Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe und Schmidt
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
März
Rothe und Schmidt
„Hast Du das gehört?“, fragte Rothe. Schmidt hatte nichts gehört. Schmidt konnte gar nichts hören. Schmidt war voll und ganz mit sich und seinen Beziehungsproblemen beschäftigt. Er redete ununterbrochen. Christina hatte ihn verlassen. Christina war gegangen. Am Freitag, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war, war sie schon weg. Einfach weg. Nur ein Brief: „Suche mich nicht, ich melde mich.“ Sie hatte das Nötigste gepackt und wohnte nun woanders. Schmidt wusste nicht wo, Schmidt wusste nicht so recht warum. Sicherlich, sie hatte sich beklagt in letzter Zeit. Sie hatte sich beklagt, dass er sie nicht mehr ernsthaft begehren würde. Er jammerte in einer Tour. Gewiss, sie hatten schon eine ganze Zeit nicht mehr miteinander geschlafen. Aber ist das nicht normal? Nach fünf Jahren?
Sicherlich ist das normal! Außerdem immer dieser Druck. Auf Befehl ging es eben nicht.
Hatte er nicht zurzeit andere Probleme? Jetzt, wo es in seiner Kanzlei gerade nicht so sonderlich gut lief.
Christina hatte sich bisher noch nicht wieder bei ihm gemeldet. Und dies war der Grund, warum sich Schmidt bei seinem Freund Rothe just in diesem Augenblick den ganzen Frust von der Seele redete. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er redete und redete und redete. Und darum hatte er eben auch nichts gehört.
Rothe hatte etwas gehört. Rothe war zwar tief in seine Gedanken versunken, aber das Geräusch ließ ihn hochschrecken. Für ihn war die Wortflut längst nur noch ein dauerhaft rieselnder Geräuschpegel im Hintergrund, so wie Autoverkehr oder wie Grillenzirpen. Er reagierte nur noch auf den Gesichtsausdruck von Schmidt. Spiegelbildlich passte er sich dessen Mimik an. Gelegentlich nickte Rothe, wobei er ab und zu ein resignierendes „Hmm“ ausstieß. Schmidt sollte wenigstens das Gefühl haben, dass sein alter Studienkollege aufmerksam und mitfühlend zuhörte. Schließlich hatte Rothe ihn ja quasi zu sich eingeladen, als Schmidt ihm via E-Mail von der Trennung berichtete.
„tut mir leid das mit christina, sehr leid...aber du weißt ja, dein alter kumpel rothe ist nur 500 km entfernt...falls du tapetenwechsel brauchst...du kennst meine adresse...“ hatte Rothe auf die Schnelle zurückgemailt und dabei völlig verdrängt, dass Schmidt schon immer dazu neigte, Höflichkeitsfloskeln sehr, sehr ernst zu nehmen.
Vier Stunden später war Schmidt da. Vier Stunden trotz der fünfhundert Kilometer. Er muss sich unmittelbar nach der E-Mail ins Auto gesetzt haben. Immerhin gab es eine kurze Vorwarnung, indem er ein „komme“ in die Tastatur hackte und vor Abfahrt absendete. Rothe war also durchaus vorbereitet.
Und nun erzählte Schmidt schon seit drei Stunden von seinen Problemen mit Christina. Eigentlich wollte Rothe heute richtig was unternehmen. Eigentlich wollte er wieder mal anständig weggehen. Eigentlich wollte er ordentlich einen drauf machen. Er hatte gehofft, dadurch endlich Suse zu vergessen. Zumindest für heute Abend. Vor einem halben Jahr, als er am Freitag von der Arbeit nach Hause gekommen war, war sie weg. Einfach weg. Auf dem Tisch lag ein Brief, in dem stand:
„Für dich bin ich ja nur ein Sexualobjekt. Bye.“