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Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe hat den Blues

von Tscharlie Häusler (Autor:in)
15 Seiten

Zusammenfassung

Die zehnte von vierzehn Geschichten der Irrungen, Wirrungen und Amouren eines Singles namens Rothe. Es beschreibt in unterhaltsamer, humorvoller Form eine typische Berliner Existenz als Randfigur diverser Subkulturen. Authentisch werden bekannte und unbekannte Örtlichkeiten, Szenekneipen, aber auch skurrile, witzige und einfache Personen aus dem Umfeld des Protagonisten beschrieben. Die Geschichten können einzeln oder im Gesamtkontext verstanden und genossen werden. Aufgrund der milieugetreuen Schilderung Berliner Verhältnisse sind die Geschichten sowohl für Berliner aber auch für Besucher der Stadt mit einem großen Wiedererkennungswert verbunden. Sie werden bei der Lektüre mindestens schmunzeln, wenn nicht auch manchmal lauthals lachen. Natürlich werden Sie sich in diesen Figuren auf keinen Fall wieder erkennen, oder etwa doch?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Oktober

Rothe hat den Blues

Rothes Sinnkrise begann, als ihn Freitagabends im Franken, einem Kreuzberger Hard Rock Schuppen mit Flair, in dem er gerne mal ein Guinness trank und sich den Kopf mit lauter Musik durchpusten ließ, zwei ansehnliche junge Twens ansprachen. Sie fragten, wo man denn in Berlin etwas „Anständiges“ erleben könne.

Eine war klein, blond und engelsgesichtig, die andere etwas größer, dunkelhaarig und diabolisch geschminkt. Rothe erzählte den beiden Hübschen aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz vom Berliner Nachtleben. Die Mädchen waren vollkommen hingerissen und blickten mit ehrfurchtsvollem, viel versprechenden Augenaufschlag zu ihm auf. Als die Blonde ihn fragte, wie alt er denn sei und Rothe arglos und wahrheitsgemäß antwortete, meinte sie mit einem umwerfend bezaubernden Lächeln: „Das sieht man dir aber überhaupt nicht an!“ Rothe fühlte sich ausgesprochen geschmeichelt. „Sollte das doch wieder mal ausnahmsweise ein erfolgreicher Abend werden?“, dachte er in stiller Vorfreude.

Dieser himmlische Gedanke kreiste bis zu dem Zeitpunkt in seinem Kopf, bis sich plötzlich die Freundin der Engelsgleichen mit einem leicht ins hämisch gehende Grinsen bestätigend einmischte: „Stimmt, mein Vater hat viel weniger Haare und der ist noch ein paar Jahre jünger als du!“

Das hatte gesessen. Rothe war konsterniert. Das Gespräch, das vorher leicht und amüsant vonstattenging, geriet plötzlich ins Stocken. Kurze Zeit später lehnte er das Angebot der Engelsgesichtigen, gemeinsam um die Häuser zu ziehen, kurz angebunden ab. Die Lust an derartigen Unternehmungen war ihm inzwischen gründlich vergangen. Er trank frustriert noch zwei Gläser Guinness. Dann ging er in sich selbst gekehrt, gebeugt und griesgrämig nach Hause. Er legte sich sofort ins Bett und schlief wie ein Stein.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er schlecht gelaunt. Als er beim Zähnenputzen in den Spiegel schaute, verschlechterte sich seine Laune noch mehr. Erste graue Strähnchen brachen sich Bahn. Geträumt hatte er von wilden Partys, bei denen er nur noch Zaungast war, als alternder, unzufriedener Voyeur. Das war nicht gut für die Stimmung und drückte auf sein sonst überaus reichlich vorhandenes Selbstwertgefühl. Der gerade nicht sonderlich goldene Herbst tat sein übriges.

Draußen war es grau, kalt und regnerisch. Die Sonne kam kaum noch zum Vorschein. Rothe hasste dieses trübsinnige Wetter, das ihm Jahr für Jahr mehr zu schaffen machte. Er war schwermütig, bedrückt und mürrisch. „Novemberdepression“ nannte er diese Stimmung normalererweise, aber es war ja erst Oktober. Nach der Zeitumstellung in Bälde würde sich seine Laune sicherlich noch verschlechtern. Es wäre früher dunkel und Tageslicht bekäme man kaum noch zu Gesicht.

Die „Novemberdepression“ ließ ihn nachdenklich werden. Er wurde sich darüber bewusst, dass sein Leben war in der letzten Zeit ziemlich ereignislos verlief. Täglich dasselbe Einerlei. Ein langweilig ödes, trostloses Dasein. Alles schien momentan tatsächlich ein langer ruhiger Fluss zu sein. Für manchen mochte dies der sich endlich erfüllende Lebenstraum sein. Für Rothe war es das sicherlich nicht. Er grübelte. Kein Job. Keine Frau. Dafür Ärger mit dem Arbeitsamt und der Hausverwaltung. „Immerhin etwas Abwechslung“, schoss es ihm verbittert in den Sinn.

Ihn plagte eine – wenn nicht die – totale Sinnkrise. Neben den vielen Verdrießlichkeiten, trieb ihn allerdings verstärkt auch die Sorge um, dass er seit geraumer Zeit keinen Sex mehr hatte. Er fühlte sich unbestimmt unzufrieden. Unbefriedigt sozusagen. „War es damit nun auch schon vorbei?“, sinnierte er missmutig. Freunde in seinem Alter sprachen häufiger davon. Rothe nahm dies meistens nicht so richtig wahr, denn die, die darüber ausführlich räsonierten, waren alle mehr oder weniger glücklich verheiratet.

Bisher war Rothe überzeugt davon, dass dies an dem viel gerühmten Institut der Ehe und eher lustlosen Gattinnen liegen würde. Diesem Schicksal war er bisher erfolgreich entronnen und recht zufrieden mit diesem für viele eher unerträglichen Schicksalsschlag.

„Da müsste doch eigentlich noch etwas gehen“, redete er sich weiterhin unverdrossen optimistisch ein. Allerdings hatte Rothe momentan überhaupt keine Aussichten auf eine Frau. Nicht mal ein bisschen. Und das nun schon bereits seit mindestens einem Vierteljahr.

Rothe fühlte sich nutzlos und erschlafft. Die ersten grauen Haare sprossen, der Bauch wurde größer und seine Onaniebestmarke von achtmal an einem Tag aus dem Jahre 1981 war beim besten Willen nicht mehr zu knacken. Er schien wirklich in die Jahre zu kommen. „Da muss sich was ändern!“, beschloss Rothe.

Damit meinte er nicht sein Alter, daran konnte er nichts ändern, oder den immer noch ungebrochenen Rekord, denn an dieser Bestleistung war wohl auch nicht mehr zu rütteln, sondern er meinte den zu verändernden Missstand, dass er seit geraumer Zeit keinen Sex mehr gehabt hatte. Zumindest nicht mit anderen. Heute sollte es geschehen. Das nahm er sich jedenfalls mit verdrießlicher Miene fest für diesen Samstagabend vor.

Nach dem Frühstück ging er erst mal zum Friseur. Gestern war ihm beim Stichwort Haare eingefallen, dass er sich diese wieder mal schneiden lassen könnte. Schließlich hatte er ja offensichtlich mehr Haare als andere Männer in seinem Alter. Schmerzvoll kam ihm die Begegnung mit den jungen Damen wieder in den Sinn. Das war wirklich bitter gewesen. Das Alter schien offenbar leider auch bei ihm keine Ausnahme zu machen.

Sein Stammfriseur von gegenüber war ein schwuler, arabischer, taubstummer, stark gegelter, großgewachsener Mann, dem Rothe nie klar machen konnte, wie er seine Haare denn genau haben wollte. Vielleicht lag es an seiner mangelnden pantomimischen Begabung.

Trotzdem zog es ihn immer wieder hin, auch wenn er danach entsetzlich aussah, denn wer hatte schon einen schwulen, arabischen, taubstummen Friseur, dessen Salon auch noch außerordentlich skurril eingerichtet war. Schon wegen des Sinnesgenusses lohnte der regelmäßige Besuch. Neben den Spiegeln hingen alle möglichen Autogrammkarten von arabischen Filmschauspielern. Räucherstäbchen verliehen dem Friseursalon seine ganz eigene Duftnote. Geschmückt war der Salon mit unzähligen Plastikblumen, die in Vasen herum standen oder neben den Bildern an die Wand getackert waren. Daneben überall christliche Heiligenbildchen. Rothe fragte sich jedes Mal, wenn er sich dort einfand, wie das zusammenging. Entweder gehörte er einer christlichen Minderheit an oder es war der Tribut an seine neue Heimat. Da er sich aber nicht mit dem Friseur verständigen konnte, sollte dies für ihn für immer ein Geheimnis bleiben. Hauptsache, die Haare wurden kurz.

Diesmal verließ er den Salon fast mit einer Glatze. Zumindest teilweise, denn der Schnitt war ziemlich asymmetrisch. Eigentlich hatte er mittels Gebärdensprache ganz andere Vorgaben gemacht. Bei diesem Wetter war ihm eigentlich überhaupt nicht nach einer derartig exzessiven Kurzhaarfrisur zumute. Er sollte vielleicht mal einen Pantomimenkurs belegen. Diese Kurse waren momentan schwer angesagt, wie er den Kleinanzeigen in den Veranstaltungsmagazinen entnehmen konnte. Seine zwischenzeitlichen Versuche, der im Spiegel beobachteten heraufziehenden frisurtechnischen Katastrophe Einhalt zu gebieten, waren jedoch letztendlich nicht von Erfolg gekrönt. Er versuchte mit Daumen und Zeigefinger die Länge seiner zukünftigen Haartracht darzustellen. Offenbar war ihm das jedoch nicht gelungen. Der Friseur hatte zwar immer nur ausgesprochen freundlich und sehr zuvorkommend gelächelt und dazu verständig genickt, von seinen eigenen Vorstellungen ließ er sich jedoch in keinster Weise abbringen.

„Was soll’s?“, dachte Rothe. Nur nicht kleinlich sein. Er hatte sich schließlich viel vorgenommen heute Abend. Wenn er entsprechend in Form wäre, würde es sicherlich nicht an der Frisur scheitern.

Rothe ging in den Bierhimmel, einer Kneipe, die in den 80er Jahren noch als Prollkneipe tituliert wurde, inzwischen aber im hellen, wohldosiert designten Ambiente hergerichtet worden war und ganz anders, als der Name vermuten ließ, in Szenekreisen für seine reichhaltige Auswahl an leckeren, selbstgebackenen Kuchen berühmt war. Rothe betrachtete die in der Vitrine ausgestellten, köstlich ausschauenden Torten und bestellte einen Frankfurter Kranz, den er bei derartigen Stimmungslagen am liebsten zu sich nahm. Das tat gut, kam aber seinem einstmals jugendlichen Kampfgewicht nicht unbedingt zugute. Als er lustvoll das erste Stück Kuchen seinem Mund zuführen wollte, hörte er in seinem Rücken ein: „Hey! Du hier?“

Es war Detlef, mit dem er einst zusammen die Weiterbildung zum Publikumszeitschriftenredakteur gemacht hatte. Sein Auftritt heute war wieder einmal so tuntig, wie man es nur aus schlechten Comedyshows kennt.

„Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen, du schaust so trübsinnig?“ fragte er affektiert.

Detlef deutete auf Rothes Kopf.

„Im Übrigen, wer hat denn das Verbrechen begangen?“

Er meinte wohl die Frisur. „Ach, das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Rothe und meinte griesgrämig: „Hast Recht Det. Hab ziemlich miese Laune. Befürchte, ich habe die Midlife Crisis!“.

„Keinen regelmäßigen Sex, wa?“

Detlef grinste.

„Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!“, antwortete Rothe mit resigniertem Schulterzucken.

Detlef schaute amüsiert.

„Du bist doch eine Hete, oder täusche ich mich da?“.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440910
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Single Kneipe Berlin Friseur Feuerwehr Sex Kurzgeschichten Humor Szene Kreuzberg Erzählungen

Autor

  • Tscharlie Häusler (Autor:in)

Tscharlie Häusler, geboren in Franken. Studium der Rechtswissenschaften. Promotion. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin.
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Titel: Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe hat den Blues