nie eine Schule besucht und so sagte ihr die Aufschrift, deren Bedeutung sie in der Vergangenheit mühevoll entziffert hatte, nur, dass der Urheber gelegentlich zu Anflügen ungerechtfertigter Selbstverherrlichung neigte. Heute ignorierte sie das Gekrakel völlig und griff nach der Türklinke.

Einen Augenblick hielt sie inne und sah über die Schulter zurück zu der anderen Tür. Sie führte in eine kleine Kammer, wie Sindra wusste. Das einzige Fenster stand fast immer offen. Einrichtung gab es keine, nur ein schlichtes Feldbett. Seit Wochen war es nun schon unbenutzt.

Jacharthis ließ sich immer seltener auf der Drachenfarm blicken. Sindra hatte ihn bei einem seiner kurzen Besuche darauf angesprochen, doch er hatte nur ausweichend gemeint, wichtige Dinge erledigen zu müssen. Manchmal fragte sie sich, ob er ebenfalls zu den Siath aufgebrochen war, allein und ohne ihr etwas davon zu sagen. Doch dann tauchte er unvermutet wieder auf, nur um bald darauf wieder für Tage zu verschwinden.

»Elfen«, murmelte Sindra und öffnete mit einem Ruck die Tür, deren Knauf sie die ganze Zeit über umklammert gehalten hatte.

»He! Was glaubst du, was bitte klopfen bedeutet?«, entrüstete sich Imares.

Er lag auf seinem Bett, die Füße, die zu Sindras Entsetzen in Stiefeln steckten, über Kreuz auf dem Kopfkissen hochgelagert, und lugte über ein zerfleddertes Buch hinweg. Es behandelte verschiedene weibliche Dämonen, insbesondere Sukkuben, wie Sindra anhand der Zeichnung auf dem Umschlag schlussfolgerte. Sie wusste genug über diese Kreaturen, um eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, weshalb Imares dieses Buch gewählt hatte. Eine genaue Vorstellung hätte ihr vermutlich den Appetit auf das späte Frühstück verdorben, das unten auf sie wartete.

»Du wirst in Silbersee kaum Gelegenheit erhalten, auf eine von denen zu treffen.« Sindra zeigte auf das Buch.

Imares zuckte die Achseln. »Ein Mann muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.« Ein schmutziges Grinsen huschte über seine Lippen. »Wenn du das nächste Mal magische Flüssigkeit verschüttest, könntest du dich ja darauf konzentrieren, dass eine heiße Dämonin erscheint und nicht so ein dürres Nebelgewirbel.«

Sindra schnaufte verächtlich. »Das hättest du wohl gern! Sie würde dich verschlingen!«

»Oh, ja!« Imares schloss verträumt die Augen. »Das würde mir gefallen.«

»Du bist widerlich!«

»Was bleibt einem Mann denn anderes übrig, der aufgrund der kaum zu schlagenden Konkurrenz südländischer Muskelpakete und elfischer Charmeure von der hiesigen Damenwelt schlichtweg ignoriert wird?«

Sindra beschloss, dass es höchste Zeit für einen Themenwechsel war. Ihr war nicht klar, ob sie sich zu dieser hiesigen Damenwelt zählen sollte. Auch wenn sie gerne vor allem dem angesprochenen Elfencharmeur einen zweiten Blick nachwarf, so war sie doch nicht so vermessen, von mehr, als diesem optischen Genuss zu träumen. Für sie als Halbling galten ohnehin andere Maßstäbe. Letztendlich fühlte sie sich zu einer wohlgenährten Figur und roten Pausbacken auf ihrer Augenhöhe mehr hingezogen als zu Waschbrettbauch und kantigen Zügen. Und für sehnige Knochengestelle wie Imares hatte sie ohnehin nur ein verständnisloses Kopfschütteln übrig.

 

 

»Nun, vielleicht ist das ja gerade heute dein großer Tag. Atharis hat einen Auftrag und möchte, dass du unverzüglich zur Besprechung kommst. Von Dämonen hat er allerdings nichts gesagt.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, schlüpfte sie zur Tür hinaus und rief von der Treppe zurück: »Und bei der Gelegenheit kannst du gleich das Buch zurückbringen!« Imares’ zweifellos bissigen Kommentar konnte sie schon nicht mehr verstehen.

Wieder musste sie an der Küche vorbei, ohne sich Zeit für einen kleinen Imbiss zu nehmen. Den festen Vorsatz fassend, das versprochene späte Frühstück umso ausgiebiger zu genießen und am besten nahtlos in ein frühes Mittagessen übergehen zu lassen, eilte sie nach draußen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739366142
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Drachen Magie Abenteuerepos Schattenelfen Fantasy Unterwelt sword and sorcery Dunkelelfen High-Fantasy Saga

Autor

  • Manuela P. Forst (Autor:in)

Manuela P. Forst lebt in Wien und hat sich mit Schreibfeder und Zeichenstift der Fantasy verschworen. Seit 2004 veröffentlichte sie zahlreiche Texte in Anthologien und Magazinen. Ihr Debütroman "Donoghs Rache" erschien 2006 in dem Buch "Basodunum - Von Kriegern und Druiden". "Bardenlieder von Silbersee" ist ihre bislang erfolgreiste High Fantasy-Serie.