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Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe bekommt Besuch

von Tscharlie Häusler (Autor:in)
20 Seiten

Zusammenfassung

Die siebte von vierzehn Geschichten der Irrungen, Wirrungen und Amouren eines Singles namens Rothe. Es beschreibt in unterhaltsamer, humorvoller Form eine typische Berliner Existenz als Randfigur diverser Subkulturen. Authentisch werden bekannte und unbekannte Örtlichkeiten, Szenekneipen, aber auch skurrile, witzige und einfache Personen aus dem Umfeld des Protagonisten beschrieben. Die Geschichten können einzeln oder im Gesamtkontext verstanden und genossen werden. Aufgrund der milieugetreuen Schilderung Berliner Verhältnisse sind die Geschichten sowohl für Berliner aber auch für Besucher der Stadt mit einem großen Wiedererkennungswert verbunden. Sie werden bei der Lektüre mindestens schmunzeln, wenn nicht auch manchmal lauthals lachen. Natürlich werden Sie sich in diesen Figuren auf keinen Fall wieder erkennen, oder etwa doch?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Juli

Rothe bekommt Besuch

Rothe bekam Besuch aus Westdeutschland, obwohl die Besucher aus Süddeutschland waren. Das war ein altes Berliner Relikt aus den Zeiten der Insellage. Selbst der türkische Zeitungshändler sprach immer von Westdeutschland und den Wessis, wenn er von München, Stuttgart, Nürnberg und deren Bewohner sprach. Die Besucher aus Westdeutschland, die eigentlich aus Süddeutschland stammten, waren alte Freunde aus Schul- und Studientagen.

Rothe freute sich auf den Besuch, obwohl man als Berliner Besuch leidlich gewohnt war. Rothe hatte in einer Kleinstadt studiert und konnte ein Lied davon singen. Da kam selten mal ein alter Freund vorbei, aber seitdem er in Berlin wohnte, umgarnten ihn plötzlich sehr viele alte Freunde, was mitunter schon ziemlich lästig werden konnte.

Als Rettung vor dem unablässigen Besucherstrom musste er sich mitunter die abstrusesten Geschichten ausdenken, um mal ein Wochenende allein und in Ruhe verbringen zu können. Die Ausrede, man wäre nicht zuhause und im beabsichtigten Zeitraum selbst auf Reisen, stießen beim potentiellen Besuch nicht auf fruchtbaren Boden. Nach einem kurzen Höflichkeitsplausch, kam unweigerlich die Frage, ob die Wohnung während dieser Zeit dann frei wäre. So stellte sich schnell heraus, dass der gute, alte Freund mehr an der kostenlosen Hauptstadtbleibe als an Rothes Gesellschaft interessiert war. Rothe hatte sich anfangs noch gutmütig gezeigt, doch inzwischen behauptete er, eine Freundin würde ihren Großstadtbesuch während der Zeit seiner Abwesenheit dort unterbringen. Ansonsten berief er sich auf Platzkapazitäten, hatte ein paar billige Unterkünfte in petto und erklärte sich zu einem gemütlichen Plausch in einer Kreuzberger Kneipe bereit. Das war dem Besucher wegen seines straffen Touristenprogramms dann oftmals allerdings doch zu anstrengend. Es war sozusagen die Nagelprobe, bei der man als Neuberliner die Spreu vom Weizen trennen konnte.

Diesmal musste er keine Ausrede erfinden. Er freute sich, denn diesen Besuch zählte er zu den wirklich guten, alten Freunden, auch wenn diese sich untereinander nur flüchtige kannten. Es waren Kumpels aus verschiedenen Phasen seines Lebens. Er hatte es so einrichten können, dass er seine aus verschiedenen Orten kommenden Weggenossen an einem Wochenende „beglücken“ konnte. Lieber mit einem Aufwasch, bevor der Besuch Wochenende für Wochenende hier eintrudelt!

Gustl, den er das erste Mal an der Uni getroffen hatte, kam aus Erlangen. Rothe fühlte sich damals etwas verlassen, neben den jungen, alerten Juristen mit Trenchcoats und Aktenkoffern, die in die ersten Reihen des bedrohlich großen Vorlesungssaals strömten. Er war zwar auch jung, aber weniger alert und besaß weder Trenchcoat noch Aktenkoffer. Diese Accessoires waren ihm seit jeher ein Gräuel. Solche Typen bezeichnete er auch heute noch als „junge Alte“. Twens, die glaubten, endlich im Leben angekommen zu sein und dabei mindestens genauso spießig wie ihre Eltern waren. Bei Juristen und Betriebswirtschaftlern war diese hartnäckige Spezies besonders zahlreich vertreten, woran sich bis heute nichts geändert hatte.

Gleich in seinen ersten Studientagen fiel ihm ein gemütlich ausschauender junger Mann mit Brille auf, der immer in der letzten Reihe saß. Oft zu spät. Oft von den Mühen des Abends zuvor gezeichnet. Immer schweigend. Immer im Kampf mit dem Schlaf. Auch ohne Trenchcoat und Aktenkoffer. Das war Gustl.

Gustl und Rothe waren offenbar Brüder im Geiste. Und obwohl sie jahrelang nie über ein freundliches Hallo und ein höfliches Zuwinken hinaus kamen, waren sie sich auf unbestimmte Art sympathisch. Im Laufe der Zeit wurden auch ihre Besuche in den Vorlesungen immer seltener. Ein weiterer Grund dafür, dass sie sich in dieser Zeit – obwohl sie nur 300 Meter voneinander entfernt wohnten – nicht näher kamen, waren zwei verschiedene Stammkneipen. Gustls Stammkneipe, das E-Werk, war im Westen, Rothes Stammkneipe, das Paletti, lag im Osten ihrer Studienstadt, die sich wohlgemerkt im Süden Deutschlands und nicht in Berlin befand. Trotzdem, zwischen diesen beiden Orten lag offensichtlich eine imaginäre, nicht zu überwindende Grenze. Für beide. Freunde wurden sie erst später während des Referendariats beim Oberlandesgericht. Dort traf Rothe bei den Unterrichtseinheiten einen gemütlich ausschauenden jungen Mann in der letzten Reihe, der immer mit dem Schlaf kämpfte. Endgültig ins Herz geschlossen hatte er Gustl, als er bemerkte, dass dieser sich immer Hausschuhe anzog, kurz bevor er – trotz der störenden Dozentengeräusche – in seinen wohlverdienten Schlummer fiel.

Gustl war als erster da. Er war mit dem Zug gekommen. Rothe wartete schon am Gleis und begrüßte ihn freudig, „Na Gustl, altes Haus, alles im Lot?“

Gustl schüttelte nur stumm den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Mit dem Kopf deutete er Richtung Ausgang. Eine für Rothe sehr familiäre und für Gustl äußerst typische Geste. Er hatte offensichtlich Durst. Sie kehrten erst mal in eine Fußballkneipe am Zoo ein. Früher hieß die „Holst am Zoo“ und gehörte dem ehemaligen Präsidenten von Hertha BSC Berlin. Jetzt nannte sie sich „Hanne am Zoo“ und wurde von einem früheren Fußballer von Hertha BSC und Bayern München betrieben.

Auf ein Bier.

Ein Stunde und drei Bier später klingelte Rothes Handy. Jo rief an. Er klang etwas ungehalten. „Wo bist du denn? Ich stehe schon ne ganze Weile vor deiner verschlossenen Tür, verflucht!“.

Gustl übernahm die Rechnung und sie fuhren mit der U2 erst mal zu Rothe.

Rothe kannte Jo seit seiner Gymnasialzeit. Auch einer aus der letzen Bank Rothe konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie beide ins Direktorium gerufen wurden. Ein Deutschlehrer hatte zuvor krachend gegen ihre Schulbank getreten und heulend das Klassenzimmer verlassen. Sie hatten viel Unsinn miteinander unternommen und eine beträchtliche Anzahl von gut ausgebildeten Pädagogen zur schieren Verzweiflung getrieben. Und das war auch der Grund, weshalb einige Lehrer stillschweigend ihre häufigen Absenzen billigten, die sie als Oberprimaner schon vormittags zu Kneipenbesuchen nutzten. Rund um ihr Gymnasium gab es einige dieser Pinten, die sich auf schwänzende Schüler spezialisiert hatten. Nach dem Abitur waren Jo und Rothe gemeinsam in den USA gewesen, weil sie unbedingt nach Sacramento reisen mussten. „Weil ein jeder Mann einmal in Sacramento gewesen sein muss“, wie ihr gemeinsamer Vorabendserienheld verkündet hatte.

Ihre erste große Reise, der noch einige andere folgen sollten, war chaotisch, aber sehr ereignisreich, denn einfach machten sie es sich bei den Reisen – auch in den darauf folgenden Jahren – nie. Die nächste gemeinsame Reise führte nach Südamerika. Auf die Idee den Karneval in Rio heimzusuchen waren sie nach dem fünften Bier in ihrer alten Stammkneipe gekommen. Ihr erstes spannendes Studiensemester ging gerade zu Ende und sie waren mehr denn je erlebnishungrig. Sie buchten nach Konsultation ihres Sparbuchs ein One-Way-Ticket, denn auch einen Rückflugtermin wollten sie sich offenhalten. Sie waren ja schließlich spontan. In Rio sollte ordentlich gefeiert werden, was sich aber angesichts der Tatsache, dass sie nicht die Einzigen waren, die von dieser Festivität gehört hatten, vor Ort als unmöglich herausstellte. Nicht das kleinste Zimmerchen war mehr aufzutreiben und sie mussten unverrichteter Dinge weiterziehen. An Buchung im Voraus hatten sie selbstverständlich nicht gedacht, weshalb sie sich damit begnügen mussten mit den nächstbesten Nachtbus in die nächste größere Stadt zu fahren um erst mal ordentlich auszuschlafen.

In Bolivien steckten sie später wochenlang in einem Urwaldkaff fest, da die einzige Straße in die Zivilisation überflutet war. Der avisierte Rückreisetermin war inzwischen längst verstrichen. Improvisation war gefragt. Internet gab es nicht, Telefonate waren unbezahlbar und von derart erbärmlicher Qualität, dass man ohnehin kaum etwas verstand. Immerhin funktionierte die Post und man konnte Briefe schicken, die vier Wochen später zu Hause ankamen. Das hatte wiederum den Vorteil, dass sich niemand Sorgen machte, wenn man mal länger nichts von sich hören ließ. Glückliche Zeiten. Mit Aeroflot flogen sie dann von Lima aus nach Moskau, mit Zwischenlandungen in Kuba, Neufundland und Irland. Von dort schlugen sie sich auf dem Landweg in die Heimat durch, was zu damaligen Kalten-Kriegs-Zeiten und maroder russischer Infrastruktur recht abenteuerlich war.

Rothe freute sich, seine alten Reisekameraden nach Monaten endlich wieder mal zu sehen. Jo war mit dem Flugzeug aus Freising gekommen, wohin es ihn als Maschinenbauingenieur verschlagen hatte, und dann ins Taxi gestiegen. Jo und Gustl begrüßten sich kurz. Sie kannten sich von gemeinsamen Feten. Rothe und Jo umarmten sich mit kräftigem Schulterklopfen. Auch Jo schien sich ehrlich zu freuen.

Kurz danach war auch Ruben da. Er war mit dem Auto aus Biberach gekommen. Er war aus Rothes alter Gang. Sie kannten sich schon seit Sandkastenzeiten. Ihre Mütter hatten zur selben Zeit entbunden und waren beste Freundinnen. Ihrer beider Gang war sehr verschrien, damals. Berüchtigt für wilde Exzesse und Ursache für so manche Massenschlägereien in den Bierzelten der näheren Umgebung ihres gemeinsamen Geburtsortes.

Alle tranken bei Rothe noch ein kühles Entspannungsbierchen, dann ging es los. Es war kurz vor der Tagesschau. Auf zum Prenzlauer Berg. Berlin ruft! Sie waren voller Erwartungen.

Bei den Besuchswochenenden aus Westdeutschland hatte sich bei Rothe bereits ein fester Rhythmus eingeschlichen. Freitags Prenzlauer Berg, samstags Kreuzberg oder Mitte, sonntags noch ein Frühstücksbüffet, von denen es in Berlin viele gute gab. Danach hatte Rothe seine wohlverdiente Ruhe und alles ging endlich wieder den gewohnten, ruhigen Gang. Der Sonntag war ihm heilig. Sonntag war sein Fernseh- und Ruhetag. Mit dem Alter entwickelte man so seine schrulligen Gewohnheiten. Bis 17 Uhr drängte er den Besuch daher zum Aufbruch. Da kannte er kein Erbarmen, dann kam die Sportreportage, danach die Lindenstraße und schließlich der Tatort - wie jeden Sonntag.

Noch war aber Freitag, deshalb ab in die U2, Ausstieg Senefelder Platz, weiterlaufen Richtung Kollwitzplatz, der inzwischen von ökologisch vorbildlichen Eltern dermaßen verseucht war, dass man sich dort unter den Massen der „Latte Macchiato“ trinkenden Muttis nicht mehr wohl fühlen konnte als zugewanderter Kreuzberger. Voller „Prenzlwichser“, wie sie in der Weekly Soap des Prime Time Theaters „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ etwas bösartig tituliert wurden. Junge, alerte schicke Prenzlberger und überall Öko-Muttis mit ihren sperrigen Kinderwägen. Rothe war genervt. Den anderen schien die Atmosphäre zu gefallen.

„Hübsche Ostmuschis hier“, meinte Ruben.

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Nur noch schwäbische Architekten-, Rechtsanwalts- und Zahnarztgattinen hier zu finden. Die Eingeborenen wohnen jetzt in den Slums am Stadtrand“, entgegnete Rothe zynisch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440699
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Freunde Provinz Single Prenzlberg Berlin Club Sex Kurzgeschichten Szene Kreuzberg

Autor

  • Tscharlie Häusler (Autor:in)

Tscharlie Häusler, geboren in Franken. Studium der Rechtswissenschaften. Promotion. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin.
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Titel: Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe bekommt Besuch