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Im Bann der zertanzten Schuhe

von Janna Ruth (Autor:in)
210 Seiten
Reihe: Märchenspinnerei, Band 5

Zusammenfassung

SERAPH 2018 Gewinner: „Bester Independent-Titel“ Ein verborgener Hain Ein verfluchter Prinz Ein Paar zertanzter Schuhe Vor drei Jahren ist Jonas aus dem Krieg heimgekehrt und doch scheint es, als wäre er nie zuhause angekommen. Ziellos durch die Straßen schweifend, trifft er einen alten Mann, der ihm von den Wundern des DeModie erzählt, einem verwunschenen Reich im Herzen des Nachtlebens. Unzählige Reichtümer und Schätze erwarten ihn dort, doch, was Jonas wirklich verzaubert, ist die lebensfrohe Tänzerin Sophie, die ihn mit ihrem Lachen ansteckt. Jede Nacht tanzt Sophie mit ihrem Prinzen und jede Nacht zerreißen ihre Schuhe ein klein wenig mehr, und mit ihnen das Geheimnis, welches das DeModie und seine Bewohner umgibt. Die zertanzten Schuhe mal anders. Im Bann eines verzauberten Tanzes spinnt die Autorin Janna Ruth märchenhafte Elemente der Brüder Grimm zu einer modernen Fabel über das glitzernde Nachtleben, zerbrochene Träume und verlorene Seelen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

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KAPITEL 1

Ouverture

 

Schutt und Asche rieselten vom Himmel, als Jonas sich flach auf den Boden warf. Kaum dass er lag, erschütterte eine zweite Explosion die Erde. Schreie mischten sich unter das laute Heulen der Sirenen. Jonas presste die Hände auf die Ohren, aber die Schreie bohrten sich gleichzeitig mit den Glassplittern tief in seinen Kopf. Hitze wallte über ihn hinweg und brachte den Geruch von verbranntem Fleisch mit sich. Die Schreie wurden lauter, kreischten unmenschlich hoch. Er konnte ihnen nicht entgehen; verbrannte mit ihnen, während er sich gleichzeitig unter Anstrengung all seiner Kraft aus dem Schutt wühlte, den Kopf immer unten haltend. Bloß nicht auffallen. Wenn er nur weit genug weg war, hätte er eine Chance.

Zum dritten Mal wurde seine Umgebung in Stücke gerissen.

Es war sein eigener Schrei, der Jonas schließlich aus dem Schlaf riss. Desorientiert und nach Luft schnappend sah er sich in dem kleinen Zimmer um. Nirgendwo lag zersplittertes Glas. Die Balken waren nicht zerborsten. Der Mann im anderen Bett röchelte nicht, sondern schnarchte. Jonas' Herz schlug heftig, die Laken waren durchgeschwitzt und in seinen Augen brannten Tränen, aber er war in Sicherheit.

Seufzend ließ Jonas sich zurück ins Kissen fallen und starrte die Decke an. Noch immer hallten die grausigen Schreie in seinem Kopf, nur unterbrochen von immer heftigeren Detonationen. Er hatte das Soldatenleben aufgegeben und den Krieg hinter sich gelassen und dennoch ließ es ihn nicht los. Er hatte das Gefühl stillzustehen, während die Welt sich um ihn weiter drehte. Als gäbe es für ihn nichts anderes mehr als diesen Albtraum. Je länger er an die Decke starrte, desto heftiger spürte er die Erschütterungen, wenn die Bomben in seinem Kopf explodierten.

Die Narbe auf seinem Rücken begann mit einem Mal zu schmerzen und Jonas hielt es nicht länger aus. Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Während er sich anzog, lauschte er auf die Umgebung. Von dem Schnarchen seines Zimmernachbarn abgesehen, lag die Jugendherberge in vollkommener Stille. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es vier Uhr morgens war. Selbst die Gruppe grölender Jugendlicher vom Vorabend war längst im Bett verschwunden. Es war diese Stille, die die Albträume nachts einlud. Die Stille in ihm, die er selbst nicht zu vertreiben vermochte. Schon schlichen sich die Erinnerungen, die er zu vergessen suchte, wieder an. Sie lauerten nie weit entfernt in seinem Unterbewusstsein.

Er brauchte einen Ortswechsel. Geräusche. Leben.

Jonas beschloss die Jugendherberge zu verlassen und den Morgen zu nutzen, sich mit der neuen Stadt vertraut zu machen. Mit ein wenig Glück hatte er heute Abend endlich wieder einen Job und konnte versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Alles, was er tun musste, war, durch das Bewerbungsgespräch zu kommen, ohne einen seiner Anfälle zu bekommen.

Die frische Luft half ihm, die Gedanken an den Traum endlich zu vertreiben. Es war angenehm draußen, nicht so heiß wie tagsüber. Die Nacht war erfüllt von Lauten. Irgendwo hinter ihm tropfte eine Kühlanlage, zwischen den Gräsern zirpten die Grillen und ein Rascheln im Busch zog kurz Jonas' Aufmerksamkeit auf sich. Im Krieg hatte es keine Büsche gegeben, nur kalten nackten Stein.

Die Jugendherberge lag auf einem Hügel außerhalb der beschaulichen Kleinstadt und Jonas lief ein Stück, bis er freie Sicht hinunter auf die Dächer hatte. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln. Nur hier und da drang das Licht der Straßenlaternen zu ihm hinauf. Unweigerlich wurde sein Blick auf ein kleines Lichtermeer im Süden der Stadt gezogen.

Wie von selbst trugen seine Füße Jonas in diese Richtung, auf der Suche nach Gesellschaft. Noch lange, bevor er die beleuchteten Straßen erreichte, konnte er den Puls des Lebens hören. Ein Bass dröhnte von weiter vorn, vermischte sich mit anderen Rhythmen und schon bald vernahm Jonas vereinzelte Melodien. Menschen torkelten über die Straße, lachend und grölend. Zu seiner Rechten keifte sich ein junges Paar an, während weiter vorne lautstark und falsch mitgesungen wurde.

Erleichtert ließ sich Jonas von den Klängen mittragen.

Es dämmerte bereits, als sich die Tür eines Clubs neben Jonas öffnete und lautes Gelächter ertönte. Eine Gruppe kichernder Mädchen stolperte ins Freie und scherzte mit dem Türsteher. Ihr lebensfrohes Lachen schlug Jonas in seinen Bann und er betrachtete die heiteren Nachtschwärmer, wie sie sich gegenseitig stützen, laut schnatterten und dabei immer wieder in Gelächter ausbrachen.

Besonders eine der jungen Frauen zog Jonas' Blick auf sich. Tänzelnd sprang sie trotz ihrer Trunkenheit hinter den anderen her, als würde sie eine Musik hören, die niemand anders vernahm. Während er sie betrachtete, spürte Jonas zum ersten Mal seit langem, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass ihre bis in die Zehen gestreckten Füße barfuß waren. Irritiert folgte Jonas ihrer Spur zurück und entdeckte die liegengelassenen Schuhe nahe der Clubtür. Es waren keine Highheels, wie er erwartet hatte, sondern Spitzenschuhe, wie sie im Ballett benutzt wurden. Jonas bückte sich und beeilte sich der kleinen Gruppe zu folgen, die nun ein Taxi angehalten hatte.

«Entschuldigung?» rief er und das Mädchen drehte sich erwartungsvoll zu ihm um. Für einen Moment verlor Jonas sich in ihren dunklen Augen, dann räusperte er sich und hob die Schuhe in die Höhe. «Sie haben da was vergessen.»

Schwankend sah sie zuerst zu ihren bloßen Zehen, als müsste sie die Richtigkeit seiner Aussage überprüfen. «Oh, stimmt. Danke!»

Jonas betrachtete erneut die Schuhe in seinen Händen. Die Sohlen und die Spitze waren abgenutzt, die Bänder fransig und schmutzig. «Die sind ziemlich durchgetanzt.»

Das Mädchen sah auf und lachte: «Ja, schon irgendwie.» Als könnte sie nie lange genug still stehen, tänzelte sie auf der Stelle herum und stolperte schließlich nach vorne.

Mit der linken Hand griff Jonas ihren Arm. Hitze breitete sich in seinem Magen aus, während er ihr half, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. «Alles in Ordnung?»

Sie nickte und strich sich mehrere Strähnen aus dem Gesicht, ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen.

Mit einem kleinen Räuspern reichte Jonas ihr die Schuhe. «Hier.»

Sofort hob sie abwehrend die Hand. «Oh nein! Mir tun die Füße jetzt schon weh. Ich habe die ganze Nacht durchgetanzt. Ich glaube, ich könnte mir nicht mal die Bänder zubinden.»

In ihrem Zustand glaubte ihr Jonas das nur zu gerne.

Dennoch beharrte er darauf, ihr die Schuhe zu geben. «Ja, schon, aber ...»

«Es sind nur Schuhe! Kaputte Schuhe!» Das Mädchen lächelte verschmitzt und Jonas konnte nicht anders, als es ihr gleich zu tun. «Behalt sie einfach!», schlug sie plötzlich im Übermut vor.

Die Absurdität des Angebots entlockte Jonas ein Schnauben. «Ich fürchte, die sind mir zu klein.» Zu seiner Freude hellte sich ihr ganzes Gesicht auf, als sie in schallendes Gelächter ausbrach.

«Sophie, jetzt komm endlich! Das Taxi wartet», drängelte eine ihrer Freundinnen und hielt ungeduldig die Tür auf.

Mit einem letzten Grinsen winkte Sophie ihm zu und stolperte mit etwas Hilfe in das Taxi hinein. Die Tür fiel zu und das lebensfrohe Gelächter verklang.

Seufzend sah Jonas dem Taxi hinterher, das kaputte Paar Ballettschuhe noch immer in der Hand. Als das Auto schließlich um die Ecke bog, drehte er sich neugierig zu dem Club um.

DeModie.

In düsteren, verschlungenen Lettern stand der Name über einer schmalen, unscheinbaren Holztür. Je länger Jonas hinsah, desto mehr schien sie mit dem Gebäude zu verschmelzen. Hätte er vorhin nicht direkt daneben gestanden, hätte er den Eingang niemals zwischen den leuchtenden Neonschildern der Nachbarclubs entdeckt.

Verwirrt wandte Jonas sich ab und ging weiter, Sophies Bild vor Augen. Noch immer waren seine Lippen zu einem Lächeln verzogen und er fühlte sich so lebendig wie lange nicht mehr. Gut gelaunt pfiff er ein Liedchen, während die Welt um ihn herum langsam erwachte.

«Interessanter Schuppen, oder?», wurde er plötzlich von der Seite angesprochen.

Jonas brauchte einen Moment, bevor er den Bettler in seinem Haufen Decken richtig wahrnahm. Nichts an dem Mann war auffällig. Das verfilzte Haar hing ihm tief ins Gesicht und seine Augen huschten unstet umher. Ein abgegriffener Plastikbecher stand vor ihm.

Zögerlich tastete Jonas nach seinem Portmonee und ließ ein paar Münzen in den Becher fallen. «Was meinen Sie?»

Der Bettler grinste ihn an und entblößte schiefe gelbe Zähne. «Das DeModie. Der Traum einer jeden Jungfer.»

«Jungfer?», wiederholte Jonas ungläubig. Das Wort hatte er das letzte Mal in einem Märchenbuch gelesen. Er sah zurück zu der Stelle, wo das DeModie förmlich zwischen den anderen Clubs verschwand. «Sieht für mich eher nach Absteige aus.»

Der Mann hustete und klopfte auf den Platz neben sich. «Eben eben, es soll ja nicht jeden anlocken.»

Jonas zögerte. Das war nicht unbedingt die Gesellschaft, nach der es ihn verlangt hatte. Aber was, wenn er nicht der einzige war, den es nach einem kurzen Gespräch verlangte? «Und wer soll stattdessen reingehen?», fragte er, während er neben dem Bettler Platz nahm. «Etwa zarte Jungfern?»

Die blauen Augen des Bettlers funkelten vergnügt, während er nach vorne langte und das Geld zwischen seinen warmen Decken verschwinden ließ. «Du wirst es schon sehen, wirst es schon sehen.»

Jonas wunderte sich, was genau er sehen würde, doch der Mann war mit sich selbst beschäftigt und murmelte vor sich hin. «Irgendwo ... na, ich habe doch ... ja, ja, die Zeit und ihre Träume ... Ah, da bist du ja.» Jonas fragte sich schon, in was für eine Situation er sich jetzt schon wieder manövriert hatte, als der Mann eine kleine Flasche hervornahm. Grunzend schüttete er die Münzen aus seinem Becher und goss ein. Jonas wollte sich gerade wieder erheben, als der Bettler ihm plötzlich den Becher vor die Nase hielt. «Hier, trink!»

Zögerlich betrachtete Jonas den gräulichen Rand des Bechers. Seine Gedanken sprangen sogleich zu den zahlreichen Krankheitserregern, die sich mit Sicherheit in dem Becher tummelten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was er sich dabei wohl alles holen könnte.

Und wenn schon.

Wenn der Krieg ihn nicht umgebracht hatte, würde es dieser Becher erst recht nicht tun. Jonas griff nach dem Becher und nahm einen Schluck. Fast hätte er ihn wieder ausgespien, so widerlich schmeckte der Schnaps.

Lachend nahm der Bettler ihm den Becher wieder ab und leerte ihn in einem Zug. «Nicht viel gewöhnt, was?»

Jonas verzog das Gesicht. Der ekelhafte Geschmack lag ihm noch immer auf der Zunge.

«Aber gut erzogen und freundlich. Würde sich nicht jeder zum alten Manu setzen.»

«Was ist denn das für ein Club?» fragte Jonas schließlich, als er wieder Luft zum Atmen hatte, bemüht wenigstens etwas Vernünftiges aus dem alten Mann herauszubekommen.

«Oh, der schönste Ort auf Erden, reicher als jede Schatzkammer und voller Freuden.» Sehnsüchtig sah der Mann zu dem Club, bevor er ihm den Blick wieder zuwandte. «Und der kälteste. Hier, ich will dir was geben.»

Zu Jonas' Entsetzen begann der Mann sich aus der obersten Decke zu schälen, die sich als ein zerschlissener Wintermantel herausstellte, und reichte ihn Jonas.

Protestierend hob Jonas die Hände. «Oh nein, das kann ich nicht annehmen. Sie brauchen den mehr als ich. Jetzt ist es noch warm, aber später ...»

«Nimm ihn, Junge», grollte der Bettler überraschend vehement. «Das ist kein gewöhnlicher Mantel.»

Skeptisch hob Jonas die Brauen. «Nicht?»

Der Bettler nickte mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. «Du wirst sein Geheimnis schon noch lüften. Glaub mir, dir wird er mehr nutzen als mir. Er stammt aus dem Club.»

«Ich ...» Jonas fiel nichts ein, was er dazu sagen konnte und so beließ er es bei einem schlichten «Danke».

Der Bettler lächelte wohlwollend. «Vertrau mir. Damit kannst du dir Zugang zu all den wunderbaren Träumen verschaffen.»

Zweifelnd sah Jonas auf den zerschlissenen Mantel. Jetzt war er Besitzer von gleich zwei Kleidungsstücken, die am besten in die nächste Mülltonne gehörten. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, einen Second-Hand-Laden aufzumachen, wenn das Vorstellungsgespräch wieder in die Hose ging.

Kaum hatte der Bettler sein Geschenk übergeben, verlor er das Interesse an Jonas. «Nun mach schon, dass du wegkommst, Junge!»

Irritiert stand Jonas auf. Im Fortgehen warf er immer wieder einen Blick über die Schulter. Der Bettler schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr und verschwand stattdessen wieder in seinen Decken, unscheinbar wie das DeModie.

Jonas wandte sich nach vorne und betrachtete sein neues Erbstück. Im Sonnenlicht sah er gar nicht mehr so dreckig aus. Ganz im Gegenteil, der Schmutz war verschwunden und zum Vorschein kam ein Stoff, der feiner war, als alles, was er je in der Hand gehalten hatte. Er fühlte sich unglaublich leicht und trotzdem weich wie Samt an. Wenn er das feine Gewebe zwischen den Fingern hin und her rieb, schimmerte der Stoff sogar im Sonnenlicht.

An seinem Verstand zweifelnd betrachtete Jonas die Schuhe in seiner anderen Hand, doch sie sahen genauso abgenutzt aus wie zuvor.

Müde rieb Jonas sich mit dem Arm über die Augen. Vielleicht hinterließen die Schlafstörungen doch langsam ihre Spuren. Bei einem letzten zweifelnden Blick zurück stellte Jonas fest, dass die Ecke vollkommen leer war. Als wäre der Bettler nie dagewesen. Kopfschüttelnd betrachtete Jonas den merkwürdigen Mantel in seiner Hand. Der Schnitt war altmodisch und der Stoff gut eine Handbreit zu lang für ihn. Dabei hatte der alte Mann gar nicht so groß gewirkt.

Hoffentlich würde der Rest des Tages nicht ebenso verwirrend verlaufen. Schließlich stand seine Zukunft auf dem Spiel.

 

«Und was haben Sie in den letzten drei Jahren gemacht?»

Die Frage bohrte sich tief in Jonas' Eingeweide. Nervös sah er den gut gepflegten Mann mit dem schütteren Haar an, der entspannt in seinem Stuhl saß und ihn kritisch betrachtete. Es war der analytische Blick, den Jonas von anderen Offizieren kannte. Als würde er ausrechnen, wie hoch die Chancen waren, dass Jonas die nächste Mission überleben würde.

Jonas räusperte sich und griff zum wiederholten Male zu dem Glas Wasser vor sich. «Ich habe ein Studium begonnen und versucht eine Ausbildung zu machen.» Die Details dieser jämmerlichen Versuche lagen vor ihnen in der Mappe mit dem Lebenslauf.

«Aber?» Der Mann hatte eine seiner buschigen Augenbrauen gehoben und tappte leicht mit den Fingern auf seinen Schreibtisch.

Sich an seine Ausbildung erinnernd, drückte Jonas das Rückgrat durch und erstattete Bericht. «Ich hatte das Studium zu früh angefangen und mit der Umstellung zu kämpfen.» Es war der Zeitpunkt gewesen, an dem die Albträume angefangen hatten. «So viele Leute an einem Ort waren mir unangenehm und daher blieb ich öfter zu Hause als förderlich für meinen Notendurchschnitt war. Während meiner Ausbildung kam es zu einigen unerwarteten Fehlstunden wegen ...» Schluckend dachte er an die damaligen Panikattacken; Tage, die er kauernd unter dem Bett verbracht und nur als dunkle Episoden seiner Albtraumwelt erlebt hatte.

Der durchbohrende Blick seines Gegenübers ließ Jonas nervös werden. Es war ihm nicht möglich ihn zu erwidern und so sah er sich stattdessen in dem luxuriösen Büro um. Der Ruhestand vom aktiven Dienst hatte Herrn Kallenbach gut getan. Die Stühle in dem großen lichten Büro waren mit edlem Leder bezogen und an den Wänden hingen teure Gemälde. Als er wieder zurücksah, bemerkte er, dass er immer noch genau beobachtet wurde.

Schließlich erlöste Herr Kallenbach ihn und sagte mit ruhiger Stimme. «Sie haben mehr aus dem Krieg mitgebracht, als Sie erwartet haben.»

Jonas starrte auf seine Finger. Es war ihm peinlich, dass der Krieg ihn so mitgenommen hatte. Er hatte tapfer gekämpft, jeden Auftrag ausgeführt und war lebend heimgekehrt. Das war mehr, als manch einer seiner Kameraden behaupten konnte. Was würden sie jetzt sagen, wenn sie sahen, dass er sich vor jeder noch so kleinen Erschütterung des Bodens fürchtete oder dass ihn die Erinnerung jede Nacht aufs Neue einholte? Was würden sie davon halten, wenn sie wüssten, dass er das Leben, das ihm geblieben war, nicht in vollen Zügen genießen konnte? Dass er den Weg in dieses Leben nicht mehr fand?

Verhalten räusperte sich Jonas und nickte. «Ich gebe mein Bestes.»

Sie wussten beide, dass das lächerlich wenig war. Dennoch war Herr Kallenbach gewillt fortzufahren: «Was verstehen Sie unter einer guten Arbeitsmoral?»

«Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, sowohl Eigenständigkeit als auch die Bereitschaft, Befehle ohne Fragen auszuführen, Verlässlichkeit», zählte Jonas auf, den Blick diesmal ungezwungen erwidernd.

Herr Kallenbach nickte und lehnte sich ein wenig vor. «Und sind Sie das? Verlässlich?»

Etwas unwohl rutschte Jonas auf dem Stuhl herum, bis ihn der stahlharte Blick zwang, wieder Haltung anzunehmen. «Jawohl!» Fast salutierte er, bevor er den Blick wieder senkte. «Ich wurde für meine tadellose Militärzeit mit dem Bundesehrenkreuz ausgezeichnet. Welche Aufgabe Sie auch immer für mich haben, Sie können auf mich zählen.» Das Versprechen war Jonas unverhofft herausgerutscht, denn eigentlich hatte er keine Ahnung, was Herr Kallenbach von ihm erwartete.

Nach mehreren Versuchen, sich aus eigener Kraft ein neues Standbein in dieser neuen Realität aufzubauen, hatte Jonas seinem ehemaligen Truppführer von seinen Schwierigkeiten erzählt. Natürlich hatte er ihm nichts von den Albträumen gesagt. Das war auch nicht nötig gewesen. Die Wahrheit hatte deutlich in seinen Augen gestanden.

Sein Truppführer hatte ihn schließlich Herrn Kallenbach empfohlen, der zurzeit nach vertrauenswürdigen Leuten suchte.

«Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass Sie für den Job geeignet sind.»

Jonas' Herz sank. Langsam wurde es brenzlig, wenn er aus seinem Leben etwas machen und nicht im Sicherheitsdienst oder schlimmer noch bei der Müllabfuhr enden wollte.

«Aber ich wäre der Letzte, der einem jungen Mann keine Chance geben würde.»

Überrascht horchte Jonas auf, gespannt auf das, was kommen würde.

Herr Kallenbach lehnte sich zurück. «Ich möchte Sie als persönlichen Assistenten einstellen. Ihr Truppführer erwähnte, dass Sie etwas von Logistik und Administration verstehen.»

Jonas nickte erneut. Er hatte die Arbeit im Lager genossen, auch wenn er nur Befehle ausgeführt hatte.

Zufrieden fuhr Herr Kallenbach fort. «Ich nehme an, dass Sie sich noch keine Wohnung in der Stadt besorgt haben?»

Diesmal schüttelte Jonas den Kopf. Es stand als nächstes auf seiner Liste.

«Gut. Sie können in der Gästewohnung auf der anderen Seite des Anwesens einziehen. Die übrigen Formalien übernehme ich. Das Gehalt entspricht dem meiner Sicherheitsangestellten.»

Mit diesen Worten schob er Jonas einen Umschlag über den Tisch. Auf sein Nicken hin nahm Jonas ihn an sich und warf einen Blick auf den Vertrag. Als er die Zahlen sah, wurde ihm schwindlig. Er konnte es sich nicht leisten, den Job auszuschlagen. Gespannt wartete Jonas darauf, was der Haken an der Sache war.

«Ihre erste Aufgabe wird jedoch andere Qualitäten von Ihnen abverlangen. Sehen Sie es als Bewährungsprobe an. Es geht dabei um meine Tochter. Sophie», stellte Herr Kallenbach endlich klar.

Verwirrt griff Jonas nach dem Glas Wasser, nur um festzustellen, dass es längst leer war.

Ohne Kommentar schob sein Gegenüber die Flasche herüber und sprach weiter: «Jede Nacht verschwindet sie und taucht erst bei Tagesanbruch wieder auf. Sie sagt mir weder, wohin sie geht, noch vertraut sie es sonst jemandem an. Alle Versuche, ihr zu folgen, enden mit dem gleichen Ergebnis. Sie ist immer wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe die Gegend, in der sie verschwindet, gründlich absuchen lassen. Ohne Erfolg.»

«Wäre das nicht eher etwas für einen Privatdetektiv?» Jonas war nur einfacher Soldat gewesen. Er wüsste nicht einmal, wo er mit der Aufgabe anfangen sollte.

Herr Kallenbach seufzte. «Glauben Sie mir, es waren schon mehrere an der Aufgabe dran. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass alle scheitern. Sie jedoch sind nicht viel älter als meine Tochter. Vielleicht können Sie herausfinden, wo sie sich Nacht für Nacht rumtreibt.»

Nervös befeuchtete Jonas seine Lippen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er das Mädchen beschatten sollte. Aber er brauchte das Geld und viel mehr noch die Chance. Während er mit sich rang, verlor sein Gegenüber allmählich die Geduld. «Also?»

«Ich fühle mich nicht wohl dabei», gab Jonas zu.

Bevor er sich jedoch erklären konnte, schnaubte Herr Kallenbach. «Wenn Sie Ihre Aufgabe gut machen, schreibe ich Ihnen eine Empfehlung aus, mit der Sie sich vernünftig bewerben können. Oder Sie bleiben in der Firma, wenn sich das ergibt.»

Jonas wusste, dass er das Angebot nicht ablehnen konnte. Vielleicht fand sich ja ein anderer Weg, um an die Informationen heranzukommen. Möglicherweise verriet sie es ihm ja, wenn er ihr die Sache erklärte. Seine Lippen waren trocken, als er antwortete: «Einverstanden. Wann fange ich an?»

 

Den schweren Reisesack mit all seinem Hab und Gut über der Schulter, näherte sich Jonas dem Haus am Rande des Kallenbach-Anwesen. Im Vergleich zum Bürokomplex und dem großen Herrenhaus war das Gästehaus geradezu winzig.

Immerhin stand es abgeschieden genug, dass er sich einbilden konnte, in seinem eigenen Heim statt im Garten seines Arbeitgebers zu wohnen. In Gedanken bei dem bevorstehenden Auftrag schloss Jonas die Tür auf und stolperte im nächsten Moment über eine Tasche. Als er aufsah, erwartete ihn das reinste Chaos.

Der Eingangsbereich mündete in einen großflächigen Wohnbereich, in dem es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Kleider, Jacken und Schuhe lagen wild herum, in der offenen Küche stapelte sich das dreckige Geschirr und mindestens ein Dutzend verschiedenster Magazine - Mode, Stars und das Kulturblatt - lagen quer über Tisch und Sitzgarnitur verteilt. Alles in Jonas sträubte sich gegen die Unordnung und seine Hände zuckten nervös im Wunsch, anzupacken und aufzuräumen.

Im Gegensatz zu einem Bombeneinschlag war dieses Chaos jedoch nicht Ausdruck für Tod und Zerstörung, sondern für Leben. Dafür sprach auch die klassische Musik, die aus einem Nebenraum zu ihm drang. Verwundert darüber, dass er offensichtlich nicht der einzige Bewohner des Gästehauses war, stellte Jonas seinen Rucksack neben der Tür ab und suchte nach dem Ursprung der Musik.

Er hatte alles erwartet, aber bestimmt keinen Tanzsaal, komplett mit Barre und Spiegelwänden. An der gegenüberliegenden Seite standen sowohl ein Klavier, als auch eine hochmoderne Musikanlage und auf dem Parkett drehte sich ein Mädchen im Kreis, das eine Bein hoch erhoben, Zehen und Arme gestreckt. Er erkannte sie an der Art, wie sie leichtfüßig und beschwingt ihre Füße setzte, lange bevor er ihr Gesicht sehen konnte. Es war das Mädchen von letzter Nacht, deren Schuhe er noch in seinem Reisesack hatte. Sophie.

Vor seinen Augen vollführte sie atemberaubende Sprünge und Pirouetten, jede Bewegung ein Teil der Musik, als würden sie und die Melodie eins sein.

Alles um sich herum vergessend, beobachtete Jonas sie. Er bewunderte ihre Eleganz, nun, da sie nicht länger betrunken war, sondern hellwach und konzentriert. Anders als letzte Nacht hatte sie ihr dunkelblondes Haar zu einem makellosen Dutt gebunden. Zum Tanzen trug sie einen hautfarbenen Body, unter dem Jonas sich ein viel zu deutliches Bild von ihrem Körper machen konnte.

Er wollte sich gerade mit hochrotem Kopf zurückziehen, als Sophie mitten in der Bewegung erstarrte, ihre Augen erschrocken geweitet. Augenblicklich wurde Jonas sich bewusst, wie das für sie wirken musste, wenn ein fremder Mann plötzlich in ihrem Tanzsaal stand und sie angaffte. Verlegen streckte er ihr die Hand hin. «Jonas Grienkamp. Ich nehme an, du bist Sophie. Dein Vater hat mich vorhin angestellt und mir die Schlüssel für das Haus gegeben. Ich wusste nicht, dass du hier wohnst.»

Während er sprach, konnte er sehen, wie sich ihre Stirn vor Verärgerung in Falten legte und sie die Arme vor der Brust verschränkte. «Das ist ihm wahrscheinlich entfallen, nicht wahr?» Augenrollend löste sie die Arme wieder und stemmte sie stattdessen in die Hüften. «Lass mich raten. Du bist eingestellt, um mich zu bespitzeln.»

Überrascht riss Jonas die Augen auf. «Ich wusste wirklich nicht, dass das Haus bewohnt ist. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir gleich was anderes gesucht.»

« Jetzt bist du schon hier», sagte Sophie und winkte ab.

«Ich bin gleich wieder weg. Wirklich, es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.» Langsam ging Jonas ein paar Schritte rückwärts. «Aber du tanzt echt gut. Also, ich meine ... Nicht, dass ich dich beobachten wollte oder sowas. Ich ...» Nervös unterbrach Jonas seinen Wortschwall.

Sophie war seinen Schritten gefolgt und hatte begonnen zu schmunzeln. «Jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd. Du hast mich beim Tanzen erwischt, nicht unter der Dusche.»

Jonas spürte erneut, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.

«Mein Vater will offensichtlich, dass du in der Nähe wohnst und er hat dir die Schlüssel gegeben. Wahrscheinlich hofft er, dass ich sofort schreiend die Koffer packe und ins Haus zurückkehre, aber da hat er sich geschnitten. Wenn er meint, er müsse mir einen Mitbewohner zur Seite stellen, dann machen wir eben eine WG auf.» Sie stand nun dicht vor ihm. Ihre dunklen Augen funkelten belustigt. «Es sei denn, du hast etwas dagegen.»

«Ich äh ...» Sein Mund war auf einmal so furchtbar trocken. Schließlich schüttelte Jonas den Kopf.

Sophie lachte und griff nach dem Handtuch, das neben der Tür hing. «Es gibt da nur ein kleines Problem.» Während sie sich ihren Nacken trockenrieb, sah sie wieder zu ihm. «Ich habe mich ziemlich ausgebreitet. Wir müssten das zweite Schlafzimmer erstmal freiräumen.»

Erleichtert atmete Jonas auf. Er hatte schon das Schlimmste erwartet. «Das kriege ich hin», antwortete er, sich langsam wieder etwas entspannend.

«Prima!» Sophie hängte das Handtuch wieder an seinen Haken und löste den Haarknoten, so dass ihr die langen Haare wie in der Nacht zuvor über den Rücken fielen.

Offensichtlich war er jedoch der einzige, der sich an ihre Begegnung erinnerte. «Sag mal, gestern Nacht ...»

Schockiert sah Sophie ihn an. «Du bist also doch ein Spitzel!» Bevor Jonas sich erklären konnte, seufzte sie und sah ihn schließlich vorwurfsvoll an. «Das ist deine Masche, ja? Du fragst mich geradeheraus, was ich gestern Nacht gemacht habe?»

«Nein, das weiß ich doch», erklärte Jonas beschwichtigend. Ihm fiel gerade ein Stein vom Herzen, weil er ihr gar nicht nachspionieren brauchte. «Du hast das DeModie besucht. Diesen unscheinbaren kleinen Club in der Niemeyerstraße.»

Ihre Augen wurden groß vor Überraschung. «Du warst schon mal im DeModie?»

Mit einem leichten Kopfschütteln antwortete Jonas: «Nein, ich habe nur gesehen, wie ihr da gerade herauskamt. Erinnerst du dich nicht? Wir haben miteinander gesprochen. Ich habe ... einen Moment.»

Neugierig folgte Sophie ihm zurück ins Wohnzimmer zu seiner Tasche und warf sich dabei eine Strickjacke um, die sie von der Sessellehne gegriffen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Jonas die Schuhe, eingewickelt in den seltsamen Mantel gefunden hatte. Mit einem schiefen Lächeln überreichte er sie ihr.

«Oh mein ... Meine Schuhe! Wie kommst du denn an die heran?» rief sie plötzlich vor Freude strahlend aus.

Etwas überrumpelt von ihrer großen Freude über die kaputten Schuhe rieb Jonas sich den Nacken. «Na ja, wie ich sagte. Ich habe dich gestern Nacht gesehen und du hattest sie vor dem Club liegen lassen. Als ich sie dir geben wollte, hast du sie mir geschenkt. Oder so ähnlich.»

Jetzt lief Sophie rot an. «Oh Mann, das ist mir so peinlich. Ich war ziemlich betrunken, glaube ich. Ich bin vorhin aufgewacht und konnte mich überhaupt nicht mehr erinnern, was passiert war. Ich dachte, ich hätte sie für immer verloren.»

Als Jonas sie ihr endlich überreichte, nahm sie die zerschlissenen Schuhe fast ehrfürchtig in ihre Hände. Gerührt sah Sophie zu Jonas auf und plötzlich machte sie einen Schritt nach vorne und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. «Danke.»

Überrascht konnte Jonas nur etwas dümmlich grinsen. Vielleicht war dieser Job ja doch ein Glücksgriff.

 

«Was hat es denn mit dem DeModie auf sich, dass da jeder so geheimnisvoll tut?», fragte Jonas interessiert, als er die nächste Kiste mit Sophies Zeug aus dem kleinen Schlafzimmer trug. Sophie hatte nicht gelogen, als sie meinte, es müsste noch freigeräumt werden. Aber langsam ließ sich das Bett in dem Zimmer erahnen. Mit etwas Glück würde er bis zum Abend sogar etwas Platz im Schrank finden.

Sophie war gerade dabei, sich durch die verstreuten Sachen im Wohnzimmer zu wühlen und hielt hin und wieder ein Outfit vor den Spiegel. «Ach nur so ein Tanzclub. Ist ziemlich speziell und sie lassen nicht jeden rein.»

Was wohl heißen sollte, man würde ihn ihrer Meinung nach nicht einlassen. «Und was ist da so besonders dran?» Er stellte die Kiste auf dem Sofa ab und betrachtete, wie sie sich vor dem Spiegel hin und her drehte.

Dann drehte sie sich um und sah neugierig in die Kiste vor ihm. «Oh, es ist ziemlich exquisit. Sehr teuer, ausgewählte Gäste, die beste Musik in der ganzen Stadt.» Sophie griff nach etwas Goldenem aus der Kiste. «Da bist du!»

Nie im Leben hätte Jonas das Stück Stoff für ein Kleid gehalten, aber Sophie nahm es heraus, drückte es kokett an ihren Körper und lief dann in ihr Zimmer. «Bin gleich wieder bei dir», rief sie noch, bevor die Tür zufiel.

Jonas schüttelte schmunzelnd den Kopf und setzte seine Arbeit fort. Er war froh, dass Sophie mit ihm zusammen wohnen wollte. Ihr fröhliches Geplapper und ihr glockenhelles Lachen hatten ihm bereits den Tag versüßt.

«Hilfst du mir mal?» Als Sophie wieder aus dem Zimmer kam, hatte sie das knapp geschnittene Kleid angelegt. Sie drehte ihm den Rücken zu und bat: «Kannst du hinten mal zumachen?»

Die Ansicht ihres bloßen Rückens weckte Regungen in Jonas, die er längst vergessen hatte.

Das Kleid war viel zu kurz, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Über der Hüfte saßen goldene Rüschen, die nicht ansatzweise lang genug waren, um als Rock durchzugehen. Es handelte sich vielmehr um ein Tanzkostüm, aber Sophie bewegte sich darin so natürlich, als wäre sie eben in ihre Wohlfühlklamotten geschlüpft.

Bemüht, nicht zu sehr zu starren und sie dabei bloß nicht zu berühren, zog er den Reißverschluss hoch.

«Vielen Dank!»

«Nichts zu danken», murmelte Jonas und sah wie sie bereits wieder davon tänzelte und ins Bad ging.

Die Tür weit offen, begann Sophie Make-up aufzutragen. «Wenn du Hunger hast, schau mal in den Kühlschrank. Ich glaube, irgendwo sind noch etwas Broccoli und Bohnen», plapperte sie munter. «Du kannst dir gerne etwas kochen, aber ich bin diese Woche noch nicht zum Einkaufen gekommen.» Sophie rauschte schon wieder an ihm vorbei, erneut auf der Suche nach irgendetwas. «Du brauchst aber nicht auf mich zu warten.»

«Weil du die ganze Nacht wegbleiben wirst?», fragte Jonas und erwischte sich schon wieder dabei, wie er ihr nachsah.

Sophie wandte sich mit ihrem Lockenstab in der Hand zu ihm um und strahlte dabei übers ganze Gesicht. «Genau. Bei Sonnenaufgang bin ich wieder hier.»

Bei ihrem Lächeln breitete sich ein Kribbeln in Jonas' Magen aus. Bemüht grummelig, um nichts davon preiszugeben, murmelte Jonas: «Da schlafe ich noch.»

Sie schmunzelte nur und schon war sie wieder im Bad verschwunden.

Jonas seufzte. Sophies Lebensfreude erfüllte ihn mit einer Zuversicht und Hoffnung, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Und ihr Lachen war wirklich zauberhaft.

«Wie sehe ich aus?», riss ihn ihre Frage aus seinen Gedanken. Sophie drehte sich vor ihm, so dass die Rüschen an ihrem Kleid in die Höhe sprangen.

«Äh ... gut. Toll. Ich meine ... sehr, sehr schön», stotterte Jonas und kam sich dabei vor wie ein Trottel.

Vergnügt kicherte Sophie und machte sich auf den Weg zur Tür. «Dann kann's ja losgehen.» Zu seiner Überraschung wählte sie jedoch keine Schuhe, die zu dem sexy Look gepasst hätten. Stattdessen griff sie nach den abgenutzten Schuhen von gestern Nacht.

Irritiert sah Jonas ihr dabei zu, wie sie die Schnüre festband. Er hatte noch nie gesehen, dass man Spitzenschuhe zum Ausgehen trug. Aber das erklärte immerhin ihren desolaten Zustand.

Als sie mit den Schuhen fertig war, richtete sich Sophie auf. «Genieß deine erste Nacht!», empfahl sie mit einem Grinsen und öffnete die Tür. «Bis morgen früh.»

Die Tür fiel ins Schloss und mit einem Mal kehrte Stille ein. Kein Geraschel, kein aufgeregtes Geplapper und schon gar kein Lachen. Ohne Sophie wirkte das kleine Haus viel leerer und unheimlicher. Da waren Schatten, die ihm vorher nicht aufgefallen waren und besorgt betrachtete Jonas die Tür, welche sich viel zu leicht auftreten ließe.

Was hatte er sich nur dabei gedacht, diesen Job anzunehmen? Oder sich von Sophie zu der WG überreden lassen? Das hatte schon im Studentenwohnheim nicht geklappt. Seine Albträume waren vor den anderen nie lange verborgen geblieben und die Erklärungsnot hatte ihn schließlich zurück nach Hause getrieben.

Jonas' Blick huschte nervös durch den Raum, von dem er sicher war, dass die Wände einem Granatenangriff nicht standhalten würden. Plötzlich schien es ihm unmöglich, eine Nacht in diesem fremden Haus zu verbringen. Sein Atem ging schneller und nur mit Mühe zwang er sich, sich hinzusetzen und tief durchzuatmen.

Er war in Deutschland. Niemand würde heute Nacht angreifen, sagte er sich selbst immer wieder, während er seine Hände damit beschäftigte auszupacken. Das Haus war sicher. Dennoch zitterten Jonas' Hände von Minute zu Minute mehr.

Vielleicht war es besser, wenn er sich das DeModie noch einmal genauer ansah. Nicht um Sophie nachzuspionieren, sondern weil ihn der Club neugierig machte. Seine Finger ertasteten den weichen Stoff des alten Mantels und sein Entschluss erhärtete sich.

 

Hätte Jonas nicht genau gewusst, wo das DeModie in der letzten Nacht noch gestanden hatte, hätte er es nicht wiedergefunden. Der dunkle unscheinbare Club war so eng zwischen die gut besuchten Nachbarlokale gepresst, dass Jonas sich fragte, wie dahinter überhaupt ein nennenswerter Tanzraum Platz fand. Für die meisten Nachtschwärmer, die sich langsam einfanden, war der Eingang nahezu unsichtbar. Nur hin und wieder fand eine Gruppe zielstrebig ihren Weg und erhielt sofort Einlass.

Jonas beschloss schließlich, sein Glück zu wagen und klopfte an der Tür an. Nichts geschah. Nicht mal Musik drang durch das Metall zu ihm auf die Straße, obwohl er die konkurrierenden Beats der Nachbarclubs deutlich hören konnte. Zehn Minuten verbrachte Jonas damit zu warten, bevor sich eine Gruppe junger Menschen näherte und sich die Tür zu öffnen begann. Hatte er etwa einen Bewegungsmelder umgangen?

Der überraschend junge und gutaussehende Türsteher, der ihm die Tür von innen öffnete, sah ihn erst irritiert dann unfreundlich an. «Verschwinde, Junge! Du gehörst hier nicht her.»

«Und warum?», fragte Jonas irritiert. Er hatte keine Nerven für so ein kindisches Machtspiel. Der Türsteher verschränkte die Arme und Jonas seufzte schwer. «Was ist das Problem?»

Während er den Weg für Jonas blockierte, würdigte der Türsteher drei Jugendliche nicht mal eines Blickes, als sie an ihnen vorbeischlüpften. «Weil wir solche Typen wie dich hier nicht einlassen.»

Die Antwort verschlug Jonas die Sprache und bevor er etwas erwidern konnte, hatte sich die Tür bereits wieder geschlossen. Typen wie ihn? Jonas wusste nicht mal, was er davon halten sollte. Er wusste, dass Türsteher gerne den großen Macker raushängen ließen oder ihre Auswahl an absurden Dingen wie der Kleidungswahl festmachten. Es stimmte schon. Er hatte sich nicht herausgeputzt wie Sophie und trug nur ein schlichtes Shirt und eine Hose. Aber so unterschiedlich hatten die drei eben auch nicht ausgesehen.

Seufzend warf Jonas einen Blick in die reflektierende Scheibe des Nachbarclubs und hielt erschrocken inne. Tiefe Augenringe lagen unter seinen Augen und er war blass geworden. Es war eine Weile her, dass er sich zuletzt im Spiegel gesehen hatte, aber dass er so kränklich aussah, erschreckte ihn. Wann hatte er sich nur so gehen lassen?

Kein Wunder, dass man ihn nicht in den Club ließ. Dennoch musste er irgendwie zusehen, dass er einen Weg hinein fand, denn die Neugier hatte ihn gepackt. Vielleicht reichte es ja aus, wenn er den seltsamen Mantel trug, den er von dem Bettler bekommen hatte. Edel genug war er schließlich trotz des fürchterlichen Stils.

Jonas beschloss, dass er außer seiner Würde nichts zu verlieren hatte, wenn er in einem derart altmodischen Teil daherkam und warf sich den Mantel um. Instinktiv setzte er auch die Kapuze auf, obwohl die Temperaturen wahrlich nicht dafür sprachen. Er verstand nicht viel von Mode, aber selbst ihm war klar, dass er geradezu lächerlich aussehen musste. Innerlich bereitete Jonas sich schon auf den Spott des Türstehers vor.

Er wollte gerade klopfen, als er plötzlich von hinten angerempelt wurde. Ohne einen Kommentar sahen die zwei jungen Frauen geradewegs durch ihn durch und lächelten strahlend. Irritiert drehte Jonas sich um und entdeckte, dass die Tür des DeModie wieder offenstand. Der Türsteher lächelte freundlich, ja geradezu charmant, und machte einen eleganten Diener. «Guten Abend, die Damen.» Jonas ignorierte er vollkommen.

Wut kroch in Jonas empor angesichts solcher Herabsetzung. Ihm den Zutritt zu verwehren, war eine Sache gewesen, aber so zu tun, als wäre er Luft, war zu viel. Mit aller Selbstsicherheit, die er noch in sich fand, richtete sich Jonas auf und ging den kichernden Frauen nach, den Türsteher seinerseits keines Blickes würdigend. Jeden Moment rechnete er damit, grob am Arm gepackt und nach hinten gezogen zu werden, doch der Türsteher schloss ohne jeden Kommentar die Tür hinter ihm. Vielleicht war der Mantel ja so etwas wie ein geheimes Markenzeichen, dass er irgendwie dazugehörte.

Vollständige Dunkelheit umfing ihn und er brauchte einen Moment, um seine Augen daran zu gewöhnen. Schließlich entdeckte Jonas ein schwaches Glimmen im Gang und begann sich durch den Korridor zu tasten. Treppenstufen. Der Club lag unter den anderen, deshalb der schmale Eingang. Vor sich konnte er die beiden Frauen aufgeregt tuscheln hören. Stillschweigend, um sich nicht doch noch zu verraten, folgte er ihnen.

Der Anblick, der sich ihm bot, als er schließlich um die Ecke bog, raubte ihm fast den Atem. Statt eines überfüllten engen Clubs erstreckte sich vor und unter ihm ein Wald aus Gold- und Silberbäumen, der so prächtig glänzte, dass ihm die Augen zu tränen begannen. Jeder sachte Windhauch ließ die filigranen Blätter mit einem zarten Klimpern aneinanderstoßen. Die Treppe führte geradewegs durch den endlos scheinenden Wald.

Jonas sah zur Decke, aber woher auch immer das unwirkliche Licht kommen mochte, das den Wald glitzern und funkeln ließ, er konnte die Quelle nicht entdecken. Stattdessen türmten sich an der Decke dunkle Wolkenberge. «Raucheffekte», wisperte Jonas leise und bemerkte da erst, dass seine unfreiwilligen Begleiterinnen bereits zur Hälfte die Treppe hinabgestiegen waren. Hastig folgte er ihnen, damit er vor lauter Staunen nicht den Anschluss verlor. Wer wusste schon, ob das DeModie nicht noch andere Hindernisse für ihn bereithielt?

Die beiden Frauen ließen sich nicht im Geringsten von seiner Anwesenheit beirren. Verträumt schwärmten sie von den gutaussehenden Männern, die sie gleich treffen würden. Selbst als eine kurz über die Schulter schaute, glitt ihr Blick geradewegs durch Jonas hindurch. Dann erinnerte er sich. Der alte Mann hatte davon gesprochen, dass der Mantel ein Geheimnis hatte. War er etwa wirklich unsichtbar?

Jonas hob die Hand, um seinen wahnwitzigen Gedanken zu überprüfen, aber diese sah noch genau wie immer aus. Unsichtbar! Wahrscheinlicher war, dass sich die beiden Frauen schlicht nicht dafür interessierten, dass hinter ihnen noch jemand den Club betreten hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter.

Immer wieder glitt sein Blick zu der prächtigen Dekoration und entdeckte Detail um Detail. Was er für Blätter auf einem silbernen Zweig gehalten hatte, entpuppte sich plötzlich als ein Schwarm Schmetterlinge mit ebenso metallenen Flügeln. Als sie sich in die Luft erhoben, sprossen aus dem kahlen Zweig im Nu neue Blätter. Ein Kolibri mit goldenen Flügeln schwirrte von Blüte zu Blüte und sog ihren Nektar. Dort, wo der Nektar auf den Boden tropfte, bildeten sich neue filigrane Geflechte. Sie waren so zart, dass sie bereits unter der leichtesten Berührung von Jonas' Fingerspitzen nachgaben.

Erst als er schon fast den Boden der Treppe erreicht hatte, fiel ihm die ungewöhnliche Musik auf, die sich nahtlos mit dem melodischen Klirren der Blätter vermischte. Die Klänge waren nahezu ätherisch, aber jeder Ton schlug eine andere Saite in ihm an und brachte seine Nerven zum Vibrieren. Der Bass dröhnte in seinem Magen und er konnte sich kaum des Drangs erwehren mitzuwippen.

Noch während er sich fragte, welchen Künstler er all die Jahre verpasst hatte, öffnete sich der Wald schließlich und gab den Blick auf einen unterirdischen See frei, der fast die Gänze des Raumes einnahm.

Wie erstarrt blieb Jonas stehen. «Kneif mich mal», wisperte er angesichts der überwältigenden Dimensionen und Detailtreue. Am Ufer schillerten die Kiesel in unterschiedlichsten Farben und als Jonas sich bückte und sie durch seine Finger rieseln ließ, bemerkte er erstaunt, wie schwer sie waren.

«Die Reichtümer des DeModie ...» Staunend erhob er sich. Ihm war fast schwindlig, bei der Vorstellung, wie viel diese Ausstattung gekostet haben mochte. Die Höhle allein war ein architektonisches Meisterwerk. Die kostspielige Dekoration und die beeindruckenden Spezialeffekte setzten dem Ganzen noch die Krone auf.

Zumindest dachte Jonas das, bis er das schwarz glänzende Schloss am anderen Ufer entdeckte. Sicher, dass er jetzt vollkommen verrückt geworden war, rieb er sich die Augen und sah noch einmal hin. Das Schloss war immer noch da. Imposant und mächtig erhob es sich jenseits des Sees in die Höhe, fast als ob der Erdboden darüber nicht existierte.

Mehrere Minuten stand Jonas verblüfft da und konnte den Blick nicht von den Zinnen abwenden. Endlos stolperten seine Gedanken von einem Kostenüberschlag über die logistischen Herausforderungen bis hin zu den physikalischen Grundlagen, die das Gesehene in die gewohnten Bahnen der Logik zu pressen versuchten.

Erst als er fast von einem lachenden Paar angerempelt wurde, fielen ihm die Tänzer auf, die wie schwerelos über den Teich glitten und ihm wurde bewusst, dass er einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen war. Was er als Wasser empfunden hatte, war in Wirklichkeit eine spiegelglatte Tanzfläche, auf der die Besucher umherwirbelten, während die Boote kleine Sitzgelegenheiten boten. Das Schloss dagegen war lediglich Teil der meisterhaft ausgearbeiteten Hinterwand, an welcher sich Bar und Mischpult befanden.

Erleichtert atmete Jonas aus. Es mochten sich tatsächlich Reichtümer in dem exklusiven Club befinden, aber er war nicht aus Versehen in eine andere Welt abgestiegen oder hatte den Verstand verloren. Nur die Tatsache, dass wirklich jeder durch ihn hindurchsah, während er sich unter die Tanzenden mischte, bereitete ihm noch immer Unbehagen. Sein Verstand konnte nicht akzeptieren, dass er wirklich unsichtbar war, doch so langsam musste er sich an den Gedanken gewöhnen. Selbst als Jonas ein Glas Bier direkt vom Tablett eines Kellners nahm, starrte dieser nur in die Leere.

Überwältigt von der Vorstellung lehnte er sich an die Schlosswand, die tatsächlich aus schwarzem Stein bestand oder wenigstens einem sehr guten Imitat. Das Bier beruhigte seine Nerven und er ließ nochmal den Blick durch die Menge schweifen. Er fragte sich, wem der Club wohl gehören mochte und was der Bettler und sein eigenartiger Mantel damit zu tun hatten. Dann jedoch sah er, wonach er gesucht hatte und im selben Moment machte sich ein bitterer Geschmack in seinem Mund breit.

Sophie befand sich unweit von ihm in den Armen eines Mannes, den er nur mit einem Wort beschreiben konnte: stattlich. Er sah aus wie ein junger Gott: wohl definierte Muskeln, ein scharf geschnittenes Gesicht, blaue Augen und blondes, gestyltes Haar. Als wäre das nicht genug, war er auch noch ein vorzüglicher Tänzer, der Sophie geschickt und elegant über die spiegelglatte Tanzfläche führte.

Das Schlimmste jedoch war der Blick, mit dem Sophie ihn ansah. Es war, als wäre ihr Tanzpartner alles, was noch in ihrer Welt existieren würde, so verliebt versank sie in seinem Blick. Das also war das ganze Geheimnis hinter Sophies nächtlichem Verschwinden. Sie hatte einen Geliebten, mit dem sie jede einzelne Nacht verbrachte und den sie vor ihrem Vater geheim halten wollte.

Der Gedanke hinterließ einen schalen Geschmack auf Jonas' Zunge, den auch das Bier nicht wegspülen konnte. Eine Zeit lang konnte er den Blick nicht von den beiden nehmen, während der fremde Tänzer Sophie in endlosen Pirouetten drehte und sie hoch in die Lüfte hob. Doch es war mehr Sophie, die Jonas faszinierte mit den Formen, die ihr Körper beschrieb, wenn sie die Beine in die Luft warf oder ihren Rücken in seinen Armen wie eine junge Weide bog. Die Begeisterung stand ihr deutlich in das gerötete Gesicht geschrieben. Wenn Jonas sie so betrachtete, konnte er sich fast einbilden, dass sie den Tanz mehr genoss als die Anwesenheit ihres perfekten Partners.

Zumindest bis die Musik endete und Sophie lachend in die Arme ihres Geliebten fiel und beide in einem leidenschaftlichen Kuss versanken. Enttäuscht stieß Jonas sich von der Wand ab, platzierte das leere Glas auf dem nächsten Tisch und drängte sich über die Tanzfläche Richtung Ausgang. Plötzlich widerte ihn der ganze übertriebene Prunk an.

Er war schon halb die Treppe hoch, als er sich an seinen Auftrag erinnerte. Wenn er ihrem Vater Bericht erstatten würde, brauchte er Beweise für den wunderlichen Club. Sophie würde seine Worte sicher nicht bestätigen und wer wusste schon, ob ihn der Mantel noch ein weiteres Mal einließ oder ihren Vater. Stattdessen blieb Jonas' Blick an den Silberzweigen hängen.

Der Club hatte so viele von ihnen, dass es wahrscheinlich nicht einmal auffallen würde. Beherzt trat Jonas vor und brach einen der schimmernden Zweige ab. Augenblicklich krachte es so laut, als würden die Wände um ihn herum zusammenstürzen. Der Krieg hatte ihn wieder.

 

 

 

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KAPITEL 2

Cavalier

 

Der plötzliche Lärm ließ die Musik für einen Moment verstummen und Sophie stolpern. Verwirrt sah sie sich um und blickte in die beunruhigten Gesichter der Umstehenden. Die Stille kroch in ihre Glieder und ihr war mit einem Mal schrecklich kalt. Selbst das Licht im DeModie war ein wenig düsterer geworden, als hätten einige Lampen hoch oben in den Wolken den Geist aufgegeben. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, erklang die Musik wieder. Anders als zuvor hörte sie sich nun schräg und unangenehm an. Als hätte sich ein Kratzer auf den Platten eingeschlichen. Dass die Leute neben ihr dazu tanzten und lachten, während sie sich im Takt der falschen Melodie wiegten, war Sophie mit einem Mal unheimlich.

«Was war das?», wisperte Sophie und drückte sich eng an Luca heran.

Lucas starke Arme schlossen sich um sie und hielten sie tröstlich. «Wahrscheinlich hat Bastien wieder den Bass zu laut gestellt und es gab einen Kurzschluss. Hey, Tomas», rief er und ging ein paar Schritte auf den vorbeieilenden Kellner zu.

Während sich die beiden unterhielten, entdeckte Sophie eine rote Strieme auf Lucas Nacken und ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit. Sie hatte in ihrem Übermut nicht einmal gemerkt, dass sie ihn gekratzt hatte. Oder war es in dem Schreckmoment passiert? Noch immer wollte das ungute Gefühl nicht weichen und ihr war, als würde man sie beobachten.

Schließlich kam Luca mit einem schiefen Lächeln wieder auf sie zu, während Tomas davoneilte. «Er schaut nach, ob alles in Ordnung ist.»

«Okay. Sag mal, Hast du eigentlich auch das Gefühl, dass uns plötzlich alle anstarren?» Die Worte kamen Sophie schon albern vor, als sie ihren Mund verlassen hatten.

Schmunzelnd zog Luca sie dicht an sich heran. «Wenn sie dich anstarren, dann nur, weil du so wunderschön bist.» Sein Kuss auf ihren Lippen ließ sie ihre Bedenken fast vergessen.

Besonders falsch hörte sich die Musik auch gar nicht mehr an, als er sie wieder in den Tanz führte. Aber so ganz war Sophie immer noch nicht bei der Sache. Zu oft begegneten ihre Blicke den anderen. Sie beobachteten sie tatsächlich.

«War das ein Horn?», fragte sie erschrocken, erkannte jedoch noch im selben Moment, dass es sich nur um einen hohen Zopf gehandelt hatte. Müde rieb Sophie sich über die Augen.

«Was meinst du?» Irrte sie sich oder klang Luca angespannt?

Mühevoll wand sie den Blick von den anderen ab und sah wieder zu ihm. «Ich glaube, ich brauche eine Pause. Ich fang schon an Gespenster zu sehen. Wollen wir was trinken gehen?»

Etwas Unergründliches ging in Lucas Blick vor sich, aber dann schüttelte er den Kopf und sein gewohntes Lächeln war wieder da. «Natürlich, komm mit. Ich habe das Boot hinten reservieren lassen.» Erstaunt folgte Sophie ihm. Ihr Herz machte einen aufgeregten Hüpfer bei der Aussicht, mit Luca etwas alleine zu sein. Sonst saßen sie immer bei den anderen.

Kaum hatten sie in dem Boot Platz genommen, trat Tomas wieder zu ihnen und servierte ihnen fast beiläufig seinen leuchtend blauen Spezialdrink, während er sich zu Luca vorbeugte. «Nichts. Keine Ahnung, was da vorgefallen ist. Bastien und ich haben alles überprüft, aber nichts gefunden.»

Luca runzelte die Stirn, nickte aber. «Ich schau's mir später noch mal an. Danke!»

«Ist alles in Ordnung?» fragte Sophie, während sie Tomas nachsah. Als er in der Menge verschwunden war, wandte sie sich wieder Luca zu.

Dieser legte seinen Arm um sie und reichte ihr das Glas. «Ja, ja, wird schon okay sein. Wahrscheinlich ist irgendjemand gegen die Anlage gestolpert oder so. Egal. Davon lass ich mir nicht den schönen Abend mit dir verderben.» Mit einem Lächeln beugte er sich vor und stieß mit ihr an.

Seine strahlend blauen Augen funkelten dabei und Sophie konnte gar nicht anders, als ihn erneut zu küssen, bevor sie endlich einen Schluck nahm. «Oh, da fällt mir ein, ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass ich fast meine Schuhe verloren hätte. Ich hatte sie vor dem Club ausgezogen und anscheinend aus Versehen liegen lassen.» Luca runzelte besorgt die Stirn und Sophie beeilte sich zu sagen: «Keine Sorge. Sie sind auf wundersame Weise zu mir zurückgekehrt.» Grinsend nahm sie einen zweiten Schluck. Wie üblich hatte Tomas genau ihren Geschmack getroffen.

Luca schmunzelte. «Ist das so?» Seine Hand strich ihr liebevoll über den Rücken und Sophie rutschte ein kleines Stück näher.

Lachend nickte sie. «Wenn ich es dir doch sage.» Erneut küsste sie ihn und für eine Weile vergaß sie alles um sich herum.

Als sie die Augen wieder aufschlug, erschrak sie jedoch fürchterlich. Im Nachbarboot bedeckte dichtes Fell das Gesicht eines Mannes, der sich mit zwei Frauen amüsierte. Seine gelben Augen funkelten dabei Sophie an, deren Atmung sich augenblicklich beschleunigte. Hastig wich sie seinem unangenehmen Blick aus.

Lucas heißer Atem strich über ihren Nacken und Sekunden später spürte sie seine weichen Lippen auf ihrer Haut. Wochenlang hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, aber der Gedanke an das soeben Gesehene ließ Sophie nicht los.

Vorsichtig blinzelte sie hinüber, doch der Mann im Nachbarboot widmete sich bereits wieder seinen Begleiterinnen. Von Fell war keine Spur. Stattdessen zierten ein beeindruckender Bart und buschige Augenbrauen sein Gesicht. Wahrscheinlich trug er auch Kontaktlinsen, um sich irgendwie interessanter zu machen.

Sophie wollte sich gerade erleichtert zu Luca umdrehen, der noch immer ihren Hals liebkoste, als ihr Blick auf die Hände der beiden Frauen fiel, deren lange Krallen über die muskulösen Arme ihres Begleiters strichen. Keuchend hob Sophie die Hand zum Mund und stieß Luca dabei an.

«Hey, Sophie. Was ist los?» Lucas Stimme klang gereizt und ihr wurde peinlich bewusst, dass sie seine Bemühungen vollkommen ignoriert hatte.

«Fingernägel», hauchte Sophie und war sich sicher, dass die Frauen einfach sehr lange und spitz zugefeilte, künstliche Fingernägel besaßen. Ihr schauderte.

«Ist alles in Ordnung?» Diesmal hörte sie die Sorge in seinen Worten.

Mühevoll drehte Sophie sich zu Luca und strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ich glaube, ich habe zu viel getrunken oder sowas. Ich bilde mir lauter Sachen ein, die es gar nicht geben kann. Klauen, Hörner, Zähne.» Sie rieb sich die Stirn. «Verrückt oder?»

Statt wie erwartet zu schmunzeln, seufzte Luca und nahm seinen Arm weg.

Nervös klammerte Sophie sich an ihren Drink und schalt sich stumm für ihre Dummheit. Endlich war Luca bereit gewesen, süße Zärtlichkeiten auszutauschen, und sie verprellte ihn mit ihren Schreckgespenstern.

Eine Weile betrachtete Luca sie stillschweigend, als suche er nach den richtigen Worten. Schließlich hob er eine Hand, um mit den Fingern sanft über ihre Wange zu streichen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen, aber seine Augen sahen noch immer so ernst aus, vielleicht sogar traurig. Sophie schluckte.

«Ich wollte es dir ersparen, aber ich merke, dass das nicht fair wäre», flüsterte er schließlich angespannt.

«Was ist nicht fair?», fragte Sophie und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie hatte gleich gewusst, dass es nicht ewig halten konnte. Luca war einfach zu perfekt: unheimlich gutaussehend, zuvorkommend, liebevoll, charmant und ein umwerfender Tänzer. Dass er drei Monate lang jede Nacht mit ihr getanzt hatte, war schon mehr, als Sophie sich je hatte erträumen dürfen. Wenn er heute mit ihr Schluss machte, war das ganz allein ihre Schuld.

Der Gedanke brannte wie ein heißer Kloß in ihrem Magen, während er fortfuhr: «Dass ich dich mit hineinziehe.» War da ein Anflug von Schuld in seinem Blick? «Du solltest einfach nur tanzen können, wie es dir beliebt und dich nicht um mich sorgen oder dich mir irgendwie verpflichtet fühlen.»

Offensichtlich war es etwas Ernsteres, das ihn bedrückte. Der Knoten in ihrem Inneren löste sich schlagartig auf, aber ihre Hände zitterten. «Jetzt sag schon, was es ist! Bist du krank? Musst du die Stadt verlassen oder wirst du aus dem Club geworfen?» Warum konnte er nicht einfach mit der Sprache herausrücken?

In Lucas Augen trat für einen Moment ein unverhoffter Hoffnungsschimmer. «Ich wünschte es, Sophie. Es ist so, dass ich ... Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht hinausgehen. Ich bin hier gefangen.»

«Gefangen?» Irritiert lehnte Sophie sich zurück. «Was soll das denn bitte schön heißen? Das hier ist doch kein Gefängnis.»

Luca sah sie plötzlich mit steinernem Gesicht an.

Nervös zuckte Sophie mit den Schultern und stellte ihr Glas ab. «Sag schon, wer hält dich denn gefangen? Bastien? Der will doch nur nicht alleine auflegen.»

Luca lachte nicht über ihren Scherz. Im Gegenteil, er senkte den Kopf wie ein getretener Hund und Sophie taten ihre unbedachten Worte sofort leid.

Schließlich antwortete er leise. «Die Musik.»

Überrascht hielt Sophie den Atem an.

«Das hier ist kein gewöhnlicher Club, Sophie. Genau genommen, ist er das nur für Leute wie dich. Für mich und Bastien, Tomas und die anderen ist es eher ... ein Zuhause. Wir können das DeModie nicht verlassen.» In seinem Blick lag so viel Schmerz, dass es Sophie erschreckte. Bemüht um etwas Haltung fügte Luca schulterzuckend hinzu: «Wir werden wahrscheinlich nie wieder einen Strahl Sonnenlicht gesehen.»

Der Satz war so absurd, dass Sophie nur verwirrt mit dem Kopf schütteln konnte. «Ich verstehe nicht, was du mir jetzt genau sagen willst. Ist das irgendeine Masche, um mich loszuwerden?»

«Nein!» Vor Entsetzen weiteten sich Lucas Augen und er griff schnell nach ihren Händen. «Sophie, ich würde dich nie loswerden wollen. Im Gegenteil, ich will für den Rest meines Lebens mit dir tanzen.»

Ihr Herz machte vor Freude einen kleinen Sprung, doch Sophie konnte die merkwürdigen Worte nicht einfach so stehen lassen. «Aber dann beantworte mir doch die Frage, was an diesem Club so schrecklich ungewöhnlich ist, außer, dass er unverschämt groß und reich ist. Und wie zur Hölle wirst du von der Musik gefangen gehalten? Ich meine, ich verliere mich zwar auch oft mal in der Musik, aber sie hat mich noch nie daran gehindert, aus dem Raum zu gehen.»

Luca seufzte. «Ich verstehe ja, dass du Fragen hast und ich will auch versuchen, sie dir zu beantworten. Aber es ist nicht so einfach.» Ohne sie anzusehen, strich er für einen Moment in Gedanken versunken über ihre Hände. Als er wieder aufsah, lag etwas Bitteres in seiner Miene. «Das DeModie ist nichts anderes als die Unterwelt. Wunderbarer Ort der Träume und Wünsche und letzter Halt der verlorenen Seelen.»

Sophie starrte Luca eine halbe Ewigkeit an und wusste nicht, was sie sagen oder glauben sollte. Aber, wenn sie sich umsah, dann lag auf all der Pracht ein Hauch Melancholie. Die Musik hatte sich gefangen und die Tanzfläche war wieder gut gefüllt. Ihre Freundinnen amüsierten sich prächtig und schmiegten sich lachend an die jungen Männer, die sie zum Tanz aufgefordert hatten. Aber mehr Leute als zuvor kauerten sich lieber in die Schatten des Schlosses und betrachteten die Herumwirbelnden sehnsüchtig. In ihren Blicken lag etwas, dass Sophie nur mit einem Wort beschreiben konnte.

Hunger.

Lucas Worte rissen sie aus ihrer Erstarrung. «Wir sind alle verflucht, Sophie, für immer an diesen Ort gebunden.» Seine Stimme klang mit jedem Wort eindringlicher.

Wieder runzelte Sophie die Stirn. «Und wer hat euch verflucht?» Sie hatte immer mehr Mühe, Enthusiasmus für diese Unterhaltung aufzubringen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Club, das war Sophie auch klar. Dennoch sträubten sich ihr die Haare bei Lucas hanebüchenen Erklärungsversuchen.

«Im Fall von mir und meinen Brüdern war es eine Zauberin», antwortete Luca und rieb dabei zärtlich mit dem Daumen über Sophies Hand.

Allein diese liebevolle Berührung hielt Sophie davon ab, aufzustehen und ihn einfach sitzen zu lassen. Stattdessen versuchte sie wenigstens sich darauf einzulassen. «Welche Brüder?»

«Na, Bastien, Tomas und die anderen. Ich weiß, ich habe gesagt, wir wären nur Freunde, aber wir sind Brüder. Genau genommen zwölf. Eine ganze Menge, was?»

Sophie konnte nur trocken erwidern: «Eure arme Mutter.»

Ein vorsichtiges Schmunzeln huschte über Lucas Gesicht. «Sie hatte genügend Ammen. Außerdem war das damals so.»

«Ammen? Damals?», wiederholte Sophie. Sie wollte ihm ja wirklich glauben, aber das alles klang viel zu absurd.

«Ich sagte doch, wir sind verflucht.» Als hätte Luca bemerkt, dass sie an seinen Worten zweifelte, begann er auszuholen. «Da war diese Zauberin. Eifersüchtig, dass keiner von uns mit ihr auf dem Ball tanzen wollte und dass ...» Beschämt sah Luca weg. «Meine Brüder und ich waren hochmütig. Wir waren jung und von königlicher Abstammung.»

Sophie hob ungläubig die Augenbrauen.

«Wir dachten, uns würde die Welt gehören und wenn wir heiraten wollten, bräuchten wir nur mit den Fingern zu schnippen. Die Mädchen würden schon Schlange stehen. Sie hatten es ja auch immer getan.»

Bei seinem Aussehen verwunderte Sophie das nicht im Geringsten.

«Also tanzten wir jede Nacht mit einer Anderen und ließen viele gebrochene Herzen zurück.» In seiner Stimme lag so viel Reue, dass Sophie sich ertappte, wie sie betroffen zu Boden sah.

Leise fuhr Luca fort: «Eines Tages war sie da. Ein altes verhutzeltes Weib, das keiner von uns in unserem Tanzsaal dulden wollte, geschweige denn mit ihr tanzen.» Seine Stimme wurde bitter und es schien ihn große Mühe zu kosten, weiter zu sprechen. «Also verfluchte sie uns, entriss uns unserer Familie und brachte uns hierher ins DeModie. Erst, wenn es uns gelingt, dass ein Mädchen ein Jahr und einen Tag jede Nacht mit uns tanzt, soll der Fluch gelöst werden.» Erneut senkte er den Blick. «Bislang hat es nur Immanuel geschafft, dem DeModie zu entfliehen.»

Erwartungsvoll sah er sie nun an und Sophie bekam bei dem Anblick schon fast ein schlechtes Gewissen. Dennoch - verarschen konnte sie sich auch selbst. «Ist das dein Ernst?»

Die Hoffnung in Lucas Blick schlug um in Verzweiflung. «Sophie, bitte. Ich weiß, dass es unglaubwürdig klingt, aber ich schwöre dir bei meiner Ehre, dass ich dich nie anlügen würde.»

«Klar, du bist nur ein Prinz und eine Hexe hat dich verflucht. Und nun fesselt dich ein Turntable an einen Luxusschuppen.» Sophie zog abrupt ihre Hände weg und erhob sich. «Ich habe wirklich keine Ahnung, warum du mir solche Märchen auftischst.» Enttäuscht wandte sie sich ab.

Sie kam keine drei Schritte weit, als Luca sie auch schon von hinten umarmte und zum Stehenbleiben zwang. «Schau!» Sanft hob er ihr Kinn, so dass sie hinauf zu dem prächtig glitzernden Wald sah. «Und hör ganz genau hin!»

Obwohl sie so weit entfernt standen, konnte sie deutlich das zarte Klirren der Blätter hören, wenn sie aneinanderstießen. Ein Schwarm Schmetterlinge erhob sich und die Harmonie der zurückschwingenden Blätter trieb Sophie die Tränen in die Augen. Erst jetzt bemerkte sie, dass die glockenhellen Töne Teil der Musik war, die um sie herum spielte. Sie gaben den Takt vor und setzten die Akzente, die Sophies Herz höher schlagen ließen.

Ihre Füße riefen sie auf die Tanzfläche, auf dass sie die Melodie mit ihrem Körper nachempfinden möge. Es war diese Sehnsucht danach, sich völlig in der Musik zu verlieren, die Sophie immer wieder ins DeModie trug und natürlich Luca, der sie durch komplexe Figuren führte, ohne sie je geübt zu haben. So, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, als sich auf diese Art zu bewegen.

Ihr war, als würde der Rest des DeModie verschwinden. Nur sie, Luca und die zauberhafte Musik des Waldes existierten. Ausdrucksstark floss Sophie von einer Form in die andere. So zerbrechlich waren die Töne, dass ihre Augen sich vor Rührung mit Tränen füllten. Noch nie hatte sie so langsam mit Luca getanzt, sich ihm so vollkommen hingegeben. Seine Arme hielten Sophie, wenn sie seine Nähe suchte, oder ließen sie frei, wenn die Musik selbst sie zu sich rief.

Es lag eine Tiefe in der Musik, die Sophie mit jedem Schritt mehr spürte. Sie fühlte sich, als würde sie am Ufer eines unergründlichen Sees stehen und hätte gerade mal den Zeh ins Wasser getaucht. Sie könnte ein Leben hier verbringen und der Melodie nicht satt sein.

Aber da war auch etwas Unstimmiges. Ein Ton, der nicht mit den anderen harmonierte. Eine Unruhe in der perfekten Oberfläche. Es war diese winzige Dissonanz, die schließlich den Zauber der Musik brach und Sophies Füße zum Stillstand brachte.

Mit einem sehnsüchtigen Seufzen, drehte sie sich zu Luca um. «Das ... das war wundervoll.»

Ihre Freude erstarb jedoch beim Anblick des Schmerzes in Lucas Augen. «Ein Ort der Wunder und der Sehnsucht», stimmte er zu. «So berauschend wie die Musik auch ist, so lästig wird sie einem, wenn sie jeden deiner Schritte bestimmt. Ich will endlich wieder hinaus in die Welt. Frische Luft auf meiner Haut spüren, vom hellen Licht der Sonne geblendet werden und frei sein. Frei zu tun oder zu lassen, was immer ich will.»

Wie zuvor in der Musik verlor Sophie sich in der Tragik seiner Worte.

«Ach Sophie.» Luca beugte sich vor und strich ihr die Tränen von den Wangen, derer sie sich nicht einmal bewusst gewesen war. «Ich wollte dich wirklich nicht in diese Sache hineinziehen.» Die Worte kosteten ihn deutliche Überwindung. «Noch bist du frei zu gehen. Ich werde dich nicht aufhalten. Ich weiß ja, dass es zu viel verlangt ist.»

«Alles, was ich tun muss», begann Sophie vorsichtig, «ist ein ganzes Jahr lang jede Nacht mit dir zu tanzen?»

Mit einem traurigen Lächeln nickte Luca. «Ein Jahr und einen Tag. « Vorsichtig fügte er hinzu: «Das heißt, wenn du es versuchen willst. Drei Monate haben wir bereits hinter uns.»

Zaghaft nickte Sophie und lächelte dann. «Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als jede Nacht mit dir tanzen zu gehen.»

Als Antwort nahm Luca ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr war, als wären die Schmetterlinge aus dem Zauberwald direkt in ihrem Bauch gelandet.

 

Fröhlich vor sich hin summend erreichte Sophie im Morgengrauen ihr Haus. Noch immer schwelgte sie in Erinnerungen an den letzten Tanz und den bittersüßen Abschied von Luca. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, ihn zurücklassen zu müssen. Jetzt, da sie wusste, dass er ihr nicht folgen konnte. Die Geschichte vom Fluch wollte ihr immer noch nicht so recht in den Kopf, aber an seiner Gefangenschaft hegte sie keinerlei Zweifel mehr. Der sehnsüchtige Blick, mit dem er sie an der Treppe verabschiedet hatte, ließ sich nicht so einfach vorspielen.

Verträumt lehnte sich Sophie mit dem Rücken an ihre Haustür und sah hinauf zu den Wolken. Vielleicht war es ja das Schicksal gewesen, das sie mit Luca zusammengeführt hatte.

Hinter ihr rumpelte es plötzlich und Sophie fuhr zusammen. Hastig drehte sie sich um und betrachtete die Tür mit klopfendem Herzen. Es war so still, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich das Poltern nicht nur eingebildet hatte. Sie hatte schon so viel Merkwürdiges in dieser Nacht gesehen und ihre Sinne waren vom Rausch der Musik und des Alkohols benebelt. Kein Wunder, dass sie anfing, Gespenster zu sehen.

Dennoch zögerte sie mit dem Schlüssel. Was, wenn doch jemand in ihrem Haus war? Ihr Handy lag natürlich wie üblich vergessen auf der Kommode. Sophie seufzte entnervt. «Jetzt reiß dich zusammen, da ist niemand», sprach sie sich Mut zu, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Ob sie nicht doch hinüber zur Villa gehen sollte?

Und ihrem Vater eingestehen, dass sie nicht alleine zurechtkam? Erst jetzt bemerkte Sophie, wie sehr ihre Füße schmerzten. Sie hatte die ganze Nacht hindurch getanzt und war völlig erschöpft. Entschlossen schüttelte sie den Kopf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie würde sich doch jetzt nicht von einem Geräusch verrückt machen lassen.

«Na, komm schon.» Trotz ihrer zittrigen Hände gelang es Sophie, die Tür aufzuschließen. Sie atmete tief ein und gab der Tür dann einen leichten Stoß.

Die Tür schwang nach innen und gab im Dämmerlicht den Blick auf ein Chaos ohnegleichen frei. Sophie hatte nie viel dafür getan, Ordnung zu halten, aber nun stand die Hälfte ihrer Möbel auf dem Kopf. Ihre Sachen waren überall im Raum verteilt und sie entdeckte mindestens eine zerbrochene Vase. Mit einem Mal fühlte sich ihr Magen schrecklich flau an und sie wünschte, sie wäre doch zu ihrem Vater gerannt. Zaghaft rief sie stattdessen in den Raum: «Hallo?»

Keine Antwort. Vielleicht war, wer auch immer das getan hatte, schon längst wieder weg.

Unweit von sich, sah Sophie ihr Handy. So leise wie möglich schlich sie hinüber zur Kommode. Ihr Puls hämmerte in der Schläfe und ihre Hände fühlten sich feucht und klamm an. Sophie fuhr sich einmal mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und sah hinunter auf das Display.

«Es tut mir leid», klang es plötzlich von der Mitte des Raumes herüber.

Sophie schrak so heftig zusammen, dass ihr das Handy aus der Hand fiel und sie drei Schritte zurückstolperte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie den halb bekleideten Mann an, der sich jetzt hinter dem umgefallenen Sessel erhob.

Erst, als er ins Licht trat, erkannte Sophie ihn plötzlich. «Ach, du bist es.» Richtig. Sie hatte ja seit Neustem einen Mitbewohner. Ein Teil der Anspannung fiel von ihr ab, aber der Schreck saß noch zu tief. Als er näher kam, hob Sophie schnell ihr Handy auf und streckte ihm abwehrend eine Hand entgegen. «Bleib weg von mir!»

Angst war nun deutlich in Jonas' Gesicht zu sehen. Er stammelte etwas Unverständliches, blieb stehen und hielt sich am Esstisch fest, als würde sein Leben davon abhängen. Seine Stimme klang kläglich. «Sophie, ich kann das erklären.»

Ihr Puls beruhigte sich langsam wieder und machte Platz für feindseligere Gefühle. «Nenn mir einen guten Grund, warum ich nicht die Polizei rufen sollte.»

Statt ihr zu antworten, ließ Jonas die Schultern hängen. Er verzog das Gesicht zu einer Leidensmiene und Sophie glaubte in seinen Augen abwechselnd Scham, Furcht und Schmerz zu erkennen. Sein Blick hielt ihrem nicht länger stand und huschte stattdessen rastlos durch den Raum, das Ausmaß der Verwüstung erfassend.

«Hast du getrunken?», fragte Sophie fordernd, machte ihre Drohung aber doch nicht wahr.

«Nein», antwortete er knapp und Sophie musterte ihn genauer. Sein braunes Haar stand wirr ab und unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Schatten, aber die Art, wie er sich hielt, wirkte nicht so als hätte er einen über den Durst getrunken.

Sophie strich sich unsicher einige Strähnen aus dem Gesicht. «Schlafwandelst du?»

Jonas sah sie an und schluckte. «Nein ... Nicht wirklich jedenfalls.» Beschämt sah er wieder zu Boden. «Es war nur ein ... Albtraum.» Das letzte Wort war kaum hörbar, so leise flüsterte er.

Nahezu erleichtert atmete Sophie aus und sah sich in der Wohnung um. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen wollte einfach nicht weichen. Also begann sie sich die Nervosität vom Leib zu reden. «Und ich dachte schon sonst etwas. Dass du ein Einbrecher wärst oder ...» Es funktionierte nicht wie sonst, denn dafür flatterte ihr Herz zu sehr. Bang sah Sophie ihn an. «Ganz schön heftig deine Albträume. Passiert das öfter?» Sie wollte sich nicht vorstellen, was er noch im Schlaf anstellen könnte. «Ich ... also ...» Bei seinem stummen Anblick gingen ihr die Worte aus.

Jonas war schrecklich blass geworden. Seine Finger krampften sich um den Esstisch, während er immer wieder versuchte, seine Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Sophie befürchtete schon, er würde sich im nächsten Moment übergeben müssen. «Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?» Erneut hob sie das Handy.

«Bitte nicht», bat Jonas krächzend. «Es tut mir leid. Ich dachte nicht ... Ich hatte schon lange keinen so heftigen Anfall mehr. Hätte ich das gewusst, wäre ich doch niemals hier eingezogen.» Den letzten Satz hatte er mit geschlossenen Augen gewispert. Ein schwerer Seufzer folgte. Als er die Augen wieder öffnete, brachte er lediglich ein verzweifeltes «Scheiße» hervor.

Panik erfasste Sophie, dass er wieder wütend würde und hastig versuchte sie ihn abzulenken. «Es war ja nur ein Albtraum. Wir haben alle Albträume von Zeit zu Zeit.» Das hieß allerdings nicht, dass sie alle im Schlaf die Wohnung auseinandernahmen, dachte sie im Stillen bei sich. Ihre eigenen Worte kamen ihr bedeutungslos und platt vor.

«Nur?», fragte Jonas und bei der Verzweiflung in seiner Stimme zog sich ihre Brust zusammen. «Ich habe jede Nacht Albträume.»

Die Worte standen zwischen ihnen wie eine Wand. Keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Stattdessen sahen sie sich an, bis Sophie seinem Blick auswich und er den Kopf senkte. Während sie die Verwüstung ein weiteres Mal in Augenschein nahm, fragte sie: «Das passiert jede Nacht?» Er konnte auf keinen Fall bleiben, ob ihr Vater das einsehen wollte oder nicht.

«Nein, normalerweise wache ich direkt auf und kann mich zusammenreißen.» Er klang zerknirscht. «Ich weiß auch nicht, was heute so anders war. Ich ... es war plötzlich alles so real. Als wäre ich wieder da.»

Jonas hatte die Worte nur so dahin gesagt, aber Sophie entging nicht, wie er seine Schultern dabei hängen ließ. Da sie mit seinen Worten nichts anzufangen wusste, fragte sie schließlich leise: «Wo ist da?»

«Afghanistan.» Er sah auf und zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, die er ihr gerade offenbarte. Sophie kannte diese Art von sich selbst. Sie half ein wenig, um die Dinge nicht so sehr an sich herankommen zu lassen.

«Du warst im Krieg?» Es erklärte, woher ihr Vater Jonas aufgegabelt hatte.

Jonas nickte mechanisch und seine Stimme war weitaus gefestigter, als er antwortete: «Ich habe fünf Jahre bei der Bundeswehr gedient. Auch wenn das schon wieder länger her ist, als es sich anfühlt.»

Wieder breitete sich Stille aus, während Sophie versuchte, Sinn aus dem Gesagten zu machen. Soweit sie wusste, war ihr Vater während seiner Dienstzeit nie in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Und wenn, dann hatte er ihr nie davon erzählt. Ihre Einrichtung hatte er jedoch ganz sicher nie zerlegt. Jonas musste also weitaus Schlimmeres erlebt haben. Ungewollt kamen ihr Bilder aus den Nachrichten in den Sinn. Damals war alles so weit weg gewesen, aber irgendwie hatte der Krieg es geschafft, sie hier in ihrem Wohnzimmer aufzusuchen.

Mehrmals öffnete Sophie den Mund, aber es wollten keine Worte über ihre Lippen kommen. Jonas hielt sich noch immer krampfhaft am Tisch fest, wie ein Ertrinkender, der sich an einen Holzbalken klammert. Sie war nicht oft um Worte verlegen, aber mit diesem Thema wusste sie nicht umzugehen. Schließlich beschloss sie, stattdessen das Chaos zu beseitigen und hob den nächstbesten Krempel auf.

«Warte!» Erschrocken sah sie zu Jonas auf, der in wenigen Schritten bei ihr war. Sophie konnte nicht verhindern, dass sie zurückschreckte, aber Jonas tat so, als wäre ihm das nicht aufgefallen. Stattdessen legte er Hand an einen Sessel und richtete ihn wieder gerade hin. «Ich kann wenigstens noch aufräumen, bevor ich gehe. Und ich werde natürlich den Schaden ersetzen. Das ist das Mindeste.»

«Du bist doch noch nicht mal bezahlt worden», erwiderte Sophie und Jonas zuckte mit den Schultern. «Wirklich kaputt ist doch nichts und die Vase war sowieso hässlich. Du weißt gar nicht, wie oft ich sie schon wegschmeißen wollte.» Sie wollte sich nicht dazu äußern, dass er vorhatte wieder auszuziehen. Eigentlich wäre ihr das ganz recht, so unberechenbar wie er war.

Während er die Zeitschriften aufsammelte, die er vom Tisch gefegt hatte, fragte er vorsichtig: «Wegschmeißen scheint nicht so dein Ding zu sein, oder?»

Sophie, die gerade dabei war, ihre Sachen vom Boden auf den wieder aufgerichteten Sessel zu schmeißen, schaute entrüstet auf. «Was meinst du denn damit?»

«Na ja, die Schuhe zum Beispiel.» Verlegen zuckte Jonas mit den Schultern und rang sich ein armseliges Schmunzeln ab. «Du warst ziemlich erleichtert, als ich sie dir zurückgegeben habe.»

Sophie sah auf ihre Schuhe hinab. Tatsächlich waren sie so durchgelaufen, dass man mit genügend Anstrengung schon ihre Zehen durchschimmern sehen konnte. Die rosa Farbe war ausgeblichen und durch den Schmutz der Straßen ersetzt worden. Zu allem Überfluss hatte sich auch eines der Bänder gelöst und hing unansehnlich zu Boden. «Die gehörten meiner Mutter», hörte sie sich selbst sagen.

«Oh.» Jonas war gerade dabei, sich einem umgeworfenen Beistelltisch zu widmen. «Verstehe.»

Als er ihr den Rücken zuwandte, um den Tisch gerade zu rücken, riss Sophie erschrocken die Augen auf. Eine hässliche Narbe befand sich an seinem rechten Schulterblatt und wölbte sich leicht, als er die Muskeln anspannte. Der Anblick grauste ihr und sie konnte sich nur schwer die Verletzung vorstellen, die die Narbe verursacht hatte.

«Sophie?» Verwirrt sah Sophie auf und bemerkte, dass Jonas ihr einen Blick über die Schulter zugeworfen hatte. «Ist alles in Ordnung?»

«J... ja», stammelte sie und das Blut schoss ihr in die Wangen. «Ich hatte nur ... du wurdest verletzt?»

Jonas versuchte selbst einen Blick auf die Narbe zu erhaschen. «Ach das. Ja, einmal hat's mich auch erwischt. Aber ...» Er seufzte abermals. «Aber ich habe noch Glück gehabt und bin mit dem Leben davongekommen.»

«Wow!» Im selben Moment ärgerte Sophie sich über sich selbst. Auch wenn ihr Jonas gerade nicht geheuer war, hatte er doch etwas Sensibilität verdient. «Ich meine, das tut mir leid.»

Daraufhin zuckte Jonas nur mit den Schultern, seine Antwort auf alles. «Ja, ist manchmal schwer, das Gute darin zu sehen.»

Die Ungeheuerlichkeit seiner Worte nahm Sophie fast den Atem und mit einem Mal war ihre Leidenschaft wieder entfacht. «Hey, so darfst du nicht denken!» Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an. «Du warst im Krieg und du hast überlebt. Du hast Leuten geholfen und ...» Kurz unterbrach sie sich, als er sie wieder schmerzerfüllt ansah. «Du lebst. Das ist gut. Das ist toll!», fügte sie vehement hinzu.

Schluckend rang Jonas um die nächsten Worte. «Du verstehst das nicht. Ich ... Sophie, ich war kein Held.»

«Na und?», fragte sie Schultern zuckend. «Kann ja auch nicht jeder einer sein.» Sie schnaubte. «Ehrlich gesagt, finde ich, dass jeder, der sein Leben für andere riskiert, ein Held ist.»

Jonas schüttelte den Kopf. «Alles, was ich getan habe, war, meine Befehle zu befolgen und zu hoffen, dass es mich das nächste Mal nicht erwischt. Das ist kein Heldentum.»

«Aber du lebst», wiederholte Sophie zaghaft.

Schnappend holte Jonas Luft. «Dieses Leben?» Hoffnungslos fragend sah er sie an und zuckte mit den Schultern. «Was mache ich denn? Ich irre von Ort zu Ort, von Job zu Job. Ich habe ein Studium angefangen und wieder aufgegeben. Ich musste bisher vier Wohnungen verlassen, weil meine Albträume zu heftig waren und jetzt werde ich dafür bezahlt, dass ich deinem Vater sagen kann, dass du einen Freund hast.»

Geschockt sah Sophie ihn an. Schließlich fiel ihr nur eine plumpe Antwort ein. «Kannst du ihm das bitte noch nicht sagen?» Als Jonas sie verblüfft ansah, fügte sie hinzu: «Er muss nicht alles wissen, oder? Außerdem würde ich ihm das wenn dann gerne selbst sagen.» Sie biss sich auf die Lippen, nicht gerade glücklich, dass er von Luca wusste. Oder hatte er nur geraten, wieso es sie jede Nacht ins DeModie trieb?

«Ja, natürlich.» Ungelenk rieb Jonas sich den Nacken. «Ich werde sowieso kündigen müssen.» Als Sophie verwirrt aufsah, deutete er kurz auf die Sachen, die sie gerade aufsammelte. «Ich kann ja wohl kaum hierbleiben.»

Zögernd richtete Sophie sich wieder auf. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht. Jetzt kam es ihr falsch vor. Jonas brauchte den Job und eine Wohnung, in der er bleiben konnte. In der er sich vielleicht sogar eines Tages sicher fühlen konnte. Sie war doch nachts ohnehin nicht da.

«Du musst nicht gehen, weißt du?» Sophie versuchte betont lässig zu wirken. «Du hast doch selbst gesagt, dass du normalerweise nicht solche Anfälle hast. Das war nur eine Ausnahme, oder?»

Jonas nickte. «Ja, auf jeden Fall.» Dann verzog er das Gesicht und erwiderte schonungslos ehrlich: «Ich will nicht lügen. Anscheinend schreie ich manchmal im Schlaf und schlage im Bett um mich, aber normalerweise verwüste ich keine Zimmer.» Er wandte sich beschämt ab, bevor er leise zugab: «Du wirst mich eher in einer Ecke kauernd finden, weil ich Angst habe, dass mir die Decke auf den Kopf fällt.»

Mitleidig lächelte Sophie. Sein Zugeständnis nahm ihr etwas von dem Schrecken. «Du bist hier sicher, Jonas. Von mir aus, kannst du solange bleiben, wie du willst. Bis es dir wieder besser geht und unabhängig davon, ob mein Vater dich eingestellt hat.» Sie rollte die Augen. «Ich meine, ich werde natürlich mit ihm reden und ihm klarmachen, dass er bitte mein Privatleben aus seinen Jobbeschreibungen rauslassen soll.»

Plötzlich kam ihr ein verrückter Gedanke. Stirnrunzelnd sah Sophie Jonas an. «Das ist doch nicht der ganze Job, oder?»

Zu ihrer Erleichterung beeilte er sich zu sagen: «Nein, im Vertrag steht, ich soll mich um Warenlieferungen kümmern und all den Kleinkram, der im Büro so anfällt. Das hier sollte nur so eine Art Einstiegsprüfung sein. Ich glaube, er ist ziemlich verzweifelt.»

«Er ist ein verdammter Helikoptervater, der es nicht erträgt, nicht über jeden meiner Schritte Bescheid zu wissen», gab Sophie beißend zurück. Tief einatmend, bemühte sie sich um eine etwas ruhigere Erklärung. «Tut mir leid. Er übertreibt einfach so dermaßen. Deshalb bin ich auch ausgezogen.»

Sie seufzte. «Erzähl ihm von mir aus vom DeModie, damit er seine Ruhe hat. Aber lass die Sache mit Luca aus! Bitte!», fügte sie etwas verspätet hinzu.» Sie wollte sich nicht ausmalen, was aus dem Fluch würde, sollte ihr Vater beschließen, ihr das Tanzen mit ihm zu verbieten.

«Bist du dir sicher, dass du mich hier haben willst?», fragte Jonas.

«Sonst würde ich es nicht sagen, oder?»

Für einen Moment fürchtete Sophie, er würde ihr vor lauter Dankbarkeit um den Hals fallen. Doch Jonas riss sich zusammen und nickte nur. «Danke. Das ist wirklich großzügig. Ich brauche auch nur ein paar Wochen oder vielleicht ein, zwei Monate. Damit er mir die Empfehlung gibt.» Jonas seufzte schwer. «Ich bin erbärmlich oder?»

«Nein», antwortete Sophie mit einem Lächeln. «Du versuchst doch nur, auf eigenen Beinen zu stehen.» Ein Gähnen überkam sie mit einem Mal, als auch der letzte Rest Anspannung von ihr abfiel. «Ich muss jetzt aber mal langsam ins Bett, sonst schlafe ich den ganzen Tag. Außerdem muss ich fit sein für heute Nacht.»

«Du willst schon wieder tanzen gehen?», fragte Jonas überrascht.

Sophie hob kurz die Schultern. «Warum nicht? Wie du bereits sagtest, habe ich einen Freund und wir ... gehen eben am liebsten tanzen. Ich tanze gerne.» Sie hatte nicht vor, ihm von Lucas Fluch zu erzählen. Wahrscheinlich würde er sie für leichtgläubig oder bescheuert halten.

«Du tanzt wunderschön», meinte Jonas jedoch stattdessen und ein versonnener Ausdruck trat in seine Augen.

Das unerwartete Kompliment trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. «Ach Quatsch. Ich bin total aus der Übung.»

Jonas schmunzelte leicht. «Echt? Für mich sah es aus, als würdest du das professionell machen.»

Die Beobachtung traf sie genauso überraschend wie sein Kompliment. Es war Jahre her, dass sie diesen Traum gehabt hatte. «Mach ich nicht.» Der Traum war mit ihrer Mutter gestorben. «Ich tanze nur für mich und Luca.» Bei dem Gedanken an ihren Prinzen kehrte das Lächeln auf ihre Lippen zurück. «Hauptsächlich für Luca.»

Jonas widmete sich wieder der restlichen Unordnung. «Verstehe. Scheint ja die große Liebe zu sein.»

Sophie schnaubte. «Nein, er ist einfach ein wahrer ... ich meine, er behandelt mich wie eine Prinzessin.» Jonas' skeptischer Blick sagte alles und erneut schoss Sophie das Blut in die Wangen. «Ja, ich weiß: Rosa Tutu, Ballett, Papas kleine Prinzessin, jetzt ein Prinz. Ich bin das totale Klischee.»

Er versuchte es zu verbergen, aber Sophie konnte die Belustigung in seinen Augen sehen und je länger sie sich ansahen, desto mehr verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. «Mach dich ruhig lustig», beschwerte Sophie sich, aber wirklich böse konnte sie ihm nicht sein. So erleichtert war sie ihn lächeln zu sehen nach alldem vorher.

Das Leuchten in seinen Augen blieb und Sophie schnalzte mit der Zunge. «Ich meinte doch nur, dass Luca wirklich nett und zuvorkommend ist. Er ist ein echter Gentleman, zahlt sogar die Rechnung für mich und er kann tanzen.» Das Lächeln in seinen Augen war verschwunden. Verwirrt bemerkte sie, dass die Stimmung wieder zu kippen drohte. «Jedenfalls fühle ich mich sehr wohl bei ihm.»

«Das freut mich für dich», meinte Jonas mit einem Ernst, der sie eher an eine Trauerfeier erinnerte als einen Glückwunsch. «Du kannst ihn übrigens ruhig auch vorbeibringen. Ich meine, es ist deine Wohnung, aber es würde mich auch nicht stören. Wegen mir müsst ihr euch nicht verstecken.»

«Wir tanzen gerne», schob Sophie hastig als Ausrede vor. «Wirklich. Auf der Tanzfläche sind wir am glücklichsten.»

Seinem Ausdruck nach zu urteilen, glaubte Jonas ihr kein Wort. Skeptisch legte er den Kopf schief. «Hast du Angst, dass ich das deinem Vater erzähle? Ich habe doch versprochen, dass ich ihm nichts von Luca sage. Und wenn du einen Mann nach Hause bringen willst, ist das doch deine Sache.»

Sophie zögerte. Niemand konnte Luca kennenlernen. Zumindest nicht für die nächsten neun Monate. «So weit sind wir noch nicht.» In Gedanken schalt sie sich für die Ausrede. Als ob ihre Beziehung einen Fremden überhaupt etwas anging.

Jonas' Augenbrauen zogen sich zusammen und er nickte leicht. «Na dann. Du wolltest ins Bett, oder? Ich räume den Rest auf.»

Seine plötzliche Abschottung verwirrte Sophie. Aber jetzt war sie zu müde, um sich damit zu befassen. «Okay. Bis nachher dann.»

«Bis nachher, Sophie», antwortete Jonas mit einem schmalen Lächeln, das seine Augen nicht ganz erreichte.

Während sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss, dachte sie über das Erlebte nach. Die vergangenen Stunden waren überwältigend gewesen. Erst Lucas Geständnis und dann die Konfrontation mit Jonas' Kriegstrauma. Sie war sich nicht sicher, wen von beiden sie mehr bedauerte, aber wenigstens stellte Luca nicht so viele unangenehme Fragen.

Sophie ließ sich aufs Bett fallen und zog ihre kaputten Schuhe aus. Schon lange hatte sie nicht mehr an den Tag gedacht, an dem sie das letzte Mal auf einer Bühne gestanden hatte. Damals, als sie noch ihre eigenen Schuhe getragen hatte und nicht die kaputten ihrer Mutter. Mit einem Seufzen hängte sie die Schuhe an den Nagel in der Wand und begann sich bettfertig zu machen.

Mit seinem Kompliment hatte Jonas an einer Wunde gerührt, die sie schon längst verheilt geglaubt hatte. Mit Luca zu tanzen war immer so ein traumgleiches Erlebnis gewesen, dass ihr nie aufgefallen war, wie sehr sie die eleganten Formen des Balletts, die Disziplin beim stundenlangen Training oder die Aufregung vor der Vorstellung vermisste.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739388496
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
PTBS Ballett Tanzen Fantasy Romance Märchenadaption Märchen

Autor

  • Janna Ruth (Autor:in)

Tagsüber forscht Janna Ruth (geb. 1986) als Doktorandin der Geologie an den Plattengrenzen unserer Welt. Des Nachts erschafft sie ihre eigenen Welten, erdenkt komplexe Charaktere und bastelt umfangreiche Spannungsbögen. Im März 2017 feierte sie ihr Debüt mit dem Kurzroman "Tanz der Feuerblüten" (Ueberreuter Verlag).
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Titel: Im Bann der zertanzten Schuhe