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Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe on Tour

von Tscharlie Häusler (Autor:in)
20 Seiten

Zusammenfassung

Die fünfte von vierzehn Geschichten der Irrungen, Wirrungen und Amouren eines Singles namens Rothe. Es beschreibt in unterhaltsamer, humorvoller Form eine typische Berliner Existenz als Randfigur diverser Subkulturen. Authentisch werden bekannte und unbekannte Örtlichkeiten, Szenekneipen, aber auch skurrile, witzige und einfache Personen aus dem Umfeld des Protagonisten beschrieben. Die Geschichten können einzeln oder im Gesamtkontext verstanden und genossen werden. Aufgrund der milieugetreuen Schilderung Berliner Verhältnisse sind die Geschichten sowohl für Berliner aber auch für Besucher der Stadt mit einem großen Wiedererkennungswert verbunden. Sie werden bei der Lektüre mindestens schmunzeln, wenn nicht auch manchmal lauthals lachen. Natürlich werden Sie sich in diesen Figuren auf keinen Fall wieder erkennen, oder etwa doch?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mai

Rothe on Tour

Rothe war zu seinem eigenen Leidwesen ein Mann voller Grundsätze. War er auf irgendetwas allergisch, konnte er einfach nichts dagegen tun. Doreens Idee, mit ihm aufs Land ziehen, war so etwas, das bei ihm gewisse allergische Reaktionen hervorrief. Auch wenn er die Konsequenzen seines Handelns manchmal fürchtete, es gab keine Alternative. Grundsätze müssen befolgt werden.

Nun war er also wieder Single. Ohne Job und ohne Frau hatte Rothe nach seinem Kurzurlaub jetzt wieder viel Zeit. Er nahm sich vor, einige lang vernachlässigte Freunde in „Westdeutschland“ – auch wenn es eher Süddeutschland war – zu besuchen. Es war Freitag, später Nachmittag, Berlin Zoologischer Garten, Beginn des Wochenendes. Rothe wollte noch in dieser Nacht ankommen und vor allem billig sollte es sein.

Das Arbeitsamt war knausrig und vor allem langsam, wenn es um Überweisungen ging. Ein verbilligtes Ticket konnte er sich gerade noch leisten und am Wochenende durfte selbst ein Arbeitsloser die Stadt verlassen, ohne mit einer Leistungskürzung rechnen zu müssen. Bei derartigen Sanktionen hatte es das Arbeitsamt zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Im Gegensatz zur Überweisung gingen Kürzungsanweisungen erstaunlicherweise ziemlich flott vonstatten.

Am Bahnhof herrschte Gedränge und Gewusel. An einem Freitagnachmittag war nichts anderes zu erwarten. Menschen stießen zusammen, entschuldigten sich, eilten weiter. Mitten in der Bahnhofshalle befand sich ein großer „Service-Point“. „Die Deutsche Bundesbahn denkt also global“, sinnierte Rothe. „Unternehmen Zukunft“, entfuhr es ihm.

Am „Service-Point“, hinter einer breiten Theke, saßen zwei Bahnmitarbeiter. Der eine war ein griesgrämig dreinblickender älterer Mann. Neben ihm saß eine junge blonde Frau. Sie hatten schicke blaurote Anzüge und neckische Mützchen. Sie trug zudem ein blaurotes Halstuch.

Lange Reihen hatten sich vor dem Schalter gebildet. Der missmutige Mitarbeiter erklärte schlecht gelaunt die nächste Verbindung nach Leipzig. Vor der weiblichen Service-Point-Mitarbeiterin stand sinnigerweise ein weißes Schild: „Dieser Schalter ist momentan nicht besetzt“.

Rechts von der Bahnhofshalle, der Eingang zum „Reisezentrum“. Reisezentrum. Wie langweilig. Ticket Office wäre irgendwie stimmiger

Ihm kam der nicht ganz von der Hand zu weisende Gedanke, dass die Bahn möglicherweise doch nicht vom weltumspannenden Unternehmen namens Mc Kinsey beraten wurde, dessen Welterfolg den kreativ-globalen Wortschöpfungen zu verdanken war. Er betrat das Reisezentrum und stellte sich vor dem Express-Schalter an. Seinen schweren Rucksack klemmte er zwischen seine Beine.

Man nahm immer viel zu viel mit.

Ein lästiger Umstand, an dem wohl irgendwie auch nichts wesentlich zu ändern war. Rothe hatte die Manie immer mehrere Sätze Klamotten zum Wechseln mitzunehmen, obwohl er genau wusste, dass er gerade bei den Besuchen der alten Kumpels, tagelang nicht aus seinem T-Shirt und den Jeans herauskam, auch wenn man schon verdächtig zu müffeln begann. Die drei dicken Wälzer, die er sich eingepackt hatte, brachte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch wieder zurück, ohne auch nur eine Seite darin gelesen zu haben. Ein Wunder, dass er sich diesmal dazu überwinden konnte, seine Joggingschuhe zu Hause zu lassen. Die hatte er normalerweise auch immer dabei, obwohl er genau wusste, dass er bei dem zu erwartenden Alkoholkonsum während seines Aufenthaltes sicherlich nicht dazu in der Lage war Sport zu treiben.

An der Warteschlange ging es relativ zügig voran.

„Guten Tag. Ich hätte gerne ein Abendticket nach Würzburg. Den Zug 16 Uhr 41!“

„Abendticket? Erst ab 19 Uhr“, kam die prompte Antwort.

„Das letzte Mal fuhr ich doch mit diesem Zug.“

„Freitag immer erst ab 19 Uhr“, folgte die knappe Erwiderung.

„Könnten Sie mir bitte sagen, wie ich dann halbwegs preiswert nach Würzburg fahren kann?“

„Dies ist ein Express-Schalter, gehen Sie bitte zur Information.“

„Bitte. Hinter mir steht doch niemand.“

„Das ist ein Express-Schalter, bitte gehen Sie zur Information.“

Eine Lautsprecherdurchsage: „Vorsicht am Gleis 3, der Zug fährt ein. Bitte zurücktreten!“

Die große schwarze Tafel über der Treppe zu den Bahnsteigen zeigte akribisch die eintreffenden Züge. Weiße Lettern ratterten ununterbrochen. Das digitale Zeitalter war hier offensichtlich noch nicht angebrochen.

„Gleis 4 Richtung München 20 Minuten Verspätung“, stand da. Der ICE Sophie Scholl war 30 Minuten später als angekündigt. Es schien das übliche Wochenendchaos zu sein. Fünfminütige Verspätungen lagen im Toleranzbereich, hatte Rothe kürzlich im Tagesspiegel gelesen. Nicht mehr ganz so gutmütig blickend, hatte er inzwischen das Reisezentrum alias „Ticket Office“ wieder verlassen. Schwer schleppend marschierte er eilig und keuchend zum „Service Point“.

Leichte Schweißperlen auf der Stirn. Einreihen.

Rothe beobachtete währenddessen die eintreffenden und wegfahrenden Züge und stellte dabei fest, dass der Toleranzbereich von den Bedienern der Tafel tolerant ausgelegt wurde. Am unteren Ende der Tafel stand die Erfolgsmeldung für den interessierten Kunden: „Pünktlichkeitsrate 84,6 Prozent“.

20 Minuten später.

„Guten Tag, gibt es eine Möglichkeit, mit dem Abendticket nach Würzburg zu kommen?“, fragte Rothe.

„Über das Abendticket kann ich keine Auskunft geben“, antwortete der Mitarbeiter.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440590
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
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Autor

  • Tscharlie Häusler (Autor:in)

Tscharlie Häusler, geboren in Franken. Studium der Rechtswissenschaften. Promotion. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin.
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Titel: Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe on Tour