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Berliner Justizgeschichte

Eine Dissertation zum strafrechtlichen Justizalltag im Nachkriegsberlin

von Ernst Reuß (Autor:in)
422 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit über den Neuaufbau der Berliner Justiz nach dem Zweiten Weltkrieg vermittelt ein lebendiges, illustrierendes Bild der Nachkriegszeit und zeigt, in welchem politischen Spannungsfeld der Neuaufbau stattfand. Die Aufarbeitung der Justizgeschichte, und dabei insbesondere die Rolle der Ostberliner Justiz nach der Spaltung, trägt zu einem rechtshistorisch und rechtssoziologisch geprägten Bild der Probleme und Nöte der Justiz und der Bevölkerung in den ersten Nachkriegsjahren bei und gewährt spezifische Einblicke in die Entstehung eines neuen Rechts- und Gesellschaftssystems. Berlin in der Nachkriegszeit, als Miniaturbild des Kalten Krieges, ist für eine solche Untersuchung besonders geeignet, da es gerade dort nun galt, die entscheidenden Machtpositionen zu sichern. Das Justizsystem wurde dabei zu einem Eckpfeiler bei der Sicherung der Macht; in ihm spiegelten sich die sich gegenüberstehenden, sehr unterschiedlichen politischen Ideologien wider. Die Untersuchung von ca. 3000 Gerichtsakten des Amtsgerichts Berlin-Mitte aus der Zeit von 1945 bis 1952 zeigt, wie rasch sich die Justiz und die Bevölkerung auf die neuen Machtverhältnisse einstellten - und wie leicht ausgebildete oder auszubildende Juristen Spielball einer Ideologie wurden. Kurz nachdem am 2. Mai 1945 für Berlin die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde, machte sich die siegreiche Rote Armee nicht nur daran die Trümmer des „1000-jährigen Reiches“ aufzuräumen und die Versorgung der Berliner Bevölkerung zu sichern, sondern organisierte auch Verwaltung, Polizei und Gerichte neu. Bereits am 8. Mai wurde eine Eheschließung registriert, die nach den NS-Rassegesetzen niemals möglich gewesen wäre. Ab 14. Mai verkehrten wieder die ersten U-Bahnzüge. Am 19. Mai begann der neue Magistrat seine Tätigkeit. Der Aufbau der neuen Gerichtsorganisation war zum 1. Juni abgeschlossen, was auch überaus notwendig war, denn in der ausgebluteten, ausgehungerten und zerbombten Stadt wurde geplündert, geraubt und gemordet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort zum E-Book

Diese Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 1999/2000 als Dissertation vorgelegen und wurde anschließend publiziert.

Mit der Veröffentlichung als E-Book soll die leicht überarbeitete Dissertation nicht nur den Benutzern wissenschaftlicher Bibliotheken vorbehalten sein, sondern einem breiteren Kreis von Interessierten zugänglich gemacht werden. Denn im Gegensatz zu dem bei einem wissenschaftlichen Fachverlag hohen Verkaufspreis einer Printausgabe ist eine Ausgabe als E-Book für jedermann erschwinglich.

Die damalige, d. h. vor der Rechtschreibereform gültige Schreibweise wurde beibehalten.

Zum Inhalt: Die Arbeit beschreibt anhand von ca. 3000 Gerichtsakten den Neuaufbau der Berliner Justiz. Sie zeigt ein lebendiges, illustrierendes Bild der Nachkriegszeit. Kurz nachdem am 2. Mai 1945 für Berlin die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde, machte sich die anfangs allein zuständige Rote Armee nicht nur daran die Trümmer des „1000-jährigen Reiches“ aufzuräumen und die Versorgung der Berliner Bevölkerung zu sichern, sondern organisierte unter Einbeziehung von politisch meist nicht belasteten Deutschen auch Verwaltung, Polizei und Gerichte neu.

Bereits am 8. Mai wurde eine Eheschließung registriert, die nach den NS-Rassegesetzen niemals möglich gewesen wäre. Ab 14. Mai verkehrten wieder die ersten U-Bahnzüge. Am 19. Mai begann der neue Magistrat seine Tätigkeit. Der Aufbau der neuen Gerichtsorganisation war zum 1. Juni abgeschlossen, was auch überaus notwendig war, denn in der ausgebluteten, ausgehungerten und zerbombten Stadt wurde geplündert, geraubt und gemordet. Nur mit einer funktionierenden Strafverfolgung konnten Rechtsverstöße verfolgt und ein geregeltes Zusammenleben ermöglicht werden, was den Wiederaufbau und das spätere „Wirtschaftswunder“ erst möglich machte.



Ernst Reuß

Berlin, Januar 2015

Vorwort zur Dissertation

Die Arbeit, die der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 1999/2000 als Dissertation vorlag, beschäftigt sich mit dem Neuaufbau der Berliner Justiz nach dem Zweiten Weltkrieg und soll ein lebendiges, illustrierendes Bild der Nachkriegszeit zeigen sowie einen Beitrag zur Entwicklung der Rechtsgeschichte und Rechtskultur der Nachkriegszeit leisten, der auch verdeutlicht, in welchem politischen Spannungsfeld der Neuaufbau stattfand. In der Arbeit wird der spezielle Status Berlins und der Einfluß der sowjetischen Administration auf die Großberliner und später auf die Ostberliner Justiz besonders berücksichtigt.

Für Anregungen und mannigfache Unterstützung bei der Entstehung dieser Arbeit habe ich vielen Menschen zu danken:

Für die Tatsache, daß es mir ermöglicht wurde, diese Arbeit anzufertigen, bin ich besonders Herrn Prof. Dr. Rainer Schröder und Herrn Prof. Dr. Hubert Rottleuthner zu großem Dank verpflichtet. Ferner danke ich Herrn Dr. Thomas Lorenz für wertvolle Quellenhinweise, Herrn Dr. Klaus Peinelt-Jordan und den Studenten der Freien Universität Berlin für die Hilfe bei der Datenerhebung, sowie Herrn Rechtsanwalt Albrecht Lediger, der sich trotz einer anstrengenden Tätigkeit noch der Mühe der Lektorierung unterwarf und letztendlich den immer freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesarchivs Berlin.



Ernst Reuß

Berlin - Kreuzberg, August 2000

Einleitung

Ziele der Untersuchung

Mit der vorliegenden Untersuchung soll das soziale Phänomen der Kriminalität sowie deren Ursachen und Ahndung in Umbruchphasen analysiert werden. Dabei soll ein lebendiges, illustrierendes Bild der Nachkriegszeit gezeigt und ein Beitrag zur Entwicklung der Rechtsgeschichte und Rechtskultur der Nachkriegszeit vorgelegt werden, der verdeutlicht, in welchem politischen Spannungsfeld der Neuaufbau stattfand. Diese Aufarbeitung der Justizgeschichte, und dabei insbesondere die Rolle der Ostberliner Justiz nach der Spaltung, versucht zu einem rechtshistorisch und rechtssoziologisch geprägten Bild der Probleme und Nöte der Justiz und der Bevölkerung in den ersten Nachkriegsjahren beizutragen und spezifische Einblicke in die Entstehung eines neuen Rechts- und Gesellschaftssystems zu gewähren.

Aufgrund des Umfangs des ausgewerteten Aktenbestandes, der nur Urteile von Einzelrichtern vor deutschen Gerichten umfaßte, ist es möglich, einige spezielle Teilausschnitte der Kriminalität zwischen 1945 und 1952 zu zeichnen. Dabei wird keine Strukturanalyse des Strafrechts in der SBZ und später in der DDR durchgeführt, sondern anhand einzelner Beispiele der Umgang einer neu geschaffenen Justiz mit den neu entstandenen Problemen gezeigt.

Die Berliner Justizgeschichte in der Nachkriegszeit ab 1945 ist für eine solche Untersuchung besonders geeignet, da durch die Aufteilung Groß-Berlins in Besatzungszonen und der dort vorherrschenden materiellen und organisatorischen Problematiken die Lage in ganz Deutschland, insbesondere aber auch der West-Ost Konflikt, widergespiegelt wird. Die „Frontstadt“ Berlin, in der sich die vier Siegermächte an einem Punkt versammelten, gibt als Miniaturbild des Kalten Krieges beim Neuaufbau einer Justiz ein gutes Beispiel ab, denn dieser Konflikt warf schon bald nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation am 7./8. Mai 1945 in Reims und Berlin seine ersten Schatten und es galt nun, für die sich von ehemaligen Koalitions- zu Konfrontationsmächten entwickelnden Sieger, die entscheidenden Machtpositionen zu sichern. Das Justizsystem wurde dabei zu einem Eckpfeiler zur Sicherung der Macht in den folgenden Jahren; in ihm spiegelten sich die sich gegenüberstehenden, sehr unterschiedlichen politischen Ideologien wider.

In der Arbeit wird der spezielle Status Berlins und der Einfluß der sowjetischen Administration auf die Großberliner und später auf die Ostberliner Justiz besonders berücksichtigt. Genauer zu betrachten war der Versuch der Errichtung einer einheitlichen Justiz unter verschiedenen Gesellschafts­systemen. Das Scheitern dieses Versuchs durch die Spaltung der Berliner Justiz. Sowie der danach beginnende Aufbau einer sozialistisch geprägten Justiz im Osten der Stadt.

Die Darstellung von Problemen, die der Neuaufbau des Berliner Justizsystems mit sich brachte, soll nicht nur aufschlußreiche Erkenntnisse über die Anfänge der Justiz in der Bun­desrepublik und in der DDR geben, sondern auch die Anfänge des Kalten Krieges beleuchten. Die Geschichte der Strafgerichtsbar­keit in Berlin ab 1945 und in den ersten Jahren der neu gegründe­ten DDR soll Licht auf die Grauzone zwischen dem Ende des Nationalsozialismus und der Gründung der DDR bzw. der BRD werfen.

Die Untersuchung des strafrechtlichen Justizalltags ist für die Darstellung der immensen Probleme, die ein solcher sozialer Umbruch nach sich zieht, besonders geeignet. Die Entwurzelung eines großen Teils der Bevölkerung, der sich oftmals seiner bisherigen Lebensgrundlagen beraubt sah, sowie die Schaffung neuer Eliten und die Kompliziertheit des All­tags in der Nachkriegszeit führte zu einer erhöhten, aber auch zu einer neuartigen, der speziellen Nachkriegsproblema­tik angepaßten, Kriminalität. Belegen läßt sich dies auch anhand der damals verwendeten Strafvorschriften, die sich von den heutigen zum Teil erheblich unterscheiden.

Ein weiterer Blick soll dabei darauf gerich­tet werden, inwieweit bei der Errichtung eines neuen Gesell­schaftssystems Recht und Gerechtigkeit eine Rolle spielten, oder ob lediglich ein rechtspositivistisches Verwalten der besonderen Nachkriegssituation stattfand. Dabei soll der Umgang der Justiz mit aus Not zu Straftätern gewordenen Bürgern und die daraus resultierende Ände­rung der Rechtskultur untersucht werden. Dies wird anhand des dazu vorhandenen Aktenbestandes unter­sucht, geschieht aber auch durch Auswertung der dazu vorhandenen Litera­tur sowie der damals erschienenen Fachzeitschriften, in denen sich beispielsweise unter anderem auch die Frage stellte, ob sich der Strafrichter angesichts der Not nicht weigern müsse, gewisse Vorschriften über die Ratio­nierung und die Verbrauchsregulierung mit strafrechtlichen Mitteln durchzusetzen. Anhand von Urteilsbegründungen und dem Erlaß neuartiger Gesetze sowie den Einlassungen der Angeklagten wird un­tersucht, wie rasch sich die Justiz und die Bevölkerung auf neue Gegebenheiten einstellten. Von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit schon im Sprachgebrauch der Urteilsabfassung eine Anpassung an die neuen Verhältnisse bzw. an das neu zu schaffende „sozialistische Rechtsbewußtsein“ erfolgte.

Ein Amtsgericht ist deshalb ein gutes Fallbeispiel, weil nur dort die Bagatellkriminalität abgeurteilt wurde. Gerade durch die Analyse dieser Form der Kriminalität können die Besonderheiten der Nachkriegssituation beleuchtet werden. Dabei bietet die Rechtsprechung des Amtsgerichtes Berlin-Mitte aufgrund seiner zentralen Lage und seiner besonderen Zuständigkeiten auch deshalb einen für die Untersuchung guten Ansatz, weil es besonders mit der Problematik zweier nebeneinander existierender unterschiedlicher Gesellschaftskonzeptionen und der daraus resultierenden sektoren­übergreifenden Kriminalität zu tun hatte und in so fern typisch für die Situation Groß-Berlins war. Mittels der vorhandenen Aktenbestände des Amtsgerichts Berlin-Mitte konnte ein Teil der Alltagskriminalität untersucht und damit ein Ausschnitt der Nachkriegsjahre in die zeithistorische Forschung mit einbezogen werden. Über die Analyse der Akten hinaus wurden Normen, veröffentlichte Literatur und statistisches Material herangezogen.

Eine weitergehende Untersuchung der Landgerichte und der alliierten Gerichtsbarkeit kam nicht in Betracht, da keine vergleichbaren Aktenbestände zur Verfügung standen. Eine ausführliche Darstellung der Justizpolitik der Verwaltungen und Parteien würde im übrigen den Rahmen der Untersuchung sprengen. Untersucht werden konnte jedoch die Gesetzgebung und deren unmittelbare Auswirkung, sowie der Umgang der Amtsrichter mit den neuen bzw. neu zu bewertenden Normen. Die zeittypischen Normen wie z. B. Stromdiebstahl, Kuppelei, gewerbliche Unzucht, und Obdachlosigkeit, die zeittypischen notbedingten Vergehen, wie beispielsweise Schwarzhandel und Buntmetalldiebstahl sowie die zeittypischen umbruchbedingten Vergehen wie z.B. Verstöße gegen die Wirtschaftsordnung und Devisenvergehen wurden dabei genauer untersucht. Durch eine derartige Aufarbeitung werden die der Spaltung vorausgehenden Geschehnisse sowie die Anfänge der langjährigen Spaltung Deutschlands aus der Sicht der Justiz dargestellt. Dabei wird ein Bild der justizrelevanten Alltags- und Bagatellkriminalität gezeichnet sowie die soziale Bedingtheit der Kriminalität in Berlin von 1945 bis 1952 herausgearbeitet. Berücksichtigt wurde ebenfalls der, aus der Neuordnung der rechtsprechenden Gewalt resultierende, personelle Umbruch in der Strafgerichtsbarkeit, sowie die Frage, inwieweit nach 1945 ein Richterwechsel stattfand.

Nicht nur resümierende Literaturstudien und zeitgeschichtli­che Forschungen, sondern eine rechtstatsächli­che Erhebung von ca. 3 000 gut erhaltenen Akten des Amtsgerichts Berlin-Mitte aus den Jahren von 1945 bis 1952 sind eine Gelegenheit zur Gewinnung aufschlußreicher Erkenntnisse über die besondere Nachkriegssituation und die Anfänge der neuen Justiz.

Erfaßt wird ein Teilbereich der sozialen Problematik, welcher durch die Strafgerichtsbarkeit bewältigt werden sollte. Mit den vorhandenen persönlichen Daten der Angeklagten können Rückschlüsse auf Täterpersönlichkeiten bzw. deren Umfeld gezogen werden. Die Personalstruktur der Gerichte, die Strafzumessung und vorhandene tendenziöse Urteile können auf politische Vorgaben einer neu insze­nierten Justizpolitik hinweisen. Letztendlich soll die Arbeit aber auch den neuen Juristengenerationen als warnen­des Beispiel dienen, wie leicht ausgebildete oder auszubildende Juristen Spielball einer Ideologie sein können und wie fraglich der Begriff der wertfreien Wissenschaft gerade in der Jurisprudenz sein kann.

Für die Untersuchung stellten sich daher folgende Fragen:

1. Welche Probleme beim Neuaufbau einer Justiz waren zu meistern, um die Transformation einer Justiz von einer faschistischen Diktatur in eine Nachkriegsjustiz unter gänzlich ande­ren Vorzeichen zu bewältigen?

2. Welche Mittel und Methoden wurden von den neuen Machthabern angewendet, um die Justiz und deren Personal bereits wenige Jahre nach Kriegsende wieder zu einem willfährigen Instrument der Staatsräson zu machen?

3. Welchen Einflüssen unterlag die Bagatellkriminalität und wie hat sie sich entwickelt?

4. Welche Rolle spielte die Alltagskriminalität in Umbruchphasen und wie wurden die zeittypischen Vergehen bestraft?

5. Hat sich die Strafzumessung im Laufe der Jahre bzw. nach der Spaltung der Justiz in Berlin geändert?

Zum Stand der Forschung

Eine intensive Beschäftigung mit der Berliner Justizgeschichte nach 1945 fand nur durch Friedrich Scholz statt (Scholz, Berlin und seine Justiz, 1982), der die Geschichte des Kammergerichtsbezirks von 1945 bis 1980 darstellte. Umfassendere Untersuchungen der Nachkriegssituation waren bisher vorrangig beschränkt auf Struktur- und Zeitgeschichtsanalysen (so z.B. Rottleuthner, [Steuerung der Justiz, 1994] und Broszat/Weber, [SBZ-Handbuch, 1993]). Rechtstatsächliche Erhebungen zur Lebenssituation der Bürger unter einem sich neu bildenden Strafrechtssystem fanden bisher nicht statt (zur Zivilgerichtsbarkeit aber schon, vgl. Schröder, [Zivilrechtskultur der DDR, 1999]), da normalerweise Gerichtsakten aus dem Bereich der Bagatellkriminalität aus der Nachkriegszeit in Deutschland nicht mehr vorhanden bzw. der Forschung nicht zugänglich sind, so daß diese Untersuchung eine einmalige Chance zur Illustration der unmittelbaren Nachkriegsjustiz bietet.

Auszuwertender Aktenbestand

Im Januar 1991, 15 Monate nach der Vereinigung, wurde eine auf Schätzung beruhende Bestandsaufnahme von Akten auf den Dachböden des Gerichtsgebäudes Littenstraße vorgenommen. Dort, am ehemaligen Stadtbezirksgericht und früheren Kammergericht, lagerten noch sehr viele Strafrechtsakten des AG Berlin-Mitte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es wurde schließlich eine Anzahl von ca. 47 000 noch vorhandener Strafrechtsakten aus dem Zeitraum 1945 bis 1952 geschätzt. Es handelte sich dabei um General- und Prozeßakten. Die Akten sollen anschließend in verschiedene Archive gebracht worden sein.

Nach Auskunft des Landesarchivs Berlin wurden die Akten 1992 vom Amtsgericht Berlin-Mitte in ungeordnetem Zustand übernommen. Es gab keine Übergabelisten, so daß man weder einen Überblick über den Inhalt, noch über die Menge der Akten entnehmen konnte. Die Übernahmezahlen konnten daher nur geschätzt werden. Insgesamt wurden ca. 1 000 laufende Meter Akten übernommen (Zivil- und Strafgerichtsbarkeit aus der Zeit von 1934 bis 1952 und von 1960 bis 1964). Der Anteil der Strafakten aus dem Zeitraum 1945 bis 1952 machte ca. 115 laufende Meter á 100 Akten aus. Es wurden also ca. 11 500 strafrechtliche Prozeßakten an das Landesarchiv überliefert. Davon wurden inzwischen 6 646 Akten vernichtet. Bei den vernichteten Akten handelte es sich vor allem um Akten mit den Registerzeichen As, Bs, Cs, Es, Gs, die teilweise Bestandteil dieser Untersuchung waren. Nur wenige Akten aus diesem Bereich wurden zur Aufbewahrung ausgewählt (Kriterien waren: Interesse an besonderen Deliktsgruppen, Umfang der Akten, Personen des öffentlichen Lebens). Das Schriftgut mit den Registerzeichen Ds und Dls blieb allerdings komplett erhalten und wird momentan erschlossen, so daß am Landesarchiv nun insgesamt noch ca. 5 000 Strafprozeßakten vorhanden sind. Die übrigen Strafakten aus der Zeit nach 1945 sind momentan nicht auffindbar und befinden sich nach dortiger Auskunft weder beim Landgericht Berlin noch beim Amtsgericht Berlin-Mitte noch bei einem anderen Archiv.

Ein Teil der im Landesarchiv lagernden Strafrechtsakten wurde von Studenten der FU Berlin im Rahmen eines Seminars gesäubert, sortiert und teilweise ausgewertet. Viele Akten waren jedoch in einem nicht mehr archivierbaren Zustand. Mittels eines im Anhang beigefügten Erhebungsbogens wurden 2 745 Akten mit 3 405 Angeklagten statistisch erfaßt. Desweiteren wurden stichprobenartig ungefähr 300 Akten und alle vorhandenen Generalakten inhaltlich und textanalytisch untersucht. Der erschlossene Aktenbestand enthält gut erhaltene Strafakten aus dem Bereich der Alltagskriminalität der Nachkriegszeit. Der Aktenbestand setzt sich aus verschiedenen Verfahrensarten zusammen. Teilweise wurden die Verfahren vor einem Schnellgericht geführt, teilweise erging lediglich ein Strafbefehl (oft mit standardisierten Strafbefehlsvordrucken für bestimmte Vergehen) ohne mündliche Verhandlung, teilweise handelt es sich um Privatklageverfahren und um Verfahren vor Jugendgerichten. Der überwiegende Teil enthält normale Verfahrensabläufe.

Eine Erschließung eines derartigen Bestandes von Strafakten in Anbetracht der besonderen Nachkriegssituation Ostberlins fand bisher noch nicht statt. Erfaßt werden sollte ein möglichst repräsentativer Querschnitt aus allen Jahren. Leider waren bestimmte Jahrgänge und Verfahrensarten nur sehr unvollständig vorhanden, so daß das ursprüngliche Ziel nicht erreicht werden konnte. Bei der Aktenanalyse handelt es sich daher nicht um eine repräsentative Auswertung; dennoch ist anhand der normalen Verfahrensabläufe und der neuartigen Normen ersichtlich, was damals als notwendig angesehen wurde, um den Wiederaufbau unter neuen Vorzeichen zu bewerkstelligen und es konnte untersucht werden, wie spezifische Nachkriegsverbrechen geahndet worden sind.

Erstes Kapitel: Die Rolle der Strafjustiz in Umbruchzeiten

Allgemeiner historischer Überblick

Mit der Kapitulation des „Dritten Reiches“, die am 7. Mai 1945 im amerikanischen Hauptquartier in Reims unterzeichnet wurde und in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquar­tier in Berlin-Karlshorst wiederholt worden war (1), wurde auch der Startschuß zum Wiederaufbau des deutschen Gerichtswesens gegeben.

Auf den Konferenzen in Teheran (November 1943) und Jalta (Februar 1945) hatten sich die Alliierten über die Errichtung eines Alliier­ten Kontrollrats, die Einteilung Deutschlands in Besatzungs­zonen und die gemeinsame Verwaltung Berlins geeinigt.

Das von der Europäischen Beratenden Kommission erarbeitete „Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin“ vom 12. September 1944 sowie das „Londoner Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutsch­land“ vom 14. November 1944 wurden bei der Jalta-Konferenz in Kraft gesetzt. Frankreich, als vierter Alliierter, trat dann diesem Abkommen entsprechend dem Ergänzungsabkommen zum Londoner Protokoll am 26. Juli 1945 bei (2).

Schon seit Kriegsbeginn war der Gerichtsbetrieb stark eingeschränkt (3), aber noch bis Mitte/Ende April 1945 wurde versucht, den Gerichtsbetrieb notdürftig aufrecht zu erhalten. Trotz Bombardierung Berlins gingen noch viele Richter zu Fuß zum Gericht, da öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr fuhren (4).

Mit dem Sieg der Roten Armee hatte die bisherige Justizorganisation aufgehört zu bestehen. Ermittlungstätigkeit und Rechtsprechung in Berlin waren eingestellt. In der Erklärung der Regierungen der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs vom 5. Juni 1945 (5) über die Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland „einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden“ hieß es, daß die oberste Gewalt „von jedem in seiner eigenen Besatzungszone und gemeinsam in allen Deutschland als ein Ganzes betreffenden Angelegenheiten“ auszuüben sei. „Die Verwaltung des Gebiets von Groß-Berlin wird von einer interalliierten Behörde geleitet, die unter der Leitung des Kontrollrates arbeitet und aus vier Kommandanten besteht, von denen jeder abwechselnd als Hauptkommandant fungiert.“

Der von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte Magistrat hatte allerdings seine Tätigkeit in Berlin bereits am 19. Mai 1945 aufgenommen. Er bestand aus 14 Abteilungen mit Stadträten als Abteilungsleitern und einem Beirat für kirchliche Angelegenheiten. Oberbürgermeister wurde Dr. Arthur Werner. Er hatte vier Stellvertreter, von denen zwei zugleich Abteilungsleiter waren (6). Dem von den Sowjets eingesetzten Magistrat gehörten somit, neben sechs kommunistischen Funktionären, je zwei Sozialdemokraten und Parteilose sowie sieben dem bürgerlichen Lager zuzurechnenden Mitgliedern an (7).

Nach Einmarsch der westlichen Besatzungsmächte konstituierte sich am 11. Juli 1945 die Alliierte Kommandantur und am 30. Juli 1945 der Alliierte Kontrollrat. Der Alliierte Kontrollrat mit Sitz in Berlin, bestehend aus den vier Oberkommandierenden der Streitkräfte Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten entfaltete eine Gesetzgebungstätigkeit, die nicht nur den vordringlichen Zielen der Beseitigung des Nationalsozialismus und der Bestrafung von Kriegsverbrechern galt, sondern auch der Bekämpfung der Alltagskriminalität. Der Alliierte Kontrollrat konnte nur einstimmig entscheiden und entschied nur über Sachen, die Deutschland im Ganzen betrafen (8)

Die Verwaltung und damit auch die Justizverwaltung Groß-Berlins wurde einer interalliierten Behörde, der Alliierten Kommandantur, überlassen. Auch sie bestand aus Vertretern der vier Siegermächte und unterstand unmittelbar dem Kontrollrat.

Anders als in den übrigen Zonen Deutschlands galten die von den Oberbefehlshabern erlassenen Gesetze in den entsprechenden Sektoren Berlins erst, wenn dies ausdrücklich angeordnet wurde (9).

In den sowjetischen Besatzungszonen gab es außerdem die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Diese wurde durch eine vom Rat der Volkskommissare der UdSSR bestä­tigte Anordnung vom 6. Juni 1945 geschaffen. Ihr Sitz war Ber­lin. Sie war in den Ländern und Provinzen durch eine „SMA“ auf Landesebene vertreten. Die Gesetzgebungsakte der SMAD ergingen als Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradmini­stration in Deutschland (10).

Die Zeit unmittelbar nach der Kapitulation

Der Neuanfang

Schon am 28. April 1945 konnte der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin (11), mit dem Befehl Nr. 1 bekanntgeben, daß die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei (12). Am 2. Mai 1945 wurde dann in Tempelhof die Kapitulationsurkunde durch den letzten deutschen Kampfkommandanten für Berlin, General Helmut Weidling, unterzeichnet. Durch diese Unterzeichnung waren Berlin und damit auch die Berliner Justiz nun vollständig in der Gewalt der Roten Armee. Verwaltung und Justiz Berlins waren also nicht erst mit der deutschen Kapitulation am 7./ 8. Mai 1945 auf die sowjetische Besatzungsmacht übergegangen, sondern schon an jenem 2. Mai 1945. Schon kurz nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch General Weidling machte sich die sowjetische Besatzungsmacht daran, nicht nur die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, sondern auch einen neuen Verwaltungs- und Justizapparat (13) aufzubauen, so daß bereits am 8. Mai im Bezirksamt Charlottenburg eine Eheschließung registriert werden konnte, die nach den NS-Rassegesetzen nicht möglich gewesen war (14).

Bis zum Einzug der westlichen Alliierten im Juli 1945 war Berlin alleine durch das sowjetische Militär besetzt und wurde daher auch alleine von der sowjetischen Siegermacht verwaltet. General­oberst Bersarin ordnete schon Anfang Mai 1945 den Aufbau eines Gerichtswesens an. Dies geschah, um die zu erwartende Nachkriegskriminalität, die durch die sowjetische Militärgerichtsbarkeit alleine nicht zu be­wältigen gewesen wäre, einzudämmen. Der eigentliche Justizaufbau-Befehl von Stadtkommandanten Bersarin datiert vom 25. Mai 1945 (15).

Max Berger, der spätere Militäroberstaatsanwalt der DDR, schrieb dazu in seinen Erinnerungen (16):

„In diesen ersten Stunden und Tagen nach der Zerschlagung des Faschismus kam bei einem großen Teil der Bevölkerung der verheerende Einfluß der Naziideologie darin zum Ausdruck, daß Menschen, die noch einige Stunden zuvor im Keller um ihr Leben gebangt und gelobt hatten, jahrelang trocken Brot essen zu wollen, wenn nur der schreckliche Krieg ein Ende nähme, die Befreiung dazu benutzten, leerstehende Geschäfte und Wohnungen zu plündern und sich zu bereichern.

Ein anderer Bevölkerungsteil, an der Spitze Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Antifaschisten, die aus dem KZ, aus Zuchthäusern und Gefängnissen zurückgekehrt waren, ging sofort, ohne nach Essen und Trinken und Entlohnung zu fragen, daran, mit Unterstützung durch die Kommandanten der Roten Armee wieder Ordnung in dieses Chaos zu bringen.“

Ob Bergers möglicherweise weltanschaulich gefärbte Sicht der Dinge so als allgemeingültig angesehen werden kann, erscheint eher zweifelhaft. Dennoch entspricht es den Tatsachen, daß schon unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges viele Menschen tatkräftig damit begannen, das Land und auch dessen Justiz wieder aufzubauen. Es handelte sich dabei selbstverständlich oft auch gerade um diejenigen, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten ausgegrenzt oder gar verfolgt wurden und jetzt endlich wieder konstruktiv tätig sein konnten. Ein Zeitzeuge, der spätere Generalstaatsanwalt beim Kammergericht Günther, beschrieb diese Anfangszeit in pathetischen Worten, wie folgt (17):

„Nie wird der Chronist jenen Tag vergessen, als er, mit Freunden zusammen aus Potsdam, wo er die letzten Kriegswochen erlebt hatte, nach Berlin aufbrach, um sich, zwölf Jahre nach der nunmehr beendeten Machtübernahme, der Justiz wieder zur Verfügung zu stellen. Es war ein strahlend schöner Maienmorgen. Beim Verlassen des Waldes, unweit von Zehlendorf, herrschte tiefe friedliche Stille ringsum. Nur einige Soldatengräber sowie ein zerschossener, ausgebrannter Straßenbahnwagen am äußersten Rande der großen Stadt erinnerten daran, daß hier, wenige Tage zuvor, noch Kampfhandlungen stattgefunden hatten. Einer der Freunde sprach aus, was in der zeitlosen, undurchdringlichen Stille dieses an sich so heiteren Maientages jeder empfand: ‘Es ist wie bei Erschaffung der Welt.’ Fast feierlich sagte er das; und ein anderer präzisierte den Eindruck, indem er hinzusetzte: ‘Wie nach der Sintflut.’ Etwas davon lag, nur für einen Augenblick lang, in der Luft. Wir sind noch einmal davongekommen. Dieser Gedanke hatte etwas fast überwältigendes; doch das beglückende Gefühl, das er auslösen mochte, war nur von kurzer Dauer. Sehr bald stand, die Fata Morgana verdrängend, wieder hart die Wirklichkeit im Raum:

Am Anfang war alles wüst und leer. Dies war das Bild, das sich, wenige Stunden später, in den Bezirken der Innenstadt bot. Ein Bild des Chaos. Dennoch begann vor diesem Hintergrund, trotz aller Zerstörung und Verwüstung, das Neue; und auf eben diesen Trümmern und Scherben baute auch, unbegreiflich genug und fast aus dem Nichts, die Justiz wieder auf.

Wüst und leer lag das große Gerichtsgebäude da, als nach beschwerlichem Fußmarsch das Ziel, die Neue Friedrichstraße, erreicht war. Auf den langen Korridoren des zerschossenen, durch- und durchgepusteten Steinpalastes trieb der Frühlingswind Bürostaub und Papierfetzen vor sich her. Aus den Regalen der Registraturen waren, soweit Gestelle und Schränke überhaupt noch standen, zerfetzte Akten und Bücher gefallen. Da lagen sie, unter ausgelaufenen, halb eingetrockneten Tintenfässern, Amtssiegeln, Stempeln und Stempelkissen, bunt durcheinandergewirbelt und mit Mörtelstaub dick überpudert; zwischen umgestülpten Tischen und Bänken; unter zerbrochenen Stühlen und abgebrochenen Mauerteilen. Unbewacht und jedermann zugänglich, zu Urkundendelikten geradezu herausfordernd, blieb das alles tage-, wochen- und monatelang unverändert so liegen. Auch nachdem in den weniger zerstörten Räumen der Betrieb wieder aufgenommen worden war, gab es nicht Kräfte genug, die gegen soviel Staub und Zerstörung hätten ankommen und der maßlosen - einer bis dahin nie gekannten - Unordnung hätten Herr werden können.

Dieses Tohuwabohu war ein Symbol: Es bedeutete das Ende der alten Justiz, der ‘Rechtswahrerherrlichkeit’ des ‘Dritten Reiches’, von der nichts geblieben war als dieses Bild des Chaos und des Jammers. Zugleich aber war das der Anfang einer neuen Justiz. Sie sah sich vor eine kaum zu bewältigende Aufgabe gestellt; vor ein schier hoffnungsloses Unterfangen. Es gehörte damals viel Mut, sehr viel Tatkraft und Zuversicht dazu, einfach zu beginnen und irgendwo zuzupacken.“

Jedenfalls mußten Polizei, Gerichte und Staatsanwaltschaften neu organisiert werden. Generaloberst Bersarin kann wohl als oberster Gerichtsherr Berlins angesehen werden (18).

Die Neuordnung des Gerichtswesens

Am 18. Mai 1945 (19) fand im Gebäude des bisherigen Amtsgerichts Lichtenberg (20) ein Zusammentreffen aller sowjetischen Militärkommandanten der Berliner Stadtbezirke mit den von ihnen ernannten Staatsanwälten und Richtern sowie Generaloberst Bersarin statt. Lediglich fünf der Ernannten waren keine Juristen (21).

Auf dieser Tagung am 18. Mai wurde die Marschroute zum Neuaufbau der Berliner Justiz vorgegeben, wobei den Richtern und Staatsanwälten freie Hand bei Organisation und Besetzung als auch bei der Wahl des Sitzes der Bezirksgerichte gelassen wurde (22). Max Berger erinnerte sich so (23):

„Am 5. Mai 1945, nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin, erhielt ich vom Bürgermeister des Verwaltungsbezirkes Prenzlauer Berg den Auftrag, mich bei dem Kommandanten der Roten Armee im Bezirk zu melden. Der Militärkommandant erklärte mir, nachdem er sich eingehend mit mir über meinen Werdegang und meinen Beruf unterhalten hatte, dass ich ab sofort als Staatsanwalt im Bezirk Prenzlauer Berg eingesetzt sei. Gleichzeitig erhielt ich den Auftrag, im Bezirk Prenzlauer Berg den Aufbau der Staatsanwaltschaft und des Gerichts zu organisieren und einen für das Amt des Richters geeigneten Bürger vorzuschlagen. Ich war zunächst sprachlos, denn ich hatte auf keinen Fall an den Aufbau einer ordentlichen Gerichtsbarkeit gedacht, sondern angenommen, dass Tribunale gebildet werden sollten, um Naziverbrecher und Plünderer abzuurteilen. Jetzt aber stand eine schwierige Aufgabe vor mir, denn vom gesamten technischen Apparat eines Gerichts und einer Staatsanwaltschaft hatte ich doch keine genaue Kenntnis, obwohl ich vor 1933 einige Jahre lang als Rechtsbeistand vor den Berliner Zivilgerichten aufgetreten war. Tagelang habe ich nach einem Juristen gesucht, der das Richteramt hätte übernehmen können. Adressen aus dem Telefonbuch führten mich von einer Trümmerstätte zur anderen, aber es gab kein Haus, in dem sich noch eine Rechtsanwaltspraxis befand. Richter und Staatsanwälte wohnten ja im Osten Berlins ohnehin sehr selten, und sie wären auch sicherlich nicht geeignet gewesen, ein neues Richteramt zu übernehmen. Nach längerer Umfrage erhielt ich dann schließlich die Adresse eines alten ehemaligen Richters, der jedoch schwer krank war und sich deshalb nicht zur Verfügung stellen konnte. Er empfahl mir aber einen anderen ehemaligen Richter jüdischer Konfession, der auch bereit war, das neue Richteramt anzunehmen; er wurde daraufhin vom Kommandanten des Bezirks als Richter eingesetzt. In der Zwischenzeit war es mir auch gelungen, in einer Schule in der jetzigen Dimitroffstraße, in der sich ein Teil der Bezirksverwaltung befand, einige Räume für Gericht und Staatsanwaltschaft zu sichern (...) Nun ging es an die Erfüllung der Aufgabe, bis zum 1. Juni 1945 im Bezirk Prenzlauer Berg eine arbeitsfähige Staatsanwaltschaft und ein arbeitsfähiges Amtsgericht zu errichten. Der Stadtbezirk Prenzlauer Berg hatte damals etwa 250 000 Einwohner, und wir mußten daher mit einem erheblichen Arbeitsanfall rechnen. Die Frage war jetzt: wie und wo anfangen? Von der Bezirksverwaltung konnte ich keine große Hilfe erwarten, denn die war mit ihren wenigen Kräften selbst genug beschäftigt, das Leben wieder in Gang zu bringen. Ich mußte also aus eigener Initiative heraus handeln. Ich begann damit, daß ich in der Hosemannstraße ein gut erhaltenes Gebäude, das früher von faschistischen Organisationen benutzt worden war, beschlagnahmte und als Sitz für die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht bestimmte. Von früheren Geschäftsstellen der Nazipartei und anderer Naziorganisationen wurden Mobilar, Schreibmaschinen und Schreibutensilien aller Art besorgt, um die Geschäftsstellen der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts damit auszustatten. Aus dem Gerichtsgebäude in der jetzigen Littenstraße erhielten wir zwei Richterpodien und einige Aktenregale, aus dem Kriminalgericht in Moabit Gesetzestexte und Kommentare sowie Schreibpapier und Formulare, die wir auf dem Handwagen zu unserem Gericht schafften. Die erforderlichen Mitarbeiter meldeten sich auf einen Anschlag im Bezirkbürgermeisteramt hin: ein ehemaliger Amtsanwalt, mehrere Justizangestellte und ein alter Gewerkschafter, der als Strafrichter eingesetzt wurde. Von den insgesamt 18 Justizangestellten waren einschließlich des aufsichtführenden Richters 50 Prozent ehemalige Justizangestellte. Am 25. Mai 1945 war die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Prenzlauer Berg ordnungsgemäß eingerichtet und arbeitsbereit. Es bestand aus einer Verwaltungs-, einer Zivilprozeß- und einer Strafprozeßabteilung.“

Durch den Befehl des Generalobersten Bersarin und den Einsatz der ernannten juristischen Aufbauhelfer sollte die bisherige Organisation entscheidend reformiert werden: künftig sollte es nicht mehr die Zweiteilung Amts-/Landgerichte geben, sondern nur noch ein einziges Eingangsgericht (dies aber in jedem Verwaltungsbezirk). Genauso sollte die Staatsanwaltschaft (24) aufgebaut werden.

Diese Neugestaltung der Gerichtsbarkeit bedeutete eine wesentliche Abweichung von den Bestimmungen des bis dahin geltenden Gerichtsverfassungsgesetzes. „Diese Gerichtsorganisation kannte nur zwei Instanzen und verwies alle Strafsachen und bürgerlichen Streitigkeiten an das Bezirks- bzw. Amtsgericht; also auch die Ehescheidungssachen.“ (25)

Die Bezirksgerichte, die Ende Mai 1945 ihre Tätigkeit aufnahmen, waren daher für alle (26) Strafsachen, Zivilrechtsstreitigkeiten und Arbeitsgerichtsachen in erster Instanz zuständig. Besetzt waren sie mit einem Vorsitzenden und zwei Schöffen, wobei hier neben politisch unbelasteten Juristen sofort auch Nichtjuristen wie etwa Arbeiter, Verfolgte des NS-Regimes und andere Antifaschisten eingesetzt wurden. Für alle Gerichte sollte es ein einziges Berufungs- und Beschwerdegericht, (27) das „Stadtgericht“ (28), geben, dessen erster Präsident am 20. Mai 1945 (29) Prof. Dr. Arthur Kanger wurde (30). Eine dritte Instanz gab es vorerst nicht.

Der neue Präsident war kein Jurist, sondern als Pharmazieprofessor langjähriger Gerichtschemiker. Da er jedoch aus dem Baltikum stammte und mehrere Jahre in Odessa als Hochschullehrer wirkte, war er der russischen Sprache mächtig, was nach den Chronisten wohl der Hauptgrund seiner Ernennung war. Allerdings wurden ihm erfahrene Juristen als Berater zur Seite gestellt und er kümmerte sich lediglich um die Gerichtsorganisation.

Am Stadtgericht gab es insgesamt nur drei, mit je einem Stadtgerichtsdirektor und zwei Räten besetzte Kammern, je eine für Straf-, Zivil- und freiwillige Gerichtsbarkeit. Zwar wurde das „Stadtgericht“ in einem anderen Gebäude (Neue Friedrichstraße, seit 1951 Littenstraße) untergebracht; es kann dabei aber immer noch davon ausgegangen werden, daß es sich dabei eigentlich um das hier weiterbestehende Kammergericht handelte. Grund für die Verlegung in ein anderes Gebäude war der Wille der Sowjets, das Kammergericht in ihrem Einflußbereich zu behalten. Das alte Gerichtsgebäude in der Elßholzstraße war jedenfalls weitestgehend unbeschädigt (31) und Sitz des Bezirksgerichtes Schöneberg (32).

All dies war so bei der Zusammenkunft in Lichtenberg am 18. Mai 1945 beschlossen worden, wobei auch erklärt wurde, daß als Richter und Staatsanwälte nur zuverlässige Demokraten tätig sein durften. Hilde Benjamin schrieb dazu (33):

„Am 18. Mai 1945 wurde ich in aller Eile zum russischen Kommandanten geholt: Ich erhielt den Auftrag (der etwa um die gleiche Zeit in jedem Berliner Bezirk einem antifaschistischen Juden erteilt wurde), ein neues Gericht für den Steglitzer Bezirk zu organisieren (...) Es gehört zu meinen stärksten Erlebnissen, wie wir am 18. Mai durch das zerschossene, noch rauchende Berlin fuhren, um im Lichtenberger Amtsgericht an der denkwürdigen Sitzung teilzunehmen, in der durch den Vertreter des Generals Bersarin das neue Berliner Gerichtswesen konstituiert wurde. Von sämtlichen Berliner Bezirken waren die Richter und Staatsanwälte versammelt, um in ihre Ämter eingesetzt zu werden. Ich weiß nicht, ob damals oder später überhaupt allen Beteiligten klargeworden ist, was es bedeutete, daß zwei Wochen nach der Kapitulation der Sieger dem Besiegten ein solches Vertrauen aussprach, daß er ihm unter eigener Veranwortung die Gerichtsbarkeit wieder übertrug. Die ersten Strafsachen, die in Steglitz verhandelt wurden, spiegelten die Lage jener Tage wider: Zwei Frauen, die entnervt durch die Schrecken des Krieges ihre Kinder getötet hatten und dann sich selbst das Leben nehmen wollten; einer der Marodeure der Kampftage, der sich mit falschen Vollmachten bereichern wollte; Jugendliche, die glaubten, ihre Raubzüge, die sie im letzten Kriegswinter unternommen hatten, fortsetzen zu können; Plünderer des Stubenrauchkrankenhauses, die durch keinen Aufruf zu bewegen gewesen waren, die in blinder Gier zusammengerafften Sachen, ärztliche Einrichtungsgegenstände, Betten, Verbandszeug, Medikamente, zurückzugeben.“

Die Bezirksgerichte nahmen ihre Tätigkeit also nicht nur im Umfang ihrer früheren Geschäfte (34) auf, sondern taten dies ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwerts und ungeachtet des Charakters der einzelnen Delikte sowie der hierfür angedrohten Strafen; sie waren ausnahmslos für sämtliche Zivil- und Strafsachen zuständig (35). Sie verhandelten und entschieden sogar in den nach dem Gerichtsverfassungsgesetz vor das Schwurgericht gehörenden Verfahren. Sie konnten mithin die Todesstrafe verhängen und taten dies auch (36). Allerdings fanden sich keine derartigen Verfahren im ausgewerteten Aktenbestand.

„Mit diesem Intermezzo, das freilich nur ein halbes Jahr währte, waren die wesentlichsten Teile des Gerichtsverfassungsgesetzes praktisch außer Kraft gesetzt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Vorschriften über den Aufbau, die (berufsrichterliche) Zusammensetzung und die Zuständigkeit der einzelnen Spruchkörper, sondern im wesentlichen auch hinsichtlich der einleitenden Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit sowie über das Präsidium und die zur Feststellung des ‘gesetzlichen Richters’ bis dahin in Kraft gewesenen strengen Vorschriften über die Geschäftsverteilung.“ (37)

Die in Lichtenberg erteilten Aufgaben wurden in einen engen Zeitrahmen gepreßt, denn der Aufbau dieser neuen Gerichtsorganisation sollte bis zum 1. Juni 1945 abgeschlossen sein. Tatsächlich konnte dieses Ziel auch erreicht werden. Am 1. Juni konnten alle, nunmehr 21, Bezirksgerichte ihre Funktionsbereitschaft melden. Ebenso konnten dies das Stadtgericht als Berufungs- und Beschwerdeinstanz und die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin-Mitte (38).

Der Zahl nach blieben die 21 „Bezirksgerichte“ vorerst erhalten, obwohl es nur 20 Bezirke (39) gab. Bis 1945 hatte es in Berlin zwölf Amtsgerichte gegeben. Die neue Bezeichnung Bezirksgerichte war allerdings nicht sonderlich lang gebräuchlich (40):

„Die Bezeichnung ‘Bezirksgerichte’ bürgerte sich nicht ein. Sie hielt sich nicht lange. Nach knapp drei Wochen wurde sie abgeschafft; und zwar aus einem sehr schlichten und praktischen Grund: Bei dem Mangel an Papier und Arbeitskräften hatte es sich als lästig erwiesen, die durchweg noch auf die alte Bezeichnung ‘Amtsgericht’ lautenden Vordrucke und Stempel auf das ‘Bezirksgericht’ umzuschreiben. Wie nicht selten in dieser Welt der Bürokratie zeigte sich auch hier, daß Stempel und Formulare stärker sein können als die Menschen, die sie benutzen. So also kam es, daß die neu errichteten Bezirksgerichte, der altvertrauten Bezeichnung entsprechend, sehr bald wieder ‘Amtsgerichte’ hießen.“

Legislative Tätigkeit

Grundsätzlich galt die Gesetzgebung bis Januar 1933. Aber auch später erlassene Gesetze konnten weiterhin angewandt werden, soweit sie keinen rassenfeindlichen Charakter hatten und nicht auf die nationalsozialistische Weltanschauung zurückzuführen waren. Auf Seite 1 des Verordnungsblattes der Stadt Berlin im Jahre 1945 wurde folgende Generalklausel verlautbart:

„Die Richtlinien der Alliierten sind für das deutsche Volk Gesetz. Danach sind alle von der nationalsozialistischen Regierung erlassenen Gesetze, soweit sie rassenfeindlichen Charakter tragen und der nationalsozialistischen Weltanschauung entspringen, aufgehoben. Es gilt also im wesentlichen die Gesetzgebung bis Januar 1933. Sache der Verwaltungs- und Justizbehörden ist es, ihre Tätigkeit mit dem Geiste der neuen antifaschistischen und demokratischen Weltanschauung zu beleben bis zum Erlaß neuer Gesetze, die der kommenden Zeit vorbehalten bleiben müssen“

Diese Verlautbarung führte natürlich zu gewissen Unsicherheiten bei den aktiven Richtern oder Staatsanwälten (41). Beispielsweise klagte in einem Fall (42) ein Staatsanwalt noch am 1. August 1945 einen Postbeamten, der Feldpostsendungen unterschlagen hatte, wegen Verstosses gegen § 4 der Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 (43) an. Nach § 4 dieser Norm (Ausnutzung des Kriegszustands als Strafschärfung) konnte ein Angeklagter mit dem Tode bestraft werden, „wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert.“ Im Termin wurde dieser Anklagepunkt jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Aufgrund dieser Unsicherheiten trat daher erstmals bereits am 27. Juli 1945 ein juristischer Prüfungsausschuß zusammen, der sich mit einer einheitlichen Rechtsanwendung befaßte, da man einsehen mußte, daß man nicht wie ein „Cutter“ aus dem Film zwölf Jahre Gesetzgebung herausschneiden konnte (44). Dazu meinte der Stellvertreter des Stadtgerichtspräsidenten, Dr. Greffin, bei der Konferenz der Bezirksbürgermeister am 20. Juni 1945 (45):

„Eine solche Generalklausel ist ein zweischneidiges Schwert und es wird Schwierigkeiten geben. Aber zunächst kam es darauf an, dem Richter gewissermaßen eine Faustregel an die Hand zu geben, eine Grundlage, von der aus er Recht sprechen kann. Eine besondere Kommission, bestehend aus mir, 2 Richtern des Stadtgerichts, 2 Richtern des Amtsgerichts, 2 Rechtsanwälten und 2 Mitgliedern der Staatsanwaltschaft, wird sämtliche Gesetze, die nach 1933 erlassen sind, durchprüfen und alle Bestimmungen ausmerzen, die dem Geist des neuen Staates widersprechen. Hierbei kann es sich nur um ein Auskämmen handeln. Der Ausschuß beginnt seine Tätigkeit in der nächsten Woche. Das Volk muß wieder das Gefühl bekommen, daß Recht gesprochen wird.“

Später, mit Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 (46), wurden ausdrücklich 25 Gesetze, Durchführungsbestimmungen, Verordnungen und Erlasse aus der Nazizeit aufgehoben. Dasselbe geschah dann nochmals mit Kontrollratsgesetz Nr. 11 im Januar 1946 (47). In den folgenden Jahren gab es dann eine gemeinsame, rege Gesetzgebungstätigkeit der vier Alliierten, wobei der Kontrollrat bis zum letzten gemeinsam erlassenen Gesetz am 20. Februar 1948, insgesamt 62 Gesetze erlassen hatte.

Die gemeinsame Herrschaft der vier Siegermächte und deren gemeinsame Gesetzgebungstätigkeit war erst in dem Moment beendet, in dem der sowjetische Zonenbefehlshaber Marschall Sokolowskij am 20. März 1948 aus Protest gegen die beabsichtigte Errichtung einer Westunion und eines föderativen Regierungssystems in Westdeutschland (48), den Kontrollrat, der nur einstimmig beschließen konnte, verließ und damit beschlußun­fähig machte. Der Alliierte Kontrollrat trat danach nicht mehr zusammen.

Die Besetzung der Gerichte

Die Gerichtsverhandlungen fanden, wie schon erwähnt, in der Besetzung des Gerichts mit einem Vorsitzenden und zwei Schöffen statt. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Sowjets die Stellen der Gerichtsvorstände nicht mit linientreuen Kommunisten besetzten, wozu sie möglicherweise (49) in der Lage gewesen wären, sondern mit Antifaschisten aus dem eher bürgerlichen Lager. Scholz schreibt dazu (50):

„Noch heute oder gerade heute muß es besonders wundernehmen, daß die sowjetische Stadtkommandantur nicht einmal bei der Besetzung der Spitzenpositionen der neuen Berliner Justiz mit dem Stadtgerichtspräsidenten, seinen Vertretern und dem Generalstaatsanwalt Kommunisten wählte.“

Er war allerdings der Ansicht, daß das Gerichtswesen nur deswegen neu errichtet wurde, um vollendete Tatsachen zu schaffen (51). Aus anderen Quellen geht hervor, daß nur ein Drittel (52) der maßgeblichen Leute Kommunisten sein sollten, damit die Westmächte nach ihrem Einzug in Berlin die Personalbesetzungen der Sowjets bestätigten (53). Günther meinte (54):

„Wer waren und woher kamen die Männer, in deren Hände die Führung der neuen Justiz gelegt worden war? Daß gerade sie und nicht andere berufen wurden, hing zum Teil und mehr, als man denken sollte, vom bloßen Zufall, freilich auch von dem Umstand ab, daß es damals nicht allzu viele Juristen gab, die weder der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen angehört hatten. Ohne diese Voraussetzung wurde anfangs niemand in die Berliner Justiz übernommen. Sonst aber war die damalige Personalpolitik, wenn davon überhaupt die Rede sein konnte, sehr viel weniger gezielt, als gemeinhin angenommen wurde.

So hätte es, aus der Sicht des sowjetischen Kommandanten betrachtet, an sich nahegelegen, einen Mann wie den ehemaligen Kammergerichtsrat Dr. Melsheimer oder die frühere Rechtsanwältin Hilde Benjamin in die Führung der Justiz zu berufen. Es mag sein, daß die Fähigkeiten, die Dr. Melsheimer dann später als Vizepräsident der sowjetzonalen Justizverwaltung sowie als Generalstaatsanwalt der DDR entwickelt hat, im Mai 1945 noch nicht hinreichend bekannt waren. Vorerst mußte er sich mit dem Amt des Oberstaatsanwalts bei dem Bezirksgericht Friedenau begnügen. Nicht anders erging es Hilde Benjamin, die in der ‘DDR’ einmal Justizminister werden sollte. Sie wurde 1945 Staatsanwältin bei dem Bezirksgericht Steglitz. Ihr und Dr. Melsheimer wurden seinerzeit Männer wie Dr. Greffin und Dr. Kühnast vorgezogen. Sie waren keine Kommunisten. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte, wie sich später zeigte, wenig Freude an ihnen.“

Außer dem Stadtgerichtspräsidenten Kanger wurden Dr. Günther Greffin und Dr. Wilhelm Kühnast in die führenden Gerichtspositionen berufen.

Kangers Stellvertreter wurde Dr. Günther Greffin, der vorher als Rechtsanwalt und Syndikus bei Schultheiss und Salamander tätig war. Er hatte sich zunächst freiwillig als einfacher Transportarbeiter zur Verfügung gestellt und war während der Aufräumungsarbeiten im Mai 1945 von einem Offizier der Roten Armee in das Amtsgericht Lichtenberg geholt worden und wurde kurzerhand damit beauftragt, im Bereich der Justiz die Aufräumungsarbeiten fortzusetzen (55).

Als Generalstaatsanwalt wurde der 46-jährige, seit 1936 am Amtsgericht Berlin tätige, frühere Zivilrichter und Ex-Sozialdemokrat Dr. Wilhelm Kühnast eingesetzt. Hierbei wird sogar behauptet, daß Bersarin bei der Besetzung der Generalstaatsanwaltsstelle seine Berater gefragt habe, wer denn der „größte“ Jurist sei und dies aufgrund eines Übersetzungsfehlers auf die Körpergröße bezogen wurde, so daß schließlich Dr. Kühnast aufgrund seiner Körpergröße berufen wurde (56).

Zu den allgemeinen Personalien in der Justiz führte Stadtgerichtspräsident Kanger bei der Konferenz der Bezirksbürgermeister am 20. Juni 1945 aus (57):

„Was die personelle Besetzung der Gerichte angeht, werden die Bewerber der zuständigen russischen Stelle zur Bestätigung vorgelegt. Bei der Anstellung von Richtern und höheren Mitarbeitern erfolgt die formelle Ernennung durch den Oberbürgermeister der Stadt Berlin, nachdem die Sachen den sonst üblichen Verfahrensweg durchlaufen haben.“

Insgesamt läßt sich feststellen, daß sich die Sowjets bei der Besetzung durchaus des bürgerlichen, nationalsozialistisch unbescholtenen Lagers bedienten (58). Allerdings zählte die Justizpolitik anfänglich nicht zu den wesentlichen Politikfeldern der Sowjets, da der Eigentumspolitik und Bildungspolitik ideologisch eine höhere Priorität zugestanden wurde. Im übrigen waren Probleme wie die Ernährungsfrage, die Wohnraumfrage und andere dringende Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit vorrangig zu behandeln (59). Besonders was die Ernährungsfrage betrifft wurde von den Sowjets unter Führung des Stadtkommandanten Bersarin erstaunliches geleistet, so soll die Versorgungslage in Berlin im Mai 1945 besser als in Moskau gewesen sein, was auch zu einigen Unmut bei den sowjetischen Soldaten führte (60).

Als dann im Juli 1945 die anderen drei Siegermächte ihre Besat­zungszonen in Berlin übernahmen, (61) kam es zu einer vorübergehenden Spal­tung des Gerichtswesens, die erst im September 1945 im Zusam­menhang mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 4 (zur Umgestaltung und Vereinheitli­chung des deutschen Gerichtswesens) überwunden wurde (62). Der Neuaufbau der Justiz erfolgte dann auch im sowjetischen Sektor auf der Grundlage der Gerichtsverfassung, die bereits vor 1933 bestand.

Die Neuorganisation der Berliner Justiz unter sowjetischer Alleinherrschaft war also nur von kurzer Dauer. Die Tatsache, daß die Justiz von den Sowjets organisiert worden war, konnten und wollten die Westmächte schon aus machtpolitischen Gründen so nicht hinnehmen.

Entnazifizierung

Entnazifizierung in der SBZ

Untersucht man die Entnazifizierung in Berlin bzw. die Entnazifizierung und die Personalstruktur am Amtsgericht Berlin-Mitte, müssen zumindest kurz die Entnazifizierungsmaßnahmen in der SBZ beleuchtet werden, da sich diese Maßnahmen ja spätestens nach der Justizspaltung in Berlin auch auf die Personalstruktur im Justizwesen auswirkten (63).

In der DDR-Historie wurde die Entnazifizierung in der SBZ in vier Etappen gegliedert:

Erste Phase: bis Juli 1945, von der Beendigung der Kampfhandlungen bis zur Errichtung der Landes- und Provinzialbehörden.

Zweite Phase: Juli 1945 bis November 1946, gekennzeichnet durch den SMAD-Befehl Nr. 49 von 1945.

Dritte Phase: Dezember 1946 bis August 1947, gekennzeichnet durch die Durchführung der Kontrollratsdirektive 24 und der Kontrollratsdirektive 38 von 1946.

Vierte Phase: August 1947 bis März 1948, gekennzeichnet durch die SMAD- Befehle Nr. 201 und 204 vom 16. bzw. 23. August 1947 bis zur Auflösung der Entnazifizierungskommissionen durch den SMAD-Befehl Nr. 35 vom 25. Februar 1948 (64).

In der ersten Phase der Entnazifizierung bestimmten die örtlichen Kommandanten antifaschistische Laien zu „Richtern und Staatsanwälten im Soforteinsatz“, da viele Richter geflohen waren.

Mit Hilfe des SMAD-Befehls Nr. 49 vom 4. September 1945 wurden in der zweiten Phase sämtliche (65) ehemaligen Mit­glieder der NSDAP oder deren Gliederungen entfernt, was zur Entlassung von 85% der Richter führte (66). Entlassen wurden auch jene, die nur nominell belastet waren (67). Ausnahmen wurde nur bei einigen, wenigen HJ-Mitgliedern gemacht, die als Referendare zugelassen wurden. Die Entnazifizierung der Justiz erfaßte auch alle sonstigen Mitarbeiter (68). Statistische Erhebungen belegen, daß im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands 80% der Richter und 78% der Staatsanwälte Mit­glieder der NSDAP waren (69). Weiterhin wurde am 30. Juli 1946 der SMAD-Befehl Nr. 228 über die Nichtigkeit von Urteilen in politischen Sachen, die während der Zeit des Faschismus ergingen, erlassen.

Am 12. Januar 1946 wurde vom Alliierten Kontrollrat die Direktive Nr. 24 erlassen, mit deren Durchführung die dritte Phase begann: es wurde die Entfernung von Personen aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstanden, angeordnet. Es kam jedoch nur noch zu wenigen Entlassungen, da die strenge Handhabung des SMAD-Befehls Nr. 49 bereits ihre Wirkung gezeigt hatte (70). Mit der Direktive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946 (71) wurde die Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen veranlaßt. Es sollten all diejenigen bestraft werden, die das nationalsozialistische Regime gefördert und gestützt hatten.

Es gab 3 Kategorien: 1. „Hauptschuldige“

2. „Belastete“

3. „Minderbelastete“

Mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 vom 16. August 1947 (72), der die Überschrift trug: „Richtlinien zur Anwendung der Direktiven Nr. 24 und Nr. 38 des Kontrollrats über die Entnazifizierung“, wurde das Ende der Entnazifizierungsmaßnahmen und somit die vierte und letzte Phase eingeleitet. Mit diesem Befehl wurden die deutschen Gerichte zwar ausdrücklich verpflichtet (73), aktive Nationalsozialisten und Militaristen zu bestrafen; andererseits aber wurde auch ausdrücklich festgestellt, daß eine allgemeine gerichtliche Verfolgung sämtlicher, ehemaliger, nomineller Mitglieder der NSDAP und deren Organisationen nicht in Betracht komme, da dies dem demokratischen Aufbau Deutschlands schaden würde (74). Die „Minderbela-steten“, die nun als „Verbrecher der 2. Stufe“ bezeichnet wurden, sollten nur bei „persönlicher Schuld“ bestraft werden. Allerdings wurde mit dem SMAD-Befehl Nr. 204 vom 23. August 1947 (75) ausdrücklich klargestellt, daß Richter und Staatsanwälte, die ehemalige Mitglieder der NSDAP oder deren Gliederungen waren oder an den Strafmethoden des NS-Regimes unmittelbar beteiligt waren, nicht eingestellt werden durften (76).

Im Februar 1948 wurde schließlich durch den SMAD-Befehl Nr. 35 in der SBZ die Entnazifizierungskommission ganz aufgelöst. Trotzdem wurde durch die SMAD weiterhin versucht, formal belastete Juristen zu entlassen. Im übrigen waren ehemalige HJ- und BDM- Mitglieder immer noch von den Entnazifizierungsregeln betroffen und nur in wenigen Ausnahmefällen konnten solche Personen als Richter oder Staatsanwälte tätig sein. Ehemalige NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere konnten nach wie vor nicht einmal Schöffen oder Geschworene werden (77). Mit diesen Maßnahmen sollen in der SBZ - bis 1948 - etwa 520 000 NS-belastete Personen durch die SMAD aus dem öffentlich-politischen und beruflichen Leben entfernt worden sein (78), was natürlich zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Neuorganisation führte (79).

Entnazifizierung in Berlin

Bis zur Justizspaltung

Im Gegensatz zu den übrigen, sowjetisch besetzten, Ländern der SBZ, in denen die Landesjustizverwaltungen mit der zentral organisierten Deut­schen Justizverwaltung rivalisierten, lag die Kompetenz in Berlin alleine bei der Alliierten Kommandantur, da hier die zentrale Deutsche Justizverwaltung (DJV) nicht zuständig war (80). Die Alliierte Kommandantur erließ Vorschriften über die Arbeit der Berliner Justiz, setzte auf Vorschlag des Kammergerichtspräsidenten das Ju­stizbudget fest, gab (einstimmig) verwaltungstechnische Wei­sungen und ernannte Richter und Staatsanwälte. Zum Richter oder Staatsanwalt wurde nur derjenige zugelassen, der nicht der NSDAP oder ihrer Gliederungen angehörte. Insoweit schieden die seit 1934 auf Lebenszeit Angestellten aus, weil zu jener Zeit „Nachweis des rückhaltlosen Einsatzes für Partei und Staat“, also meist Mitgliedschaft in der Partei, Einstellungsvoraussetzung war (81).

Zudem wurden die Gerichte, Staatsanwaltschaften und der Strafvollzug auf Grund der Bestimmung Nr. 10 des Kontrollrats vom 20. Dezember 1945, unter Berücksichtigung der hierzu erlassenen Direktive Nr. 24 vom 12. Januar 1946 über die Entfernung von Nationalsozialisten aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen von belasteten Mitgliedern gesäubert (82). Besonderer Wert wurde in der Berliner Justiz auch auf die Vermeidung nazistischer Ausdrücke (83) gelegt.

Als die Entnazifizierung aufgrund ihres großen Arbeitsaufwandes von den Alliierten nicht mehr bewältigt werden konnte, wurden am 26. Februar 1946 mit der Direktive 101a (84) der zu entlassende Personenkreis festgesetzt und mit der Direktive 102 (85) die Einrichtung von Entnazifizierungskommissionen (86) mit je sieben Mitgliedern in den 20 Verwaltungsbezirken, den Sektoren (87) sowie beim Magistrat der Stadt Berlin (88) angeordnet, die der Alliierten Kommandantur gegenüber durch das Alliierte Komitee für Entnazifizierung (89) verantwortlich waren. Dabei wurde im sowjetisch besetzten Sektor anscheinend besonders hart durchge­griffen (90), was auch daran lag, daß die dortigen Entnazifizierungkommissionen in der Mehrheit von SED-Mitgliedern besetzt waren, während die Besetzung in den Westzonen paritätisch erfolgte (91).

Entlassen wurden auch Referendare (92), sonstige Mitarbeiter und all jene, die nur nominell belastet waren (93). Die durch die Entnazifizierung schon sehr stark reduzierte Anzahl an Richtern und Staatsanwälten nahm weiter ab, da es erhebliche Ausfälle durch Tod, Dauererkrankung oder einfach Dienstunfähigkeit wegen Erschöpfung gab. Im übrigen gab es außerdem andere Entlassungen aus politischen Gründen und einen sichtlich zunehmenden Zug nach Westen (94).

Die von der SED und der sowjetischen Kommandantur geforderte Heranziehung von Volksrichtern (95) wurde westlicherseits abgelehnt. Dennoch konnte seit der Order der Alliierten Kommandantur vom 31. Mai 1947 das Universitätsstudium auf vier Semester und die Referendarsausbildungszeit auf zwei Jahre verkürzt werden, wenn es sich um aktive Antifaschisten oder um Personen handelte, die wegen ihrer politischen Haltung, ihrer religiösen Überzeugung oder ihrer Rasse verfolgt worden waren (96).

Um die Richternot zu beheben, wurden desweiteren auch bereits pensionierte, unbelastete Richter und Staatsanwälte reaktiviert, Studenten aushilfsweise herangezogen, Rechtsanwälte dienstverpflichtet (97) und „Richter im Soforteinsatz“ bestellt (98). Trotzdem drohte die ganze Rechtspflege steckenzubleiben (99). Die damalige Situation illustriert am besten nachfolgender, gemeinsamer Bericht des Kammergerichtspräsidenten, des Generalstaatsanwalts und des Präsidenten der Rechtsanwaltskammer an das Rechtskomitee der Alliierten Kommandantur vom 27. April 1948 (100):

„(...) Insgesamt sind also 295 und 51 = 346 Planstellen nicht mit Berufsrichtern oder Berufsstaatsanwälten besetzt (...) Durch die vorübergehenden Vereinfachungsmaßnahmen der Zivil- und Strafrechtspflege (...) die teilweise von dem Rechtskomitee bereits genehmigt sind, teilweise noch einer Prüfung unterliegen, wird eine gewisse Einsparung von Kräften erzielt werden. Diese wird jedoch nicht ausreichen, um den dringenden Mangel auszugleichen. Bei dieser Sachlage wird es notwendig sein, weiterhin Rechtsanwälte zur Tätigkeit als Richter oder Staatsanwalt heranzuziehen. Die Rechtsanwaltschaft hat ihre übertragenen Pflichten mit großem Eifer erfüllt. Da der bisherige Mangelzustand in unmittelbarer Zukunft aus den vorerwähnten Gründen noch keine Abänderung erfahren kann, bedeutet dies, daß die sehr große arbeitsmäßige Belastung zunächst andauern und der Mangel an ausreichender sachgemäßer Rechtsberatung für die Bevölkerung immer fühlbarer wird. Parallel hiermit geht eine fortschreitende Zerstörung der Anwaltspraxen, die sich aus dem Verbot des eigenen Auftretens vor Gericht und sonstigen Behörden ergibt.“

Nach der Justizspaltung

Gegenseitige Schuldzuweisungen, im Hinblick auf mangelnde Bestrafung von Kriegs- und Naziverbrechern, prägten das Bild der Berliner Justiz bis zur Justizspaltung im Jahre 1949. Mit der Justizspaltung war dann jedoch das Problem des Richtermangels auf beiden Seiten weitgehend gelöst. Während in Westberlin durch ankommende Richter (101) weitere Dienstverpflichtungen hinfällig wurden, konnten in Ostberlin nun endlich Volksrichter eingesetzt werden.

Sofort nach der Justizspaltung im Februar 1949 beschloß der Ostmagistrat, die Entnazifizierung zu beenden (102). Man war der Ansicht, daß im Ostteil der Stadt keine Entnazifizierung mehr notwendig sei, da der Einfluß ehemaliger Nazis ausgeschaltet sei und daß die Anzahl von noch nicht überprüften NSDAP-Parteimitgliedern unwesentlich sei. Im übrigen, meinte man (103), daß ein weiterer Teil der belasteten Nationalsozialisten, aufgrund der weniger scharfen Entnazifizierung in den westlichen Zonen oder Sektoren, dorthin geflüchtet wären.

„(...) Trotzdem dürfte die Zahl der im sowjetischen Sektor vorhandenen Aktivisten (Hauptschuldige und Belastete im Sinne der Direktive 38) verhältnismäßig gering sein, weil die sowjetische Besatzungsbehörde in der Vergangenheit einen großen Teil der Aktivisten internierte und die Aktivisten zu einem weiteren Teil in die Westsektoren oder Westzonen abgewandert sind oder nicht nach Berlin zurückkehrten (Grund: Der nicht unbegründete Glaube, in den Westsektoren oder Westzonen bessere Bedingungen zu finden).“

Was die Entnazifizierung in den Westzonen betrifft, entspricht die Meinung des SED-Landesleitung der von Chefpräsident Dr. Loewenthal, der in einem Schreiben vom 20. April 1948 an die Rechtsabteilung der westlichen Besatzungsmächte, den Richtermangel beklagt und darum bittet, nicht allzu strenge Maßstäbe bei der Entnazifizierung von Richtern und Referendaren anzulegen, da (104)

„hierdurch eine große Unsicherheit unter diesen Richtern hervorgerufen wird,“

und zu befürchten sei,

„daß, wie dies schon geschehen ist, einzelne von ihnen zu anderen Berufen z.B. zur Anwaltschaft oder zu anderen Behörden übergehen oder in die westlichen Zonen abwandern, da dort nicht derartig strenge Maßstäbe an ihre politische Zuverlässigkeit angelegt werden, wie es für die Berliner Justiz der Fall ist.“

Laut Entscheidung des Ostmagistrats sollten in Zukunft noch notwendige Entnazifizierungsmaßnahmen als politische Aufgaben angesehen werden und nicht mehr mit den bisher gehandhabten, administrativen Methoden allein gelöst werden. Im übrigen seien bei den Beurteilungen nicht mehr nur von objektiven, formalen Merkmalen der BK/O (46) 101a bzw. der Direktive Nr. 24 auszugehen, sondern es sei (105)

„die Gesamtpersönlichkeit (...) zu bewerten, darunter auch das Verhalten seit 1945, vor allem Bereitschaft zur Arbeit, Verhalten im Arbeitseinsatz, Aufgeschlossenheit für fortschrittliche Gedanken usw.“

Während des beginnenden Kalten Krieges ließ das Interesse an Entnazifizierungsmaßnahmen vor allem in den westlichen Zonen erheblich nach und der größte Teil der zunächst suspendierten Richter kam dort, beginnend mit der Amnestie BK/O (49) vom 5. April 1949 (106), nach und nach zurück.

In der SBZ wurde dagegen eine völlige personelle Erneuerung der Justiz nach Einführung von Volksrichterlehrgängen in Angriff genommen (107), so daß bereits Mitte 1950 die Meinung vertreten wurde, daß die Berliner Justiz den Vorstellungen der neuen Machthaber eher entsprechen würden als die in der übrigen SBZ (108).

Die Situation der Berliner Justiz nach dem Einmarsch der Alliierten

Das Justizsystem nach der Aufteilung Berlins in vier Besatzungszonen

Erneute Umorganisation

Nachdem die weiteren Alliierten Anfang Juli 1945 (109) die ihnen zugewiesenen Zonen besetzt hatten, nahmen sie im Rahmen des Viermächtestatus auch ihr Mitregierungsrecht über ganz Berlin in Anspruch. Auf der Potsdamer Konferenz (110) der drei Siegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien wurde beschlossen, Deutschland zu entmilitarisieren, zu entnazifizieren, zu demokratisieren, zu dekartellisieren und zu dezentralisieren (111).

Mit Befehl Nr. 1 wurde die alleinige Befehlsgewalt des sowjetischen Stadtkommandanten durch das Kollektiv der vier alliierten Kommandanten abgelöst. Zwar blieben alle bisher getroffenen Anordnungen in Kraft, aber alle zukünftigen Beschlüsse mußten einstimmig gefaßt werden. Dies galt auch für Änderungsbeschlüsse an vorangegangenen Befehlen und Anordnungen (112). Dadurch änderte sich natürlich auch die Situation der Berliner Justiz. Ein verbitterter Max Berger, „dessen“ Bezirksgericht am Prenzlauer Berg schon bald danach aufgelöst wurde und im AG Berlin-Mitte aufging, merkte dazu an (113):

„Während dieser ersten Monate unserer Tätigkeit wurde von der vorgesetzten Justizbehörde weder an der Tätigkeit des Gerichts noch der Staatsanwaltschaft irgendwie Kritik geübt. Die Rechtsanwälte und die rechtsuchende Bevölkerung brachten der Arbeitsweise der Amtsgerichte und der Staatsanwaltschaft Prenzlauer Berg großes Vertrauen entgegen. Es schien, als ob die, vom Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 abweichende, Struktur des neuen Gerichtswesens und die neue Art der Rechtsprechung sich durchgesetzt hatten und zwar auch bei den akademisch ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten. Das änderte sich aber mit dem Einzug der westlichen Besatzungsmächte in Berlin. Durch die Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrates vom 20. Oktober 1945 und das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945 wurde dann auch die alte Gerichtsstruktur nach dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 mit dem Aufbau Amtsgericht, Landgericht und Kammergericht wiederhergestellt.“

An der Spitze der ordentlichen Gerichte auf dem Gebiet der Justizverwaltung stand der Kammergerichts- bzw. Stadtgerichtspräsident (114), jedoch wurde die Verwaltung von Groß-Berlin nun von der Alliierten Kommandantur geleitet, der auch die Justizbehörden zugeordnet war. In Berlin galten daher nicht die von den Militärregierungen für die einzelnen Zonen erlassenen Gesetze und Anordnungen, sondern neben den Gesetzen, Proklamationen und Direktiven des Kontrollrats lediglich die Anordnungen der Alliierten Kommandantur. Die ordentlichen Gerichte und die Staatsanwaltschaft unterstanden nicht dem Magistrat von Groß-Berlin, der eine eigene Rechtsabteilung hatte, sondern der Alliierten Kommandantur, auf die die Befugnisse des ehemaligen Reichsjustizministeriums übergegangen waren (115).

Dem Kammergerichtspräsidenten standen keine rechtsetzenden Befugnisse mehr zu, wobei ihm aber auf dem Gebiet der Gesetzgebung ein Vorschlagsrecht eingeräumt war. Der Kammergerichtspräsident war verantwortlich für die Disziplin der bei den Berliner Gerichten Beschäftigten oder zum Praktizieren zugelassenen Personen. Ihm oblag vorbehaltlich der Bestätigung durch die Alliierte Kommandantur die endgültige Einstellung, Versetzung und Beförderung der Richter, die er persönlich vor Dienstantritt zu beeidigen hatte. Die Entlassung der Richter konnte nur auf Anordnung oder mit Einwilligung der Alliierten Kommandantur erfolgen (116).

Als oberster Leiter der staatsanwaltlichen Behörden von Groß-Berlin fungierte der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht. Auch er unterstand - genau wie der Kammergerichtspräsident - unmittelbar der Alliierten Kommandantur, in haushaltsrechtlicher Beziehung jedoch dem Magistrat von Groß-Berlin.

Erste Unstimmigkeiten zwischen den Alliierten

Die Amerikaner beauftragten schon am 6. August 1945, einen Monat nach ihrem Einzug in die Stadt, den bis dahin als Direktor des Amtsgerichtes Zehlendorf (117) amtierenden Dr. Siegfried Loewenthal damit, ein eigenes Landgericht zu bilden und ernannten ihn zum „Chief President.“

Das Landgericht sollte als Berufungsinstanz für die Amtsgerichte Kreuzberg, Neukölln, Schöneberg, Steglitz, Tempelhof und Zehlendorf sowie als erste Instanz in dem, durch das Gerichtsverfassungsgesetz zugewiesenen Kompetenzbereich dienen. Als Vorzeichen des Kalten Krieges und um die sowjetischen Alliierten vor vollendete Tatsachen zu stellen, erhielt das neue Landgericht den Namen Landgericht II, obwohl überhaupt kein Landgericht I bestand. Dies geschah in der Absicht der Amerikaner, das Stadtgericht im sowjetischen Sektor auf die Landgerichtsebene zu stellen und selbst gleichzuziehen (118). Durch dieses neue Landgericht II war das Stadtgericht in zweiter und letzter Instanz nur noch für den sowjetischen, den britischen und den französischen Sektor zuständig.

Die Folge dieses Schrittes der Amerikaner war, daß eine mögliche Spaltung Berlins erstmals konkret spürbar wurde, da der sowjetische Stadtkommandant dem Schritt der Amerikaner nicht zustimmte. Den Amerikanern, die sich dem sowjetischen Einfluß entziehen wollten, wurden Spaltungsabsichten (119) unterstellt. Dadurch, daß der von den Sowjets vorgesehene Justizaufbau einfach ignoriert wurde(120), war faktisch eine erste Aufspaltung des Gerichtswesens in eine sowjetische und eine amerikanische Zone gegeben. Jedoch konnte eine weitere Aufspaltung durch den Alliierten Kontrollrat auf seiner zwölften Sitzung am 27. September 1945 verhindert werden. Aufgrund von Vorschlägen einer Kommission, wurde ein einheitlicher Gerichtsaufbau für Berlin beschlossen, der erneute Umstruktuierungen mit sich brachte und zur Wiederherstellung der Gerichtsorganisation aus den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg führte.

Siehe dazu auch den undatierten Bericht (121) zur Organisation und Besetzung der Berliner Justiz an Walter Ulbricht:

„Nach dem Einmarsch der Amerikaner und Engländer in Berlin versuchten diese, für ihren Besatzungssektor die Gerichtsorganisation nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Insbesondere die Amerikaner wünschten nicht, daß das von den Russen errichtete Stadtgericht übergeordnete Instanz über den Amtsgerichten des amerikanischen Sektors bleiben und begannen, für ihren Sektor ein eigenes Landgericht in Zehlendorf zu errichten; sie deuteten sogar an, daß sie nicht davor zurückschreckten, ein eigenes Obergericht für ihren Sektor zu schaffen, weil sie das Landgericht nicht nur als Berufungsinstanz, sondern auch als erste Instanz für bedeutendere Zivil- und Strafsachen einführen wollten, so wie es dem Zustand vor dem Einmarsch der roten Armee entsprach. Die Engländer neigten der gleichen Ansicht zu und sahen die Errichtung eines Landgerichts in Charlottenburg für den englischen Sektor vor. Das wäre ein unhaltbarer Zustand geworden, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Berlin wäre vernichtet worden.“

In diesem Bericht wurde im übrigen auch die mangelnde Präsenz von KPD-Genossen bei der Postenbesetzung beklagt.

Wiederherstellung der alten Gerichtsorganisation

Mit dem Gesetz Nr. 4 (122) vom 30. Oktober 1945 in Verbindung mit der Proklamation Nr. 3 vom 20. Oktober 1945 wurde die frühere Gerichtsordnung nach dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 in der Fassung vom 22. März 1924 (123) wiederhergestellt. Dies hatte zur Folge, daß es wieder Amtsgerichte, ein Landgericht (Sitz der Zivilkammern im amerikanischen Sektor in Zehlendorf und Sitz der Strafkammern im britischen Sektor in Moabit) und das Kammergericht (Sitz im Sowjetsektor in der Neuen Friedrichsstraße) als letzte Instanz gab, was auch schon in einem Kommuniqué der Alliierten Kommandantur nach ihrer Sitzung am 27. September 1945 vorweggenommen wurde.

Dadurch, daß die Sowjets das oberste Gericht für ganz Berlin in ihrem Sektor behielten, konnte die Gefahr der Spaltung der Berliner Justiz vorerst abgewendet werden. Die Amerikaner hatten sich mit dem Erhalt des Landgerichts II (nunmehr nur noch Landgericht) und ihrem „Chef-präsidenten“ Dr. Loewenthal die Mittelinstanz für Zivil- und Strafsachen in ihrem Sektor gesichert und auch die Briten bekamen einen erheblichen Anteil, was durch die verabredete Rückverlagerung der Strafsachen nach Moabit sowie die Unterbringung der Registerabteilung des Amtsgerichts Mitte geschah. Wichtig für die Briten war vor allem die Rückverlagerung des Handelsregisters in das im Amtsgerichtsbereich Charlottenburg liegende Landgerichtsgebäude am Tegeler Weg 21. Die Franzosen nahmen bei dieser Umgestaltung kaum Einfluß.

Dr. Loewenthal, der Präsident des Amtsgerichts Zehlendorf, Präsident des Landgerichts und Vizepräsident des Kammergerichts in einer Person war, wurde in seiner Funktion als Vizepräsident des Kammergerichts schon sehr bald abgelöst. Sein Nachfolger wurde am 12. Oktober 1945 Dr. Strucksberg (124), der im weiteren Verlauf der Berliner Justizgeschichte noch eine wesentliche Rolle spielen sollte.

Demgemäß hatte sich an dem Gerichtsaufbau, der vor dem 8. Mai 1945 gegeben war, nicht viel geändert. Die einzige Veränderung war darin zu finden, daß das Kammergericht vorerst die letzte Instanz darstellte, wobei an eine Wiedereröffnung des Reichsgerichts nicht zu denken war. Die sowjetische Militäradministration hatte vielmehr ausdrücklich die vor dem 8. Mai 1945 beim Reichsgericht anhängig gewordenen und noch nicht entschiedenen Revisionen teils als zurückgenommen, teils als an die Oberlandesgerichte zurückverwiesen erklärt (125).

Als bemerkenswerte Personalia sei noch erwähnt, daß die fünf (126) im Mai 1945 eingesetzten Staatsanwälte und Richter, die keine juristische Ausbildung vorweisen konnten, entlassen wurden. Die Entlassung von Max Berger und August Potthoff wurde jedoch nach Protesten widerrufen (127). Berger vermerkte (128):

„Durch obigen Beschluß blieben lediglich die Staatsanwälte Potthoff und Berger im Dienst. Beide waren bis 1933 als Rechtsbeistände tätig. Aufgrund dieser juristischen Vorbildung ist der obige Kompromiß-Beschluß zustande gekommen. Die drei anderen Staatsanwälte Freter, Laske und Hildebrandt werden entlassen, trotzdem sie, ohne juristische Vorbildung von der Neugründung der Berliner Gerichte und Staatsanwaltschaften bis heute, ihren Dienst unbeanstandet ausgeübt haben. Alle drei sind bewußte Antifaschisten, die vom ersten Tage an, an vorderster Stelle am Neuaufbau entscheidend mitgewirkt haben.“

Das Kammergericht

Das seit dem 14. Oktober 1945 wieder die Bezeichnung „Kammergericht“ tragende Stadtgericht (129), welches nun für das Stadtgebiet Groß-Berlin zuständig war, hatte über Berufungen gegen Urteile des Landgerichts und über Beschwerden gegen dessen Beschlüsse in Zivilsachen, über weitere Beschwerden gegen Beschlüsse des Landgerichts in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit und über Revisionen in Strafsachen zu entscheiden (130). Das alte Kammergericht war früher nicht nur das Oberlandesgericht für Berlin, sondern auch für viele Landkreise in Brandenburg (für die nun das neugeschaffene OLG Potsdam zuständig war), für zwei Landkreise in der Provinz Pommern und für den Teil eines Landkreises in der Provinz Sachsen; weiterhin war es oberste Instanz für die Feststellung preußischen Rechts und hatte schließlich in einigen Materien sogar höchste richterliche Entscheidungsbefugnis. Es umfaßte acht Landgerichte und 107 Amtsgerichte und war im Jahre 1942 für 7,4 Millionen Menschen zuständig (131). Jetzt war es räumlich und sachlich erheblich geschrumpft und war nur für Berlin zuständig (132).

Das Landgericht

Solange die Amerikaner für das bisherige Landgericht II zuständig waren, sind dort drei Strafkammern gebildet worden, die nun im Zuge der Neugestaltung ausziehen mußten. Auch die Staatsanwaltschaft wurde neu formiert. Es sollte von nun an zwei Zweigstellen unter der Leitung je eines landgerichtlichen Oberstaatsanwalts als Anklagebehörde geben, die dem Generalstaatsanwalt bei dem Landgericht unterstellt waren. Nach zwei Jahren des Aufbaus unter schwersten Bedingungen konnte sich das „Villen-Gericht“ (133) mit 151 Richtern in 24 Zivilkammern in Zehlendorf und in sechs Moabiter Strafkammern als das größte Landgericht Deutschlands bezeichnen. Die Landgerichte sollten für die Berufung gegen Entscheidungen der Amtsgerichte sowie für Streitwerte über 2000 RM oder nichtvermögensrechtliche Streitsachen zuständig sein. Gemäß den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung unmittelbar vor dem 30. Januar 1933 waren die Strafkammern sowie das Schwurgericht wie folgt besetzt:

Große Strafkammer: drei Berufsrichter / zwei Schöffen; Kleine Strafkammer: ein Berufsrichter / zwei Schöffen; Schwurgericht: drei Berufsrichter / sechs Geschworene.

Die Amtsgerichte

Ziel der Neugliederung war es vor allem, aus den bestehenden 21 Amtsgerichten 14 zu machen. Sieben (134) Amtsgerichte wurden daher, nach und nach, schon während der, dem Einzug der Westalliierten folgenden Monate aufgelöst. Westlicherseits wurde dies mit zunehmender Besserung der Verkehrsverhältnisse begründet (135). Östlicherseits wurde die Wiederherstellung der alten Gerichtsorganisation als Rückschritt angeprangert und von Einzelnen wurde eine „Refaschisierung“ der Justiz befürchtet (136). Vorerst blieben aus dieser Zeit nur die Amtsgerichte Tiergarten und Zehlendorf übrig (137), die es vor 1945 nicht gegeben hatte. Insoweit waren nahezu alle neuen Organisationsstrukturen unter sowjetischer Führung wieder rückgängig gemacht worden. Hilde Benjamin meinte dazu (138):

„Während in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone mit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung die Demokratisierung der Justiz Schritt um Schritt vorangebracht wurde, blieb die Berliner Justiz auf Grund der allgemeinen politischen Entwicklung in Berlin zurück. Die an der Verwaltung Berlins beteiligten Westmächte hatten in ihren Sektoren die antifaschistisch-demokratischen Verwaltungsorgane durch einen bürokratischen Beamtenapparat ersetzt und die Zerschlagung der Monopole verhindert.“

In dem Gesetz Nr. 4 (139) des Kontrollrats hieß es, daß die Zuständigkeit der Amts- und Landgerichte in Zivil- und Strafsachen sich im allgemeinen nach dem am 30. Januar 1933 in Kraft gewesenen Recht richte, wobei jedoch die Zuständigkeit der Amtsgerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten auf Ansprüche ausgedehnt wurde, die einen Streitwert von 2 000 RM nicht überschritten (140). In Strafsachen konnten die Amtsgerichte Strafen bis zu höchstens zehn Jahren verhängen (§§ 24 ff. GVG). Es gab keine scharfe Abgrenzung der Zuständigkeiten des Einzelrichters und des Schöffengerichts. Der Staatsanwalt konnte, gemäß § 25 I Nr. 2c GVG, nach seinem Ermessen, vor dem Einzelrichter oder vor dem Schöffengericht anklagen. Vor dem Einzelrichter sollte Anklage allerdings nur dann erhoben werden, wenn keine schwerere Strafe als Gefängnis von höchstens einem Jahre zu erwarten war (141).

Die Strafgerichtsbarkeit in der Nachkriegszeit anhand der Geschichte des Amtsgerichts Berlin - Mitte

Personalstruktur

Allgemein

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es - wie vorher dargestellt - zu der notwendigen Justizreform, die auch die Einstellung neuer Richter forderte. Dies waren ältere, in der Nazizeit entlassene Richter aus der Weimarer Republik, neue „Richter im Soforteinsatz“, erwiesene Antifaschisten, aber auch neue linientreue Parteimitglieder der wiedergegründeten KPD (142). Lediglich sieben der insgesamt 120 anhand des Aktenbestands identifizierbaren Richtern, die zwischen 1945 und 1952 am Amtsgericht Berlin-Mitte strafrechtlich Urteile fällten, waren auch in der Zeit zwischen 1933 und 1945 als Richter tätig (143). Keiner dieser Richter trat, in den ausgewerteten Akten, noch nach der Justizspaltung in Erscheinung.

Bei diesen Neurekrutierungen blieb auch die Justiz nicht von Hochstaplern und Betrügern verschont, die das damalige Durcheinander unmittelbar nach dem Krieg für sich nutzten. Einen falschen Amtsrichter, Amtsgerichtsrat Dr. Josef Franke, hatte auch das Amtsgericht Berlin-Mitte zu beklagen. Der vielfach Vorbestrafte wurde wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. In der Pressemitteilung vom 10. März 1948 hieß es (144):

„Die mit seiner Festnahme beauftragten Beamten bemerkten im Zimmer auf dem Fußboden Schleifspuren, entfernten einen Schrank und fanden hinter dem Schrank in einem Verschlag den Gesuchten.“

Berger berichtete in seinen Erinnerungen über diesen Fall (145):

„(...) Mit einer Untersuchungsgefangenen, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einsaß, knüpfte er ein Verhältnis an und entließ sie aus der U-Haft mit der Auflage, sich wöchentlich 2 oder 3 mal bei ihm zu melden. Als er aber sein Ziel in seiner in Lichterfelde gelegenen zweiten Wohnung bei ihr nicht erreichte, ließ er sie an einem ihrer Meldetage durch seinen Stellvertreter wieder einsperren. Auf eine Beschwerde der U-Gefangenen, die mir von der Kripo vorgetragen wurde, befaßte ich mich mit den Personalunterlagen dieses Dr. Franke (...) Aus den Unterlagen ging hervor, daß diese Dr. Franke als Regierungsrat im Befreiungsministerium des Landes Hessen tätig war und zwar nur kurze Zeit (...) Anhand der bekannten Justizkalender, der von Dr. Franke angegebenen Jahre seines Examens stellte ich fest, daß Franke weder als Referendar noch als Assessor irgendwo verzeichnet war und auch die Anwälte, bei denen er während seines Vorbereitungszeit tätig gewesen sein wollte, nirgends existierten. Kurz entschlossen habe ich eine Durchsuchung seiner zweiten Wohnung in Lichterfelde (...) angeordnet. Unter anderen Beweismitteln für das spätere Verfahren befand sich auch ein Entlassungsschein aus dem Strafgefangenenlager, in dem dieser Regierungsrat und nunmehrige Richter 2 Jahre wegen eines Verbrechens eingesessen hatte. Es stand nun fest, daß Dr. Franke zumindest eine Fragebogenfälschung begangen und sich auch des Betruges schuldig gemacht hatte (...) Inzwischen kam der telegrafisch angeforderte Strafregisterauszug aus dem ersichtlich war, daß dieser Dr. Franke nur 14 mal vorbestraft war und insgesamt ca. 8 Jahre Zuchthaus und Gefängnis verbüßt hatte (...) Außerdem wies dieser Strafregisterauszug aus, daß Franke aufgrund eines Haftbefehls für das Hessische Befreiungsministerium in Fahndung stand. Nun, Franke ist nach einigen Wochen aus seinem Versteck geholt und dann verurteilt worden.“

Der Personalbestand des Amtsgerichts Berlin-Mitte, der 1938 noch 2 700 Angestellte umfaßte, sank in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg auf nur noch 48 Mitarbeiter. Während es 1941, zwei Jahre nach Kriegsbeginn noch 279 Richter (146) am Amtsgericht Berlin-Mitte gab, waren es im März 1946, also zehn Monate nach Ende des Krieges, lediglich 25 Richter (davon sieben Strafrichter).

Justizangestellte wurden von Amtsgerichtsdirektor Gotthold in der ersten Zeit am Amtsgericht Berlin-Mitte, in der Hoffnung auf eine spätere Festanstellung, ohne Gehaltsanspruch vorläufig eingestellt. Nachfolgend Auszüge aus dem (arbeitsrechtlich sehr bedenklichen, den Zeichen der Zeit geschuldeten) Dienstvertrag (147):

„(...) Der Justizangestellte (...) erklärt sich bereit, im Amtsgericht Berlin-Mitte (...) während der gesamten Dienststunden zu arbeiten, auch wenn er aufgrund des bisherigen Angestelltenverhältnisses zur Arbeit im Justizdienst nicht mehr verpflichtet sein sollte (...) Der Justizangestellte (...) erkennt an, daß ihm für diese (...) Tätigkeit kein Anspruch auf Gehalt, Lohn oder dergl. zusteht, soweit nicht etwa ein solcher Anspruch aufgrund des früheren Angestelltenverhältnisses ohnehin begründet ist (...) Herr (...) erkennt jedoch ausdrücklich an, daß ihm hieraus ein Rechtsanspruch auf eine Einstellung nicht erwächst. Diese Vereinbarung wird zunächst auf die Dauer eines Monats getroffen. Sie ist seitens des Amtsgerichts jederzeit widerruflich, und zwar insbesondere für den Fall, daß sich aus ihrer Durchführung Unzuträglichkeiten irgendwelcher Art ergeben sollten.“

Anders als in der SBZ wurden im Oktober 1945 fast (148) alle Richter und Staatsanwälte entlassen, die unmittelbar nach Ende des Krieges auch ohne volljuristische Ausbildung eingesetzt wurden. Im März 1946 waren am Amtsgericht Berlin-Mitte trotzdem schon wieder 216 Angestellte und 25 Richter tätig (149), wobei dort auch der größte Teil des Gesamtberliner strafrechtlichen Geschäftsanfalls (150) zu bewältigen war.

Als Zeitzeuge erinnerte sich Max Berger an die außerordentlich große Arbeitsbelastung (151):

„Bei dieser Staatsanwaltschaft Berlin-Mitte fielen in der Zeit v. 1.1. - 31.7.46 rund 23 500 Strafsachen mit über 1 000 Verhaftungen an. Aus 1945 waren noch rund 12 000 Strafsachen anhängig. Das war ein Gesamtarbeitsanfall in 7 Monaten von rund 35 000 Strafsachen, die zu dieser Zeit von 13 Staatsanwälten und 6 Sachbearbeitern-Amtsanwälten- bearbeitet wurden. Unter diesen rund 23 500 Neueingängen in den 7 Monaten 1946 waren rund 13 500 Eigentumsdelikte, darunter 12 000 Diebstahlssachen enthalten. Aus dem Arbeitsanfall im Verhältnis zu den Arbeitskräften ist die latente Justizkrise dieser Zeit deutlich erkennbar.“

Neben der Verkürzung der Ausbildungszeit (152) begann man seit Ende 1946 (153) damit, Rechtsanwälte als Staatsanwälte und Richter für einen gewissen Zeitraum zwangszuverpflichten. Ende 1946 waren in Berlin 55 Rechtsanwälte als Richter und 15 als Staatsanwälte tätig. 1947 waren 88 Anwälte dienstverpflichtet. 1948, nachdem den Anwälten das Recht eingeräumt wurde, ihre Anwaltspraxis nebenbei weiterzuführen (154), waren es schließlich 120 Richter und 50 Staatsanwälte (155).

Trotzdem beklagte der Kammergerichtspräsident am 26. Januar 1948 die eklatante Personalnot und bat darum, einen Teil der entnazifizierten Richter wieder einstellen zu können (156), da ein großer Anreiz zur Wahl des Richterberufes aufgrund der Arbeitsbelastung, der geringen Bezahlung (157) und der fehlenden Pensionsansprüche nicht bestehen würde. Im übrigen gebe es kaum noch Rechtsanwälte, die man zwangsverpflichten könne (158).

Im Amtsgericht Berlin-Mitte waren am 1. Juni 1948 (159) 41 Richter und am 15. Oktober 1948 (160) 44 Richter tätig, darunter sieben Hilfsrichter und elf dienstverpflichtete Rechtsanwaltsbewerber. Bei der Staatsanwaltschaft Berlin-Mitte waren im Juni desselben Jahres 19 Staatsanwälte, eine Hilfsstaatsanwältin und zwei Oberamtsanwälte beschäftigt. Unter den 19 Staatsanwälten befanden sich zehn dienstverpflichtete Rechtsanwälte (161). Nach Bericht des Generalstaatsanwaltes wuchs insgesamt die Anzahl der als Staatsanwälte, dienstverpflichteten Rechtsanwälte von 48 im Dezember 1947 auf 82 im Oktober 1948 (162). 1941 hatte es insgesamt noch 149 Staatsanwälte im Landgerichtsbezirk Berlin gegeben (163).

Östlicherseits wurde der Ruf (164) nach den, in der SBZ bereits ausgebildeten, Volksrichtern immer stärker. Dagegen widersetzten sich die westlichen Besatzungsmächte und auch Teile der auf herkömmliche Weise ausgebildeten Richter. Der Einsatz von Volksrichtern war in Berlin erst nach Spaltung der Justiz möglich.

Probleme

Die Spannungen, die zwischen den Richtern alter und neuer Schule herrschten, zeigt am ehesten ein Pamphlet von Max Berger, dem späteren Militäroberstaatsanwalt der DDR, welches sich in seinem Nachlaß befand. Es soll den Zustand der Justiz in dieser Zeit dokumentieren, auch wenn es nur aus einer Sichtweise die Zustände darstellt und von persönlichen Animositäten und Unterstellungen durchsetzt ist. Max Berger erinnerte sich (165):

„Die Personalstellen waren gut besetzt. Von dem Direktor des Amtsgerichtes Berlin-Mitte (...) wurden im Mai 1945 in den Justizdienst eingetretene Angestellte, die früher nicht im Justizapparat waren, als ‘wesensfremde Elemente’ bezeichnet, die den alten Justizbeamten zu weichen haben. Nach dieser Devise wurde bei allen Bewerbungen verfahren. So kam es, daß bei den Betriebsratswahlen im Amtsgericht Berlin-Mitte der freigewerkschaftlichen Liste eine Liste der unorganisierten Justizangestellten gegenübergestellt wurde, die mit großer Mehrheit gewählt wurde (166).

Dieser famose Amtsgerichtsdirektor Dr. Gotthold (167) mußte durch eine Verfügung des stellv. Oberbürgermeisters von Berlin Maron erst gezwungen werden, alle Kaiserbilder aus seinem Dienstzimmer zu entfernen (...) Später, als bei den Schiebern Zigaretten und Spirituosen beschlagnahmt wurden, wurde in dem Aufbewahrungsraum, der in seinem Dienstbereich lag, immer kurz vor einer Revision eingebrochen und große Mengen dieser damaligen Edel-Asservate gestohlen. Die Täter konnten nie gefaßt werden. (...) Nachdem dieser famose Amtsgerichtsdirektor noch eine Reihe anderer Vergehen in Bereicherungsabsicht begangen hatte, war das Maß voll. Durch die Order des Rechtskomitees der Alliierten Kommandantur in Berlin (...) wurde er fristlos seines Dienstes enthoben (...) (168)

Dieses gute Vorbild hatte Konkurrenten auf den Plan gerufen, die von ihm gedeckt wurden. Sein geschäftsleitender Beamte Balinger entnahm aus dem Bestand der Justizbehörde mit Genehmigung seines Chefs mehrere gute Aktenregale, liess sie von den Betriebstischlern umarbeiten und in das Ladengeschäft seiner Schwester bringen (...) Der Strafrichter Dr. Augustin verstand es mit seinem Justizinspektor Lessay ebenfalls ausgezeichnet, mit beschlagnahmten Waren umzugehen. Beschlagnahmte Brote z.B. ließ er durch seine Ehefrau an ‘Flüchtlinge verteilen.’ Andere beschlagnahmte Lebensmittel und Konserven ‘vernichteten’ beide, weil sie ‘verdorben’ waren. (...) Auch der Oberstaatsanwalt Messow (...) verstand es (...) mit beschlagnahmten Zigaretten umzugehen. Er meldete eines Tages, daß er 10000 Zigaretten vernichtet hat, weil sie angeblich verschimmelt waren. Andere (...) sowie auch der Verwaltungsdirektor Scheiblich haben in der Zeit, in der mit großer Mühe Kohlen herangeliefert wurden, um die in den Arbeitszimmern aufgestellten eisernen Öfen zu heizen, bis zu 64 Säcke Brennholz, Press- und Steinkohlen aus dem Gerichtsgebäude von Justizangestellten, unter Ausnutzung ihrer hohen Dienststellung, in ihre Privatwohnungen fahren lassen. Und diese Spitzbuben und Betrüger in der schwarzen Robe und weißen Binde, deren Zahl und Fälle sich noch ergänzen ließe, alles alte Berufsjuristen mit akademischer Bildung sprachen bis Anfang 1949 u.a. im sowjetisch besetzten Teil Berlins Recht (...) Alle Vorschläge, bewährte und zuverlässige Laienkräfte aus den Reihen der Werktätigen heranzuziehen, wurden abgelehnt (...) Dafür suchte man nun krampfhaft nach möglichst wenig belasteten Juristen älteren Registers und brachte tatsächlich noch 2 70-80jährige Greise zusammen, von denen der jüngste 1908 zuletzt im praktischen Justizdienst war und nach kurzer Zeit als völlig unfähig wieder entlassen werden mußte (...) Auf der fieberhaften Suche nach akademisch gebildeten Juristen oder wenigstens Akademikern überhaupt, hatten die Behörden-Chefs immerhin einigen Erfolg. So war ein Theologe als Staatsanwalt tätig, der sein Vermögen opfern wollte, um die Vereinigung der Arbeiterparteien 1946 zu verhindern. Acht ehemalige Nazis wurden ebenfalls als Richter und Staatsanwälte eingeschleust, die aber bald erkannt und dann entlassen werden mußten. Als Stellvertreter des Generalstaatsanwalts Kühnast trat Dr. Neumann, ehem. Reichsanwalt beim Reichsgericht in Leipzig, der als Kommunistenfresser bekannt war, auf den Plan.“

Berger hatte schon mit Schreiben vom 4. Dezember 1945 (169) „an die Genossen Gerichtsoffiziere bei dem Amts- und Kammergericht Berlin-Mitte und den Staatsanwaltschaften“ eine „Liste der politisch unzuverlässigen leitenden Beamten“ geschickt, worin er seine unmittelbaren Vorgesetzten und andere „als die unverbesserlichen alten bürgerlichen Ideologen und Bürokraten mit starker reaktionärer Schlagseite“ denunzierte,

„die nach Auffassung der bewußten Antifaschisten, aus dem Justizapparat so schnell als möglich verschwinden müssen, wenn nicht innerhalb kurzer Zeit der gesamte Justizapparat ein Bollwerk der Reaktion und eine Gefahr für die neue Demokratie in Deutschland und insbesondere für das klassenbewusste Proletariat werden soll.“

Sein Bericht, in dem er sich als „Leiter der KPD-Betriebsgruppe Generalstaatsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft Berlin-Mitte, Kammergericht und Amtsgericht Berlin-Mitte“ titulierte, endete mit den Worten: „ich werde laufend weiter berichten“. Es fällt auf, daß sein Bericht (170) insbesondere auch die Vorgesetzten betraf, die an seiner Entlassung im Oktober 45 beteiligt waren.

„Der Herr Generalstaatsanwalt Dr. Kühnast gehört zu den Beamten, die, ohne PG. gewesen zu sein, auch die 12 Jahre Hitlerjustiz ohne Schaden überstanden haben (...Es folgen Ausführungen zur Tatsache, daß Kühnast es war, der sie nichjuristischen Staatsanwälte im Soforteinsatz entließ...) Dr. Kühnast lehnt es, wie die meisten, ab, sich parteipolitisch zu binden und hat, mit Rücksicht auf die Einstellung der Amerikaner zum FDGB die Absicht, aus der Gewerkschaft wieder auszutreten. Das ist der Typ des ewig neutralen, unabhängigen Beamten, der auf jede neue Staatsform den Eid leistet um seine Stellung zu halten, und, wenn sie wieder erlangt wurde, dieselbe benutzt, um getreu seiner anerzogenen konservativen und damit reaktionären Einstellung freien Lauf zu lassen (...) Prof. Dr. Kanger, der zzt, das Wohlwollen der sowj. Besatzungsmacht genießt, ist auf diesem Posten nicht der geeignete Mann. Als Produkt seiner Erziehung und Umwelt ist und bleibt er der alte bürgerliche Ideologe, der sich von seiner reaktionären Umgebung ins Schlepptau nehmen läßt und auch nicht gewillt ist, einen konsequent antifaschistischen Kurs einzuhalten.“

Offensichtlich stießen seine Berichte auf offene Ohren und es war seiner Karriere, wie man an seinem späteren beruflichen Werdegang sieht, nicht undienlich. Er wurde nach der Justizspaltung Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin, dann erster Oberstaatsanwalt der bewaffneten Organe und Militäroberstaatsanwalt der DDR und bekam später den Vaterländischen Verdienstorden sowie die Medaille für Verdienste in der Rechtspflege in Gold.

Zuständigkeiten

Allgemeines

Nachdem bis zum 15. Oktober 1945 das Amtsgericht für alle Strafsachen, Zivilrechtsstreitigkeiten und Arbeitsgerichtssachen in erster Instanz zuständig war (171), richtete sich nach Errichtung der Landgerichte die Zuständigkeit der Amtsgerichte in Strafsachen nach den §§ 24 ff. GVG (172). Sie waren zuständig für Übertretungen, Vergehen und Verbrechen, die mit Gefängnis oder mit Zuchthaus von höchstens zehn Jahren bedroht waren. Der Amtsrichter in Strafsachen war grundsätzlich zuständig bei Übertretungen und kleineren Vergehen. Das Schöffengericht, besetzt mit einem Amtsrichter und zwei Schöffen, war zuständig für Vergehen und weniger schwerwiegende Verbrechen (173).

Das Amtsgericht Berlin-Mitte war außerdem auf dem Gebiet der freiwilligen Ge­richtsbarkeit für die Führung der Register und für die Aufhe­bung diskriminierender Nazi-Urteile für ganz Berlin sowie für die Ausführung von Rechtshilfeersuchen von außerhalb Berlins zuständig. Im übrigen war es gesamtdeutsch für die Todeserklärung bei Flugverschollenheit zuständig. Auf dem Gebiet des Strafrechts war es für ganz Berlin für die Verfolgung von Feld- und Forstdiebstählen (174) sowie für Gas- und Stromstrafsachen (175) zuständig, was gerade in der Nach­kriegszeit von erheblicher Bedeutung war (176). Die Spaltung der Justiz erfolgte, trotz vorhergehender poli­tischer Spaltung und der Totalblockade, letztendlich erst mit der Verlegung des Kammergerichts in den britischen Sektor am 4. Februar 1949. Das im Ostsektor weitergeführte Kammergericht wurde von den westlichen Alliierten nicht anerkannt, während das im briti­schen Sektor errichtete Kammergericht von der Sowjetunion nicht anerkannt wurde.

Das Amtsgericht Mitte forderte nach der Spaltung erfolglos alle Registersachen zurück, die nach dem Einzug der Westalliierten an die Briten, die ein Registergericht am Tegeler Weg 17-20 eingerichtet hatten, herausgegeben worden waren. Das Schreiben vom 12. Februar 1949 (177), welches unbeantwortet blieb, zeigt die Schwierigkeiten im Sprachgebrauch, die die gegenseitige Nichtanerkennung mit sich brachte: Es war

„an den ständigen Vertreter des Amtsgerichtsdirektors beim Amtsgericht Berlin-Mitte für das Dienstgebäude Tegeler Weg 17-20“

gerichtet.

Abgrenzung zur Militärgerichtsbarkeit der Alliierten
Angehörige der Alliierten Nationen

Mit Beginn der Herrschaftsgewalt der Sowjetunion in Berlin durften keine deutschen Strafgerichte über Angehörige der Siegernation Sowjetunion urteilen. So auch eine später erlassene Verfügung des Präsidenten des Stadtgerichts Prof. A. Kanger (178):

„Gemäß Weisung der Staatsanwaltschaft der Roten Armee dürfen Strafsachen gegen Staatsangehörige der Sowjetrepubliken nicht von deutschen Gerichten verhandelt werden. Alle Sachen, in denen der Beschuldigte Staatsangehöriger der Sowjetrepubliken ist, sind mir unverzüglich zur Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft der Roten Armee zu übersenden.“

Genauso blieb es dann auch nach Einzug der westlichen Alliierten; das Verbot galt nun auch für die anderen Alliierten. Den deutschen Gerichten war es nicht erlaubt, über Personen zu urteilen, die einer alliierten Nation bzw. den alliierten Streitkräften angehörten. Mit Kontrollratsgesetz Nr. 4 zur Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens vom 30. Oktober 1945 wurde in Art III festgelegt (179):

„Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte erstreckt sich auf alle Zivil- und Strafsachen mit folgenden Ausnahmen:

a) Strafbare Handlungen, die sich gegen die Alliierten Besatzungsstreitkräfte richten;

b) Strafbare Handlungen, die von Nazis oder von anderen Personen begangen wurden und die sich gegen Staatsangehörige Alliierter Nationen oder deren Eigentum richten, sowie Versuche zur Wiederherstellung des Naziregimes oder zur Wiederaufnahme der Tätigkeit der Naziorganisation;

c) Strafbare Handlungen, in die Militärpersonen der Alliierten Streitkräfte oder Alliierte Staatsangehörige verwickelt sind;

d) Andere Zivil- oder Strafsachen, die der Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach den Anordnungen des Alliierten Militärbefehlshabers entzogen werden;

e) Wenn eine strafbare Handlung ihrem Wesen nach die Sicherheit der Alliierten Streitkräfte nicht gefährdet, kann der Militärbefehlshaber sie den deutschen Gerichten zur Aburteilung überlassen.“

Dieser Artikel wurde dann später mit Befehl der Alliierten Kommandantur am 28. März 1947 noch einmal präzisiert (180):

„Ohne vorherige Genehmigung der Militärregierung des betreffenden Sektors darf ein deutsches Gericht in Fällen, die die nachstehend angeführten Kategorien betreffen, nicht verfahren:

I. Kriminalfälle, die

1. irgendeine der Vereinten Nationen, oder

2. Streitkräfte einer der Vereinten Nationen, oder das Militärpersonal dieser Streitkräfte, oder

3. irgendeine bei diesen Streitkräften im Dienst stehende Person (ausgenommen deutsche Staatsangehörige) oder

4. irgendeinen Beamteten einer der Vereinten Nationen, oder

5. irgendeinen Staatsangehörigen einer der Vereinten Nationen, oder

6. nahe Verwandte (Familienmitglieder) der in Art. 1, I Paragraphen 2, 3 und 4 erwähnten Personen, sowie

7. Verbrechen, die seitens Nazis oder sonstiger Personen gegen Staatsangehörige der Vereinten Nationen oder deren Eigentum begangen wurde, als auch Versuche, das Naziregime wieder einzuführen oder die Tätigkeit der Naziorganisationen wieder auszuüben,

angehen oder berühren. (...)“

Laut einer Rundverfügung (181) des Generalstaatsanwaltes der DDR vom 6. Juni 1951 an alle Staatsanwälte blieb dies auch nach der Justizspaltung und nach Gründung der DDR so.

„Die deutschen Gerichte sind nicht zuständig zur Durchführung von Strafverfahren gegen die Militärpersonen der Alliierten Streitkräfte und gegen Alliierte Staatsangehörige (...) Dabei handelt es sich um Militärpersonen und Staatsangehörige der UdSSR, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Maßnahmen gegen solche Personen sind ausschließlich der Besatzungsmacht vorbehalten.“

Allerdings gab es einen Unterschied (182):

„Bei Strafverfahren gegen Angehörige anderer Staaten ist zu unterscheiden:

a) Ist der Staat bei der DDR durch eine diplomatische Mission vertreten, so haben die Generalstaatsanwälte der Länder der diplomatischen Mission von dem Strafverfahren eine Mitteilung zu machen. Die vorherige Genehmigung der Mission ist nur dann notwendig, wenn es sich um die Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Täter handelt, der selbst Angehöriger der Mission ist und deshalb diplomatische Immunität genießt (...)

b) Strafverfahren gegen alle anderen Staatsangehörigen können ohne Genehmigung oder Mitteilungspflicht durchgeführt werden.“

In den Akten fand sich ein Urteil (183) aus dem Jahre 1947, bei dem eine polnische Lebensmittelhändlerin zu acht Tagen Gefängnis verurteilt wurde, weil bei ihr Brotmarken gestohlen worden waren und ihr Fahrlässigkeit bei der Aufbewahrung vorgeworfen wurde, ein Verstoß gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung. Offensichtlich wurde für dieses Verfahren vorher eine Genehmigung der sowjetischen Militärkommandantur eingeholt, die dem Urteil beilag.

Verordnungen der Alliierten Nationen

Im übrigen durften Deutsche Gerichte grundsätzlich auch keine Verstöße gegen Gesetze und Anordnungen der Militärregierungen aburteilen. Ausnahmsweise konnte dies dennoch geschehen, wenn den Gerichten die Zuständigkeit zur Aburteilung dieser Normen ausdrücklich übertragen wurde (184):

„Betrifft: Übertragung gewisser Angelegenheiten aus der Zuständigkeit der Gerichte der Militärregierung auf die deutschen Gerichte

An den: Kammergerichtspräsidenten

Die Alliierte Kommandantura Berlin ordnet an wie folgt:

1. Gewisse Vergehen gegen die Gesetze und Anordnungen der Militärregierung können durch die Militärregierung der verschiedenen Sektoren auf die deutschen Gerichte übertragen werden.

2. Diese Vergehen werden durch das zuständige Gericht abgeurteilt werden, welches der Generalstaatsanwalt bestimmt.

3. die Strafe darf ein Jahr Gefängnis oder 10 000 RM Geldstrafe oder beides zusammen nicht überschreiten.

4. die Zeugen, welche die Staatsangehörigkeit von einer Alliierten Nation besitzen, werden durch die Vermittlung der betreffenden Militärregierung vorgeladen.“

Das Amtsgericht Berlin-Mitte war ab Juli 1948 dazu befugt, Urteile in Währungsstrafsachen, also Verstöße gegen den Befehl der SMAD Nr. 111, zu erlassen (185). Außerdem konnten dort Verstöße gegen die Bestimmungen der Alliierten Kommandantur vom 29. Mai 1946 (Baugenehmigungspflicht) und Vergehen gegen die Sperrstundenregelungen (186) abgeurteilt werden. Ebenso konnten Verstöße gegen das Kontrollratsgesetz Nr. 50, Verstöße gegen Befehl der SMAD Nr. 224 vom 30. September 1947 (Verlust und fahrlässige Behandlung von Waffen) und Verstöße gegen SMAD-Befehl Nr. 172 (Verstöße gegen die Ausweispflicht) bestraft werden. Für die Aburteilung von Verstößen gegen das Kontrollratsgesetz Nr. 50 (Kampf gegen die Entwendung von Lebensmitteln und anderen rationierten Waren) wurden sogar, auf Anordnung (187) der Militärkommandantur vom 9. September 1948, zwei eigene Abteilungen (Abt. 84 und 85) eingerichtet. Laut Kontrollratsgesetz Nr. 7 Artikel III Satz 1 (188) waren seit 30. November 1945 auch deutsche Gerichte zur Aburteilung von Verstößen gegen die, nach diesem Gesetz verfügten, Rationierungen von Elektrizität und Gas, befugt. Nach einer Verfügung des Kammergerichtspräsidenten vom 25. April 1947 war das Amtsgericht Berlin-Mitte dann ab 1. Mai 1947 für die Aburteilung aller Stromdiebstähle im Bereich von Groß-Berlin zuständig. Aufgrund Absatz 20 des Kontrollratsbefehls Nr. 3 vom 17. Januar 1946 „Registrierung der in arbeitsfähigem Alter stehenden Bevölkerung, Registrierung der Arbeitslosen und deren Unterbringung in Arbeit“ (189) waren deutsche Gerichte zudem auch dazu befugt, Verstöße gegen diesen Befehl abzuurteilen.

Zweites Kapitel: Aktenanalyse

Vorbemerkung

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird häufig statistisches Zahlenmaterial (190) verglichen werden. Die Rechtspflegestatistik für Groß-Berlin wurde schon ab Mitte 1945 wieder geführt. Wegen der Spaltung der Stadtverwaltung Ende 1948 wurden für dieses Jahr keine Rechtspflegestatistiken erstellt. Lediglich die Anzeigen bei der Kriminalpolizei wurden in einer Statistik (191) zusammengefaßt. Im Zeitraum der vorliegenden Untersuchung, also von 1945 bis 1952, waren ab 1949 lediglich Statistiken aus Westberlin zugänglich.

Meist geht es dabei um Abgeurteilten- oder Verurteiltenzahlen, wobei der Unterschied zwischen diesen Kategorien immer zu berücksichtigen ist:

Verurteilte sind Straffällige, gegen die nach allgemeinem Strafrecht eine Freiheitsstrafe, Strafarrest und/oder Geldstrafe verhängt worden ist oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe und/oder Maßnahmen geahndet wurde.

Abgeurteilte sind diejenigen Personen, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluß rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die Entscheidungen getroffen wurden (192).

Bei der Aktenauswertung wurden meist alle Fälle nach Eröffnung des Hauptverfahrens berücksichtigt. Es handelt sich insoweit also um Abgeurteiltenzahlen. Allerdings wurden auch die Verurteiltenzahlen berechnet, die sich bei den prozentualen Angaben jedoch normalerweise nicht wesentlich von den Abgeurteiltenzahlen unterschieden. Im Rahmen dieser Arbeit wurden mangels damals geführter Statistiken daher teilweise auch Abgeurteiltenzahlen mit Verurteiltenzahlen verglichen.

Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß in den offiziellen Statistiken lediglich die Tat auftritt, die mit der schwersten Strafe bedroht ist. Bei der Aburteilung von Straftaten, die in Tateinheit oder in Tatmehrheit begangen wurden, ist nur die Straftat statistisch erfaßt, die nach dem Gesetz mit der schwersten Strafe bedroht ist. Werden mehrere Straftaten derselben Person in verschiedenen Verfahren abgeurteilt, so wird der Angeklagte für jedes Strafverfahren gesondert gezählt.

In der Aktenauswertung wurden jedoch alle Normen pro Angeklagten berücksichtigt. Vergleiche wurden nur dann angestellt, soweit zu vermuten war, daß sich dieser Tatbestand nicht erheblich auf die errechneten Ergebnisse ausgewirkt hat.

Auswahl der Akten

Allgemeines

Die Untersuchung beschränkte sich auf Gerichtsakten des Amtsgerichts (193) Berlin-Mitte. Mit den im Anhang dargestellten Erhebungsbögen und den dazu dargereichten Erläuterungen (194) wurden die 2 745 Akten aus den Jahren 1945 - 1952 mit insgesamt 3 405 Angeklagten vom Verfasser und von Studenten der FU Berlin ausgewertet. Es war nicht möglich, einen repräsentativen Querschnitt aus allen Jahren, mit ca. 150-200 Akten eines jeden Jahrgangs aus den verschiedenen Verfahrensarten, auszuwerten, da bestimmte Jahrgänge und Verfahrensarten nur sehr unvollständig vorhanden waren. Leider fanden sich auch keine auswertbaren Urteile des Schöffengerichts (195), so daß fast alle statistisch erfaßten Akten aus Einzelrichterurteilen bestanden. Die Unvollständigkeit der Akten lag einerseits daran, daß viele Akten nicht mehr in einem archivierbaren Zustand waren, andererseits gingen wohl viele Akten in den Wirren der Nachwendezeit verloren. Erhoben wurden alle Akten, die greifbar und in auswertbarem Zustand waren (196). Es handelte sich dabei um Akten mit Dls-, Ds-, Cs-, Es-, Bs- und Js- Aktenzeichen.

Nach dem Strafprozeßregister waren Verfahren mit Dls-Aktenzeichen Anklagen wegen eines Verbrechens, Verfahren mit Ds-Aktenzeichen Anklagen wegen eines Vergehens, Verfahren mit Cs-Aktenzeichen Anklagen wegen eines Vergehens oder einer Übertretung (197) bei Anträgen auf Erlaß eines Strafbefehls, Verfahren mit Es-Aktenzeichen Anklagen wegen einer Übertretung. Verfahren mit Bs-Aktenzeichen waren Privatklagen (198). Bei den Js-Akten handelt es sich um staatsanwaltschaftliche Aktenzeichen, bei denen die gerichtlichen Aktenzeichen nicht mehr ermittelbar waren.

Nach § 1 I StGB war ein Verbrechen eine Tat, die mit dem Tode oder Zuchthaus von mehr als fünf Jahren bedroht war. Ein Vergehen war eine Tat, die mit Gefängnis bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe von mehr als einhundertfünfzig D-Mark oder mit Geldstrafe schlechthin bedroht war (§ 1 II StGB). Eine Übertretung war eine Tat, die mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig D-Mark bedroht war (§ 1 III StGB). Übertretungen waren in den §§ 360-370 StGB geregelt. Die Zulässigkeit von Privatklagen war in § 374 StPO geregelt.

Zur besseren Darstellung des ausgewerteten Aktenbestandes und dessen Unvollständigkeit nachfolgende Grafiken und Kreuztabellen:



Anzahl der Akten pro Jahr und Verfahrensart

Grafik 57



Grafik 7



Grafik 8



Anzahl der Angeklagten pro Jahr und Verfahrensart

Grafik 58



Grafik 10



Grafik 11



Angewandte Gesetze und Normen

Aus der Aktenerhebung wurde ersichtlich, welches die damals gängigen, zu einer Verurteilung führenden Strafrechtsnormen waren. Zusammengestellt wurde eine Sammlung der damals gültigen und relevanten Strafnormen. Im wesentlichen entsprechen die in den Akten vorkommenden StGB-Normen den heutigen Tatbeständen. Auftretende Unterschiede werden bei den einzelnen Fallgruppen erläutert.

Normen des Strafgesetzbuches

Angewandte StGB-Paragraphen

Es traten insgesamt folgende StGB-Normen auf. Aufgezählt sind alle in der Anklage auftretenden Normen für alle Angeklagten.

Grafik 16Grafik 18Grafik 19





Grafik 20



Man sieht deutlich das eklatante Übergewicht von Diebstahlsdelikten, als häufigstes Nachkriegsdelikt.

Normgruppen

In folgender Tabelle sind die verschiedenen Normgruppen dargestellt, gruppiert anhand des damals gültigen Strafgesetzbuches. Berücksichtigt wurde die jeweilige Normgruppe pro Angeklagten dabei jeweils nur einmal, so daß bestimmte, immer wieder auftretende Paragraphenkombinationen (z.B. §§ 242, 243 oder 267, 268 StGB) nicht doppelt gezählt wurden.

Grafik 21

Anklagen wegen Eigentumsdelikten (§§ 242-248a StGB) waren am weitaus häufigsten. Von den 2629 Fällen, bei denen aufgrund einer StGB-Normgruppe angeklagt wurde, waren dies immerhin 70,4%. Weit abgeschlagen folgen die Betrugsfälle mit 8,6%. 1934 wurden lediglich 31% wegen Eigentumsdelikten abgeurteilt, 1938 waren es nur 28,1%, die deswegen abgeurteilt wurden (199). Zu dieser Problematik wurde in der damaligen Forschung ausgeführt (200):

„Von geradezu verhängnisvoller Wirkung war sodann die im Kriege bei der Wehrmacht aufgekommene Zauberformel des Organisierens auf die Unterscheidung von Mein und Dein. In der Nachkriegszeit aber entwickelte man daraus kurzerhand eine Art Notrecht zur Aneignung fremden Eigentums. Insbesondere der zurückgelassenen oder verlagerten Habe von Evakuierten oder von Baustoffen u.a.m. Wer nichts mehr hat, glaubt nehmen zu dürfen, wo ist.“

Vergleicht man das mit den Berliner Verurteiltenzahlen aus heutiger Zeit, erkennt man eklatante Unterschiede: Obwohl auch heute noch Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242-248c StGB) die weitaus häufigsten (201) Straftaten im Rahmen des StGB sind, betrug der Prozentsatz 1997 lediglich 39,9% (202) also prozentual circa die Hälfte von dem, was nach dem Krieg das AG Berlin-Mitte und die gesamte Berliner Justiz beschäftigte.

Grafik 22



Immerhin noch 54,4% aller 82039 Angeklagten am AG Berlin-Mitte wurden wegen Diebstahl oder Unterschlagung abgeurteilt.

Betrug und Untreue scheinen dagegen heutzutage häufiger vorzukommen. Die Verurteiltenzahlen 1997 hatten insoweit immerhin einen Anteil von 15,0% (204) an den Straftaten nach dem StGB (ohne Straftaten im Straßenverkehr), während es 1945 nur 3,3% waren. Auch vor dem Krieg 1934 bzw. 1938 war der Betrugsanteil mit 14,8% und 11,5% höher als danach (205). Jedoch wuchs der Betrugsanteil in den ersten Nachkriegsjahren erheblich (206).

Grafik 23



Zeittypische StGB-Paragraphen

Als zeittypische, häufiger auftretende Delikte sind vor allem die Kuppelei (§ 180 StGB) und Verstöße gegen die Übertretungsnormen (§§ 360-370 StGB), dabei insbesondere gewerbliche Unzucht (§ 361 Nr. 6 StGB) und Obdachlosigkeit (§ 361 Nr. 8 StGB), zu nennen. Häufig wurde auch aufgrund der später abgeschafften Norm des Rückfalldiebstahls (§ 244 StGB) angeklagt.

Der Kuppelei machte sich diejenige Person strafbar, die „gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheiten der Unzucht Vorschub leistet.“ Wegen Rückfalldiebstahls wurde derjenige mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft, der im Inland bereits als Dieb, Räuber oder Hehler vorbestraft worden war.

Die Möglichkeit der Geringerbestrafung mittels des Straftatbestands der Notentwendung (§ 248a StGB) wurde trotz der sehr häufigen Diebstahlsfälle erstaunlicherweise nur einmal angewandt (207). Notbetrug (§ 264a StGB) und Mundraub (§ 370 Nr. 5 StGB) kamen dagegen überhaupt nicht vor, obwohl die Strafzumessungsproblematik bei Hungervergehen in der einschlägigen Literatur durchaus problematisiert wurde (208).

Sonstige Normen

Aufgezählt werden sollen auch alle sonstigen Normen, die im Text oder in der Auswertung eine Rolle gespielt haben und ihre jeweiligen Fundstellen.

Alliierte Bestimmungen

Der Kontrollrat erließ

a) Proklamationen,

b) Gesetze (in der Regel bindend für alle in Deutschland lebenden Personen) und

c) Befehle (in der Regel bindend für alle in Deutschland lebenden Personen) bei Angelegenheiten von begrenzter Anwendbarkeit oder vorübergehendem Charakter.

Strafbestimmungen gab es allerdings nur in Gesetzen und Befehlen. Direktiven waren, nach offizieller Sprachregelung (209), keine Akte der Gesetzgebung und galten nicht für alle in Deutschland lebenden Personen, sondern nur für die, an die sie gerichtet waren. Sie wurden erlassen, um grundsätzliche Richtlinien oder verwaltungsmäßige Entscheidungen des Kontrollrats bekanntzugeben. Strafbestimmungen konnten jedoch dann in Direktiven enthalten sein, wenn es sich um solche Strafvorschriften handelte, die von Zonenbefehlshabern in den von ihnen zu erlassenden Durchführungsbestimmungen in Kraft gesetzt wurden.

Befehle der SMAD, die im Aktenbestand auch eine Rolle spielten, wurden erst nach der Teilung der Justiz auch in Berlin relevant. Es handelte sich dabei im Wesentlichen um melderechtliche Bestimmungen und Befehle zur Währungsreform.

Grafik 24Grafik 25Grafik 26Grafik 27

In den ersten Nachkriegsjahren war das vorrangige Ziel neuer Verordnungen die Bekämpfung des Schwarzmarkts. Insbesondere zu erwähnen ist dabei die Marktordnung für Tauschmärkte (MO) vom 16. Februar 1946, die den Austausch von Gütern in geordnete Bahnen lenken sollte. Mit den Absätzen 11 und 12 (273) wurden strafrechtliche Sanktionen eingeführt, die auch in der Aktenauswertung von Belang waren. Der Schwarzmarkt wurde ebenfalls mit der Verbrauchsregelungsstrafverordnung vom 26. November 1941 (VRStVO) und der Kriegswirtschaftsverordnung vom 25. März 1942 bekämpft. Einige Schwarzhändler wurden auch aufgrund der Reichsabgabenordnung bestraft. Die Verordnung über das Verbot von Preiserhöhungen vom 26. November 1936 und die Verordnung gegen Preistreiberei vom 28. September 1945, sowie die Preisstrafrechtsverordnung vom 3. Juni 1939 und 26. Oktober 1944 sollten letztendlich ein vernünftiges Preisgefüge erhalten.

Laut Chefstaatsanwalt Loerbroks waren die letztgenannten, noch von den Nazis erlassenen Gesetze notwendig, um „die aus ähnlichen wirtschaftlichen Nöten - wie während des Krieges - jetzt notwendige Zwangsbewirtschaftung weiterhin durchführen zu können.“ (274)

Mit dem im Westen erlassenen Wirtschaftsstrafgesetz (WStG) vom 26. Juli 1949 und der in der SBZ am 23. September 1948 erlassenen Verordnung über die Bestrafung von Verstößen gegen die Wirtschaftsordnung (WStVO), die am 10. August 1950 auch in Ostberlin übernommen worden war, wurden schließlich die vor Ende des Krieges erlassenen Gesetze abgelöst. Die Normen bestraften diejenigen, die bezugsbeschränkte Erzeugnisse abgaben oder erwarben. Die WStVO war in ihrer tatbestandlichen Fassung weitgehend an die abgelösten Wirtschaftsstrafbestimmungen angelehnt. Allerdings eröffnete die Verordnung die Möglichkeit, Privatunternehmer und andere Gewerbetreibende rigoros zu enteignen, was auch mit der „Aktion Rose“ im Frühjahr 1953 geschah (275).

Grafik 28

Faßt man die Normen in bestimmte Kategorien zusammen, kommt man zum Ergebnis, daß 52,5% aller angewandten sonstigen Normen der Bekämpfung des Schwarzhandels dienten. Lediglich die Normengruppe Metalldiebstahl (Verordnung über den Verkehr mit Abfallmetallen vom 22. Februar 1950, Gesetz über den Verkehr mit unedlen Metallen v. 23. Juli 1926 und 28. Juni 1929) war mit 23,8% eine annähernd relevante Gruppe. Bei den anderen Kategorien war die Gruppe der Verstöße gegen melderechtliche Bestimmungen mit 6,6% die größte, der Anteil aller anderen Normengruppen lag jeweils unter 3%.

Grafik 30





Strafzumessung

Übersicht

Wie man anhand der Grafik sieht, wurde meistens (zu 43,8%) eine Freiheitsstrafe (276) ausgesprochen.

Grafik 32



Betrachtet man nur die Verurteilten, kommt man sogar auf eine Quote der Freiheitsstrafe von 62,4%.

Grafik 34

Insoweit scheint dieses Ergebnis allerdings etwas verzerrt zu sein. In den vorhandenen Statistiken gab es höchstens einen prozentualen Anteil der Freiheitsstrafe von 48,3% (277).

Freiheitsstrafen

Allgemeines

Zur damaligen Zeit gab es drei (278) Arten von Freiheitsstrafen:

1. Zuchthaus (§ 14 StGB) für lebenslängliche oder zeitige Strafen von 1-15 Jahren: Zuchthäusler mußten arbeiten (§ 15 StGB).

2. Gefängnis (§ 16 StGB) war vorgesehen für Strafen bis zu fünf Jahren. Die Gefängnisinsassen durften eine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen nicht entsprechende Arbeit ablehnen.

3. Haft (§ 18 StGB) (ein Tag bis sechs Wochen): Einfache Freiheitsentziehung ohne Arbeitszwang, die nur für Übertretungen und Beleidigungen angedroht war.

Länge der Freiheitsstrafen

Geregelt war auch die Umrechnung der Freiheitsstrafen. Eine achtmonatige Zuchthausstrafe entsprach einer einjährigen Gefängnisstrafe (§ 21 StGB). Meistens wurden nur kurze Freiheitsstrafen verhängt. 55% der zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Personen mußten nur bis zu höchstens drei Monaten ins Gefängnis. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß es sich dabei nur um Einzelrichterurteile (279) handelt. Die nachfolgenden Prozentzahlen beziehen sich auf 2027 Verfahren, bei denen eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wurde.

Grafik 37



Grafik 39

Geldstrafen

Die Geldstrafe (§§ 27 ff. StGB) sollte bei Verbrechen und Vergehen mindestens drei und höchstens zehntausend Mark betragen, wenn nicht höhere Beträge angedroht waren. Bei einem Verbrechen oder Vergehen aus Gewinnsucht konnte die Geldstrafe sogar 100 000 Mark betragen. Bei Übertretungen wurde eine Strafe zwischen einer und 150 Mark angedroht.

Laut Aktenauswertung wurden Geldstrafen lediglich in 35,6% der Fälle verhängt. In den vorhandenen Statistiken waren finanziellen Sanktionen weitaus häufiger (280). Diese Verzerrungen sind wohl darauf zurückzuführen, daß bei der Aktenauswertung ein - im Vergleich zu den Strafsachen vor dem Amtsgericht Berlin-Mitte (281)- geringerer Anteil von Strafbefehlen vorhanden war, bei den Strafbefehlen aber im stärkeren Ausmaße Geldstrafen verhängt werden (282).

Um die Sanktionswirkung dieser Geldstrafen einschätzen zu können, ist als Vergleichswert das Einkommen der arbeitenden Bevölkerung heranzuziehen. Für 1945 und 1946 konnten allerdings keine Werte gefunden werden.

Grafik 42

Laut dem statistischen Jahrbuch (285) der Deutschen Demokratischen Republik betrug der monatliche Durchschnittslohn für Arbeiter und Angestellte in der DDR im Jahr 1950 DM 241; 1951 DM 259 und 1952 DM 278. Der durchschnittliche Stundenverdienst (286) im IV. Quartal 1952 betrug 171 Pfennig.

Zum Vergleich herangezogen werden muß allerdings auch der Durchschnittspreis einiger Produkte des „Schwarzen Marktes“: so betrug 1947 der Schwarzmarktpreis für ein Pfund Butter 250 - 350 RM, ein dreipfündiges Roggenbrot kostete zwischen 35 und 45 RM, ein Pfund Zucker zwischen 80 und 100 RM, ein Ei kostete zwischen 15 und 20 RM, ein Pfund Zwiebeln zwischen 10 und 12 RM und schließlich konnte man einen Zentner Briketts für 50 - 80 RM erwerben. Die Schwarzmarktpreise waren oftmals eine mehr als hundertfache Überhöhung der amtlichen Preise (287). Dies führte natürlich auch zu Problemen bei der Festsetzung der Geldbuße.

Wie zuvor (288) bereits der Justizchef des SMAD, Kucharenko, so versuchte nun auch die Amerikanische Militärregierung darauf Einfluß zu nehmen, daß die Geldbußen zumindest bei Schwarzmarktdelikten den Schwarzmarktpreisen angepaßt werden sollten. Eine dahingehende Verfügung (289) wurde auch den Richtern im sowjetischen Sektor zugestellt:

„Zwei Strafverfahren haben die Aufmerksamkeit der unterzeichneten Aufsichtsinstanz auf sich gezogen, in denen es sich ergab, daß gefährliche Verbrecher, die unter stärkstem Tatverdacht des Schwarzhandels standen, gegen Sicherheit frei gelassen wurden, und zwar unter Bemessung der Sicherheit auf eine Summe, die offenkundig einen bloßen Bruchteil dessen darstellte, was die Schuldigen in ihrer verbrecherischen Tätigkeit an Gewinn eingestrichen hatten. Auf die Gegenvorstellungen des Ernährungsamtes antwortete der Richter, ‘daß im Gebrauch seines Ermessens über die Bestimmung der Höhe der Sicherheitsleistung der Richter nicht vom Schwarzmarktpreisen ausgehen könnte.’

Die gedankliche Verwirrung, die hier zugrunde liegt, fordert zum schärfsten Widerspruch heraus. Es mag sein, daß in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Richter es ablehnt, auf Schwarzmarktpreise Rücksicht zu nehmen. In Strafsachen wird die Bevölkerung den gelehrten Gedankengang vereinfachen und unfehlbar den Richter dahin verstehen: ‘in Schwarzmarktverfahren genügt es, den kleineren Teil der Beute zu opfern, um vom Schuldigen die sofortige Unterbrechung seiner Tätigkeit durch Untersuchungshaft abzuwenden; das ist ein besonderer Vorzug des Schwarzhandels vor weniger einträglichen Arten des Verbrechens.’ Hier finden die beständigen und bitteren Klagen, daß die Gerichte, den Versuch, Schwarzmarkt- und Ernährungsverbrechen auszurotten, nicht unterstützen, die rechte Beleuchtung. Die Aufsichtsinstanz verlangt nochmals mit allem Nachdruck, daß die Gerichte im Vereinigten Staaten Sektor von Berlin den Versuch machen, in Fühlung mit dem gesunden Gerechtigkeitssinn der Bevölkerung zu bleiben, statt das Gerechtigkeitsgefühl zu verletzen.“

Um dieses zu bewerkstelligen, wurde den Richtern von Amtsgerichtsdirektor Freund am 20. Januar 1948 nachfolgende Liste (290) mit aktuellen Schwarzmarktpreisen zugesandt:

Grafik 0



Grafik 48

Die Beurteilung des Strafmaßes bei Geldbußen gestaltet sich aus heutiger Sicht noch schwieriger als zur damaligen Zeit. Im Vergleich zu dem monatlichen Durchschnittseinkommen erscheinen die Geldstrafen oftmals sehr hoch. Vergleicht man sie jedoch mit den Schwarzmarktpreisen, erscheinen sie häufig sehr milde, da oftmals ein großer Teil der Haushaltseinnahmen wie -ausgaben über den Schwarzen Markt abgewickelt wurde.

Sonstige Strafen

Allgemein

Nebenstrafen

Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter

Die Verurteilung zur Zuchthausstrafe hatte die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge. Davon umfaßt waren Anwaltschaft und Notariat sowie der Geschworenen- und Schöffendienst (§ 31 StGB).

Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte

Außerdem konnte neben der Zuchthausstrafe auf den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden; ausnahmsweise konnte dies auch neben der Gefängnisstrafe geschehen. Die Dauer des Verlustes betrug bei zeitiger Zuchthausstrafe mindestens zwei und höchstens zehn Jahre, bei Gefängnisstrafe mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre. Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte hatte zur Folge, daß der Verurteilte Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen verlor, und ihm die Fähigkeit abhanden kam, politische Rechte auszuüben oder öffentliche Ämter zu bekleiden (§§ 32-37 StGB).

Polizeiaufsicht

Neben einer Freiheitsstrafe konnte in den durch Gesetz vorgesehenen Fällen auf die Zulässigkeit der Polizeiaufsicht erkannt werden (§ 38 StGB). Dem Verurteilten konnte der Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten untersagt werden.

Einziehung

Gegenstände, die durch ein vorsätzliches Verbrechen hervorgebracht, oder die zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens gedient haben, konnten mittels Urteil, sofern sie dem Täter oder Teilnehmer gehörten, eingezogen werden. Schriften, Abbildungen und Darstellungen, deren Inhalt strafbar waren, konnten nach Ausspruch im Urteil unbrauchbar gemacht werden (§§ 40 ff. StGB).

Maßregeln der Sicherung und Besserung

Unterbringung in ein Arbeitshaus

Neben der heute noch bestehenden Möglichkeit der Unterbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt, Trinkerheilanstalt oder Erziehungsanstalt, konnte auch die Unterbringung in ein Arbeitshaus angeordnet werden (§§ 42a ff. StGB). Dies geschah bei Landstreichern, Obdachlosen, Prostituierten und „Arbeitsscheuen“, die wegen Übertretungen nach § 361 Nr. 3 bis 5 und 6a bis 8 StGB (291) zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, „um ihn zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.“ (292) Wegen Bettelns war die Anordnung nur zulässig, „wenn der Täter aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit oder gewerbsmäßig gebettelt“ (293) hatte.

Die Unterbringung dauerte so lange, wie ihr Zweck es erforderte. Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Erziehungsanstalt und die erstmalige Unterbringung in einem Arbeitshaus durfte nicht länger als zwei Jahre dauern. Die Dauer der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, die wiederholte Unterbringung in einem Arbeitshaus waren an keine Frist gebunden. Das Gericht mußte vor dem Ablauf bestimmter Fristen überprüfen, ob der Zweck der Unterbringung erreicht war. Die Frist betrug bei der Unterbringung in einer Heil oder Pflegeanstalt drei Jahre und bei der wiederholten Unterbringung in einem Arbeitshaus zwei Jahre. Die im Arbeitshaus Untergebrachten waren in der Anstalt zu den eingeführten Arbeiten anzuhalten. Sie konnten auch zu Arbeiten außerhalb der Anstalt verwendet werden, mußten dabei jedoch von freien Arbeitern getrennt gehalten werden. Die in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Entziehungsanstalt Untergebrachten konnten innerhalb oder außerhalb der Anstalt auf eine, ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene Weise beschäftigt werden.

Untersagung der Berufsausübung

Wurde jemand wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das er unter Mißbrauch seines Berufes oder Gewerbes begangen hatte, zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt, konnte ihm die Ausübung des Berufes oder Gewerbes untersagt werden (§ 42e StGB). Maßregeln der Sicherung und Besserung konnten nebeneinander angeordnet werden (§ 42n StGB).

Aktenauswertung

Bei 89 Personen wurde die Einziehung von Gegenständen gemäß §§ 40, 42 StGB angeordnet. Dies konnte geschehen bei Münzfälschung, Glücksspiel, Jagd- und Fischereivergehen, Bestechung und Übertretungen gemäß §§ 360 und 367 StGB, sowie bei Wirtschafts- und Preisvergehen, Spekulationsverbrechen, bei Verstößen gegen das Gesetz zum Schutze des innerdeutschen Handels und beim Gesetz über den Verkehr mit Giften. Manchmal wurde das Diebstahls- bzw. Einbruchswerkzeug eingezogen. Meist wurde jedoch eine Einziehung des Mehrerlöses bei Wirtschaftsvergehen angeordnet. Sieben Personen wurden gemäß §§ 42 d, f, h, i StGB ins Arbeitshaus eingewiesen (294). Vier Personen mußten den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte gemäß § 32 StGB hinnehmen.

Sonstiges

Sehr oft entsprach das Urteil dem Antrag des Staatsanwaltes. Bei Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe immerhin zu 67,2%.

Grafik 71

Bei Geldbußen war der Prozentsatz noch höher.

Grafik 73

Dabei ist ein stetiger Anstieg der Verfahren zu konstatieren, bei denen entsprechend dem Antrag entschieden wurde. Während im ersten Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg dies nur bei ca. 30% (295) der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe der Fall war, stieg der prozentuale Anteil derartiger Verfahren im Laufe der Jahre an (296). Der prozentuale Anteil der UnA-Verfahren (297) reduziert sich jedoch dann, wenn man die Strafbefehlsverfahren, bei denen eine sehr hohe Übereinstimmung von Urteil und Antrag festzustellen war, herausrechnet. Berücksichtigt wurden nur die Fälle, bei denen die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe oder/und Geldstrafe beantragt hatte.

Grafik 35

Die Abweichung zwischen Urteil und Antrag wird um so stärker, je komplexer der Fall wird. Das heißt, daß bei Strafbefehlen die Übereinstimmung zwischen Antrag und Urteil erheblich höher ist als bei Verbrechen.

Grafik 89

Trotzdem war im Vergleich zu einer Untersuchung in der Bundesrepublik von 1977 (298), bei der 180 staatsanwaltschaftliche Anträge auf Freiheitsstrafe ausgewertet wurden, der Prozentsatz in der damaligen Zeit erheblich höher. In dieser, auf schmaler Basis beruhenden, Untersuchung entsprachen lediglich 31,1% der Urteile dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Allerdings wäre bei dieser Untersuchung auch der regionale Unterschied bei der Strafzumessung und die Tatsache der unterschiedlichen Strafzumessung verschiedener Gerichte zu berücksichtigen. Im übrigen dürfte es häufig ein eher rituelles Verhalten zwischen den Staatsanwälten und Richtern geben, das den Staatsanwalt dazu bewegt, beim Antrag etwas höher zu gehen. Dafür sprechen auch die Ergebnisse bei der oben erwähnten Untersuchung, da in 66,6% der Fälle das Urteil niedriger ausfiel und in lediglich 2,2% der Fälle der Urteilsspruch härter war als der Antrag.

Drittes Kapitel: Die strafrechtliche Bewältigung der unmittelbaren Nachkriegskriminalität

Die „unmittelbare Nachkriegszeit“

Allgemeines

Die Gerichte waren durch Nachkriegs- und Notkriminalität hoffnungslos überlastet und unterbesetzt. Als Zeitzeuge berichtete Max Berger (299):

„Bereits am 8. Juni 1945 konnte ich berichten, daß beim Amtsgericht (Prenzlauer Berg, Anm. des Autors) seit dem 1. Juni 1945 21 Zivilrechtsstreitigkeiten, Ehescheidungsverfahren, Anträge auf Erlaß einstweiliger Verfügungen in Nachlaßsachen, auf Einleitung einer Pflegschaft usw., anhängig bzw. erledigt worden waren. Die Rechtsantragstelle hatte 19 Anträge aufgenommen und 39 mündliche Auskünfte erteilt, die allgemeine Verwaltung 431 Eingänge erledigt. Bei der Staatsanwaltschaft gingen in dieser Zeit 8 Strafanträge ein, die in drei Fällen zur Untersuchungshaft führten. Bis zur Auflösung der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts Prenzlauer Berg steigerte sich der Arbeitsanfall von Monat zu Monat und erreichte im September bei der Staatsanwaltschaft die Zahl von 439 Eingängen. In diesem Monat erfolgten 18 Verurteilungen, darunter 12 wegen Diebstahls.

Von den 439 eingegangenen Strafsachen im September 1945 waren 304 Diebstahlssachen, 22 Fälle der Unterschlagung und 15 des Betruges. Also rund 80% aller Strafsachen waren Eigentumsdelikte, ein typisches Zeichen der damaligen Notzeit.“

Als typische Nachkriegsfälle der unmittelbaren Nachkriegskriminalität werden in dieser Auswertung Fälle bis zur Spaltung der Berliner Justiz angesehen. Das waren alle die Fälle, die am 4. Februar 1949 erledigt waren, also an dem Tag, an dem die Spaltung mit der Flucht des Kammergerichtspräsidenten Dr. Strucksberg endgültig vollzogen wurde. Diese Unterscheidung geschieht, um die Probleme in Umbruchphasen besser darstellen zu können, da sich im Laufe der Zeit die Verhältnisse normalisierten.

Eine genauere Darstellung und Differenzierung der Fälle aus den Jahren 1945 und 1946 wäre an sich sinnvoll, ist aber aufgrund der wenigen vorhandenen Akten aus diesen Jahren nicht aussagekräftig. Der Zeitpunkt wurde auch deswegen gewählt, weil mit der Verlegung des Kammergerichts in den Westsektor die Spaltung der Gerichtsbarkeit besiegelt war (300) und von da an „ein anderer Wind wehte.“ Aus diesem Zeitraum bis 4. Februar 1949 wurden 1289 Fälle ausgewertet.

Anzahl der Akten pro Jahr und Verfahrensart

Zur besseren Darstellung nachfolgende Grafiken und Kreuztabellen:

Grafik 59

Anzahl der Angeklagten pro Jahr und Verfahrensart

Grafik 60

Grafik 94

Grafik 97

Man sieht deutlich, daß der aufgefundene Aktenbestand sehr lückenhaft war. Insbesondere Akten aus dem Jahre 1946 sind unterrepräsentiert.

Statistisches

Allgemein

Über die Kriminalität im ersten Halbjahr 1945 läßt sich nur wenig Bestimmtes aussagen, da aus dieser Zeitspanne alle Zahlen fehlen und auch nicht rekonstruierbar sind. Allerdings gibt es ab der zweiten Hälfte des Jahres 1945 schon wieder Kriminalitätsstatistiken (301). Die monatliche Verurteiltenziffer (302) stieg von Juni bis Dezember von 10 auf 904 an. 1946 gab es einen Monatsdurchschnitt von 1 904 Verurteilten und im Jahre 1947 betrug der Monatsdurchschnitt sogar schon 2 778 Verurteilte. Dieser Anstieg in den Anfangsjahren nach dem Krieg ist auf die stetig verbesserte Organisations- und Personalsituation der Justiz zurückzuführen und hängt wohl auch mit der Schaffung neuer Straftatbestände zusammen. 1947 betrug die Verurteiltenzahl in Gesamt-Berlin 33 334. In den Vorkriegsjahren war die Verurteiltenzahl in Gesamt-Berlin erheblich niedriger. 1929 gab es 18 444 und 1932, ein Jahr vor der Machtübernahme 20 741 Verurteilte (303).

Da anzunehmen ist, daß es durch die Wirrnisse der Nachkriegszeit aufgrund einer noch mangelhaften Organisationsstruktur der Strafverfolgungsbehörden und der speziellen Problematiken der in Sektoren aufgeteilten Stadt (304) in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine höhere Anzahl nicht aufgeklärter Straftaten bzw. Nichtverurteilungen und damit ein breiteres Dunkelfeld gab, ist dieser erhebliche Anstieg von Verurteilten schon im Jahre 1947 nur mit der typischen Nachkriegskriminalität zu erklären (305). Bei der Nachkriegskriminalität fällt neben der starken Beteiligung von Jugendlichen und der erhöhten Anzahl von Raubmorden (306), Raub und Raubversuchen auch die Vielzahl von zur Anzeige gebrachten Plünderungen auf (307). Letztere kamen jedoch schon Ende 1946 kaum noch vor. Weitaus häufiger waren Anzeigen von Raubdelikten. Während in Berlin von 1929 bis 1938 insgesamt lediglich 3 611 Raubüberfälle gezählt wurden, wurden zwischen September 1945 und Dezember 1946, also in nur 16 Monaten 3 775 derartige Taten angezeigt. Erstaunlich sind, trotz der enormen Anzeigenflut, die geringen Verurteilungsziffern in den ersten Jahren bei diesen Delikten. Bis Ende 1947 wurden nur 363 Personen wegen Raub oder Erpressung verurteilt, in den ersten 17 Monaten der Nachkriegszeit waren es gar nur 136 (308).

Über die Gründe lassen sich nur Vermutungen anstellen:

Möglicherweise war ein Grund die Tatsache, daß besonders Angehörige der alliierten Streitkräfte, die nicht der Strafgewalt deutscher Gerichte unterlagen an diesen Delikten beteiligt waren (309). Für diese Annahme spricht auch ein Bericht der Kommunistischen Partei aus dem 16. Verwaltungsbezirk an die Bezirksleitung Berlin vom 10. Juli 1945 (310):

„In Köpenick-Nord ist das Plündern der Wohnungen, in denen vorwiegend Arbeiter und kleine Angestellte wohnten, an der Tagesordnung. In Hirschgarten werden Lauben ausgeräumt, das Obst von den Bäumen gestohlen, Radfahrer im Walde angeschossen und ihnen die Räder abgenommen. Auch Vergewaltigungen sind noch an der Tagesordnung. So könnten wir diese Beispiele beliebig aus anderen Ortsgruppen fortführen.

Die Organisierung der Zusammenarbeit ist eine schlechte. Es wurden vor längerer Zeit 36 000 Ztr. Kohlen für das Wasserwerk angeliefert. Die 36 000 Ztr. liegen in der Nähe von Hirschgarten auf den Eisenbahnschienen und Diebstähle trotz Verbotes der Kommandantur sind an der Tagesordnung. Die wachhabenden deutschen Polizisten werden nicht nur mit der Waffe bedroht, sondern es wird auch auf sie geschossen (...) Auch solche Fälle können wir weiter fortführen. Daraus ergibt sich einerseits eine Stimmung der Unsicherheit in der Bevölkerung und andererseits wird für all diese Maßnahmen und Übergriffe der Roten Armee die Kommunistische Partei mit verantwortlich gemacht.

Wir bitten Euch daher, doch dahingehend zu wirken und zu unterstützen, dass auch die Rotarmisten, nachdem der Krieg schon 8 Wochen vorbei ist, unbedingt Disziplin halten müssen. Wir haben nicht die Absicht, die rote Armee einer besonderen Kritik zu unterziehen, aber wir müssen verhindern, dass unsere politische Arbeit durch derartige Vorkommnisse untergraben wird. Wir betonen ausdrücklich, dass wir allen Anordnungen der Kommandantur Folge leisten. Wir bitten Euch, dieses zur Kenntnis zu nehmen und zu veranlassen, dass von dem Vorgenannten in Euren Verhandlungen Gebrauch gemacht wird und der notwendige Druck von oben erfolgt.

Mit kommunistischem Gruß“

Als typischer Fall der Nachkriegskriminalität im Bagatellbereich ist jedoch der Diebstahl anzuführen. Während es 1929, zu Beginn der Weltwirtschaftskrise und vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, 12 010 Fälle des einfachen und 15 002 Fälle des schweren Diebstahls gegeben hatte und die Anzahl 1938, ein Jahr vor Kriegsbeginn, auf 5 798 Fälle des einfachen und 4 410 Fälle des schweren Diebstahls gesunken war, stieg die Zahl im Jahre 1946 auf 74 557 Fälle des einfachen und 32 771 Fälle des schweren Diebstahls an. Der Rückgang der strafmündigen Bevölkerung Groß-Berlins von 3,7 Millionen Menschen im Jahre 1938 auf 2,6 Millionen Menschen im Jahre 1946 macht das Ausmaß des Anstiegs um so deutlicher (311).

Dieser besorgniserregende Anstieg wurde von den damals Verantwortlichen als natürliche Folge des Zusammenbruchs nach einem verlorenen Krieg angesehen:

Die ungeklärten Geld- und Einkommensverhältnisse, der Warenmangel, insbesondere die Verknappung der Lebensmittel, verbunden mit dem Anreiz des überall auftretenden Schwarzen Marktes, seien die wesentlichen Ursachen der Kriminalität auf diesem Gebiet. Die große Zahl der Flüchtlinge, Bombengeschädigten, Evakuierten und entlassenen Soldaten habe die Zahl derer, denen die Güter des täglichen Bedarfs fehlen, in einem solchen Maße vermehrt, daß der Selbsterhaltungstrieb in weiten Bevölkerungskreisen die Hemmung, mit dem Strafgesetz in Konflikt zu geraten, beseitigt habe. Außerdem habe die in der Kriegszeit abgesunkene Moral besonders günstige Vorbedingungen geschaffen (312).

Besonders häufig waren in den ersten Nachkriegsmonaten auch Einbrüche zu verzeichnen, um Nahrungsmittel oder Lebensmittelkarten zu erbeuten (313). Allerdings gab es zur Vertuschung von Schiebergeschäften auch sehr viele fingierte Einbrüche, wie man aus dem Protokoll (314) einer Konferenz im Kammergericht am 25. Juni 1946, an der alle führenden Köpfe des Justizwesens, der Verwaltung und der Polizei in Berlin teilnahmen, entnehmen kann. Beraten werden sollten die Maßnahmen für ein schnelles und wirksames Einschreiten gegen Diebstähle, Unterschlagungen, Plünderungen und Schiebungen, um die für die Bevölkerung Berlins notwendigen Lebensmittel sicherzustellen. Ein Vertreter der Kriminalpolizei führte dazu aus:

„Aus der Praxis der Einbrüche möchte ich sagen: Es ist eine Tatsache, daß es viele Lebensmittelgeschäfte in Berlin gibt, die wirtschaftlich nicht mehr existieren können auf Grund ihres Umsatzes und diese Lebensmittelhändler sind dadurch gezwungen, einen Teil ihrer Waren abzuzweigen und an den ‘Schwarzen Markt’ weiterzuleiten. So entsteht dann dort, wo ein Manko an Lebensmitteln ist, der Gedanke, einen Einbruch zu fingieren. Wir haben einwandfrei festgestellt, daß diese Geschäftsleute, nachdem sie ein Manko festgestellt haben, ihre Geschäfte abends nicht vorschriftsmäßig verschließen oder die Sicherung außer acht lassen. Wir haben einwandfrei festgestellt, daß Geschäftsleute Einbrüche anmelden, die nach den Feststellungen der Kriminalpolizei überhaupt nicht stattgefunden haben.“

Im übrigen hatten es die Einbrecher zur damaligen Zeit nicht sonderlich schwer, da auch einfachste Sicherungsmaterialien nur sehr schwer zu ergattern waren und zum Beispiel der größte Teil der Lebensmittelgeschäfte lediglich mit Eingangstüren aus Pappe verschlossen war (315).

Aktenauswertung

Grafik 1

Anklagen wegen Eigentumsdelikt (§§ 242-248a StGB) waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch bei den Verfahren des AG Berlin-Mitte am weitaus häufigsten. Vor der Justizspaltung wurden am AG Berlin-Mitte 61,3% aller (316) Angeklagten wegen Diebstahl oder Unterschlagung abgeurteilt. Von allen 1046 Fällen, bei denen aufgrund einer StGB-Normgruppe angeklagt wurde, waren es 75,5%, die zumindest auch deswegen abgeurteilt wurden. Weit abgeschlagen folgen auch hier die Betrugsfälle mit 9,8% (317). Diese Zahlen entsprechen den Verurteiltenzahlen aus den vorhandenen Kriminalitätsstatistiken (318) in Berlin. Gerade in den Jahren vor der Justizspaltung war der Anteil an Eigentumsdelikten eklatant hoch.

Grafik 2

In den Akten des AG Berlin-Mitte spielen dagegen Raubdelikte trotz der bis 15. Oktober 1945 vorhandenen Strafkompetenz kaum eine Rolle. Lediglich in 1,0% der Fälle war eine StGB-Norm aus dieser Deliktsgruppe von Belang. Möglicherweise wurden einige relevante Verfahren an das nun zuständige Landgericht abgegeben oder vor dem Schöffengericht verhandelt. Allerdings wurden, wie schon vorher erwähnt, insgesamt nur sehr wenige „Räuber“ tatsächlich abgeurteilt.

Besondere Nachkriegsproblematiken

Papierknappheit

Die Gerichte hatten vor allem mit dem Mangel an Papier, Akten, Stempeln und ähnlichem zu kämpfen. Die nachfolgenden Verfügungen illustrieren daher, wie die Nachkriegsjustiz mit derartigen, heutzutage banalen Problemen zu kämpfen hatte und inwieweit sogar der Kammergerichtspräsident involviert war. Kammergerichtspräsident Prof. A. Kanger verfügte z.B. am 26. November 1945 (320):

„Da zur Zeit eine Beschaffung von Schreibmaterialien sehr schwierig ist, muß auch mit Schreibpapier äußerst sparsam umgegangen werden. Es wird deshalb angeordnet, jedes Schreiben so zu fertigen, daß auch die Rückseite des Papiers voll ausgenutzt wird.“

Der Amtsgerichtsdirektor des AG Berlin-Mitte Dr. Gotthold verfügte drei Monate vorher am 21. August 1946 (321):

„Infolge der notorischen Papierknappheit stößt die laufende Beschaffung von Papier, Konzeptpapier, Makulaturpapier, Aktendeckeln, Heftgarn, Bindfaden u. dergl. auf immer größere Schwierigkeiten. Der Mangel an Papierrohstoffen, Hanf, Garn und Papierbindfaden ist so drückend geworden, daß es kaum noch möglich sein wird, Akten, die in die Berufungsinstanz gehen oder sonst zur Versendung gelangen, versandfest zu machen. Die gegenwärtige Wirtschaftslage läßt auch eine Hoffnung auf Besserung und Auflockerung der Papier- und Bindfadenerzeugung in absehbarer Zeit leider nicht zu. Es muß nach Lage der Verhältnisse sogar damit gerechnet werden, daß die absolute Papierverknappung zu einer gänzlichen Einstellung jeglichen Papierkaufs führen wird. Zur unbedingten Aufrechterhaltung des Dienstbetriebes ist daher eine auf äußerste Sparsamkeit abgestellte Papierbewirtschaftung zu betreiben. Es geht nicht mehr an, daß, wie immer wieder wahrzunehmen ist, noch ganze Bogen für Berichte u.a. verwendet werden, die bei vernünftiger Beurteilung des notwendigen Raummaßes auf halben Bogen gefertigt werden könnten. Ich erwarte, daß der prekären Papiernot durch sparsamste Haushaltung und laufender Überwachung des Papierbedarfs Rechnung getragen wird und die Abteilungen insbesondere dafür besorgt bleiben, daß Berichte und Schreiben auf engstem Raum, Verfügungen im internen Geschäftsverkehr nur noch auf Makulaturpapier (brauchbare alte Vordrucke) abgesetzt werden.“

Aufgrund der Papierknappheit wurden Gerichtsurteile wiederholt auf die Rückseite von Landkarten geschrieben (322). Teilweise benutzte man dafür auch die Rückseiten alter Gerichtsdokumente; so diente zum Beispiel die Rückseite eines an das Landgericht Frankfurt/Oder gerichteten Urlaubsantrags aus dem Jahre 1891 und eines militärischen Führungszeugnisses aus dem Jahre 1901 für eine Urteilsbegründung von Januar 1948 (323). Die Richter verwendeten auch weiterhin Urteilsbögen aus dem Dritten Reich mit dem Vordruck „Im Namen des Deutschen Volkes“, wobei sie das Wort „Deutschen“ durchstrichen oder Naziembleme herausschnitten. Auch alte Stempel und Briefumschläge wurden weiterverwendet, wobei der Reichsadler und das Hakenkreuz herausgekratzt oder überklebt waren (324).

Papiermangel war auch noch später ein vorherrschendes Problem, wie man zum Beispiel an ähnlichen Verfügungen des Vizepräsidenten des LG Dr. Greffin vom 5. Dezember 1947 (325) und der Landgerichtspräsidentin Neumann vom 4. Oktober 1949 (326) sieht.

Die notwendige Benutzung von Altpapier führte dann allerdings auch zu neuen Problematiken (327):

„Nach meinen Feststellungen ist es in letzter Zeit mehrfach vorgekommen, daß für den Parteien zugehende Vordrucke und für die Ausfertigungen gerichtlicher Entscheidungen Altpapier verwandt worden ist, das aus Akten erledigter Prozesse oder aus älteren Verwaltungsvorgängen stammte. In einem Falle ist ein Vordruck auf der Rückseite einer Protokollabschrift aus einem erst in jüngster Zeit entschiedenen Eheprozeß angefertigt worden; in anderen Fällen sind den Parteien gerichtliche Schreiben auf der Rückseite von Urteilsabschriften übersandt worden, die Scheidungs- oder Unterhaltsprozesse betrafen. In einem Falle hat es sich um Papier aus Verwaltungsvorgängen der nationalsozialistischen Zeit gehandelt, in denen nazistische Auffassungen vertreten worden sind. Fälle dieser Art sind bereits in einzelnen Zeitungen in Leserzuschriften - mit Recht - kritisiert worden.

Bei dem empfindlichen Papiermangel kann auf die Verwendung alten, einseitig beschriebenen Papiers nicht verzichtet werden. Es muß aber unbedingt vermieden werden, daß außenstehenden Personen in die, in den alten Akten behandelten Angelegenheiten ein unerwünschter Einblick gewährt wird.

Ich ordne daher an:

1. Altpapier ist grundsätzlich nur für den inneren Dienstgebrauch zu verwenden.

2. Soweit der Papiermangel in Ausnahmefällen zur Verwendung des Altpapiers für nach außen gehende Schriftstücke zwingt, ist es in den Kanzleien vorher sorgfältig darauf zu prüfen, ob nicht die Rücksicht auf berechtigte Interessen der früheren Verfahrensbeteiligten der Verwendung entgegensteht.

Ich bitte, die Beachtung dieser Grundsätze in geeigneter Weise zu überwachen.“

Die Papierknappheit war auch nach der Justizspaltung noch nicht entschärft. Die Verwendung von Papier aus der Nazizeit erregte weiterhin Anstoß bei Vorgesetzten und betroffenen Bürgern (328). Erst nach Gründung der DDR wurde der Verwendung von Papieren mit Naziemblemen endgültig Einhalt geboten (329), auch wenn der Papiermangel noch nicht endgültig überwunden war und weitere Kontingentierungen notwendig waren (330).

Stromknappheit

Nicht nur die Papierknappheit, auch die Stromsperren führten zu Problemen im Rahmen des alltäglichen Justizgeschehens. Aufgrund der Stromsperren wurde am 21. Oktober 1946 die elektrische Raumbeheizung verboten; außerdem verfügte Amtsgerichtsdirektor Dr. Gotthold am 20. Januar 1947 (331):

„Sämtliche Behördenangehörige werden deshalb ersucht, gewissenhaft darauf zu achten, daß beim Verlassen der Diensträume das Licht für Raum und Arbeitsplätze abgeschaltet ist. Angestellte, die diese Anordnung nicht beachten, werden für den unnützen Lichtverbrauch haftbar gemacht werden und setzen sich zugleich der Gefahr der Bestrafung wegen Verstoßes gegen die Bewirtschaftsbestimmungen aus.“

Die Probleme blieben auch nach der Gründung der DDR, jedoch änderte sich die Diktion der inhaltsgleichen Verfügungen grundlegend, wie man anhand einer Verfügung (332) des Amtsgerichtsdirektors Berlin-Mitte Hintze vom 24. November 1950 sieht, die sich auch mit dem Stromverbrauch befaßt:

„Ich bitte alle Mitarbeiter, auf die Einsparung von Strom bedacht zu sein. Jedes eingesparte Kilowatt ist ein Baustein zur Erfüllung des Fünfjahresplans und zum besseren Leben“

Sonstige Probleme der Mangelwirtschaft

Den Zustand der Justiz bzw. die Probleme, mit denen die Justiz zu kämpfen hatte, beschreibt auch nachfolgende kuriose Verfügung des Amtsgerichtsdirektor des AG Berlin-Mitte Dr. Gotthold vom 18. September 1946 (333):

„Bis zur Schaffung einer besseren Sicherheit sind zur Verhinderung von Diebstählen die Schreibmaschinen täglich bei Dienstschluß in die Kleiderschränke oder in versenkbare Schreibmaschinentische einzuschließen. Die Schlüssel sind an einer Stelle aufzubewahren, die nur den Angehörigen der Abteilung bekannt ist (aber nicht etwa oben auf dem Kleiderschrank!). Sofern in einem Zimmer ein verschließbares Gerät zu Unterbringung nicht vorhanden ist, sind die Schreibmaschinen in einem benachbarten Zimmer in der bezeichneten Art zu verwahren.“

Da diese Verfügung offensichtlich nicht zum erhofften Erfolg führte und weiterhin Diebstähle erfolgten, wurde nach weiteren Ermahnungen schließlich am 21. April 1947 verfügt, daß sämtliche Schreibmaschinen bei Dienstschluß in einem besonders gesicherten Raum unterzubringen waren.

Eine andere Verfügung (334) des Amtsgerichtsdirektors Gotthold vom 31. Oktober 1945 dokumentiert ebenfalls, inwieweit die Mangelwirtschaft die Justiz beeinträchtigte:

„Da festgestellt worden ist, daß nicht nur Abfallholz aus dem Gerichtsgebäude entnommen worden ist, sondern auch noch brauchbare Einrichtungsgegenstände zerschlagen und Holztäfelungen aus Sitzungssälen abgerissen worden sind, untersage ich hiermit die Mitnahme von Holz jeder Art, also auch von sogenanntem Splitterholz. Die von mir beauftragten Überwachungsbeamten, die Hausmeister, die Justizwachtmeister und die Pförtner sind berechtigt, dahingehende Untersuchungen von Gepäckstücken und Aktentaschen vorzunehmen, gegebenenfalls den Inhalt zu beschlagnahmen und die in Frage kommenden Personen anzuhalten und festzustellen. Die angehaltenen Personen sind dem geschäftsleitenden Beamten des Amtsgerichts Berlin-Mitte (Justizoberinspektor Balinger) oder seinem Vertreter (...) vorzuführen.“

Sogar der Präsident des Kammergerichts Dr. Strucksberg mußte sich um - aus heutiger Sichtweise - Lappalien kümmern, um den Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten, wie eine Verfügung vom 28. September 1946 zeigt (335):

„Die Glühbirnendiebstähle im Hause Neue Friedrichsstraße 12-17 häufen sich in letzter Zeit so, daß Gefahr für die ordnungsmäßige Durchführung des Dienstbetriebes in den Wintermonaten besteht. Als Vorbeugemaßnahme ordne ich an:

Nach Dienstschluß hat jeder, der an seinem Arbeitsplatz oder im Arbeitszimmer leicht erreichbare Leuchtkörper hat, daraus die Glühbirnen zu entfernen und unter sicheren Verschluß zu bringen. Jeder haftet für die an seinem Arbeitsplatz oder in seinem Arbeitszimmer vorhandenen Glühlampen und muß bei deren Diebstahl selbst Ersatz leisten, wenn er die nötige Sorgfalt außer acht gelassen hat. Die Glühlampen der Deckenbeleuchtungen sind in den Fassungen zu lassen.“

Aus heutiger Sicht ist, es bei der damaligen Mangelwirtschaft, durchaus nachzuvollziehen, daß sich notleidende Menschen das Nötigste auf illegale Weise beschafften. Davon war natürlich auch die Justiz betroffen, wo sogar aus der Asservatenkammer gebrauchsfähige Dinge entwendet wurden. Exemplarisch sei dabei ein Prozeß (336) genannt, dessen Hauptverhandlung im Sande verlief, da das begehrte Diebesgut (Stoff) und somit auch das Beweisstück aus der Asservatenkammer verschwunden war.

Die Außendarstellung der neuen Justiz

Das folgende Rundschreiben (337) des Amtsgerichtsdirektors des AG Berlin-Mitte vom 2. August 1946 läßt die Vermutung zu, daß man den neuen Machthabern gegenüber darauf bedacht war, an der Funktionsfähigkeit der Justiz keinen Zweifel zu lassen:

„1.) (...) Der Rechtsausschuß der Kommandantura beabsichtigt, sich durch einen Rundgang durch die Berliner Gerichte einen Überblick über deren praktisches Arbeiten zu verschaffen (...) Dem Rechtsausschuß der Kommandantura liegt daran, ein lebendiges Bild von dem Wirken der Gerichte zu erhalten, so daß es wünschenswert ist, daß an dem angegebenen Tage möglichst viele Abteilungen der Gerichte in Tätigkeit sind und daß darüber hinaus alles geschieht, um das Bild der Tätigkeit der Gerichte zu vervollständigen. Natürlich wird erwartet, daß auch das Äußere der Gerichte einschließlich der Gebäude und Arbeitsstätten in solche Form gebracht wird, daß der Eindruck ein günstiger ist.

2.) Demgemäß bitte ich die Richter, auch soweit sie keine Sitzungen abhalten, am Montag, dem 5. August 1946, während der Dienststunden vollzählig anwesend zu sein und in den Sitzungen die Amtsrobe anzulegen.

3.) Die Büroleiter sind für gute Ordnung in den Abteilungen der Geschäftsstelle verantwortlich. Es ist dafür Sorge zu tragen, daß die Zimmertüren mit Aufschriften und mit den Namen der Zimmerinsassen versehen sind, soweit dies noch nicht geschehen.

4.) Die Justizwachtmeister haben Uniform zu tragen, sofern sie sich im Besitze einer solchen befinden.“

Desweiteren wurde darauf Wert gelegt, daß sich die Justizangestellten dem neuen System entsprechend benehmen und keine nationalsozialistischen Attitüden aufkommen lassen würden. Kammergerichtspräsident Dr. Strucksberg appellierte am 9. März 1946, kurz nach seiner Ernennung, an die in der Justiz Tätigen (338):

„Wir müssen durch eine zuvorkommende und höfliche Behandlung der uns oft mit ihren Sorgen und Nöten vertrauensvoll aufsuchenden Personen dafür sorgen, daß die (...) Scheu vor den Gerichten ihr Ende findet. Jeder, der das Gerichtsgebäude verläßt (...) muß auf Grund der im Gebäude erfahrenen Behandlung das Gefühl haben, daß alles nach den gesetzlichen Bestimmungen Mögliche getan worden ist, um ihm zu helfen oder zum mindesten seinen berechtigten Interessen gerecht zu werden (...) unser Bestreben muß es (...) sein (...) Mißstände zu bereinigen, ehe sie außerhalb der Justiz bekannt werden. ‘Schmutzige Wäsche wäscht man möglichst im eigenen Haus.’ (...) Falsche Kollegialität ist in solchen Fällen nicht angebracht, insbesondere dann nicht, wenn der Verdacht besteht, daß nazistische Elemente erneut ihr Unwesen zu treiben versuchen. In solchen Fällen muß rücksichtslos ein- und durchgegriffen werden. Denke jeder daran, daß ein Wiederemporkommen solcher Elemente im Ergebnis die gesamte Justiz und damit uns alle schädigt.“

Zuvor, am 28. Juli 1945, hatte schon Dr. Greffin in seiner Funktion als Vizepräsident des Stadtgerichts auf den neuen Umgangston hingewiesen (339):

„Die Gerichte sind wieder für den Rechtsuchenden da und nicht umgekehrt. Jeder Rechtsuchende hat Anspruch, in höflicher, zuvorkommender Art empfangen, beraten und verabschiedet zu werden. Jeder rüde, überhebliche Ton - sogen. Kommißton - ist zu vermeiden. Ich werde jeder Beschwerde in dieser Beziehung unnachsichtlich nachgehen und auch nötigenfalls ahnden.“

Beispiele von typischen Nachkriegsfällen

Allgemeines

Wie schon erwähnt (340), wurden als typische Nachkriegsfälle Fälle angesehen, die am 4. Februar 1949 erledigt waren, da mit dieser Untersuchung festgestellt werden soll, ob sich mit der Verlegung des Kammergerichts in den Westsektor die Rechtsprechung des Amtsgerichts Berlin-Mitte entscheidend änderte. Nachfolgend wurden Fallgruppen aus typisch auftretenden, zufällig ausgewählten Paradefällen gebildet. Ebenfalls wurden besonders interessante Fälle ausgewählt, die den typischen Nachkriegsalltag gut charakterisieren (341) oder eher als Kuriositäten anzusehen sind. Anhand einer solchen Darstellung und den anschließenden statistischen Auswertungen soll dargelegt werden, mit welchen administrativen Mitteln versucht worden ist, den Problemen in der Nachkriegszeit Herr zu werden. Außerdem soll mit der Darstellung derartiger Fallgruppen versucht werden ein lebendiges Bild der Nachkriegskriminalität zu vermitteln.

Fallgruppen

Zwischenmenschliche Nachkriegsproblematiken
Die Abrechnung nach Änderung der Verhältnisse

Derartige Fälle wurden im Bagatellbereich kaum gefunden. Nachstehende Beispiele, die zu strafrechtlichen Konsequenzen führten sind wohl eher als Ausnahmen zu betrachten (342).

Im ersten Fall verprügelte ein italienischer Zwangsarbeiter seinen, während des Krieges angeblich schikanösen, Chef, der vor dem Krieg ständig ein NSDAP-Parteiabzeichen getragen haben soll. In der Anklageschrift (343) hieß es:

„Er stürzte sich sofort auf Z. und schlug ihn mit den Worten: ‘Zeig mal Deinen Bonbon (gemeint war das Parteiabzeichen, Anm. des Verfassers), Du Nazischwein, Du SS-Hund, Dir werden wir schon helfen’ (...) Als Z. sich wieder erhoben hatte, hielt der Beschuldigte einen russischen Kraftwagen, der zufällig vorüberkam, an und suchte die Insassen mit den Worten: Hier ist ein Nazischwein (344)“

Nach einer Überprüfung der Papiere in der sowjetischen Kommandantur wurde Z. jedoch später freigelassen.

Im Verfahren wurden gegenseitig eidesstattliche Erklärungen abgegeben, daß der Chef schikanös bzw. besonders nett zu seinen Arbeitern war und der NSDAP angehörte bzw. nicht angehörte. Im Abschlußbericht der kriminalpolizeilichen Ermittlungen hieß es:

„Der Glasermeister Z. als Anzeigender hat (...) niemals der NSDAP angehört, er hat auch niemals eine sympathische Einstellung für die Partei gezeigt oder gehabt. Weiter konnte festgestellt werden, daß Z. ein humaner Arbeitgeber war (...) Der Beschuldigte S. dagegen genießt einen äußerst schlechten Ruf. Als jähzornig, leicht erregbar und jederzeit zum Schlagen bereit, war und ist er in der hiesigen Gegend bekannt. Sein Privatleben läßt auch in anderer Hinsicht viel zu wünschen übrig. In Italien verheiratet, soll er mit der K. in Lichtenrade verlobt sein.“

Der Angeklagte entzog sich später schließlich der Gerichtsverhandlung durch Flucht in andere Zonen bzw. zwischenzeitlich nach Italien.

In einem weiteren Fall (345) wurde das Verfahren gegen den 33-jährigen Angeklagten eingestellt. Er hatte im August 1945 einen angeblichen Denunzianten des „Dritten Reichs“ verprügelt, den er getroffen hatte, als dieser 50 Leute zum Arbeitseinsatz suchte.

Im dritten Fall (346) wurden drei zwischen 26 und 60 Jahre alte Männer verurteilt, die am 25. Mai 1945 einen angeblichen SS-Mann dingfest machen wollten. Der Sachverhalt stellte sich laut Urteilsbegründung wie folgt dar:

„Der Anklage lag als Ermittlungsergebnis zu Grunde, daß der Angeklagte B. die Festnahme des SS-Mannes und angeblichen Gestapo-Agenten Peter N. veranlassen wollte. Er nahm sich hierzu die übrigen Angeklagten nach vorherigen Rücksprache und deren Einverständnis mit. Von der Russischen Kommandantur forderten sie Unterstützung an. Es wurden ihnen 4 russische Soldaten zugeteilt. Alle begaben sich hierauf zur Wohnung der Frau W. in der Esmarchstr. 21, einer Schwägerin des obengenannten N., die ihnen erklärte, daß N. in der Graunstr. arbeitet. Da N. dort nicht zu finden war, gingen sie wieder zu Frau W. zurück und stiegen mit Ausnahme des Angeklagten U. in die Wohnung der im Augenblick nicht anwesenden Frau W. durch ein Fenster ein, angeblich um nach N. zu suchen. Da N. nicht anzutreffen war, verließen sie die Wohnung, wobei nach Angabe der Angeklagten die russischen Soldaten größere Mengen von Wäsche, Stoff und Bekleidungsartikel mitgenommen hätten. Alle Beteiligten verabredeten, an demselben Abend nochmals zu einer Durchsuchung des Hauses zusammenzukommen. Die Durchsuchung geschah in Gegenwart von Frau W., N. wurde auch jetzt nicht gefunden. Von den russischen Soldaten wurden wiederum weitere Sachen aus dem Eigentum der Frau W. mitgenommen. Der Angeklagte B. soll sich dabei in der Form aktiv beteiligt haben, daß er sich selbst ein Paket Wäsche aneignete und für sich behielt. Als die Angeklagten sich von den Russen trennten, erhielt jeder von ihnen von einem deutschsprechenden russischen Soldaten einen Anteil von dem mitgenommenen Stoff, und zwar B. 15 mtr. Stoff und Kunstseide, Sch. ca. ¾ mtr. geblümten Stoff und einen Wecker, U. ca. 7½ mtr. rosa Stoff.

Während der Anwesenheit in der Wohnung der Frau W. soll B. diese, die weder der NSDAP noch einer Gliederung angehört haben will, durch die Worte ‘Nazischwein’, ‘Werwölfin’ u.a. beleidigt haben.“

B. forderte die russischen Soldaten dazu auf, Frau W. zu verhaften, was dann auch geschah. Allerdings wurde sie nach kurzer Zeit wieder frei gelassen. Zwei der drei Angeklagten wurden letztendlich lediglich zu einer Geldbuße von 300 RM wegen Sachhehlerei verurteilt. B. dagegen,

„der angeblich vor 1933 Mitglied der KPD gewesen sein soll, aber im Jahre 1940 angeblich unter Druck in die SA eingetreten ist“

wurde als Haupttäter wegen Sachhehlerei und Beleidigung zu zwölf Wochen Gefängnis verurteilt.

Wohnungseinweisung, Wohnungszuweisung

Oftmals gab es Probleme aufgrund des Wohnungsmangels und den daraus resultierenden Zwangseinweisungen, die durch Kontrollratsgesetz Nr. 18 vom 8. März 1946 ermöglicht wurden. Zwischen den ursprünglichen Mietern bzw. Eigentümern und den neu eingewiesenen Personen kam es häufig zu Streitigkeiten, die aktenkundig wurden. Ob es sich dabei um zwischenmenschliche Probleme, die vor Gericht ausgetragen wurden, handelte oder um ernsthafte Straftatbestände, läßt sich aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehen.

Zum Beispiel (347) wurde ein zwangseingewiesener Untermieter des Diebstahls beschuldigt und zu sieben Monaten Haft verurteilt. Eine andere eingewiesene Untermieterin, die des Diebstahls von Lebensmittelkarten angeklagt war, wurde freigesprochen (348). Ebenso erging es einem 39-jährigen Mann, der von seiner Vermieterin des Brieftaschendiebstahls bezichtigt wurde (349). In einem weiteren Fall wurde ein Mechaniker beschuldigt, Gegenstände aus einer Wohnung, in die er kurz vor Kriegsende eingewiesen worden war unterschlagen zu haben. Er gab in seiner polizeilichen Vernehmung an, daß er mit mehreren Frauen die Wohnung bewohnt hätte, die nach und nach auszogen und „vielleicht Gegenstände mitgenommen“ hätten. Im übrigen beschuldigte er russische und polnische Soldaten der Plünderung. Dem weiteren Verfahren entzog er sich allerdings durch Flucht (350).

In einem Fall wurde ein Mann im August 1947 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätze in Höhe von zehn Mark verurteilt, weil er sich weigerte seine Wohnung zur Einweisung wohnungsloser Menschen erfassen zu lassen. Dies war ein Verstoß gegen Art. VII des Kontrollratsgesetzes Nr. 18 und konnte gemäß Art. XIII mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 10 000 RM bestraft werden.

Der nicht mehr erwartete Kriegsheimkehrer

Es gab auch Fälle, bei denen das Mobiliar von Kriegsheimkehrern von Verwandten verkauft war und die Wohnungen anderweitig vermietet waren. Beispielsweise war in einem Fall (351) die Wohnung des Kriegsheimkehrers durch die Schwägerin vollkommen ausgeräumt und vermietet worden. Ferner war das Mobiliar verkauft. Die Schwägerin wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.

„Hungervergehen“
Allgemeines

Typischerweise waren viele Vergehen gerade am Anfang der Nachkriegszeit solche, die der Bekämpfung des Hungers galten. Insbesondere war der Hungerwinter (352) 1946/47, mit einer der schlimmsten Kältewellen (353) des Jahrhunderts, Auslöser für viele Vergehen. Es fehlten in Deutschland, wie überall in Europa, Lebensmittel und Kohle. Man war sich zur damaligen Zeit durchaus dieser immensen Problematik bewußt, da in den damaligen Fachzeitschriften unter anderem auch über den Hunger als schuldausschließenden Notstand diskutiert worden war. Nach der damaligen Rechtsprechung hätte allerdings eine unmittelbare Lebensgefahr drohen müssen, um von einem schuldausschließenden Notstand ausgehen zu können (354).

Es fehlte in den Akten auch nicht an die Hungerproblematik besonders illustrierenden Fällen. In einem Fall wurde beispielsweise ein 20-jähriger Kraftfahrer zu einem Monat Gefängnis verurteilt, der mit seinem minderjährigen Bruder 1946 ein streunendes russisches Pferd eingefangen und geschlachtet hatte. Das Verfahren gegen seinen Bruder wurde eingestellt (355). In einem anderen Fall wurde ein 72-jähriger Mann, der kurz nach Ende des Krieges aus einem Hühnerstall ein Huhn gestohlen und an Ort und Stelle geschlachtet hatte, zu drei Monaten Gefängnis wegen Einbruchdiebstahls verurteilt. Die Strafe konnte er allerdings aufgrund seines Ablebens nicht mehr antreten (356).

Gestohlen oder unterschlagen wurden vor allem Lebensmittel. Der Bezug von Lebensmitteln und anderen Gütern war auch nach der Besetzung Berlins nur mit offiziellen Bezugsmarken möglich. Aufgrund der strengen Rationierung herrschte bei der Bevölkerung ein großer Mangel an bezugsbeschränkten Produkten, was viele Berliner dazu verführte, die Bezugsbeschränkungen zu umgehen. Solche Handlungsweisen wurden teilweise als Betrug (§ 263 StGB), bei Fälschung von Bezugskarten auch als Urkundenfälschung (§ 267 StGB), hauptsächlich aber nach der Verbrauchsregelungsstrafverordnung (VRStVO) aus dem Jahre 1940 (357) geahndet. Häufig wurden auch Lebensmittelhändler bestraft, die gegen die Vorschriften Lebensmittel auch ohne Vorlage der Lebensmittelkarten herausgaben oder denen Lebensmittelkarten angeblich abhanden gekommen waren. Beides (zweiteres als fahrlässige Verletzung der Aufbewahrungspflicht) wurde nach der Verbrauchsregelungsstrafverordnung oder anderen Spezialgesetzen geahndet. In den ersten 2½ Jahren nach Kriegsende wurden immerhin zwischen 21,2% und 27,3% aller Verurteilten aufgrund einer wirtschaftsrechtlichen Verordnung angeklagt, darunter die weitaus meisten aufgrund der VRStVO und ab 1946 auch nach der neu eingeführten Marktordnung. Der Anteil der wegen Verstosses gegen die VRStVO Verurteilten an den Verbrechen und Vergehen insgesamt betrug 1945 immerhin 18,1%, 1946 waren es 16,4% und 1947 noch 10,0%. Der Rückgang ist auch mit der Einführung der Marktordnung zu erklären, da der Anteil der wegen Verstosses gegen die Marktordung Verurteilten 1946 7,8% und 1947 7,3% betrug.

An der Tagesordnung sollen (358) auch Einbruchsdiebstähle in Rathäusern, Lebensmittelkartenstellen und Wirtschaftsämtern gewesen sein, da dort Lebensmittelkarten oder Bezugsscheine und Formulare aller Art aufbewahrt wurden. Obwohl des öfteren derartige Fälle gefunden wurden (359), können mittels der ausgewerteten Akten keine statistischen Angaben gemacht werden, da der Ort eines Einbruchs nicht regelmäßig erfaßt wurde. Beispielsweise wurden zwei Mechaniker, die auf frischer Tat ertappt worden war, zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie im Februar 1946 versucht hatten in ein Lebensmittelgeschäft einzubrechen, indem sie ein Loch in die Außenwand des Ladens gestemmt hatten (360). In einem anderen Fall wurden vier Männer am 6. Januar 1948 vom Schnellgericht zu Gefängnisstrafen von vier bis acht Monaten verurteilt, weil sie in eine Konsumgenossenschaft eingebrochen, Zigaretten und Alkohol gestohlen und weiterverkauft hatten (361).

Wirtschaftsvergehen

Einflußnahme der Alliierten Kommandantur

Verstöße gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung (VRStVO) wurden von den Militärbehörden als schwerwiegende Vergehen eingestuft. Demgemäß versuchten sie, über den Kammergerichtspräsidenten (362) auf die Strafrichter Einfluß zu nehmen. Dies sieht man z.B. am Schreiben von Dr. Strucksberg vom 4. März 1946 an alle Strafrichter:

„1. Die Alliierte Kommandantur Berlin hat aufs schärfste gerügt, daß die Strafgerichte bei Verstößen gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung, durch die die Interessen der Allgemeinheit aufs engste berührt werden, sowie in Korruptionsfällen und bei ähnlichen Zuwiderhandlungen Strafen verhängen, die in überhaupt keinem Verhältnis zur Strafwürdigkeit der Tat stehen. Ich bringe dies auf Anordnung hiermit zur Kenntnis der Gerichte und weise meinerseits auf die überaus schwerwiegende Bedeutung dieser Stellungnahme der Kommandantur hin, der ich persönlich durchaus beitrete, ohne der Unabhängigkeit der Gerichte im Einzelfall irgendwie vorgreifen zu wollen. Wenn die Mahnung keinen alsbaldigen Erfolg haben soll, sind schärfste Maßnahmen der Alliierten Militärregierungen zu erwarten.

2. Herrn Chefpräsidenten des Landgerichts Berlin mit der Bitte um Kenntnisnahme und Bekanntgabe an sämtliche Strafrichter des Landgerichts und der Amtsgerichte. Ich bitte, von jedem Richter eine persönliche Quittungsleistung über den Empfang dieser Verfügung einzuziehen und diese Quittungsleistung sodann in Verwahr zu nehmen.“

Wobei der letzte Satz geradezu als Drohung aufgefaßt werden muß.

„Ich muß auf die persönliche Quittung der Richter Wert legen, damit, wenn sich in Zukunft Anstände ergeben sollten, niemand sich damit entschuldigen kann, daß er etwa keine Kenntnis von der Auffassung der Kommandantur gehabt habe“

Auch mit der nachfolgenden Anordnung der Alliierten Kommandantur (gezeichnet vom Vorsitzführenden Stabschef Oberstleutnant G.F. Reddaway) vom 21. Mai 1946 an den Kammergerichtspräsidenten sollte auf die Richter Einfluß genommen werden:

„1. Zur Zeit gehen der Bevölkerung in ganz Berlin durch Diebstahl, Nachlässigkeit oder durch illegalen Handel seitens der Deutschen viele Lebensmittel verloren.

2. Sie werden unverzüglich allen Richtern Anweisung geben, daß in Fällen, in denen Personen vom Gericht des Diebstahls, der unberechtigten Aneignung oder des ungesetzlichen Handelns mit Lebensmitteln für schuldig befunden werden, die zu verhängende Strafe von exemplarischer Härte sein müssen.“

Aus den aufgefundenen Akten läßt sich mangels einschlägiger Fälle nicht erkennen, daß diese Lenkungsmaßnahmen einschneidenden Erfolg gehabt hätten. Vergleicht man jedoch die insoweit vorhandenen Statistiken (363) dieser Jahre, erkennt man, daß 1947 bei einem Verstoß gegen die VRStVO immerhin 26,7% der verurteilten Erwachsenen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, während es 1946 nur 9,7% und 1945 gar nur 1,9% waren.

Beispiele

Nachfolgend einige typische Beispiele für Wirtschaftsvergehen:

Häufig kam es zu Verurteilungen von Kaufleuten, die die Aufgabe hatten, mit den wenig vorhandenen Lebensmitteln sorgsam umzugehen. Beispielsweise wurde eine Lebensmittelhändlerin zu 500 RM verurteilt. In der Anklageschrift hieß es (364):

„Die Angeklagte (...) wird angeklagt, zu Berlin im Bezirke des AG Berlin-Mitte vom Juli 1945 bis zum April 1947 als Kleinverteiler von Lebensmitteln es unterlassen zu haben, die bei der Warenabgabe angenommenen Bezugsausweise mindestens ebenso sicher aufzubewahren, wie ein ordentlicher Kaufmann Geld und Wertsachen aufzubewahren pflegt (...) so daß in ihrem Brotverkaufsgeschäft eine Fehlmenge von 234,140 kg Brot entstand. - Vergehen gegen die Anordnung des Oberbürgermeisters der Stadt Berlin, betreffend die sichere Aufbewahrung der Bezugsausweise und Waren bei Klein- und Grossverteilern sowie Herstellerbetrieben, vom 12. April 1943 (Amtsblatt der Stadt Berlin S. 162) in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 6 Verbrauchsregelungsstrafverordnung und mit der Verordnung über die öffentliche Bewirtschaftung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen (...)“

Ähnlich erging es einem Fleischermeister, der zu einer Geldstrafe von 1000 RM verurteilt wurde (365), da ihm bei einem Einbruch Lebensmittelmarken gestohlen wurden. Dies stellte ebenfalls einen Verstoß gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung dar, da er in fahrlässiger Weise die Lebensmittelmarken unbeaufsichtigt in einer Holzkiste in seinem Geschäft aufbewahrt hatte. Auch ein Bäckermeister wurde wegen eines Verstoßes gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung zu einer Geldstrafe von 3000 Mark verurteilt (366), da er 900 kg Mehl unterschlagen hatte. In der Urteilsbegründung hieß es:

„Der Inhaber einer Bäckerei ist in der gegenwärtigen Notzeit ein Treuhänder der Volksgesamtheit und muß gewissenhafte Verwaltung im Interesse der Volksernährung und damit der Volksexistenz ausführen.“

Härter wurden zwei ältere Schwestern bestraft (367). Sie führten ein Lebensmittelgeschäft und wurden zu je vier Monaten Gefängnis und 2000 Mark Geldstrafe verurteilt, da sie Restbestände an Lebensmitteln nicht den Besatzungsbehörden gemeldet hatten, um mit diesen Beständen die Verluste ausgleichen zu können, die beim Wiegen und Abpacken entstanden waren. Sie taten dies, da sie aufgrund von Gerüchten glaubten, daß die sowjetische Besatzungsmacht in Fällen des Fehlens der an Lebensmittelhändler ausgeteilten Lebensmittel rigorose Strafen verhängen würde. Auch hier klingt in der Urteilsbegründung die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung an. So hatte nach Ansicht des Richters, der Kaufmann auch hier „als Treuhänder der Gemeinschaft“ besondere Sorgfaltspflichten für die Lebensmittel. Zudem habe derjenige, der „in einer Zeit Lebensmittel verderben läßt, in der täglich Menschen an Hunger sterben, keinen Anspruch auf die Milde des Gerichts“, denn „Hunger, grausiger Hunger ist überall zu Gast“ gewesen.

Die letzten beiden Urteilsbegründungen entsprechen insoweit dem offiziellen Sprachgebrauch (368). Kaufleute als „Treuhänder der Gemeinschaft“ waren aufgrund ihrer besonderen Position besonders gefährdet, aufgrund eines Verstosses gegen diese Wirtschaftsnormen verurteilt zu werden (369). So wurde z.B. auch ein Abmelkwirt, der Milch mit zu geringem Fettgehalt verkauft hatte, wegen Verstoßes gegen die Erste Verordnung zur Ausführung des Milchgesetzes von 1931 mit drei Monaten Gefängnis bestraft (370). Im Urteil begründete der Richter die Strafzumessung mit den Worten:

„Bei der Strafzumessung war zu berücksichtigen, daß heute mehr denn je die wenig vorhandene Milch, die nur an die bedürftigsten Kleinkinder ausgeteilt wird, in bestmöglichen Zustand abgegeben werden muß.“

Wirtschaftsvergehen konnten allerdings auch von Nichtkaufleuten begangen werden, die versuchten, auf dem Schwarzmarkt aktiv zu werden. Eine Frau, die mit ihren redlich erworbenen Brötchen ein Geschäft machen wollte, wurde zu einer Geldstrafe von 25 Mark verurteilt (371). Ihre besondere Lage wurde dabei strafmildernd berücksichtigt. In den Urteilsgründen hieß es:

„Die Angeklagte ist überführt und geständig, am 12.11.48 in den Vorhallen des Stettiner Bahnhofs Schwarzhandel mit Schrippen getrieben zu haben, indem sie die von ihren Brotkarten erworbenen 100 schwarzen Schrippen dort gegen Bezahlung von 0,60 M zum Verkauf anbot, Vergehen gem. §§ 11,12 der Berliner Marktordnung. Die Angeklagte, die offenbar keine routinierte Schwarzhändlerin ist, gab unwiderlegbar an, sich zum ersten Male auf diese strafbare Weise betätigt zu haben, da ihr Kind krank war und sie nur ein geringes Einkommen hatte.“

Betrug

Viele Angeklagte, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen versucht hatten, an Lebensmittel zu gelangen, wurden wegen Betrugs verurteilt. So wurde eine Angeklagte zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt (372). Sie war Hauslistenführerin eines Mietshauses und hatte die Aufgabe, eine Liste mit Namen der Hausbewohner zu erstellen, an die dann Lebensmittelkarten ausgeteilt werden sollten. Da sie auch für die Verteilung der Lebensmittelkarten zuständig war, setzte sie nicht existierende Mieter auf die Liste und behielt die Karten für sich zurück. Eine andere Frau wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt (373). In den Urteilsgründen hieß es:

„Sie schädigte H. betrügerisch um 1000g Brotmarken sowie fünf DM unter dem Versprechen, ihm einen Mantel, einen Anzug, ein Hemd und ein Paar Strümpfe zu besorgen, die sie noch von ihrem verstorbenen Mann habe.“

In einem weiteren Fall wurden zwei Männer zu zwei bzw. vier Monaten Gefängnis verurteilt (374), weil sie auf dem Schwarzmarkt mit Geldbündeln zahlten, bei denen nur die äußeren Scheine echt waren.

Diebstahl von Nahrungsmitteln

Natürlich kam es in dieser Zeit auch oft zu Diebstählen von Nahrungsmitteln (375). Vom Kammergerichtspräsidenten (376) wurde die Ansicht vertreten, daß derartige Vergehen streng zu bestrafen waren. Er führte dazu aus:

„Neuerdings mehren sich die Klagen, daß in brutalster Weise Gärten geplündert werden. Außerdem nehmen die Lebensmitteldiebstähle in erschreckender Weise wieder zu. Angesichts dieses Tatbestandes und der Tatsache, daß immer noch zum Teil recht geringe Strafen für diese Delikte verhängt werden, weise ich sämtliche Strafgerichte nochmals auf den ausgesprochenen Willen der Alliierten Kommandantur hin, daß Lebensmitteldelikte und Delikte betreffend Produktionsgüter aufs schärfste zu bestrafen sind. Ich möchte unbedingt vermeiden, daß seitens der Alliierten Kommandantur gegen Richter eingeschritten wird, weil sie diesem mündlich und schriftlich ihnen gegenüber wiederholt und mit äußerster Bestimmtheit ausgesprochenen Willen der Alliierten Mächte nicht Rechnung tragen. Ich mache auch besonders darauf aufmerksam, daß die Berufungsinstanz besonders sorgfältig prüfen muß, ob in Wirklichkeit Anlaß besteht, die vom Erst-Richter verhängte Strafe zu mildern.“

Mitunter kam es auch zum Diebstahl von Kleinvieh aus „Nachbars Garten“; so wurden beispielsweise in zwei Fällen (377) drei Angeklagte vom Schnellgericht wegen schweren Diebstahls zu jeweils drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie vom Nachbarbalkon bzw. aus einem Stall Kaninchen gestohlen hatten.

Jedoch wurde von vielen Richtern auch nach obiger Verfügung den besonderen Umständen in der Strafzumessung Rechnung getragen und es kam zu erheblichen Strafmilderungen (378). So wurde ein Mann, der 2,5 kg Käse aus einem Güterwaggon gestohlen hatte, zu einer Woche Gefängnis verurteilt (379). In den Urteilsgründen hieß es:

„der Angeklagte, der schon mehrere Jahre bei der Bahn beschäftigt ist und sich bisher einwandfrei geführt hat, ist der Gelegenheit zum Opfer gefallen, als er andere Personen Diebstähle begehen sah, und ist der Versuchung, besonders seinen kranken Kindern eine zusätzliche hochwertige Kost zu verschaffen, erlegen.“

Ein weiterer männlicher Angeklagter wurde wegen Diebstahls von 15 Pfund Getreidekörnern zu einer Geldstrafe von 50 DM verurteilt (380). Begründet wurde dies wie folgt:

„Der Angeklagte ist überführt und geständig (...) Da der Angeklagte noch nicht vorbestraft war und sich in einer Notlage befand, er war erst kürzlich aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden, hat das Gericht ihm weitgehend mildernde Umstände zugebilligt (...).“

Einem 40-jährigen Tischler wurde strafmildernd zugestanden (381) „einer recht unglücklichen und törichten Einlassung des Augenblicks gefolgt zu sein“, trotzdem wurde er wegen zweifachen Diebstahls zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Diebstähle
Kohlediebstähle

Kohlediebstähle von Güterbahnhöfen waren „Kavaliersdelikte“ (382) und wurden auch noch 1948 weniger hart bestraft, was sich wohl auf die schlimmen Erfahrungen des vergangenen „Jahrhundertwinters“ (383) 1946/47 zurückführen läßt. Beispielsweise wurden zwei nicht vorbestrafte Männer, die 35 bzw. 50 kg Kohle gestohlen hatten, lediglich zu einer Geldbuße von 50 Mark bestraft (384).

In den Urteilsbegründungen kam dabei auch immer wieder ein gewisses Verständnis für die besondere Lage der Angeklagten zum Ausdruck. Bei einem Mann, der wegen Diebstahls von 40 kg Kohlen zu einer Geldstrafe von gar nur 70 Mark verurteilt wurde, hieß es (385):

„Der Angeklagte ist geständig und überführt, am 24.11.48 morgens etwa 40 kg. Kohlen von Hansen in Rummelsburg entwendet zu haben, Vergehen gegen § 242 StGB.

Der bisher unbestrafte Angeklagte war in einer Notlage, durch die er in seiner Verzweiflung zum Diebstahl griff. Sein Kind war krank infolge Ernährungsstörungen und der Angeklagte, der im Westsektor wohnt, aber im Ostsektor arbeitet, hatte nicht die Möglichkeit, gegen Westmark Medikamente für das Kind zu kaufen. Er bereut offensichtlich seine Tat, die unüberlegt war - er ging am hellen Morgen zum Stehlen!- und konnte daher milde bestraft werden.“

So wurde z.B. auch ein vorbestrafter Mann, der 14 kg Kohle gestohlen hatte, lediglich zu einer Geldbuße von 150 Mark bestraft. In den Urteilsgründen (386) hieß es:

„Jedoch war andererseits mildernd zu berücksichtigen, daß der Angeklagte, wie er unwiderlegbar und glaubhaft behauptet hat, gerade eine längere Krankheit durchgemacht hatte und in ihrer Folge besonders wärmebedürftig war“

Allerdings wurden Vorstrafen grundsätzlich (387) strafschärfend berücksichtigt. So wurde eine zweimal vorbestrafte Frau zu drei Monaten Gefängnis (Mindeststrafe) verurteilt, weil sie zehn kg Preßkohle gestohlen hatte (388) oder es wurde ein Mann wegen Diebstahls von 15 kg Briketts aufgrund seiner einschlägigen Vorstrafen zu einer Woche Gefängnis verurteilt, obwohl ihm eine Notlage zugebilligt wurde (389).

Diebstähle von Trümmergrundstücken

Vor allem in den ersten Monaten, die der Besetzung Berlins folgten, wurden viele Angeklagten verurteilt, weil sie sich auf Trümmergrundstücken oder in teilweise zerstörten Häusern befindliches, fremdes Eigentum angeeignet hatten. Beispielsweise wurde ein Angeklagter mit einer Woche Gefängnis bestraft (390). Er bewohnte ein teilweise zerstörtes Haus und verschaffte sich Zugang zur Nachbarwohnung, indem er eine, die beiden Wohnungen trennende, Notwand durchbrochen hatte um dort Möbel und Kleidungsstücke zu stehlen. In einem genauso gelagerten Fall, in dem ein Angeklagter lediglich die Notwand beiseite schieben mußte, wurde dieser zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafe wurde allerdings später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt und der Verurteilte dann amnestiert (391). Eine weitere Verurteilung zu Gefängnisstrafen (392) betraf eine Gruppe von Angeklagten, die gemeinsam ausgebombte Häuser „aus-räumten.“ Insgesamt wurden sie wegen 21 derartiger Delikte verurteilt.

Forstdiebstähle

Wie man anhand der Anordnung (393) der Amerikanischen Militärregierung vom 29. April 1947 ablesen kann, waren auch Feld- und Forstdiebstähle zur damaligen Zeit ein großes Problem, auf deren Aburteilung die Militärbehörden Einfluß zu nehmen suchten:

„1.) Die Erfahrung hat gezeigt, daß der ständig wachsenden Ziffer von Diebstählen in den Wäldern und der Entwendung von Holz im allgemeinen in beachtlichem Umfang dadurch entgegengewirkt werden kann, daß die richterliche Praxis ausnahmslos die benutzten Werkzeuge beschlagnahmt, d.h. also Äxte, Sägen, Seile usw. einschließlich der Transportmittel, die dazu benutzt wurden oder werden sollten, um die Beute wegzubringen (Schubkarren, Wagen und andere Fahrzeuge irgendwelcher Art).

2.) Die Einziehung solcher Gegenstände ist mit Art. 40 des deutschen Strafgesetzbuches vorgesehen. Die Anwendung dieser Vorschrift in den oben bezeichneten Sachen wird hierdurch für die deutschen Gerichte im Sektor Berlin der Vereinigten Staaten obligatorisch gemacht.“

Diese Anordnung zeigte jedoch wenig Erfolg, wie man an den Statistiken erkennt. Zwar wurden 1947 fast doppelt so viele Nebenstrafen verhängt wie im Jahre 1946, jedoch handelte es sich dabei hauptsächlich um den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte oder der Verurteilte wurde unter Polizeiaufsicht gestellt (394). In den Akten findet sich kein Fall, bei dem eine Einziehung nach einem Forstdiebstahl erfolgte, vielmehr wurde zumeist der Mehrerlös von Wirtschaftsvergehen eingezogen.

Stromdiebstähle

Nach einer Verfügung des Kammergerichtspräsidenten vom 25. April 1947 war das Amtsgericht Berlin-Mitte ab 1. Mai 1947 für die Aburteilung aller Stromdiebstähle im Bereich von Groß-Berlin zuständig (395). Deutsche Gerichte waren dazu befugt (396) gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 7, betreffend die Rationierung von Elektrizität und Gas (397), abzuurteilen. Die Verurteilung der Angeklagten erfolgte dann auch in den meisten Fällen aufgrund dieses Gesetzes oder nach dem Gesetz, betreffend die Entziehung elektrischer Arbeit vom 9. April 1900 (398).

Es ist anzunehmen, daß die starke Zunahme von Stromdiebstählen in den Nachkriegsjahren nicht nur mit Geldnot zu erklären ist. Diese Vergehen wurden wahrscheinlich hauptsächlich deshalb begangen, um den strengen Stromeinschränkungen zu entgehen (399). Nach Artikel III des Gesetzes Nr. 7 wurde schon für den Mehrverbrauch von 10% über der monatlichen Elektrizitätszuteilung eine Geldbuße von 100 RM erhoben. Bei betrügerischen Manipulationen konnte eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr ausgesprochen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstellten viele Menschen ihre Stromzähler. 1948 kam in Berlin sogar ein Gerät namens „Kleiner Gustav“ auf den Markt, mit dem sich der Stromdiebstahl unauffällig betreiben ließ. Es handelte sich dabei um einen Elektromagnet im Taschenformat, der an die Steckdose angeschlossen und auf den Zähler gelegt wurde. Sein Magnetfeld arbeitete gegen das Magnetfeld an, mit dem die Zählerdrehscheibe angetrieben wurde, woraufhin diese langsamer rotierte.

Die Sachverhalte der Aburteilungen waren meist dieselben: Die Angeklagten hatten sich in nicht erlaubter Weise an das Stromnetz der Elektrizitätswerke angeschlossen, um Heizlüfter in Betrieb zu nehmen und so ihre nur unzureichend beheizten Wohnungen zu heizen. Mitunter wurde als Motiv angegeben (400), daß nur dadurch dem Erfrierungstod entgangen werden konnte. Ausreichend Brennmaterial stand normalerweise nicht zur Verfügung und durch die Bombenschäden waren Fensterscheiben Mangelware.

Von den 38 in den Akten vorhandenen Fällen lautete das Urteil zu ca. je einem Drittel auf Freispruch, Geldstrafe oder Freiheitsstrafe. Die Freiheitsstrafe bewegte sich meistens im Rahmen eines Monats, die Geldstrafe bewegte sich normalerweise zwischen 300 und 500 Mark. Gegen diese, nach seiner Ansicht zu geringen, Geldstrafen wandte sich der Chefpräsident des LG Berlin Dr. Loewenthal am 25. April 1947 (401):

„Angesichts der beängstigenden Brennstofflage ist die gerechte Verteilung der elektrischen Energie von höchster wirtschaftlicher Bedeutung. Das ist eine auf der Hand liegende Tatsache, daß sich jede weitere Begründung hierzu erübrigt. Im Interesse der Durchführung einer gerechten Verteilung der nur in beschränktem Umfange zu Verfügung stehenden elektrischen Energie sind demgemäß auch für die Überschreitung der dem einzelnen Verbrauche zustehenden Energiemenge Geldbußen von besonders fühlbarer Härte festgesetzt worden. Demgemäß müssen die Strafen für verbrecherische Entziehung der Energie von empfindlicher Härte sein. Dem entsprechen Strafen von 3 Wochen bis 2 Monaten Gefängnis meiner Auffassung nach keineswegs. Auch bedeuten Geldstrafen von 200 RM bis 500 RM bei den heutigen Geldverhältnissen keine Vermögenseinbuße, die den Täter in fühlbarerem Maße trifft und ihn von weiteren Verstößen abhält.“

Dieser Appell des Chefpräsidenten verhallte bei den Richtern des Amtsgerichts Berlin-Mitte, zumindest was die Urteile in den vorhandenen Akten betrifft, ungehört. All diese Urteile erfolgten nach diesem Schreiben, dennoch bewegten sich die Strafe (bis auf eines) im oben beschriebenen Rahmen, soweit kein relativ häufig vorkommender Freispruch erfolgte. Im Juli 1948 wurde schließlich von allen Alliierten eine Amnestie für Überschreitungen der Gas- und Stromkontingente erlassen (402).

Sonstiges

In den Akten fanden sich auch einige kuriose Diebstahlsfälle. Stellvertretend dafür vier Beispiele:

Eine Gruppe von Angeklagten (fünf Männer und eine Frau) wurden am 3. April 1948 zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und drei Wochen verurteilt (403), da sie für schuldig befunden wurden, gemeinsam acht Meter lange Straßenbahnmasten abgesägt, zersägt und als Brennholz verheizt zu haben. Zu einem Monat Gefängnis wurde eine Frau verurteilt (404), weil sie „in der Landsberger Allee von einem Rosenstock eines Grabes eine Rose in rechtswidriger Zueignungsabsicht wegnahm.“ Sie war bereits vorbestraft und die Tat wurde als besonders verwerflich angesehen. Eine andere Frau, die ihren strafunmündigen Sohn erfolgreich dazu angestiftet hatte, beim Besuch der Schwägerin Lebensmittelkarten, Papiere und Bargeld zu stehlen, wurde letztendlich wegen Hehlerei zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt (405). Ein 51-jähriger Krankenpfleger wurde zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einer Leiche die Goldzähne gestohlen hatte (406).

Falsche Amtspersonen bzw. Hochstapeleien
Allgemeines

Amtsanmaßung und Betrug durch Beschlagnahme von Lebensmitteln durch falsche Amtspersonen waren wohl Alltag (407), was sich auch aus der Verlautbarung des Polizeipräsidenten Markgraf vom 26. Mai 1945 (408) schließen läßt:

„In den letzten Tagen versuchten verschiedene Elemente den Neuaufbau dadurch zu stören, daß sie sich das Recht anmaßten, selbständig und auf eigene Faust polizeiliche Haussuchungen und Sicherstellungen durchzuführen. Die Bevölkerung wird vor diesen Störern gewarnt und darauf hingewiesen, daß alle Maßnahmen der neuen Berliner Polizei, insbesondere Haussuchungen, nur auf Grund eines mit Dienstsiegel versehenen besonderen Schreibens vorgenommen werden dürfen. Die Bevölkerung wird gebeten, auf derartige, den Fortschritt hemmende Elemente zu achten, damit wir uns von ihnen reinigen können.“

Faßt man die in der Nachkriegszeit häufig miteinander korrespondierenden Normen Betrug, Urkundenfälschung und Amtsvergehen unter Berücksichtigung möglicher Dopplungen zusammen, so machen diese Delikte immerhin 16,9% aller Fälle aus, bei denen aufgrund einer StGB-Norm angeklagt wurde.

Grafik 3

Teilweise beriefen sich die später Verurteilten unter anderem darauf, daß ihnen genau dasselbe geschehen sei. In den Nachkriegswirren, mit dem vollständigen Wechsel der führenden Schichten, war es sehr einfach, sich fälschlicherweise als Amtsperson darzustellen. In der Bevölkerung herrschte äußerste Unsicherheit gegenüber den neuen Machthabern und niemand wußte, wer jetzt Angehöriger einer Behörde war und welche Befugnisse die Behörde nun hatte, da es im übrigen auch neue, unbekannte Legitimationspapiere gab. Außerdem ersetzte gerade in der ersten Zeit lediglich eine deutsch-russische Armbinde, die noch häufig fehlende Uniformen. Häufig mißbrauchten auch Amtsträger, meist Polizisten (die oft erst sehr kurz im Amt waren), ihre Amtsstellung, um Betrügereien zu begehen. Im Juni 1946 wurden alleine 16 Kriminalpolizeianwärter, wegen „leichtfertiger Beschlagnahme und leichtfertigen Umgangs mit fremden Eigentum“ ihres Amtes enthoben (409). Der Strom der Vertriebenen, der das allgemeine Durcheinander vergrößerte, und die Zonen- bzw. Sektorengrenzen, welche Nachprüfungen zum Vorleben der Bewerber erschwerten, machten es leicht, sich als Amtsträger, in betrügerische Absicht, zu bewerben (410). Vergleicht man alleine die Delinquenz wegen Betrugs oder Untreue, stellt man dennoch erstaunlicherweise fest, daß der Verurteiltenanteil (411) im Vergleich zu heute erheblich niedriger war, sich aber im Laufe der Zeit ungefähr auf den heutigen Stand einpendelte (412).

Grafik 4

Amtsanmaßung

Nachfolgend einige typische Fälle:

Drei Männer wurden zu Strafen von neun Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis wegen Amtsanmaßung und Diebstahls verurteilt (413), da sie als angebliche Kriminalbeamte Wohnungsdurchsuchungen anordneten und Wertsachen beschlagnahmten. Eine mißtrauische Bewohnerin, die die Sachen nur im Polizeipräsidium abgeben wollte, wurde von den Dreien dorthin begleitet, um sich auf dem Flur die Wertsachen übergeben zu lassen und anschließend zu flüchten.

Mit sechs, drei bzw. zwei Monaten Gefängnis wurden Betrüger bestraft (414), die Material beschlagnahmten. Erstere (zwei Täter) taten dies am Schwarzmarkt mit selbstgemalten Ausweisen auf grüner Pappe. Im zweiten Fall handelte es sich um einen ehemaligen Polizeischüler, der im Juni 1945 in die KPD eingetreten war und daraufhin für drei Monate tätig sein durfte, bevor ihm gekündigt wurde. Im dritten Fall wurden Bohnenkaffee, Zucker, Mehl, Lebensmittelkarten und Bargeld beschlagnahmt und der Angeklagte zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Ähnlich erging es drei Männern, die Sonderausweise gefälscht und damit Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen durchgeführt hatten. Zwei der Angeklagten wurden zu drei bzw. einem Monat Gefängnis verurteilt. Der jüngste Angeklagte kam auf Bewährung frei (415).

Insgesamt finden sich in den Akten 32 Fälle der Amtsanmaßung, das sind immerhin 38,1% der Anklagen aufgrund Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung. Auch wenn die Fallzahlen dieses Delikts im Vergleich zum Diebstahl sehr gering (416) sind und 1949 mit 121 Verurteilten die Höchstzahl erreicht wurde, kann man bei einem Vergleich dieses Tatbestands mit den anderen Verstößen wider die öffentliche Ordnung erkennen, daß mit Einzug der Normalität dieses Delikt bedeutungslos wurde. Eine erneute, kurzfristige Zunahme dieses Delikts war lediglich im Jahre 1949 in Westberlin zu verzeichnen, da mit Spaltung der Stadt anscheinend wiederum eine gewisse Unsicherheit bei der Bevölkerung vorhanden war.

Grafik 5

Betrug

Angeklagte aus der Fallgruppe „Hochstapelei“ wurden unter Umständen auch als Betrüger abgeurteilt. So wurde ein Malergehilfe im Dezember 1945 zu 200 Mark Geldstrafe wegen Betrugs verurteilt (417), weil er sich mittels eines gefälschten Ausweises, unter dem Vorwand, Mitarbeiter des „Sicherheitsdienstes“ zu sein, Zugang zu zwei Wohnungen erschlich und dort Gegenstände beschlagnahmte. Auch ein anderer Mann wurde am 23. November 1945 wegen Betrugs, allerdings zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt (418). Er war zur Ehefrau eines von den Sowjets Inhaftierten gegangen und behauptete, als „Kundschafter bei der KPD“ geschickt worden zu sein um ihr auszurichten, daß die Sowjets ihren Mann gegen die Zahlung von 1000 Mark und einer Flasche Schnaps freilassen würden, woraufhin die gutgläubige Ehefrau den verlangten Geldbetrag und die Flasche Schnaps herausgab. Die Strafe des Mannes wurde später auf dem Gnadenwege, mit der Begründung, das Strafmaß erscheine „angesichts der damals herrschenden Verhältnisse für sehr hoch“ in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.

Derartiges betrügerisches Verhalten konnte unter Umständen auch andere Konsequenzen haben, so bei einem 23 Jahre alten Autoschlosser, der sich einer Frau gegenüber als russischer Beauftragter ausgab und ihr Motorrad „beschlagnahmte“. Das Verfahren gegen ihn wurde später eingestellt und er dann amnestiert, da er von einer russischen Dienststelle verhaftet worden war und danach nicht mehr auftauchte (419).

Urkundenfälschung

Häufig wurden auch falsche Papiere verschafft, um sich mit „neuen“ Papieren eine neue Identität aufzubauen. Es wurden allerdings auch Lebensmittelkarten gefälscht oder falsche Ausweise hergestellt, um sich betrügerische Vorteile zu verschaffen. Zum Beispiel hatte sich ein Urkundenfälscher und Betrüger falsche Papiere verschafft, die ihn als Opfer des Faschismus darstellten, womit er letztendlich bei der Lebensmittelzuteilung bevorteilt wurde. Er wurde zu drei Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt (420). Im Urteil hieß es:

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739393254
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Justiz Gericht Berlin Nazi Kammergericht Bersarin Urteile Richter Viermächte Kriminalität Politik Geschichte Archäologie Ägyptologie

Autor

  • Ernst Reuß (Autor:in)

Ernst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin. Publikationsauswahl: Berliner Justizgeschichte, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern, Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, Mord? Totschlag? Oder was?, Sirius, Katzenkönig und Co.
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Titel: Berliner Justizgeschichte