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Kai Flammersfeld und die Transsylvanischen Schicksalskekse

von Hagen Röhrig (Autor:in)
136 Seiten
Reihe: Kai Flammersfeld, Band 1

Zusammenfassung

"Eine fesselnde, angenehm kurze Lektüre, die für alle unbedingt empfehlenswert ist!" Ute Spelda, ekz-Informationsdienst Der fast 12-jährige Kai spielt mit Freunden im Wald. Plötzlich findet er sich am alten Waldfriedhof wieder. Die Strahlen des Mondes, der groß und rund am dunkelblauen Abendhimmel steht, tauchen die Gräber in ein gespenstisches, fahles Licht. Da sieht Kai seltsame Gestalten, die aus einer Gruft kriechen. Vampire! Als sie Kai entdecken, beginnt eine wilde Verfolgungsjagd. Schließlich stellen sie ihn und Kai fällt in Ohnmacht. Als er wieder erwacht, ist nichts mehr so, wie es war ... Kai verändert sich immer mehr. Er schläft morgens länger. Er wird zunehmend blasser. Und er entwickelt einen seltsamen Appetit auf rohes, blutiges Fleisch. Kai beginnt, sich selbst in einen Untoten zu verwandeln! Als er die Vampire Gutta, Gerrith und Gangolf von Greifendorf kennenlernt, taucht er in die Welt der Vampire ein und erlebt dort sein erstes, gefährliches Abenteuer.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Sandra

Du hattest recht …

1

Räuber und Gendarm

„Und?“ Kai versuchte, in der Dämmerung etwas durch die Zweige hindurch zu erkennen.

„Nichts“, hauchte eine Stimme neben ihm. Sandra, seine allerbeste Freundin, strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus dem Gesicht. Seit einer halben Stunde saßen sie nun schon hinter diesem dichten Busch auf einer kleinen Anhöhe im Wald. Kai nannte diesen Platz sein „Spezialversteck“, denn von hier aus hatte man einen guten Überblick über die Umgebung und konnte sofort erkennen, wenn jemand im Anmarsch war. Deshalb benutzte er dieses geheime Versteck immer, wenn er mit seinen Freunden Räuber und Gendarm spielte, so wie heute, an Felix’ 12. Geburtstag, der glücklicherweise auch der erste Tag der Ferien war.

Räuber und Gendarm war sein Lieblingsspiel und er spielte es sehr oft mit seinen Freunden. Einige waren die Räuber, die sich im Wald verstecken mussten. Die anderen waren Polizisten, die Gendarmen. Sie versuchten die Räuber im Wald aufzustöbern und zu fangen. Das Aufregende für die Räuber war dabei, dass jeder gefangene Räuber zu einem Gendarm wurde und sich an der Jagd auf die Räuber beteiligen musste. So nahm die Zahl der Räuber stetig ab und die der Gendarmen zu. Irgendwann wurde es dann verdammt gefährlich für die übrig gebliebenen Räuber. Und das war der Moment des Spieles, den Kai so sehr mochte. Er schaffte es als Räuber immer wieder, bis zum Ende durchzuhalten und den Gendarmen zu entwischen.

„Die kriegen uns nie“, sagte er triumphierend und grinste Sandra breit an.

„Die Siegerprämie gehört uns!“

„Die Siegerprämie? Was denn für eine Siegerprämie?“, wollte Sandra wissen.

„Hast du das vorhin nicht mitbekommen? Die Räuber, die bis zum Schluss durchhalten, dürfen sich das große Marzipanbrot von Felix’ Geburtstagstorte teilen!“ Kai leckte sich die Lippen.

„Igitt!“, stöhnte Sandra. „Das kannst du für dich allein haben. Ich hasse Marzipan.“ Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Marzipantorte, die vorhin angeschnitten worden war.

Kai schaute sie mit leuchtenden Augen an: „Danke, das ist ja nett!“ Dann schob er einige Zweige beiseite und starrte in Richtung einer kleinen Gruppe von Tannen. Hatte sich da nicht eben etwas bewegt?

Sandra blickte zu den Baumwipfeln hoch. Direkt über ihr turnte ein Eichhörnchen über die Äste. Es sprang wild hin und her. „Ewig kann das Spiel ja nicht mehr gehen“, flüsterte sie, um das Eichhörnchen nicht zu verjagen. „Es dämmert ja schon.“

Kai nickte nur zustimmend und spähte weiterhin gebannt in den Wald.

Jetzt hatte sich das Eichhörnchen einen Tannenzapfen gekrallt und begann daran herumzuknabbern. Doch plötzlich schreckte es auf und blieb wie angewurzelt auf seinen Hinterpfoten sitzen. Dann machte es einen großen Satz und war im Geäst des nächsten Baumes verschwunden. Im gleichen Augenblick spürte Sandra Kais warme Hand auf ihrer Schulter.

„Pst!“, zischte er. „Dort unten sind Felix, Sven und Tobias!“ Sandra kroch näher an Kai heran und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Und tatsächlich! Am Fuß der Anhöhe stiefelten drei Gestalten durchs Unterholz. Zuerst erkannte sie nur Felix und Sven, aber dann sah sie auch den dicken Tobias. Er keuchte lustlos hinter den anderen beiden her.

Sandra und Kai grinsten einander verschwörerisch an. Ja, das war typisch Tobias! Alles, was mit Sport zu tun hatte, war ihm viel zu viel. Und den Wald nach Räubern zu durchkämmen und sie dann auch noch zu jagen, war ihm erst recht zu anstrengend. „So’n Stress!“, war sein Standardspruch, wenn es um Bewegung ging. Dafür allerdings war er in anderen Dingen ein Weltmeister. Letztes Schuljahr hatte er zum Beispiel für die Schultheatergruppe „Die faulen Ratten“ fast das gesamte Bühnenbild gebaut. Und in Deutsch war er sowieso Klassenbester.

„Wartet doch mal“, konnten sie ihn unten protestieren hören.

Plötzlich schreckten Kai und Sandra auf. Neben ihnen im Gebüsch hörten sie das Knacken von Ästen und im nächsten Augenblick sprang etwas mit wildem Geschrei vor ihnen aus dem Unterholz. Es war Frank. Mit tortenverschmiertem Gesicht stand er da, stierte Kai und Sandra an und brüllte den anderen zu: „Hier sind sie! Kommt her!“

Dann ging alles blitzschnell. Von unten kam lautes Stimmengewirr. Felix und Sven stürmten den Abhang herauf, Tobias lief etwas langsamer hinterher. „Lass sie nicht entkommen!“, riefen sie Frank zu. Doch noch ehe er sich Kai und Sandra in den Weg stellen konnte, waren sie aufgesprungen und rannten los. Dicht gefolgt von den anderen rasten sie in den Wald hinein.

„Wir sollten uns trennen“, keuchte Kai, nachdem sie schon eine ganze Weile gerannt waren, und wischte eine Mücke weg, die an seine Wange geklatscht war. „Ich renne nach rechts und du nach links, okay?“

„Gut“, prustete Sandra, die ganz überrascht war, dass sie trotz ihres mit Torte und Schokoeis gefüllten Bauches so gut rennen konnte. „Bis nachher dann.“ Sie bog nach links ab ins Unterholz. Kai konnte noch sehen, wie Felix und Sven hinter ihr herliefen. Dann bog er nach rechts ab. Er kam auf einen breiten Weg, der sich durch den dichten Wald schlängelte. Hinter sich hörte er deutlich das Keuchen von Frank und Tobias.

„Los, Tobias, beeil dich! Gleich haben wir ihn“, brüllte Frank.

Kai lief noch schneller. Nach einiger Zeit erreichte er eine alte, hölzerne Brücke, die über einen kleinen Bach führte. Hinter der Brücke gabelte sich der Weg. Rechts führte ein gut ausgebauter Wanderweg bergab und links ging ein schmaler, sehr steiler und verwahrloster Pfad einen Hügel hinauf. Für diesen Pfad entschied Kai sich und schlug einen Haken nach links, als er die Weggabelung erreichte.

Der Schweiß rann ihm über die Stirn und fiel in kleinen Tropfen von der Nasenspitze auf den weichen Waldboden. Höher und immer höher wand sich der Pfad den Hügel hinauf. Schließlich war Kai auf der Anhöhe angelangt und stolperte japsend auf eine Waldlichtung. Er lehnte sich gegen einen riesigen Felsen, der über und über mit Moos bewachsen war. Sein Haar war von Schweiß durchnässt und einige dicke Strähnen klebten an seiner Stirn. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust raste. In diesem Augenblick war es ihm völlig gleichgültig, ob Frank und Tobias ihn fangen würden oder nicht. Obwohl, ein bisschen ärgern würde es ihn schon. Schließlich hatte er so fest mit dem Marzipanbrot gerechnet. Und überhaupt hatte ihn Frank noch nie bei einem ihrer Räuber-und-Gendarm-Spiele fangen können. Von Tobias einmal ganz zu schweigen. Und nun sollte es ausgerechnet heute, bei Felix’ Geburtstagsparty und am ersten Tag der Osterferien, das erste Mal sein? Aber dieser steile Weg hatte ihn völlig geschafft und er schwor sich, nie wieder einen Fuß darauf zu setzen. Kai erwartete, dass seine Verfolger ihn einholen würden. Doch nichts geschah. Kein Frank. Kein Tobias. Nur ein Vogel flatterte aufgeregt zwischen den alten, knorrigen Bäumen umher und Kai fuhr kreidebleich zusammen, als dieser unvermittelt in lautes Gekrächze ausbrach.

„Blödes Ding“, zischte er und sah dem Vogel nach, wie er in den Baumkronen verschwand. Kai schaute sich verwundert um. Frank und Tobias würden ihm doch niemals die Gelegenheit geben, zu verschnaufen. Oder? Er lugte vorsichtig um den Felsen. Aber auch da waren die beiden nicht.

Seltsam, dachte Kai. Als Gendarm hätte ich aber nicht so schnell aufgegeben. Er ließ den Felsen hinter sich und ging ein paar Schritte. Er war allein hier oben, so viel war sicher. Über ihm schien bereits, groß und hell, der Vollmond und durch die Bäume hindurch konnte Kai das dunkle Blau des Abendhimmels erkennen. Es war wohl besser, jetzt umzukehren.

Kai hoffte inständig, dass das Marzipanbrot solange überleben würde, bis er zurück bei der Party war. Gerade wollte er den kleinen Pfad wieder hinuntergehen, da kam ihm eine Idee. Warum sollte er nicht an dem großen Felsen vorbei in die andere Richtung gehen? Dort ging es ein kurzes Stück abwärts durch dichten Wald und schließlich kam man auf einen recht breiten Weg, der an einer Wiese endete – direkt bei Felix’ Haus. Im Grunde hielt er das für eine sehr gute Idee. Sie hatte nur einen Haken: den alten Friedhof.

2

Der alte Friedhof

Nicht dass er ein Angsthase gewesen wäre. Nein, das ganz bestimmt nicht. Er war auch schon einige Male bei dem alten Friedhof gewesen. Aber immer nur tagsüber. Und gestern hatte er noch spät abends einen Gruselfilm im Fernsehen gesehen. Darin hatte sich ein Monster auf einem Friedhof eingenistet, von wo aus es immer wieder eine kleine Stadt heimsuchte. Fast alle Einwohner des Städtchens waren Opfer des Monsters geworden, das seine Gestalt beliebig ändern konnte. Am schlimmsten hatte es ausgesehen, als es den alten Bauern in seiner Scheune ...

Aber nein, er durfte nicht weiter an diesen Film denken. Es lief ihm schon kalt den Rücken hinunter. Kai marschierte los. Mondstrahlen tanzten auf den Blättern und Nadelspitzen, durchzogen den Wald wie ein bleicher Schleier und ließen die Bäume gespenstisch matt schimmern. Als Kai die Lichtung überquert hatte, zwängte er sich durch dichtes Gestrüpp, das nach einigen Metern einer anderen, viel größeren Waldlichtung Platz machte, in deren Mitte, in silbriges Mondlicht getaucht, der alte Friedhof lag.

Ein Schauder durchzog ihn beim Anblick der verfallenen Gräber, zwischen denen langsam dünne Nebelschwaden aus dem feuchten Gras aufstiegen. Aus dem Meer durcheinander liegender Grabsteine und Marmorplatten ragten großzügig angelegte Grüfte hervor, von denen viele mit Blumen aus Marmor und rätselhaften Gesichtern aus Stein verziert waren. Wo immer es möglich war, hatten sich Gras und Moos eingenistet und überzogen den alten Friedhof wie ein grüner, weicher Teppich. In der Mitte des Friedhofes konnte Kai große Steinkreuze erkennen. An einigen kroch Efeu empor, andere waren schon ganz und gar von ihm verschlungen und wieder andere zeigten ihren nackten Marmor, der gespenstisch im Dämmerlicht schimmerte. Ein paar Meter von Kai entfernt thronten auf den Spitzen einiger großer Säulen weinende Engelsfiguren, die mit weit ausgebreiteten Flügeln die Toten betrauerten. Rechts von ihnen, gleich hinter dem verrosteten Eisenzaun, der den ganzen Friedhof umgab, lag eine große, halb verfallene Gruft. An jeder ihrer vier Ecken hingen drachenartige Wasserspeier, deren Schatten im fahlen Mondlicht so verzerrt wurden, dass es den Anschein hatte, als streckten teuflische Wesen mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern ihre gierigen Krallen nach Kai aus, um ihn zu packen. Das Bild des Monsters aus dem Film schoss ihm wieder durch den Kopf. Und das vor Grauen entstellte Gesicht des Bauern, als das Ungeheuer ihn in seiner Scheune auf dem Heuboden ...

„Nein, nicht daran denken! An alles, bloß jetzt nicht daran denken!“

Friedhof

Kai beschleunigte seine Schritte. Der Weg ging ein Stück dem Friedhof entgegen und führte dann rechts um ihn herum, wobei er für Kais Geschmack jedoch gefährlich nah an den Gräbern vorbeiführte.

„Nicht hinsehen! Nur schnell an den Toten vorbei!“

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend lief Kai auf den Eisenzaun zu. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Sein Blick war fest auf die Eisenstäbe des Zaunes gerichtet. Wäre er doch nur nicht auf die Idee mit der Abkürzung über den alten Friedhof gekommen! Er verfluchte den Augenblick, in dem ihm dieser Gedanke gekommen war.

Dann blieb er auf einmal wie angewurzelt stehen. Was war das für ein Geräusch? Kai hielt den Atem an. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Seine Schläfen pochten so stark, dass sie schmerzten. Ganz langsam, als könnte ihn auch nur die kleinste Bewegung verraten, drehte er sich um. Er hatte es deutlich gehört ... Sein Blick wanderte über den Friedhof und tastete jedes Grab ab, jede Erhebung und noch die kleinste Spalte. Doch er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Bewegungslos stand er vor dem Eisenzaun. Sein Herz raste.

Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm.

Alles um ihn herum war still. Totenstill.

Und dann hörte er es wieder. Dumpf und knirschend.

Kchrrrrrrrr!

Kai schnürte es die Kehle zu.

Kchrrrrr!

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Kchrrrrrrr!

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er konnte nicht hier stehen bleiben. Irgendjemand musste dieses Geräusch verursachen. Und dieser Jemand würde ihn sofort sehen, wenn er hier vor dem Friedhofszaun stand. Kai blickte sich um. Ein paar Meter von ihm entfernt sah er eine kleine Gruppe von Tannen. Auf Zehenspitzen schlich er zu den Bäumen hinüber. Hinter der dicksten Tanne blieb er stehen, und obwohl er sich eigentlich immer noch nicht sicherer fühlte, überkam ihn doch ein wenig Erleichterung. Er schob einige Zweige auseinander und spähte zum Friedhof hinüber. Sofort presste er sich dicht an den Stamm der Tanne.

An der Gruft mit den Wasserspeiern stand plötzlich eine hagere, hochgewachsene Gestalt! Sie trug einen schwarzen Umhang, der ganz ausgefranst war und fast bis zum Boden herabhing. Das pechschwarze Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Die Gestalt hatte Kai den Rücken zugewandt, stand regungslos neben der Gruft und schaute zum Vollmond hinauf. Kai wagte kaum zu atmen. In der Stille des Waldes schien jeder Atemzug so laut wie ein Schrei. Dann streckte sich plötzlich ein knöcherner Arm aus der Gruft. Die langen Finger tasteten nach der Grabplatte und schoben sie zitternd beiseite – Kchrrrrr! – , bis sie mit einem dumpfen Schlag zu Boden fiel. Kai schluckte. Am liebsten wäre er davongerannt, doch er verharrte starr vor Angst in seinem Versteck hinter der Tanne.

Dem Arm folgte ein Kopf und schließlich entstieg der Gruft lautlos eine zweite Gestalt. Schwungvoll warf sie ihren schwarzen Umhang über die Schultern und zupfte sich mit ihren dürren Fingern die strubbeligen, pechschwarzen Haare zurecht. Mit leichtem Schritt gesellte sie sich zu der anderen Gestalt. Die beiden standen still und schweigsam nebeneinander wie die marmornen Engelsfiguren auf den großen Säulen und schauten zum Mond empor. Die Nebelschwaden umspielten ihre Füße und bald hatten die feinen, weißen Schleier ihre Beine verschluckt, sodass es aussah, als schwebten sie über dem Boden.

Der Nebel kroch langsam über den Friedhof, zwängte sich durch den Eisenzaun und bewegte sich in Richtung Kais Versteck. Zu Kais Angst gesellte sich nun Neugier. Er hätte gern gewusst, wer diese Gestalten waren und was sie hier auf dem Friedhof zu suchen hatten. Kai zuckte zusammen als hinter der Gruft eine zierliche, ebenfalls vollständig in Schwarz gekleidete Gestalt hervorkam und zu den anderen beiden hinüberstürmte.

Das wirre schwarze Haar flog ihr wild um den Kopf und ihre kleinen Füße wirbelten die Nebelschwaden durcheinander. Kurz darauf drang aufgeregtes Stimmengewirr von der Gruft herüber. Kais Gedanken überschlugen sich. Was, wenn die kleine Gestalt ihn hinter seiner Tanne entdeckt hatte? Wer so aussah, konnte nicht freundlich sein, oder? Er allein hätte jedenfalls sicher keine Chance gegen sie ...

Kai schüttelte sich. Er dachte an die langen Finger, die sich eben aus der Gruft herausgetastet hatten, und er stellte sich vor, wie sie immer näher kamen ... immer näher an seinen Hals ... wie scharfe Fingernägel seine Haut berührten und sich in sein Fleisch schnitten ... wie die Hände seinen Hals umfassten ... und schließlich fest zudrückten ... Nein, er durfte nicht an so etwas denken!

„Himbeereis ... Schokokuchen ... das Marzipanbrot von Felix’ Ge- burtstagstorte ... Ja, das war schon besser. Vanillekekse ... Gummi- bärchen ... mmmhh! Mohrenköpfe ... weiße Schokolade ... Lakritzstangen ... der Apfelstrudel von Sandras Mutter ... Schokoladen-Fin- ger ... Finger! Scharfe Nägel, die in sein Fleisch schnitten ... O nein!“

Da waren sie wieder, diese scheußlichen Bilder! Und genau in diesem Augenblick knallte etwas gegen Kais Kopf. Er spürte einen stechenden Schmerz, als bohrten sich Krallen in seine Kopfhaut. Es zog und zerrte an seinen Haaren. Irgendetwas schlug ihm immer wieder ins Gesicht und Kais Schreie zerrissen die abendliche Stille. Er schlug wild um sich und hörte nicht, dass jemand „Gundula, Gundula!“ rief. Er bekam etwas zu fassen, was sich wie Leder anfühlte, packte zu und zog so fest er konnte. Doch je mehr er zog, desto stärker schien sich das Ding auf seinem Kopf festzukrallen.

Die Schmerzen waren unerträglich. Kai schrie, packte noch fester zu und mit einem letzten heftigen Ruck riss er das Ding aus seinen Haaren. In seiner Hand flatterte – eine Fledermaus. Sie stieß schrille Laute aus und versuchte, ihren rechten Flügel frei zu bekommen. Doch Kai hielt ihn fest. In ihren Krallen bemerkte er ein Büschel seiner Haare. Plötzlich jedoch ließ die Fledermaus es los, umklammerte stattdessen seine Hand und schlug ihre scharfen Zähne in den Daumen. Kai brüllte auf vor Schmerz. Er schüttelte das Tier von der Hand, sodass es in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt wurde und es gerade noch rechtzeitig schaffte, seine Flügel auszubreiten, bevor es gegen den nächsten Baum klatschte. Im Zickzackkurs flatterte die Fledermaus davon. Kai befühlte die Stelle auf seinem Kopf, an der ihm das Biest das Büschel Haare herausgerissen hatte. Sie tat höllisch weh.

„Wen haben wir denn da?“

Kai zuckte zusammen. Die Gestalten mussten seinen Schrei gehört haben. Er hatte sich selbst verraten! Vorsichtig spähte er zur Gruft hinüber. Die größere Gestalt war etwas nähergekommen und stand nun am Eisenzaun. Ihr Blick war starr auf die Gruppe von Tannen gerichtet, hinter der Kais Versteck lag. Sie streckte einen Arm aus und deutete mit ihrem langen, dürren Zeigefinger auf Kai.

„Ja, dich meine ich“, schnarrte sie mit einer Grabesstimme, die aus den tiefsten Tiefen der Erde zu kommen schien. „Ungebetener Besuch zu so früher Stunde!“ Sie lachte ein dunkles, raues Lachen.

Kai schnürte es die Kehle zu. Sein Herz pochte so heftig, dass er das Gefühl hatte, es müsste gleich zerspringen.

„Willst du nicht ein wenig zu uns herüberkommen?“ Etwas Unheimliches lag in dieser tiefen Stimme. Eine der anderen beiden Gestalten lief aufgeregt um die Gruft herum und sprang hin und her. Sie murmelte etwas vor sich hin, was Kai nicht verstehen konnte, und begann zu lachen. Erst lachte sie leise, doch dann wurde ihr Lachen immer lauter, bis es sich schließlich in ein heiseres Fauchen verwandelte, das gar nicht recht zu dem kleinen Körper passen wollte. Die Gestalt sprang auf das Grabmal, legte den Kopf in den Nacken und fauchte den Vollmond an.

Chrrrrra! Chrrrrra!

Und immer wieder:

Chrrrrra! Chrrrrra!

So etwas Schreckliches hatte Kai noch nie gehört. Die röchelnden, zischenden Laute brannten sich in sein Gehör und hallten in seinem Kopf wider. Er presste beide Hände fest gegen die Ohren. „Weg hier! Nur weg!“, rief eine Stimme in ihm und so schnell er konnte, brach er hinter den Tannen hervor und raste in den Wald hinein. Er wühlte sich durch das dichte Gestrüpp, stolperte immer wieder über Baumstümpfe und sprang über dornige Sträucher. Fast hätte er dabei einen kleinen Tümpel übersehen.

Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass Kai kaum noch etwas erkennen konnte. Das Licht des Vollmonds schaffte es nur mit Mühe, sich durch das dichte Blätterdach der Bäume zu kämpfen. Von einer Böschung sprang Kai auf den breiten Weg, der zur Wiese bei Felix’ Haus führte. Plötzlich peitschte ihm ein dünner Zweig ins Gesicht. Sofort begann es an seiner rechten Augenbraue teuflisch zu schmerzen und sein Auge fing an zu tränen. Trotzdem rannte er weiter der Wiese entgegen, so schnell er nur konnte,

Gleich ... gleich war er da. Er konnte durch die Bäume bereits die Lichter von Felix’ Straße sehen. Schon verließ er den Wald und rannte nun durch tiefes Gras. Schließlich hielt Kai inne und verschnaufte. Er hatte es geschafft, er war aus dem Wald heraus, weit weg vom Friedhof. Und er schwor sich, nie wieder dorthin zurückzukehren, was immer auch geschehen mochte.

Die Verletzung schmerzte immer noch sehr. Er hob eine Hand und wischte sich Tränen ab. Doch spürte er außer den Tränen noch eine andere Flüssigkeit, dicker und wärmer. Blut! Kai blickte auf die dunkle Flüssigkeit an seiner Hand. Er befühlte die rechte Gesichtshälfte und ertastete an der Augenbraue eine kleine Wunde, die von dem Zweig stammte.

„Na super“, murmelte Kai. Er wischte das Blut an einem großen Blatt ab. Dann atmete er tief durch. Seine Beine zitterten noch etwas, als er den Weg über das feuchte Gras fortsetzte. Das erste Licht aus Felix` Straße blinkte ihm bereits freundlich entgegen. Gleich war er wieder auf der Party und dort würde er eine Menge zu erzählen haben. Die Frage war nur, ob die anderen ihm seine Geschichte überhaupt glauben würden ...

„Einen wunderschönen guten Abend!“, schnarrte da auf einmal eine heisere Stimme neben ihm. Kai fuhr erschrocken herum und blickte in das kreidebleiche Gesicht der größeren Gestalt vom Friedhof. Blutunterlaufene Augen funkelten ihn an. „Es ist nicht gerade sehr höflich, einfach davonzulaufen, oder?“, stellte die Gestalt mit finsterer Stimme fest und schnalzte dabei mit der Zunge. Kai hörte heiseres Gelächter hinter sich. Er wirbelte herum. Dort stand eine der anderen Gestalten vom Friedhof und zupfte belustigt an einer Haarsträhne herum.

„Bist du taub oder was?“, fauchte ihn der Hagere an und packte ihn so fest an der Schulter, dass es schmerzte. „Du könntest dich ja wenigstens für dein schlechtes Benehmen entschuldigen!“ Wieder ertönte das schreckliche Kichern.

„I... I... Ich ...“ Kai taumelte. Ihm wurde schlecht und alles um ihn herum begann sich zu drehen, schneller und immer schneller, wie in einem bösen Traum.

„Dir hat es wohl die Sprache verschlagen, wie?“ Die Gestalt schob ihr bleiches Gesicht ganz nah an Kai heran und er sah die zuckenden Bewegungen des Mundes, als sie mit ihm sprach. Ein fürchterlich fauliger Geruch drang aus ihrem Rachen. Dann verzog sie ihren Mund zu einem hämischen Grinsen.

Kai brach der Angstschweiß aus, er rann über seine kleine Wunde, vermischte sich mit dem dunklen Blut und lief als kleines Rinnsal die Wange herunter. Er zitterte am ganzen Leib und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die beiden schwarzen Gestalten. Ein ekelhaft stechender Geruch ging von ihnen aus, ein Geruch nach Moder und Fäulnis, als wucherten stinkende, schleimige Pilze auf ihnen. Der beißende Gestank schnürte ihm die Kehle zu. Er glaubte, gleich ohnmächtig zu werden und schnappte nach frischer Luft.

„Er gehört dir“, sagte die größere Gestalt und drehte Kai mit einem Ruck um.

„Was wolltest du überhaupt bei uns?“, donnerte die kleinere Gestalt und betrachtete die Blutspuren an Kais Wange. Ihre Augen bekamen dabei urplötzlich einen fiebrigen Glanz und weiteten sich. Die Gestalt öffnete den Mund und leckte sich gierig über die Lippen. Dabei sah Kai zwei messerscharfe Eckzähne im bleichen Vollmondlicht aufblitzen. Entsetzt starrte er auf den grässlichen Mund und die langen Zähne, die immer näher kamen. Er hörte noch das schrille Kreischen der anderen Gestalt und seinen eigenen verzweifelten Schrei, dann wurde es schwarz um ihn ...

3

Der kleine Fleck

„Da bist du ja endlich! Wo warst du denn die ganze Zeit? Wir wollten gerade losgehen und dich suchen“, sagte Felix’ Mutter und versuchte erst gar nicht, den Unmut in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Na ja, nun komm erst mal rein.“ Sie wich einen Schritt beiseite und Kai trat in den geräumigen Flur. Ihm war elend zumute. Er fühlte sich schlapp und kraftlos.

Plötzlich packte sie ihn fest am Arm.

„Was ist das denn?“, rief sie erschrocken und deutete auf Kais rechte Wange.

„I... I... Ich bin ...“ Doch weiter kam Kai nicht.

„Hast du eine Rauferei gehabt?“ Sie musterte ihn scharf. „Kai Flammersfeld! Sag mir die Wahrheit! Mit wem hast du dich geprügelt?“ Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, befeuchtete es mit ihrer Zunge, und noch bevor Kai zurückweichen konnte, wischte sie damit das angetrocknete Blut ab. Kai wandte sich angewidert ab.

„Aber Frau Schlinghahn, ich habe ...“ Wieder wurde er unterbrochen.

„Mein Gott, Junge, du bist ja ganz blass!“ Der erboste Ton war aus ihrer Stimme verschwunden. „Ist dir schlecht?“, fragte sie mitfühlend und musterte ihn besorgt.

„Nein, nein“, log Kai und sah eine Chance, Frau Schlinghahn zu entkommen und endlich zu Felix’ Zimmer vorzudringen. „Ich bin nur etwas müde. Ich setze mich lieber mal ein wenig zu den anderen.“ Er versuchte, an Felix` Mutter vorbeizukommen.

„Moment noch, junger Mann!“, rief sie und baute sich breit vor ihm auf. „Zuerst wüsste ich noch gern, wo du die ganze Zeit über gesteckt hast. Schließlich ist es jetzt halb neun, die anderen waren schon um halb acht da, wie ausgemacht!“ Die letzten Worte betonte sie besonders stark.

Halb neun! Kai zuckte zusammen. War er wirklich so lange weg gewesen? Er schaute auf seine Armbanduhr. Und tatsächlich – es war schon halb neun.

„Nun?“ Ungeduldig tippte sie mit ihrem linken Fuß auf den Boden. „Ich warte!“ Was sollte Kai ihr nur erzählen? Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich an fast nichts mehr von dem erinnern, was in den letzten Stunden geschehen war.

Er war eben auf der Wiese vor Felix’ Haus aufgewacht. Aber warum er dort im Gras gelegen hatte, wusste er nicht. An Augenbraue und Hals tat es ihm weh, aber auch dafür hatte er keine Erklärung. Einzelne Bilder schossen ihm noch durch den Kopf. Der alte Friedhof, die halbverfallene Gruft mit den Wasserspeiern, und dann waren da noch diese seltsamen schwarzen Gestalten gewesen. Bei dem Gedanken an sie überkam Kai ein beklemmendes Gefühl. Er wusste nicht mal mehr genau, wie sie ausgesehen hatten. Er sah nur Bilder von schwarzen Umhängen und blasser Haut vor sich. Aber irgendwie war er sich sicher, dass diese Gestalten nichts Gutes bedeuteten ... Ihn fröstelte.

Frau Schlinghahn beugte sich zu ihm herab. Doch als Kai ihr großes, rundes Gesicht so dicht vor sich sah, schrie er auf. Ihre helle Haut, dieser riesige Mund! Sie sprach irgendetwas, was klang wie „Du kommst erst an mir vorbei, wenn ich weiß, was du die ganze Zeit getrieben hast.“ Aber er konnte den Sinn ihrer Worte nicht verstehen. Er konnte nur auf ihren Mund starren, sah nur diese roten Lippen, die irgendwelche Laute formten und zu zucken schienen ... Er wich zurück.

„Jaja ... ist ja schon gut!“ Beleidigt drehte Frau Schlinghahn sich um. „Wenn du nicht willst, dann lass es eben. Aber ich werde deiner Mutter Bescheid sagen, darauf kannst du dich verlassen!“ Sie ging zum anderen Ende des Flurs und verschwand in der Küche. „Die anderen spielen noch Monopoly in Felix’ Zimmer. Aber um neun ist Schluss!“, donnerte sie und mit einem lauten Knall fiel die Küchentür ins Schloss.

Tobias hatte gerade ein Haus auf der „Parkstraße“ gebaut, als Kai ins Zimmer trat.

„Mann, da bist du ja endlich!“ Felix sprang vom Boden auf und ging auf Kai zu. „Du bist aber spät dran. Wir haben dir dein Marzipanbrot aufgehoben. Lust auf Monopoly?“

„Nein, ich muss mich erst mal setzen.“ Kai ließ sich auf das Bett fallen.

„Was war denn los?“, fragte Sven, der gerade sein Spielgeld zählte.

„Wir dachten schon, du wärst verschollen.“ Kai überhörte diese Frage. „Wo ist denn Sandra?“ Er musste ihr unbedingt von seinem seltsamen Erlebnis erzählen.

„Die wurde schon vor einer halben Stunde abgeholt“, sagte Frank, nahm einen großen Schluck Cola und grinste Kai breit an.

„Is was?“

Frank schenkte sich nach und säuselte: „Wohl heimlich mit deinem Schwarm getroffen, was?“ Er deutete auf Kais Hals. Die anderen rutschten neugierig näher und betrachteten die Stelle, auf die Frank zeigte. Tobias brach in schallendes Gelächter aus.

„Was soll das denn jetzt?“ Das dumme Gekicher war wirklich das Letzte, was Kai im Moment brauchen konnte.

„Geh mal ins Bad und schau in den Spiegel“, prustete Felix und hielt sich den Bauch vor Lachen. Beleidigt stapfte Kai aus dem Zimmer. Im Flur blieb er kurz stehen und blickte sich um. Er wollte auf gar keinen Fall Frau Schlinghahn begegnen. Sie war bestimmt noch wütend auf ihn und würde sicherlich wieder anfangen, Fragen zu stellen. Er huschte ins Bad und drehte sicherheitshalber zweimal den Schlüssel im Schloss herum.

Dann schaute Kai in den großen Wandspiegel – und erschrak fürchterlich! Auf der rechten Seite seines Halses befand sich eine Stelle, an der die Haut etwas angeschwollen und dunkelrot angelaufen war. Er ging näher an den Spiegel heran. Auf der Schwellung prangten zwei kleine rote Punkte. Er ging noch näher an den Spiegel und betrachtete sie genauer. Nein, es waren keine Punkte, es waren Löcher. Richtige Löcher! Vorsichtig betastete Kai die Einstiche mit seinem Zeigefinger. „Aua!“, entfuhr es ihm und er zuckte zurück. Eine böse Vorahnung befiel ihn. Diese Stiche mussten etwas mit seinem Friedhofserlebnis zu tun haben. Sollte ihn etwa ... nein, das konnte nicht sein. Oder hatte ihn die Fledermaus nicht nur in den Daumen, sondern auch in den Hals gebissen?

„Kai?“

Stumm starrte er auf die kleinen Löcher. Sie bargen ein unheilvolles Geheimnis, das fühlte er. Welches das war, konnte er sich noch nicht erklären. Aber ein scheußliches Gefühl machte sich in ihm breit. Irgendwie ahnte er, dass die Sache mit dem Friedhof und den dunklen Gestalten noch nicht zu Ende war.

„Kai? Bist du da drin?“

Die Stimme von Frau Schlinghahn riss ihn aus seinen Gedanken.

„Es ist gleich neun. Ich fahr euch jetzt nach Hause. Also beeil dich!“ Sie schien nicht mehr wütend auf ihn zu sein. Ihre Stimme war ruhig und freundlich. Kai schlug den Hemdkragen hoch und versicherte sich mit einem letzten Blick in den Spiegel, dass die Wunde nun nicht mehr zu sehen war. Dann schloss er die Tür auf.

Draußen wartete Felix` Mutter schon mit seinem Anorak.

4

Heiße Milch mit Honig – 1. Tag nach dem Biss

„Guten Morgen, du Langschläfer!“ Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme seiner Mutter. Sie ging zum Fenster und öffnete es. „Es ist ein herrlicher Tag. Viel zu schade, um die ganze Zeit faul im Bett zu liegen!“ Kai brummelte etwas Unverständliches vor sich hin und drehte sich um. Dass Eltern morgens immer so viel reden mussten! Und außerdem ... Es waren Ferien!

„Steh jetzt auf. Papi hat Brötchen besorgt. Es gibt in einer Viertelstunde Frühstück.“ Mit diesen Worten ging sie aus dem Zimmer und warf die Tür mit einem Knall zu. Kai erschrak so sehr, dass er aufrecht im Bett saß. Draußen konnte er seine Mutter lachen hören. „Wieso muss ausgerechnet ich Eltern haben, die beide Lehrer sind? Sonst wärt ihr schon längst bei der Arbeit und ich hätte meine Ruhe!“ Er rief so laut, dass es seine Mutter im Flur hören musste. Aber sie lachte nur noch mehr. Dabei ärgerte es ihn wirklich manchmal, dass seine Eltern immer mit ihm zusammen Ferien hatten.

Er stand auf und ging zum Kleiderschrank in der anderen Ecke des Zimmers. Quietschend öffneten sich die Türen und er stand vor einem heillosen Chaos. Pullover, Jeans, Socken – alles lag wild durcheinander. Wie oft hatte sich seine Mutter schon darüber aufgeregt, wenn sie Ordnung in den Schrank gebracht hatte und er dann alles wieder „umsortierte“.

Aber wie sollte sie auch sein Spezial-Ordnungssystem verstehen? Das konnte man von einer Mutter ja beim besten Willen nicht erwarten! Er verteilte seine Kleider immer auf die verschiedenen Fächer. Seine Lieblingssachen legte er ganz obenauf, darunter die, die er noch anziehen konnte, wenn keine guten Sachen mehr da waren und so weiter. Ganz unten lagen die Dinge, die er überhaupt nicht mochte. Meist handelte es sich dabei um Geschenke von irgendwelchen Verwandten, die er ohnehin nur einmal im Jahr sah. Da war zum Beispiel das Hemd von Tante Waltraud, das gerade aus dem dicken Stapel herausschaute. Es war gelb. Knallgelb! Wie abscheulich! Dabei wusste sie genau, dass Schwarz seine Lieblingsfarbe war. Er nahm ein T-Shirt aus dem obersten Fach und streifte es über. Dann zog er seine Hose an, warf noch einen flüchtigen Blick in den Wandspiegel und strich sich mit der Hand durch die blonden Haare.

Als er ins Esszimmer trat, saßen seine Eltern schon am Tisch. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee und leckeren Brötchen. „Na endlich!“, rief sein Vater und biss in sein Marmeladenbrötchen. Kai setzte sich und schaute auf all die feinen Sachen, die seine Eltern aufgetischt hatten. Seine Mutter goss ihm sein Lieblingsgetränk ein: heiße Milch mit Honig. Doch als Kai den weißen Milchstrahl sah, der in die Tasse floss und hörte, wie sein Vater abermals genussvoll in sein Brötchen biss, wurde ihm mit einem Mal speiübel. Sein Magen schnürte sich zusammen.

„Was ist denn?“, fragte seine Mutter. „Warum guckst du so seltsam?“

„Ach nichts“, antwortete Kai schwach und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er kannte seine Mutter nur zu gut. Sie würde ihn bestimmt darüber ausfragen, was es gestern zu essen gegeben hatte und nicht eher aufhören, bis sie wusste, warum ihm so schlecht war. Wenn sie erfahren würde, dass er sich bei der Party den Bauch mit Schoko-Torte und Marzipan vollgeschlagen hatte ...

„Wann bist du denn gestern nach Hause gekommen?“, wollte sein Vater wissen und riss ihn damit aus den Gedanken. Seine Eltern waren bis spät in der Nacht auf einer Party gewesen und als sie nach Hause kamen, hatte Kai schon tief und fest geschlafen. Doch Kai kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Seine Mutter nahm plötzlich sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich hin.

„Was in aller Welt ist denn das?“, rief sie entsetzt und starrte auf Kais Hals.

„W... W... Was meinst du denn?“, stotterte Kai. Er fühlte das Blut in seinen Kopf steigen. Die seltsamen Stiche! Er hatte die Löcher an seinem Hals ganz vergessen und kein Hemd mit Kragen angezogen!

„Du weißt ganz genau, was ich meine!“, schimpfte seine Mutter und hatte im nächsten Augenblick auch die kleine Wunde an der Augenbraue entdeckt. „Hattest du einen Unfall?“ Ihre Stimme wurde ernst und finster. Sie strich mit ihrem Zeigefinger über die Wunde und untersuchte seinen Hals. „Oder hast du dich geprügelt?“

„Was denn, was denn, mein Sohn hat sich geprügelt?“, witzelte sein Vater und kam neugierig näher. „Zeig doch mal her!“ Er betrachtete den dunkelroten Fleck an Kais Hals und begann laut zu lachen. „Also, wenn du mich fragst, sieht das eher nach einer Prügelei mit seiner kleinen Freundin aus“, grinste er und bog sich vor Lachen. Kai verdrehte nur die Augen und fragte sich, ob eigentlich alle das Gleiche dachten, wenn sie seinen Hals sahen.

„Wolfgang, ich bitte dich!“ Kais Mutter warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

„Schon gut, schon gut. War ja nur ein Witz. Ich geh mal eben ins Bad und hole eine Wundsalbe.“ Und schon war er im Flur verschwunden.

„Hat dich da am Hals vielleicht etwas gestochen?“, fragte seine Mutter und setzte ihre Brille auf, um die Wunde besser untersuchen zu können.

Das war die rettende Idee! „Kann schon sein“, antwortete Kai und bemühte sich, so überzeugend wie möglich zu klingen. „Wir haben im Wald Räuber und Gendarm gespielt.“ Und das war ja nicht einmal gelogen!

„Und der Kratzer an deiner Augenbraue?“, forschte seine Mutter weiter.

„Da ist mir ein Zweig ins Gesicht geknallt“, sagte Kai schnell. Sonst waren Ausreden ja meist mit einer kleinen Notlüge verbunden. Aber diesmal kam er ganz ohne eine List aus!

Sein Vater kam mit einer großen Tube Wundsalbe zurück und strich Kai etwas davon auf Augenbraue und Hals.

„Können wir jetzt weiter frühstücken?“, fragte er dann und setzte sich an seinen Platz. „Mein Kaffee wird sonst kalt.“

Kai blickte auf die bauchige Tasse vor ihm. Der honigsüße Duft der Milch erschien ihm viel stärker als sonst. Normalerweise überstand sein Lieblingsgetränk nie die ersten zehn Minuten des Frühstücks. Aber heute würde er nicht einen Schluck hinunterkriegen. Der Geruch der Milch ekelte ihn geradezu an.

„Willst du denn gar nichts essen?“, fragte seine Mutter und schaute Kai besorgt an. „Du siehst überhaupt nicht gut aus, mein Junge. Ganz blass! Hier, iss zumindest einen Toast!“ Und schon lag eine goldgelbe Toastscheibe auf seinem Teller. Lustlos klatschte er einen Löffel Erdbeermarmelade darauf, wofür er erzürnte Blicke seiner Mutter erntete. Doch dann nahm dieser unwiderstehliche Drang von ihm Besitz. Er kam ganz plötzlich. War einfach da. Der Drang nach ... Fleisch! Nach rotem, saftigem Fleisch. Er ließ seinen Blick über den Frühstückstisch schweifen bis er den rohen Schinken sah, der auf dem Wurstteller lag. Roher Schinken! Das war jetzt genau das Richtige. Kai konnte ihn förmlich riechen! Er musste ihn haben!

Ohne weiter darüber nachzudenken, krallte er sich einige Schinkenscheiben, legte sie auf den Marmeladentoast und biss gierig hinein. Die erstaunten Blicke seiner Eltern nahm Kai nicht wahr. Der Geschmack des Schinkens war so überwältigend, dass er glaubte, nie etwas Besseres gegessen zu haben. Er vergaß alles um sich herum. Das Einzige, was zählte, war dieser Heißhunger auf Fleisch. Er schluckte die ersten Bissen hastig herunter. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Das Fleisch war so angenehm zart und würzig, dass er unbedingt mehr davon wollte. Doch noch bevor er erneut von seinem Toast abbeißen konnte, verspürte er einen fürchterlichen Schmerz im Magen. Wie tausend kleine Nadeln, die in seinem Bauch herumhüpften. Kai stöhnte auf. Dann fühlte er ein Kribbeln. Zuerst war es nur in seinen Armen und kroch ihm in die Brust, aber dann spürte er es auch in den Beinen. Als es seinen Magen erreicht hatte, durchfuhr Kai ein so heftiger Schmerz, dass er sich krümmte. Sein Magen fühlte sich an, als drehte und wendete er sich wild hin und her. Schließlich knurrte er so laut, dass es auch Kais Eltern hörten. Im nächsten Augenblick sauste Kai ins Badezimmer ...

„Junge, was hast du nur?“, fragte seine Mutter entsetzt, als er aus dem Badezimmer zurückkam. „Wolfgang, schau doch mal. Ganz krank sieht er aus. So fürchterlich blass.“ Sie blickte zu Kais Vater an das andere Ende des Tisches hinüber. Doch der zuckte nur mit den Schultern und sah Kai durchdringend an. Für eine kurze Weile schien es, als sei er tief in Gedanken versunken und Kai hatte das Gefühl, als spiegele sich Traurigkeit in seinen Augen. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. „Meinst du, wir sollten es lassen?“, fragte er plötzlich.

„Lassen? Was lassen?“ Kai setzte sich wieder auf seinen Platz. Eigentlich interessierte es ihn überhaupt nicht, was sein Vater damit meinte. Aber es war eine gute Gelegenheit, von dem abzulenken, was eben gerade geschehen war und wofür er keinerlei Erklärung hatte. Seine Eltern allerdings, da war er sich sicher, würden genau das von ihm verlangen: eine Erklärung. Doch was sollte er ihnen sagen? Er wusste selbst nicht, was mit ihm los war. Einen solchen Heißhunger auf Fleisch hatte er noch nie verspürt. Jetzt, im Nachhinein, schüttelte sich Kai bei der Vorstellung, dass Marmelade unter dem Schinken gewesen war. Kein Wunder, dass er ins Bad hatte rennen müssen.

„Also ...“ Kais Vater räusperte sich und wechselte hilflose Blicke mit seiner Frau. „Also ... Kai, deine Mutter und ich ... Na, du weißt ja, dass wir in letzter Zeit wahnsinnig viel Stress in der Schule hatten. Und da haben wir uns überlegt, jetzt, wo doch gerade die Osterferien angefangen haben, mal für eine Woche wegzufahren.“

Kai schaute seinen Vater überrascht an. Wegfahren? Davon hatten ihm seine Eltern ja noch gar nichts erzählt. Und obgleich er für sein Leben gern verreiste, war es diesmal anders. Alles in ihm, jede einzelne Faser seines Körpers, schien sich gegen diese Idee zu sträuben. Es war, als ob eine kleine Stimme in seinem Kopf flüsterte: „Nein, du kannst nicht verreisen. Nicht jetzt ...“

„Nun“, fuhr seine Mutter fort, „es ist so: Dein Vater und ich würden gern diese eine Woche allein an der See verbringen. Was sagst du dazu? Wärst du sehr traurig, wenn du so lange bei Oma bleiben würdest?“

Die Stimme in Kais Kopf wurde jetzt lauter.

„Nein“, rief Kai. „Nein, das macht gar nichts“, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen und beinah wollte er glauben, er hätte diesen Satz nicht aus freien Stücken gesprochen, sondern die Stimme in seinem Kopf hätte ihn dazu gebracht. Er überlegte kurz und grinste. Es machte ihm wirklich nichts aus. Er würde auch Urlaub machen – Urlaub von seinen Eltern. Mit seiner Oma verstand er sich prächtig und dann war da ja noch das Beste von allem: Er würde jeden Morgen so lange schlafen können, wie er wollte. Wenn das kein guter Start in die Ferien war!

5

Besuch bei der alten Dame – 2. Tag nach dem Biss

Als Kai seinen Kopf am nächsten Morgen durch die Küchentür steckte, knetete seine Oma gerade einen geheimnisvollen gelblichen Teig durch, aus dem später ein noch geheimnisvolleres Gebäck werden sollte. Das Rezept hatte sie aus einem ihrer uralten Bücher herausgesucht. Was genau sie da zusammenrührte, hatte sie Kai nicht verraten wollen. „Es ist ein Geheimnis, wart’s ab!“, hatte sie nur gesagt.

Eigentlich sah sie ein wenig aus wie eine Hexe, fand Kai. Wie sie sich so mit ihren langen grauen Haaren und in ihrem schwarzen Kleid über die Rührschüssel beugte, ab und zu in ihr großes Buch blickte und immer wieder neue Zutaten in den Teig warf ... Es fehlte nur noch der Zauberstab. Aber dafür hatte sie ja den Rührbesen in der Hand, mit dem sie wild in der Schüssel herumwedelte.

Dann sieht sie eben aus wie eine moderne Hexe, dachte Kai und war wieder einmal von seiner Oma begeistert. Keiner seiner Freunde hatte eine so ungewöhnliche Großmutter wie er. Und ungewöhnlich, ja, das war sie nun wirklich! An der Universität hatte sie Vampirologie studiert und dabei alles über Vampire gelernt, was man nur über sie lernen konnte. Sie war sozusagen eine richtige Vampirexpertin. Für Kais Eltern war sie eine „wirklich liebe, aber so wahnsinnig verschrobene alte Dame“, wie sie immer zu sagen pflegten. Nicht etwa, dass sich die beiden an ihrer Vorliebe für schwarze Kleidung störten, nein, das bestimmt nicht. Aber dass sie sich so gar nicht wie eine richtige Oma benehmen wollte, fanden Kais Eltern schon etwas sonderbar.

Sie wohnte nicht weit von Sandra entfernt am Waldrand in einem kleinen, verwinkelten Haus, das ganz aus Holz gebaut war. In ihrem großen Garten lag hinter drei Eichen ein kleiner See, in dem sie jeden Tag ein paar Runden schwimmen ging. Jeden Tag! Das heißt, von Dezember bis Februar ging sie zum Schwimmen lieber ins Hallenbad. Aber nicht etwa, weil ihr das Wasser dann zu kalt wurde, sondern weil der See in dieser Zeit so oft zugefroren war. Langweilig war es ihr so gut wie nie. Jeden Donnerstag zum Beispiel düste sie auf ihrem Mofa zum Judo- und Karatekurs und freitags traf sie sich immer mit ihren Freundinnen bei einem alten, kleinen Mönch aus Asien, um Tibetisch zu lernen. Und wenn ihr die Zeit doch einmal lang wurde, dann sammelte sie Kräuter und bereitete nach alten Rezepten, die sie aus ebenso alten Büchern hatte, Salben, Tinkturen und all solche Dinge zu, die man immer mal gut gebrauchen konnte. Für Kai war sie die ungewöhnlichste Oma, die es auf der ganzen Welt gab – und das machte ihn ganz schön stolz.

„Dauert’s noch lange?“, fragte er neugierig.

„Nein, nein“, antwortete seine Oma, ohne von ihrer Rührschüssel aufzuschauen. Doch es dauerte noch lange. Sehr lange! Den ganzen Tag verbrachte sie in der Küche.

Als die Sonne bereits untergegangen war, ging Kai ins Wohnzimmer und nahm eines der verstaubten Bücher aus dem Regal. „Berühmte Vampire der Geschichte. Von Balthasar Blasius“ stand in goldenen Buchstaben auf dem schweren Ledereinband. Das war genau das Richtige, um ein wenig darin zu schmökern. Er klemmte sich den Wälzer unter den Arm und stiefelte die zwei Treppen zu seinem Zimmer hinauf. Es lag direkt unter dem Dach und hatte einen Erker mit einer Fensterbank, die so groß war, dass man es sich darauf unglaublich gemütlich machen konnte. Und genau das hatte Kai vor. Er legte eine Wolldecke auf die Sitzfläche, eine andere um die Schultern und setzte sich im Schneidersitz auf die Fensterbank. Neben ihm brannte ein schwaches Licht und von draußen durchflutete der Vollmond das Zimmer.

Kai öffnete das Buch und begann darin zu lesen: „Die Welt hat viele berühmte Persönlichkeiten gesehen, die Vampire waren. Julius Cäsar zum Beispiel, Klaus Störtebeker [siehe Kapitel 2.4 über die seltene Art der zur See fahrenden Vampire], Robin Hood oder Walt Disney.“ Kai schmunzelte, zog die Decke fester um seinen Körper und blickte vom Buch auf. Es war frisch im Zimmer. Der Nachtwind spielte mit der Gardine an der Balkontür. Der hauchdünne Stoff drehte und wendete sich, plusterte sich auf, um dann wieder in sich zusammenzufallen. Kai schaute diesem Spiel einige Zeit zu.

Dann erst fiel es ihm auf. Hatte er die Balkontür vorhin nicht zugemacht? Doch, er war sich ganz sicher. Wieso stand sie jetzt offen? Seine Großmutter war sicherlich nicht hier oben gewesen, er hatte sie die ganze Zeit in der Küche gehört, während er im Wohnzimmer saß. „Einbrecher!“, schoss es ihm durch den Kopf und er schluckte. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Der Schrank gegenüber war geschlossen. Das Bett daneben war noch genauso zerwühlt, wie er es heute Morgen verlassen hatte. Kai klappte das Buch zu und legte es beiseite. Er glitt von der Fensterbank hinunter, und obwohl er wusste, dass es ein seltsamer Gedanke war, schaute er kurz unter das Bett. Dort aber war genau, was er erwartet hatte: nichts! So ging er kurzerhand zum Balkon, zog die Tür zu und versicherte sich mit einem kräftigen Ruck, dass sie auch wirklich fest verschlossen war. Als er sich wieder herumdrehte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte auf das Bett. Auf seinem Kopfkissen lag ein Briefumschlag. Er war aus rotem Samt, um den eine schwarze Schleife gebunden war.

Kai nahm den Umschlag und drehte ihn in den Händen. Ob das eine Überraschung seiner Oma war? Vielleicht war sie ja doch aus der Küche in sein Zimmer geschlichen und er hatte es nur nicht bemerkt? Mir mit der offenen Balkontür einen Schrecken einjagen zu wollen, würde schon zu ihr passen, dachte Kai.

Manchmal hatte seine Oma eine etwas ungewöhnliche Art, Geschenke zu machen. So wie damals bei Tante Hedwigs fünfundsechzigstem Geburtstag, als sie ihr eine Reise auf Graf Draculas Spuren nach Transsilvanien geschenkt hatte. Den Gutschein dafür hatte sie in einem großen Lebkuchenmann versteckt, der aussah wie ein Vampir. Den hatte sie dann in einen echten pechschwarzen Sarg gelegt. Tante Hedwig wäre beinahe vor Schreck gestorben, als plötzlich vier düstere Gestalten mit lodernden Fackeln auf ihrer Gartenparty erschienen und den Sarg ablieferten. Seine Oma allerdings fand diesen Auftritt todschick und dem Anlass angemessen.

Kai musste schmunzeln, als er an diese Geschichte dachte. Dann löste er das Band vom Umschlag und öffnete den Brief. Neugierig holte er eine Karte heraus und schlug sie auf. Nein, was er dort las, hatte sicher nicht seine Oma geschrieben. Diese Handschrift hatte er noch nie gesehen. Die Buchstaben waren großzügig und sehr schwungvoll auf das Papier gesetzt worden:


Kai Flammersfeld!

Komm Morgen um Mitternacht in den Garten.

Wir warten am Pavillon beim See auf dich.

Komm unbedingt allein!

G., G. und G.


Kai schüttelte den Kopf und grinste, als er die Karte zu Ende gelesen hatte. Beinahe wäre er auf den Trick mit der verstellten Handschrift hereingefallen. So etwas Seltsames konnte sich nur seine Oma ausdenken. G., G. und G. – Wer sollte das sein? Er kannte nicht einmal einen Menschen, dessen Name mit „G“ begann. Und außerdem ... wer würde sich um Mitternacht an einem See verabreden? Nein, er war sich sicher, dass seine Großmutter irgendetwas ausgeheckt hatte. Vielleicht, damit ihm die Zeit nicht zu lang wurde? Er steckte die Karte in den Umschlag zurück, trottete aus seinem Zimmer und ging gerade die Treppen hinunter, als es an der Haustür klingelte.

„Ich geh schon.“ Kai nahm die letzten Stufen mit einem Sprung und landete genau vor der Kommode, die im Flur stand.

„Das nenn ich eine punktgenaue Landung!“, lobte seine Oma, die in der Küchentür lehnte. „Hast du geübt?“

Kai ging zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand – Sandra.

„Hallo! Überraschung!“, sagte sie und strich sich eine Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht, die der Wind jedoch sogleich wieder zurückwehte. „Deine Oma hat mich eingeladen. Toll, was?“ Sie schob sich an Kai vorbei in den Flur und setzte ihre Reisetasche ab. „Mann, siehst du blass aus. Bist du krank?“

„Hallo! Schön, dass du da bist.“ Kai legte einen Zeigefinger an die Lippen. Seine Oma ritt schon seit seiner Ankunft darauf herum, wie blass und kränklich er aussah und er wollte dieses Thema auf keinen Fall wieder durchkauen müssen. Sandra verstand sofort und zwinkerte ihm zu.

„Guten Abend, Frau Flammersfeld“, sagte sie und wandte sich Kais Oma zu.

„Immer rein in die gute Stube“, entgegnete sie freundlich und schob Sandra sogleich ins Wohnzimmer. Doch als Kai an ihr vorbeigehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest.

„Was ist das?“ Sie zeigte auf den Umschlag, den Kai noch immer in der Hand hielt.

„Wollte ich dich auch gerade fragen.“

„Darf ich den mal sehen?“ Ihre Stimme klang sanft, doch passte sie nicht zu ihrem sorgenvollen Gesichtsausdruck.

Kai legte ihr den Brief in die offene Hand. „Den kennst du doch sowieso, oder?“ Er lachte und folgte Sandra ins Wohnzimmer. Die besorgte Miene seiner Oma beim Lesen der Karte sah er nicht mehr. Und während aus dem Wohnzimmer Kais und Sandras Stimmen in den Flur drangen, verschwand die Großmutter leise in der Küche.

„Kannst du die ganze Woche bleiben?“, fragte Kai.

„Ja. Meinen Eltern kam die Einladung deiner Oma grade recht. Meine Mutter singt diese Woche nämlich an der Oper in Hamburg und mein Vater ist mit seiner Rockband unterwegs.“ Sandra stellte sich vor die Terrassentür und schaute zum Mond hinauf, der das Wohnzimmer erhellte. Kai beneidete Sandra. Ihre Eltern hatten nicht so normale Berufe wie seine und waren oft unterwegs. Außerdem hatte sie unglaublich viele Freiheiten. Sie durfte ins Bett gehen, wann sie wollte. Das würden ihm seine Eltern nie erlauben. „Wenn deine Oma nicht angerufen hätte, dann müsste ich jetzt Tante Ursel ertragen. Das wäre der pure Horror. Bei der darf man nämlich gar nichts.“

„Dann können wir ja endlich unser Baumhaus fertig bauen, oder?“, jubelte Kai. Letzte Woche hatten sie bereits das ganze Holz dafür zugeschnitten und sich im Garten eine Buche ausgesucht, die ihr Baumhaus tragen sollte.

„Meinst du, das geht?“, fragte Sandra und drehte sich zu Kai um.

„Wieso?“

„Du siehst wirklich nicht gut aus. Vielleicht wirst du krank.“

In diesem Augenblick spürte Kai Wut in sich aufsteigen. „Lasst mich endlich damit in Ruhe“, fauchte er. „Nein, ich bin nicht krank. Ich werde auch nicht krank. Mir geht es gut! Ich fühle mich klasse und es ist alles in Butter!“ Die letzten Worte brüllte er beinahe. Feine Äderchen zeichneten sich dabei auf seiner Stirn ab.

„Ist ja gut, ich sage ja schon gar nichts mehr.“ Sandra drehte sich wieder um und schaute in den Garten hinaus. In diesem Augenblick wurde die Küchentür mit einem lauten Rums geöffnet und Oma Flammersfeld trat in den Essbereich, der sich an das Wohnzimmer anschloss. In ihren Händen hielt sie ein Tablett, auf dem Gläser, eine Flasche und einige Schälchen standen. Der Raum füllte sich sofort mit dem schweren Duft von Honig und Anis. Sie stellte das Tablett auf den Esstisch, zündete einige Kerzen an und winkte Kai und Sandra herbei.

Als Kai an den Tisch trat, sah er, was da so herrlich duftete. Es waren Kekse. Große, runde Kekse. Das also war das Geheimnis, das sie vorhin nicht hatte verraten wollen. Was allerdings an selbstgebackenen Keksen besonders sein sollte, konnte er sich nicht so recht erklären.

Seine Oma nahm nun die Flasche vom Tablett und öffnete sie. Sofort strömte feiner Nebel den verstaubten Flaschenhals hinunter. Sie schenkte jedem etwas ein. Roter Saft glitt merkwürdig langsam in die Gläser, es sah beinahe so aus, als schwebte er hinein.

„Willkommen zum Teufelsmahl für Hexen und Vampire!“, rief Oma Flammersfeld und hielt Kai und Sandra die Gläser entgegen.

„Teufelswas?“, fragte Kai und schaute zu, wie der weiße Dunst an seiner Hand herunterwaberte und sie umhüllte.

„Teufelsmahl für Hexen und Vampire. Nur ein langer Name für ein paar Kleinigkeiten. Aber in der Welt der Vampire ...“, und hier verdunkelte sich ihre Stimme und sie blickte Kai durchdringend an, „... in der Welt der Vampire ist dies ein wichtiges Ritual und wird nur zu bestimmten Anlässen abgehalten.“ Dann hielt sie ihr Glas in die Luft und rief: „Schlukkul!“

„Schlukkul?“, fragte Sandra grinsend.

„Schlukkul!“, wiederholte Kais Oma. „Das ist der alte Trinkspruch der Vampire.“

Sie riefen sich einige Male „Schlukkul“ zu – Kai fragte sich dabei, ob die Vampire wohl noch mehr solche seltsamen Wörter hatten – und noch bevor das Klirren ihrer Kristallgläser verklungen war, nahmen sie einen kräftigen Schluck. Kai schlürfte den Saft durch die Zähne. Er schmeckte nach Feigen und reifen Bananen und es war ein wunderbares Gefühl, als er sanft durch seine Kehle rann. Eine wohlige Wärme durchflutete seinen ganzen Körper und er bekam eine Gänsehaut. Schluck um Schluck leerte er sein Glas und ließ sich auch noch den letzten Tropfen genüsslich auf der Zunge zergehen. Ihn überkam ein Gefühl, dass er seit gestern morgen nicht mehr verspürt hatte: Hunger. Wirklichen, echten, richtig großen Hunger! Und als ob Kais Großmutter seine Gedanken gelesen hätte, hielt sie ihm plötzlich einen Keks vor die Nase.

„Und nun zum Höhepunkt!“, sagte sie. „Transsylvanische Schicksalskekse. Die gehören zu jedem anständigen Teufelsmahl für Hexen und Vampire. Probiert mal! Sie zergehen auf der Zunge.“ Mit einer ausholenden Handbewegung ließ sie den Schicksalskeks in ihrem Mund verschwinden. „Lecker, nicht wahr?“

Kai musterte das Plätzchen in seiner Hand. Transsylvanische Schicksalskekse! Was für ein seltsamer Name, dachte er. Und überhaupt ... Kekse isst man doch höchstens nach dem Essen und nicht vorher. Viel lieber hätte er sich jetzt auf ein saftiges Stück Fleisch gestürzt. Aber er wollte seine Großmutter nicht enttäuschen. Sie hatte schließlich den ganzen Tag in der Küche gestanden, um diese Transsylvanischen Schicksalskekse zu backen. Er blickte zu Sandra hinüber. Sie knabberte bereits an ihrem Keks und machte ein Gesicht, als würde er sehr gut schmecken. Kurz entschlossen schob Kai sich den halben Keks in den Mund. Er zerfiel sofort in Tausende feiner Krümel und entfaltete einen starken Geschmack nach Honig und Anis, passend zum Duft, der noch immer das Esszimmer erfüllte.

„Und?“, flüsterte die Oma.

„Ich nehme noch einen.“ Sandra griff in die Schüssel und angelte sich einen weiteren Keks.

„Ich auch.“ Kai fischte sich einen besonders großen und besonders gelben heraus und machte sich gar nicht mehr die Mühe abzubeißen, sondern stopfte ihn sich gleich ganz in den Mund.

Und dann geschah es.

Der Schmerz war unbeschreiblich. Er kam einfach über ihn. Seine Augen brannten wie Feuer, jeder einzelne Knochen in seinem Körper tat so weh, als würde er zerspringen. Er ließ das Glas fallen. Es knallte auf den Boden und zersprang in Stücke. Doch er hörte es nicht. Auch die aufgeregten Stimmen von Sandra und seiner Großmutter verschwammen, waren nicht viel mehr als ein Brei aus Tönen. Kai krümmte sich vor Schmerzen. „Meine Augen! Meine Augen!“, brüllte er und hielt sich die Hände vors Gesicht. Er hatte das Gefühl, als steche jemand ein Messer in sie hinein und drehe es herum. Er hätte die Augen herausreißen wollen, so sehr schmerzten sie. Sein Körper bebte und seine Gelenke knirschten bei jeder Bewegung. Kai richtete sich auf und stieß einen unnatürlich klingenden Schrei aus. Er presste die Hände fester vor die Augen und es war ihm, als ginge eine Hitze von ihnen aus. Ganz so, als hätte er glühende Kohlen in den Augenhöhlen.

Und genauso plötzlich, wie alles begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Mit einem Mal war der Schmerz aus seinen Augen verschwunden. Sein Körper zitterte noch leicht, doch es tat nichts mehr weh. Eine Weile stand er nur regungslos da. Er wartete darauf, dass die Schmerzen zurückkehrten. Doch sie kamen nicht wieder.

Vorsichtig nahm er die Hände vom Gesicht. Er stand nicht mehr am Esstisch, sondern an der Balkontür im Wohnzimmer. Und er war nicht allein. Jemand stützte ihn.

„Geht’s wieder?“ Es war Sandras Stimme.

Kai versuchte zu antworten, doch er brachte kein Wort heraus. Sein Mund war so fürchterlich trocken. Er nickte und drehte sich langsam zu ihr um. Als sich ihre Blicke trafen, wich Sandra einen Schritt zurück. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht.

„Was?“, hauchte Kai. Seine Stimme klang eigenartig fremd und schwach, als käme sie aus einem tiefen schwarzen Loch.

Sandra schüttelte nur den Kopf.

„Was?“, wiederholte er.

Seine Großmutter, die die ganze Zeit im Esszimmer gestanden hatte, kam nun zu ihm herüber. Sie strich ihm sanft übers Haar. „Schau selbst, mein Junge“, flüsterte sie und führte ihn vor den Wandspiegel am anderen Ende des Raumes. Als Kai hineinschaute, erstarrte er.

„Oh mein ... Was ist denn das?“ Kai starrte auf das, was er dort im Spiegel sah. Seine Augen, seine bernsteinbraunen Augen, hatten eine gelbgrüne Farbe angenommen. Und die Pupillen – Kai ging näher an den Spiegel heran –, die Pupillen waren nicht mehr rund, sondern senkrechte Schlitze, so wie bei Raubkatzen.

„Oma, was ist passiert?“ Kai wurde es zuerst heiß, dann eiskalt. Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Er schlang die Arme um seine Großmutter und begann zu schluchzen.

„Ist gut ... Ist gut ...“ Die Oma hielt ihren Enkel ganz fest und streichelte ihm übers Haar. „Mein armer Junge“, flüsterte sie. „Komm, ich werde es dir erklären.“ Sie öffnete die Terrassentür und trat mit Kai ins Freie. Sandra folgte ihnen schweigend und stellte sich neben ihren Freund.

„Gibt es irgendetwas, was du uns sagen möchtest? Ist dir in letzter Zeit etwas Seltsames passiert?“, fragte die Oma leise.

Kai blickte sie traurig an. Er musste nicht lange überlegen, um auf diese Frage zu antworten. Mit zittriger Stimme erzählte er ihr und Sandra alles, was er von seinem Friedhofserlebnis noch in Erinnerung hatte. Der laue Wind trug seine Worte durch die Nacht. Kai erzählte von den Gräbern am Waldfriedhof, von den furchteinflößenden Schatten der Wasserspeier an den Grüften, von der stummen schwarzen Gestalt, die plötzlich aufgetaucht war. Knöchrige Finger schoben eine Grabplatte beiseite. Sie fiel mit einem Knirschen zu Boden. Eine Fledermaus riss ihm büschelweise Haare aus. Er raste durch den Wald bis zur Wiese bei Felix’ Haus. Dunkle Gestalten umstellten ihn. Etwas nahm ihm den Atem. Der Gestank faulenden, verrottenden Fleisches hing bleiern in der Luft. Zähne. Spitze, scharfe Zähne blinkten im Mondlicht auf. Und dann ... ein tiefes Schwarz.

Kai schwieg und senkte den Blick.

„Das klingt ja fürchterlich“, sagte Sandra und legte ihre Hand auf Kais Schulter.

„Es passt alles zusammen. Diese Karte hier ...“ Seine Oma kramte den roten Briefumschlag aus der Tasche ihres Kleides hervor. „Wer sind G., G. und G.?“

Kai schaute sie stumm an.

„Ich denke, du ahnst es. Nicht wahr?“, fragte seine Oma. „G., G. und G. sind die dunklen Gestalten vom Friedhof.“ Sie hielt kurz inne. Dann deutete sie auf den Vollmond. „Kai, dies ist von nun an deine Sonne. Die Nacht wird dein Tag. Du ... du ... du wirst ein Vampir. Und G., G. und G. sind die, die dich dazu gemacht haben.“

Stille. Unendliche, grausame Stille.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752114171
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Horror Grusel Abenteuer Vampirgeschichte Spannung Vampir Humor Kindersachbuch Sachbilderbuch Kinderbuch Jugendbuch Märchen Sagen Legenden

Autor

  • Hagen Röhrig (Autor:in)

Hagen Röhrig wurde in Pinneberg, Schleswig-Holstein geboren. Er wuchs in Gorxheimertal auf und lebt heute in Weinheim an der Bergstraße. An der Universität Heidelberg hat er Anglistik und Geographie studiert. In seiner Magisterarbeit ist er der Frage nachgegangen, wie der Vampiraberglaube wissenschaftlich erklärt werden kann und sich in der Literatur wiederfindet.
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Titel: Kai Flammersfeld und die Transsylvanischen Schicksalskekse