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Nurias Tanz

von Stefanie Hohn (Autor:in)
372 Seiten

Zusammenfassung

Eine verbotene Liebe, ein streng gehütetes Geheimnis und die magische Macht des Tanzes Nora ist bei Adoptiveltern aufgewachsen, die sie über ihre Herkunft und den Grund für ihre Gehbehinderung ihr Leben lang im Ungewissen gelassen haben. Ihr Adoptivvater gesteht ihr kurz vor seinem Tod, dass sie in Wahrheit Nuria heißt. Der katalanische Ursprung dieses Namens treibt sie nach Barcelona, in der Hoffnung, dort mehr über sich und ihre Wurzeln zu erfahren, stattdessen jedoch entdeckt sie ihre Leidenschaft für den Flamenco – und für den Tänzer Simón, der sie ermutigt, selbst zu tanzen, ganz gleich welche Grenzen ihr Körper ihr setzen mag. Nuria taucht ein in die Magie dieses Tanzes, der sie schließlich doch auf die Spur des streng gehüteten Geheimnisses ihrer Herkunft führt – einer langen Geschichte voller Lügen und Verrat …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Auftakt

 

Für die erste Szene trug sie ein kurzes Kleid. Der weite, lange Rüschenrock lag in der Mitte der Bühne. Nach der Auftaktszene würde sie ihn anziehen und eine traditionelle Alegría tanzen. Es war eine einstudierte Inszenierung, aber ihr Körper würde sich irgendwann davon lösen. Es passierte immer, alle wussten es, die Gitarristen, der Sänger und der Perkussionist, und sie gingen mit, folgten dem Compás, den sie mit den harten Schlägen ihrer Schuhe auf das Parkett vorgab.

 

Der Saal war zum Bersten gefüllt. Es war ihre erste Darbietung in ihrer alten Heimatstadt. Fast zwanzig Jahre war sie nicht hier gewesen. Die Stadt hatte sich verändert – ihr Vater lebte nicht mehr, das Katalanische war wieder aufgelebt und Francos langen Schatten nahmen nur noch diejenigen wahr, die genau hinsahen.

Aber nichts hatte sich so sehr verändert wie sie selbst.

Schon jetzt drangen Óle-Rufe aus dem Publikum, wahrscheinlich von Touristen, die nach einer Tour im Visit-Barcelona-Bus noch ein wenig spanische Folklore auf der Agenda hatten.

Wie wenig sie wussten.

 

Die ersten Töne. Leise, beinahe tastend, wie ein Morgensonnenstrahl. Der Gesang setzte ein, erzählte von den zarten Regungen einer ersten Liebe, eine gemächliche Rumba, weiche Bewegungen der Arme und Hände, wie Schilfhalme, die sich im Wind wiegten. Sie nahm den Rock auf, wirbelte ihn herum, ein Regenbogen aus Stoff, wie die Erinnerungen an diese glückliche Zeit. Im Tanzen zog sie den Rock an, der Rhythmus beschleunigte sich, die Gitarristen erhoben sich, der Sänger auch, und alle feuerten sie an, während ihre Füße den 12er-Takt der Alegría tanzten, Freude, Ekstase, Jubel, immer schneller und schneller, sie drehte sich und in ihrem wirbelnden Körper, dem schwingenden Rock und den trommelnden Füßen lebte das Glück jener Zeit, als hätte es nie Angst, Verlust oder Schmerz gegeben.

Der Wechsel in den langsamen 4er-Takt kam plötzlich. Sie sank in sich zusammen und es gab nur noch den klagenden Gesang, der von Flucht erzählte, von Einsamkeit, von verlorenem Glück und nie endendem Schmerz.

 

Ein Stoffbündel lag am Rand der Bühne, sie nahm es in den Arm und wiegte es, wie das Kind, das ihr geblieben war aus den Stunden des Glücks.

Der Perkussionist begann sein Solo, und ein weiterer Tänzer kam auf die Bühne, dunkel gekleidet, mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht. Er baute sich vor ihr auf und trat mit den metallenen Absätzen seiner Schuhe Gewalt in den Boden, sie krümmte sich, das Kind in ihren Armen, und die Angst nahm ihr den Atem, noch jetzt. Doch er entriss ihr das Kostbarste, das sie je besessen hatte und zerstörte es mit brachialer Gewalt.

Was blieb, war nur die Dunkelheit. Rachsucht. Und Hass. Ein Hass, so intensiv, dass er sie fast zerstört hätte.

Die Zeilen des Sängers hörte sie nicht. Sie kannte sie, aber sie bedeuteten nichts. Das Lied des Lebens war in ihrer Brust, in ihren Händen und Armen, ihren Füßen, die jetzt den Schmerz in den Boden trommelten, als müsste sie ihn tief in die Erde treiben, so tief, dass er sie nie mehr erreichen konnte.

Ihre Füße gehorchten einer Macht, die außerhalb ihres Begreifens lag. Der Tanz beherrschte sie, nicht umgekehrt.

Es war das Finale. Das Publikum war in ihrem Bann, sie konnte es fühlen.

Duende.

Dies war der Grund, warum sie immer noch am Leben war.

Kapitel 1

 

Nora strich mit der Hand über den rauen Stoff – eine grobe Schurwolle, aus nächster Nähe betrachtet gar nichts Besonderes, wären da nicht die buntschillernden Seiden- und Lurexfäden, die sich durch das Gewebe schlängelten und je nach Lichteinfall einen vielfarbigen Glanz in das stumpfe Nachtblau zauberten.

Sie wickelte zwei Meter des Stoffes vom Ballen und hielt ihn sich vor. Er war fest und würde an einem trockenen Herbsttag sicher gut wärmen, ohne allzu sehr aufzutragen – auch wenn sie ihn weit zuschneiden und lediglich hinten in der Taille ein wenig enger fassen wollte.

»Darf ich ihn mal bei Tageslicht sehen?«, fragte Nora und zeigte zur geöffneten Ladentür, durch die die späte Septembersonne hereinfiel.

»Aber natürlich, sehr gerne.« Die Verkäuferin reichte ihr kaum bis zum Kinn. Sie war wohl neu in diesem Geschäft. Wahrscheinlich eine Mutter, deren Kinder aus dem Haus waren und die jetzt eine neue Aufgabe brauchte. Mit energischen Bewegungen rollte sie die Ballen der Stoffe zusammen, die Nora als zu langweilig oder zu dünn verworfen hatte. Nora neigte den Kopf leicht zur Seite und wartete, bis sie damit fertig war, drapierte sich den nachtblauen Mantelstoff über die Schulter und griff nach ihrem Gehstock. Es war ein weiteres, aufforderndes Lächeln vonnöten, bis die kleine Frau endlich begriff.

»Oh natürlich, Verzeihung«, murmelte sie, lief puterrot an und beeilte sich, den schweren Ballen vom Tisch zu hieven.

Nora hinkte würdevoll voraus, während die Verkäuferin ihr mit dem Stoffballen vor der Brust folgte, wie eine Brautjungfer, die eine endlose, nachtblaue Schleppe trägt.

»Ach, wie schön!« Die kleine Frau riss die Augen weit auf, als Nora den Stoff vor der Tür in die Höhe hielt. War die Verkäuferin tatsächlich noch nicht selbst auf den Gedanken gekommen, dass dieser Stoff Sonnenlicht brauchte, um wirken zu können?

»Das Blau passt wunderbar zu ihren Augen!«, sagte sie. »So dunkle Haare und dann blaue Augen, das sieht man selten.« Sie starrte Nora wie hypnotisiert an.

»Gut. Ich brauche vier Meter davon. Legen Sie ihn mir bitte bis morgen zurück, ich bin heute zu Fuß unterwegs und kann ihn leider nicht mitnehmen.« Nora legte den abgewickelten Teil des Stoffes zurück auf den Ballen, den die Verkäuferin im Arm hielt wie ein zu groß geratenes Baby. Als sie in den Laden zurückkehrten, fürchtete Nora fast, die kleine Person würde unter dem Gewicht zusammenbrechen, aber sie hatte wirklich erstaunlich kräftige Arme für so eine geringe Körpergröße.

»Gewiss, sehr gerne. Wann kommen Sie ihn morgen holen?« Blitzschnell war die gewünschte Menge Stoff abgemessen und zurechtgeschnitten. Sie schien vom Fach zu sein, wahrscheinlich lange aus dem Beruf, aber bestimmte Handgriffe verlernt man nicht.

»Ich denke, gegen halb fünf.«

»Vielleicht rufen Sie vorher kurz an, dann komme ich mit der Ware zu Ihrem Auto und Sie müssen gar nicht aussteigen.«

Die blassen, grünen Augen schauten freundlich über den Rand der Lesebrille hinweg.

Übereifrig, fand Nora. Vielleicht wollte sie ihren Fauxpas von vorhin gutmachen. »Das wird nicht nötig sein. Ich habe einen Einkaufstrolley.«

»Oh ja, natürlich. Ich meinte ja auch nur, wenn Sie keinen Parkplatz in der Nähe …« Sie brach mitten im Satz ab und wurde erneut rot.

Nora schenkte der verwirrten Frau ihr strahlendstes Lächeln. »Ich weiß, wie Sie es gemeint haben. Aber es ist wirklich nicht nötig. Danke.«

 

Von dem kleinen Stoffladen war es nicht sehr weit bis zur Stadtvilla ihrer Eltern am Kaiser-Wilhelm-Ring im vornehmen Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel. Dort stand ihr Wagen in der Garage. Ihre Mutter hatte bereits früh am Morgen angerufen und Nora gebeten zu kommen, ihrem Vater ginge es sehr schlecht – und somit auch ihr selbst.

Noras Vater lag seit ein paar Tagen auf der Palliativstation. Ihre Mutter war damit überfordert, ihn zuhause zu pflegen, doch mit dem Gefühl, ihn die letzten Wochen – oder vielleicht waren es auch nur noch Tage – nicht mehr rund um die Uhr in ihrer Nähe zu haben, kam sie noch viel weniger zurecht.

»Es gibt häusliche Pflegedienste«, hatte Nora mehrmals gesagt, als die 24-Stunden-Pflege unausweichlich wurde.

»Um Himmels Willen! Fremde Menschen im Haus! Das würde Papa nicht wollen!«

»Dann musst du damit leben, dass er von fremden Menschen in einem Krankenhaus gepflegt wird.«

»Du bist so hart!«

»Nicht hart. Realistisch.«

»Ich könnte mehr Mitgefühl und weniger Realismus gebrauchen.« Weinerlich klang das. Sie hatte an ihrer Perlenkette herumgefingert und dann mit zittriger Stimme gesagt: »Papa stirbt und du bist so … gleichgültig!«

 

Wie wenig ihre Mutter sie kannte. Für Nora war es schier unerträglich, zu sehen, wie ihr geliebter Vater ihr jeden Tag ein Stückchen mehr entglitt. Zuerst war es nur eine seltsame Kurzatmigkeit gewesen. Die Treppen in der dreistöckigen Villa, die nie ein Problem für ihn gewesen waren, hatte er bereits im Februar nicht mehr geschafft. Dann ging alles Schlag auf Schlag: Die Diagnose, der Versuch einer Immuntherapie, die er abbrach, weil die Nebenwirkungen schlimmer gewesen waren als die Krankheit, und die sich rasend ausbreitenden Metastasen überall im Körper.

Nora hatte sich Urlaub genommen, um noch möglichst viel Zeit mit ihm verbringen zu können, doch inzwischen war er kaum mehr ansprechbar. Dafür brachte sie jeden Tag mehrere Stunden mit ihrer Mutter zu, die sich an sie klammerte wie ein ertrinkendes Kind. Der Abstecher zu ihrem Lieblingsstoffgeschäft war nur ein Vorwand gewesen, um der erstickenden Verzweiflung ihrer Mutter kurzfristig zu entkommen. Eigentlich hatte sie genügend unverarbeitete Stoffe zuhause herumliegen, aber der Erwerb dieses Prachtstoffes hatte ihre Laune entschieden gehoben.

Nora ließ sich in einem der teuren Ledersessel ihrer Eltern nieder, lehnte den Gehstock an die Sessellehne und zog ihr lahmes Bein über das gesunde. Ihr Rücken und das linke Hüftgelenk schmerzten seit Tagen höllisch, aber sie ließ sich nichts anmerken.

»Hast du etwas Schönes gefunden?«, fragte ihre Mutter, die auf dem Sofa saß und lustlos in einer Zeitschrift blätterte.

»Tatsächlich, ja.«

Sie hob den Blick. Tiefe Ränder unter den Augen. »Was denn?«

»Einen Stoff für einen Mantel.«

»Hm«, machte ihre Mutter geistesabwesend.

Nora wartete darauf, dass sie den Stoff zu sehen wünschte, um ihn dann für eine Nuance zu hell, oder zu dunkel, zu dick oder zu dünn zu befinden, aber es kam nichts mehr. Stattdessen sprang sie plötzlich auf und lief in die Küche.

Nora hörte Geschirrklappern und nach einer Weile das obligatorische »Bleibst du zum Abendessen?«. Es war eine rhetorische Frage. Selbstverständlich erwartete ihre Mutter, dass sie zum Essen blieb, und länger, möglichst bis nach der Tagesschau.

Aber Nora hatte heute andere Pläne. Ihr ehemaliger Studienkollege und Geschäftspartner Stefan war in der Stadt und wollte mit ihr Essen gehen. Seit er vor einem Jahr nach Berlin gezogen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie freute sich auf den Abend.

»Nein, Mama. Danke. Heute nicht«, rief sie zurück. Es blieb für ein paar Augenblicke still, dann tauchte ihre Mutter in der Wohnzimmertür auf.

»Aber warum denn nicht? Ich habe extra frisches Baguette gekauft und einen Avocadosalat gemacht. Den kann ich doch nicht aufheben.«

»Das tut mir leid. Ich bin verabredet.«

»Verabredet? Heute?« Sie klang, als könnte es im Leben einer Tochter keinen unpassenderen Moment für eine derartige Eigenwilligkeit wie eine private Verabredung geben.

»Ja. Heute.«

»Aber wenn Papa …«

»Wenn Papa was?«, fuhr Nora auf.

Ihre Mutter zuckte zusammen, wie sie es immer tat, wenn in ihrer Umgebung laut gesprochen wurde. Und Nora hatte eine laute Stimme. Besonders wenn sie erregt war. Ihre Mutter hingegen sprach nur in leisen, wohlgeformten Sätzen, ganz die Dame, für die sie gehalten werden wollte. Auf Außenstehende wirkte sie sanft und zurückhaltend – niemand würde ihr die Hartnäckigkeit zutrauen, mit der sie ihre Wünsche auf ihre ganz eigene, subtile Weise durchzusetzen verstand.

»Wir waren beide bis eben bei ihm und es ging ihm den Umständen entsprechend gut«, sagte Nora, so geduldig und liebevoll wie sie konnte. »Man wird uns anrufen, wenn sein Zustand sich verschlechtert. Und dann komme ich natürlich. Aber bitte, Mutter, ich …« Habe auch noch ein Leben, hatte sie sagen wollen, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wurde im Beisein ihrer Mutter zu einer Ungeheuerlichkeit.

»Ich verstehe ja, dass du deine Freundinnen hast, die du sehen möchtest. Es ist nur …«

»Es ist ein Freund«, warf Nora dazwischen. »Stefan.«

»Ja ja, das macht ja nichts«, winkte ihre Mutter ab. Sie trat zum Fenster, rang einen kurzen Moment nach Luft, als kämpfe sie gegen eine Panikattacke an, doch dann atmete sie tief durch und sagte: »Ich komme schon zurecht, mach dir keine Gedanken.«

Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Sich für das geplante Fortgehen zu entschuldigen. Aber stattdessen spürte Nora, wie der Ärger sich in ihrer Kehle zu einem trockenen Kloß verdichtete. Sie musste machen, dass sie hier rauskam. So schnell die Schmerzen in ihrem Bein es zuließen, stemmte sie sich aus dem Sessel und griff nach ihrem Gehstock. Sie brauchte ihn nicht immer. An guten Tagen konnte sie ohne ihn gehen, aber wenn ihr Rücken streikte, half die Unterstützung, um die Muskulatur zu entlasten.

Sie drückte ihrer Mutter einen spröden Kuss auf die Wange und versuchte, ihrem unverhohlen traurigen Blick mit einem zuversichtlichen Lächeln zu begegnen.

»Sieh ein bisschen fern, das lenkt ab«, riet sie ihr, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

 

Stefan wartete an einem kleinen Tisch am Fenster ihres Lieblingsitalieners, als Nora an der Glasfront des Restaurants vorbeiging. Er winkte mit wild rudernden Armen und sprang auf, um ihr entgegenzukommen. Bei jedem anderen Mann hätte Nora einen solchen Überschwang als peinlich empfunden. Aber Stefan war Stefan. Er durfte ihr auch aus dem kobaltblauen Mantel helfen, den zu tragen sie sich nach langem Zögern entschieden hatte, und ihr den Stuhl zurechtrücken, damit sie ihr Bein in Position bringen und Platz nehmen konnte. Den Gehstock hatte sie zuhause gelassen, entsprechend auffällig war ihr Hinken. Das Pärchen vom Nachbartisch, ein korpulenter Glatzkopf und eine zierliche Frau, unterbrachen ihre angeregte Unterhaltung und starrten zu ihr herüber, der Mann mit offenem Mund.

Nora erwiderte die Blicke mit einem strahlenden Lächeln. Sie war geübt darin, auch dann, wenn sie nicht in der Stimmung war, den indiskreten Blicken, die ihre Gehbehinderung bei vielen Menschen provozierte, mit Freundlichkeit zu begegnen. Aber heute war sie gut gelaunt.

Stefan fing ihren Blick auf. Wie immer erfasste er die Situation sofort, ergriff ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken.

»Nora, meine verehrte Nora, du wirst von Tag zu Tag schöner!«, deklamierte er, ein bisschen lauter, als es nötig gewesen wäre. »Ich hoffe, die Dreharbeiten waren heute nicht zu anstrengend?«

Nora unterdrückte mit Mühe ein schallendes Lachen. »Oh, sehr anstrengend, aber du weißt ja wie das ist. Wir haben zu viel Spaß am Set, um jammern zu können, nicht wahr?«

Stefan vollführte eine affektierte Drehung vor dem Tisch, die Hände abgespreizt wie ein Tänzer, der einen Gockel mimt. Das Pärchen vom Nachbartisch wechselte einen Blick und glotzte dann wieder Stefan an, der mit seinem pastellfarbenen Jackett und der schwarz-glänzenden Igelfrisur genauso schwul aussah, wie er war.

»Ist es nicht aufregend?«, rief er mit hoher Stimme aus, ließ sich an seinem Platz nieder und schlug die Beine übereinander.

Nora beugte sich zu dem Pärchen hinüber, wies auf die halb verspeisten Pizzen und raunte ihnen mit einem Zwinkern zu: »Sie sollten weiteressen, sonst ist gleich alles kalt.«

Der kahlköpfige Dicke grinste ein wenig blöde und seine Begleitung wurde rot bis zum wasserstoffblondierten Haaransatz. Weisungsgemäß hefteten sie ihre Blicke wieder auf die Teller vor ihnen und aßen schweigend weiter.

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte Stefan nun mit normaler Stimme.

Nora schüttelte wortlos den Kopf.

»Mist.«

»Sterben müssen wir alle früher oder später.«

»Aber er ist doch noch jung!«

»67. War bis vor ein paar Monaten noch topfit.«

»Und Christel?« Seit Stefan wusste, dass Nora im Alter von vierzehn Monaten adoptiert worden war, nannte er Noras »Mutter« immer nur bei deren Vornamen. Auch er hatte seine Eltern durch einen Unfall früh verloren und war bei Tante und Großmutter aufgewachsen. Nur eine leibliche Mutter verdiente es, Mutter genannt zu werden, behauptete er.

»Sie kommt überhaupt nicht klar. Manchmal glaube ich, ein Kind vor mir zu haben. Dabei müsste sie jetzt eigentlich das Steuer in die Hand nehmen – auch in der Firma.«

»Gibt es denn keinen Nachfolger?«

Nora lachte kurz und trocken auf. »Die beiden glauben felsenfest, dass ich das machen werde.«

»Und du …«

»Nein!« Sie hatte es zu laut gesagt. Die beiden Köpfe nebenan ruckten zu ihnen herüber, aber Noras finsterer Blick wies sie sofort wieder in ihre Schranken.

»Ich will kein Unternehmen leiten. Schon gar keines, das Highheels und zierliche Ballerinas herstellt!«, zischte sie. »Was wäre ich denn für eine Repräsentantin!« Sie wies auf ihren klobigen Schuh mit der dicken Sohle, den sie am linken Fuß tragen musste, um den Unterschied der Beinlängen auszugleichen.

»Du verkaufst lieber Socken!«

Das saß. Seit sie und Stefan mit ihrem eigenen Modelabel krachend gescheitert waren, versuchte Nora, als Marketingassistentin bei einem internationalen Strumpfwarenkonzern ihre Schulden abzuarbeiten. Sie hasste diesen Job, aber er brachte ihr Unabhängigkeit und ein regelmäßiges Gehalt.

»Ich verkaufe sie nicht.«

»Du weißt genau, was ich meine. Du bist eine Kreative. Du musst Dinge gestalten. Dieser Bürojob wird dich kaputtmachen.«

»Mein lieber Stefan«, säuselte Nora, »ich weiß, du meinst es gut. Aber glaub mir: Dieser Job ist meine Rettung. Ich will meinen Eltern mit fast Vierzig nicht mehr auf der Tasche liegen und ihre Firma will ich auch nicht. Basta.«

»Ganz wie du meinst«, sagte Stefan und spießte mit abgespreiztem Finger eine Olive auf seine Gabel. »Ich persönlich finde ja, Geld wird überbewertet – vor allem von Leuten, die es haben könnten, aber zu stolz sind, es anzunehmen.«

»Das verstehst du nicht.«

»Ich verstehe Vieles nicht. Und lebe gut damit.« Er lachte fröhlich und fächelte sich mit verzücktem Gesicht den Dampf seiner Pasta alla Vongole zu, die der Kellner soeben serviert hatte. Nora hatte einen Gemüseteller und frisch gegrillte Gamberetti bestellt.

»Gesund und kalorienarm, wie immer, liebe Nora«, sagte Stefan. »Dabei hast du es gar nicht nötig.«

»Oh doch. Sehr. Ich will mir nicht vorstellen, was meine Gelenke sagen, wenn ich auch noch fett werde.«

»Ernsthafte Probleme?«

»Noch nicht. Aber wenn ich nicht aufpasse, sehr bald.«

Sie aßen eine Weile schweigend, dann sagte Nora: »Jetzt erzähl mal von dir. Wie läuft es in Berlin?«

Stefan hatte recht bald nach dem Flop mit dem eigenen Modelabel Nor-an Clothing eine Anstellung bei einer Gaming-Firma bekommen. Dort entwarf er die phantastischen Kostüme für die Charaktere historischer Spielszenarien.

»Es läuft super! Ich verdiene nicht viel, aber ich kann mich zeichnerisch austoben und meine wildesten Phantasien ausleben. Was will ich mehr?«

Im Gegensatz zu Nora hatte Stefan ein beträchtliches, ererbtes Eigenkapital zur Verfügung gehabt, als sie sich gemeinsam selbständig gemacht hatten. Als die Sache schief ging, war davon zwar nichts übriggeblieben, aber wenigstens hatte er keine Schulden und durch Beziehungen relativ schnell den neuen Job gefunden.

»Reicht dir das auf Dauer?«, fragte Nora.

»Warum nicht?«

»Du wolltest immer Mode machen.«

»Du auch.«

»Mache ich ja«, entgegnete Nora und wies auf das raffiniert geschnittene Kleid, das sie trug.

»Deine Kreation? Ich wollte die ganze Zeit schon fragen. Es ist hinreißend!«

»Ein bisschen overdressed für den Rahmen«, sagte Nora achselzuckend.

»Du setzt den Maßstab, meine Liebe. Eine Schande ist es, dass du dein Talent mit Socken vergeudest!«

»Oh, wir verkaufen auch hochwertige Seidenstrümpfe und Strapse und schicke Stulpen und …«

»Thrombosestrümpfe?«, schlug Stefan vor.

»Nein, aber Kniestrümpfe für Langstreckenflüge«, gab Nora spitz zurück und tunkte ein Stückchen Ciabatta in den Rest Sauce auf ihrem Teller.

»Kniestrümpfe für Langstreckenflüge«, wiederholte Stefan gedehnt.

Ihre Blicke begegneten sich, und wie auf Kommando brachen beide in schallendes Gelächter aus. Das Pärchen vom Nachbartisch hatte sich zum Gehen erhoben und drehte sich jetzt noch einmal um. Nora winkte ihnen zu und trocknete sich gleichzeitig mit der Serviette die Tränen aus den Augen, von denen sie nicht wusste, ob sie tatsächlich vom Lachen herrührten.

»Meine Güte, Nora, ich verstehe dich echt nicht«, keuchte Stefan, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

»Tja«, machte Nora nur und trank mit einem großen Schluck ihr Weinglas leer. »Vielleicht liegt es daran, dass dein Geld von deinen leiblichen Eltern stammte. Meines nicht. Ich habe kein Anrecht darauf.«

Sprachlos starrte Stefan sie an. »Das meinst du nicht ernst.«

»Bitterernst.«

»Du warst vierzehn Monate alt, als du adoptiert worden bist. Vierzehn Monate! Sie wollten dich, nicht umgekehrt!«

»Manchmal glaube ich, es war ein Akt der Gnade.«

Stefan zog ihr das Weinglas weg, das sie gerade erneut füllen wollte. »Und ich glaube, der Wein bekommt dir nicht.«

»Stimmt«, sagte Nora. »Komm, lass uns in die Bar gegenüber gehen. Vielleicht schmeckt der Wein dort besser!«

 

Kapitel 2

 

Das Telefon klingelte um sieben Uhr in der Frühe. Stefan schlief auf ihrem Sofa und drehte sich nur brummend auf die andere Seite. Sie waren bis nach vier Uhr unterwegs gewesen, hatten in einer Weinbar eine teure Flasche auf ihr Wiedersehen geleert und zum Abschluss in der Nachtresidenz inmitten von Teenagern und Studenten getanzt, bis Nora vor Erschöpfung auf einem Stuhl zusammengesunken war. Es kam selten vor, dass sie ihrer Freude am Tanzen nachgab – nicht nur wegen der Blicke, die ihre ungelenken Bewegungen auf sich zogen, sondern weil sie anschließend immer in eine tiefe Melancholie verfiel. So war es auch in dieser Nacht gewesen, und anstatt in ein Taxi zu steigen und in sein Hotel zu fahren, war Stefan bei ihr geblieben und hatte ihr solange Taschentücher gereicht, bis sie endlich aufhören konnte zu weinen.

 

Nora rechnete fest damit, die Stimme ihrer Mutter zu hören, aber es war das Krankenhaus.

»Ist es soweit?«, fragte sie sofort, als die Ärztin sich meldete, die sie gestern in der Frühschicht angetroffen hatte.

»Ihr Vater ist bei Bewusstsein und will Sie unbedingt sehen. Er hat heute Nacht mehrmals nach Ihnen gefragt und ich denke, Sie sollten so schnell wie möglich kommen. Es kann sein, dass dieser klare Zustand nicht lange anhält. Wir vermuten, dass er Ihnen sehr dringend noch etwas sagen möchte.«

»Ich komme sofort«, sagte Nora. »Weiß meine Mutter Bescheid?«

»Ihr Vater will ausdrücklich Sie sprechen. Wir dachten, wir überlassen Ihnen die Entscheidung, ob Sie Ihre Mutter verständigen oder nicht.«

Stirnrunzelnd legte Nora auf. Um seine Atemnot und die Angst zu lindern, war die Morphiumzufuhr vor einigen Tagen heraufgesetzt worden, so dass ihr Vater nicht mehr ansprechbar gewesen war. Und jetzt wurde er plötzlich wach und wollte seine Adoptivtochter sehen? Und nicht seine Ehefrau, die seit über 40 Jahren mit ihm zusammenlebte? Was hatte das zu bedeuten? Und … war sie nicht verpflichtet, ihre Mutter zu informieren?

Ihr Finger schwebte über der Wahlwiederholungstaste des Festnetztelefons, von dem aus sie nur noch ihre Mutter anrief.

Warum hatte sie bloß so viel getrunken? Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Pflastersteinen gefüllt. Dann noch die Heulerei hinterher! Noras Blick fiel auf Stefan, der sie hingebungsvoll getröstet hatte und jetzt leise vor sich hin schnarchte. Wie peinlich das alles!

Wut stieg in ihr hoch. Warum dieses Engegefühl in der Kehle, dieses Gefühl von Machtlosigkeit, obwohl sie ja zumindest in dieser Sache jetzt völlige Entscheidungsfreiheit hatte. Aber hatte sie die wirklich? Wenn ihre Mutter davon erführe, würde sie … Ja, was denn?

Entschlossen stellte Nora den Telefonhörer zurück in die Ladestation. Es war offenbar sein Wunsch, seine Tochter alleine zu sehen. Sie sollte sich beeilen.

 

Ihr Vater lag in einem Privatzimmer. Das Fenster war geöffnet und ließ die ungewöhnlich warme Morgenluft herein, auf dem Tisch standen frische Blumen und er saß fast aufrecht im Bett und sah hinaus. Er hörte sie nicht, als sie eintrat, und Nora blieb einen Moment an der Tür stehen, um eine Welle von Übelkeit abzuwehren, die sie plötzlich erfasste. Krankenhäuser waren ihr zutiefst zuwider, zu viele Wochen ihrer Kindheit hatte sie dort verbracht, Operation um Operation über sich ergehen lassen, um das zertrümmerte linke Bein zu richten und künstliche Hüften einzusetzen. Mehrmals, denn künstliche Gelenke wachsen nicht mit. Geblieben war eine halbseitige Parese mit verkürztem Bein und unterentwickelter Muskulatur. Und die Operationsnarben, die sich tief in ihre Seele gebrannt hatten. Ein Kampf, der nicht gewonnen werden konnte, ganz gleich, was ihre Adoptiveltern unternommen hatten, um sie zu einem »normalen« Kind zurechtschnippeln zu lassen.

 

Leise trat Nora an das Bett ihres sterbenden Vaters, der zwar abgemagert und blass war, aber in diesem Moment dennoch wach und beinahe zuversichtlich wirkte. Sollte er wie durch ein Wunder doch auf dem Weg der Besserung sein?

»Kind, da bist du ja!«, sagte er. Seine Stimme knisterte wie trockenes Laub, das zertreten wird.

Nora lehnte ihren Gehstock an das Krankenbett und zog einen Stuhl heran. »Ja, Papa. Ich bin da. Ich war auch gestern da und vorgestern. Hast du es gemerkt?«

Er schloss die Augen und lächelte. Blaue Äderchen durchzogen die pergamentdünne Haut seiner Lider und fast meinte Nora, seine Augäpfel hindurchschimmern zu sehen. Ein Körper in Auflösung begriffen. Nein, hier geschah kein Wunder. Der Tod stand bereits mitten im Raum.

Sie nahm seine Hand und betrachtete sie eine Weile schweigend, obwohl sie fast ein wenig Widerwillen gegenüber dem schlaffen, knochigen Körperteil dieses Mannes empfand, der ihr den schmerzhaften Gegensatz zwischen dem Sterbenden und dem ehemals aktiven, selbstbewussten Mann und erfolgreichen Firmenchef so deutlich vor Augen führte.

Er hielt die Augen geschlossen und atmete so ruhig, wie seit Wochen nicht mehr. Nur der leichte Gegendruck seiner Hand verriet, dass er nicht eingeschlafen war.

»Für deine Mutter warst du die Erfüllung eines Lebenswunsches«, sagte er auf einmal.

Nora musste sich vorbeugen und konzentriert zuhören, um ihn zu verstehen. Seine Worte schienen an den äußeren Rändern zu verschwimmen.

»Sie wollte immer Kinder, schon als ganz junges Mädchen. Wir kannten uns so lange, dieselbe Straße, mit sechzehn wollte ich sie schon heiraten.« Sein Oberkörper erbebte und Nora fürchtete, er würde von einem Krampfanfall geschüttelt – aber es war nur ein Lachen glückseliger Erinnerung, für das ihm der Atem fehlte.

»Sie war so unglücklich. Ihre Schwester bekam einen Sohn nach dem anderen und bei uns – nichts.«

Draußen vor dem Fenster zwitscherten laut die Vögel. Es war Sonntag und der Verkehr ruhte, wie bestellt für diese filmreife Szene. Nora fühlte sich merkwürdig distanziert, fast so, als beobachte sie sich selbst in einem luziden Traum.

»Wir hatten alles – nur kein Kind.«

»Und dann habt ihr euch ausgerechnet mich angelacht!« Sie wollte mit den Worten die Schwere aus dem Zimmer jagen, aber es misslang gründlich. Stattdessen hing auf einmal Bitterkeit in der Luft.

»Es war ein Zufall. Wir waren bei Freunden gewesen. Wir bogen um die Ecke und da war diese Frau … am Fenster …« Ein Stöhnen kam über seine grauen Lippen.

Nora dachte schon, dies wäre sein letzter Seufzer, aber er öffnete die Augen und sah sie an, klar und direkt. »Nuria. Dein Name ist Nuria. Nicht Nora. Nuria.«

Sie ließ seine Hand los.

Sein Mund öffnete und schloss sich mehrere Male, aber die Worte, die er sagen wollte, blieben irgendwo hängen – vielleicht in seiner zu trockenen Kehle, vielleicht aber auch auf dem Weg von ihrem Gehörgang zum Gehirn, das nicht richtig funktionieren wollte. Hier kam eine Erklärung, nach so vielen Jahren endlich ein Hinweis darauf, wer sie wirklich war. Aber sie kam zu spät! Sie konnte die Wahrheit nicht ertragen, jetzt nicht mehr. Was also redete er da, verdammt nochmal?

»Wir hätten …« Keuchen. »… hätten es …« Stöhnen. »… dir sagen müssen, aber sie wollte nicht.«

»Was sagen müssen? Wer wollte nicht? Ich verstehe nicht.«

Er atmete schwer und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, den Kopf angestrengt nach vorne gereckt. Sie konnte sehen, dass er mehr sagen wollte, aber das Sprechen schien seine Kräfte zu übersteigen. Beruhigend streichelte sie seine Hand.

»Ich weiß nicht, was du mir sagen willst, Papa. Soll ich Mama rufen? Bestimmt kommt sie auch gleich. Die Blumen da, auf dem Tisch, hat sie die gestern noch gebracht? Wir hatten keine dabei, als wir zusammen hier waren. Bestimmt war sie gestern nochmal da. Erinnerst du dich? Sie vermisst dich sehr, weißt du? Ich würde …«

Ihr Vater hob beide Hände, als wollte er ihre Worte abwehren, aber Nora konnte nicht aufhören zu reden. Sie ertrug nicht, dass er sich so quälen musste, oder vielleicht ertrug sie auch die Stille nicht, oder die Angst vor dem, was er zu sagen hatte. Sie erzählte ihm von Stefan, von dem gemeinsamen Abendessen und ihrem Versuch, in einem Club die Nacht durchzutanzen, von Langstreckenflugsocken und Lurexfäden in einem nachtblauen Mantelstoff, von Baustellen überall in der Stadt und viel zu warmen Septembertagen.

Erst als ihr Handy in der Tasche brummte, verstummte sie. Ihr Vater hatte sich inzwischen ihrem Wortschwall ergeben, lag mit geschlossenen Augen da und schlief, oder vielleicht war er auch bewusstlos oder sogar schon tot, sie wusste es nicht.

»Mama? Ja, ich bin im Krankenhaus … ich war sehr früh wach … doch, doch, es geht ihm gut … natürlich, komm vorbei … nein, später erst, Stefan wartet auf mich … ich komme dann wieder … Mittagessen? Ich weiß nicht … doch, es geht ihm gut, glaube ich.«

 

Als sie das Handy weglegte, war es auf einmal unerträglich still im Zimmer. Sogar die Vögel schienen verstummt zu sein.

»Papa?«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.« Was für ein Unsinn. Wofür entschuldigte sie sich? Atmete er überhaupt noch? Sie beugte sich vor und hielt ihr Ohr ganz nah an seinen halb geöffneten Mund. Doch, er atmete, oder nicht?

»Kümmere dich um Christel. Bitte. Und die Firma. Du musst die Firma übernehmen.« Sein Atem ging röchelnd und er presste die Worte wie gegen einen großen Widerstand heraus. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet und er versuchte, sich aufzusetzen, fiel jedoch erschöpft zurück in die Kissen.

»Willst du aufstehen? Soll ich dir helfen? Oder nein, warte, ich rufe eine Schwester.«

Sie drückte auf den Klingelknopf direkt neben dem Bett, aber es dauerte lange bis jemand kam. Ihr Vater war von einer großen Unruhe erfasst worden. Immer wieder richtete er sich auf, die Arme nach vorne gestreckt, als wolle er jemanden umarmen, fiel aber sofort kraftlos zurück, wie betrogen um die Erlösung, die nicht kommen wollte.

Die Schwester spritzte Morphium und nickte Nora mit professioneller Beileidsmiene zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Als Noras Mutter eintraf, war ihr Vater nicht mehr bei Bewusstsein. Es dauerte noch viele Stunden, bis er es endlich geschafft hatte. Nora blieb nicht bis zum Ende. Obwohl sie wusste, dass sie ihrer Mutter in dieser schweren Stunde hätte beistehen müssen – sie konnte es nicht.

Kapitel 3

 

Düsseldorf, August 1981

 

Nora klemmte sich den abgenutzten Teddybären unter den Arm, für den sie eigentlich längst zu alt geworden war. Sie hatte ihm ein Stück Fußleiste ans Bein gebunden und ein Stofftaschentuch als Verband darum gewickelt.

Es war ihr erster Schultag. Auch für den war sie eigentlich schon zu alt, aber wegen der vielen Operationen, für die ihre Mutter im letzten Jahr mit ihr bis in die USA gereist war, wurde sie erst mit sieben Jahren eingeschult.

Ihre eigene Schiene war sie inzwischen losgeworden, aber das Bein wollte trotzdem nicht funktionieren. Immer noch brauchte sie das Gehgestell, mit dem sie in der Wohnung überall anstieß. Deswegen hatten Mama und Papa ihr Zimmer renoviert, während sie sich in der Rehaklinik von der letzten Operation erholte. Dabei hatte sie gemocht, wie es vorher gewesen war, mit dem dunkelblauen Himmel und den gelben Sternen an der Decke. Jetzt war es in einem hässlichen hellen Grün gestrichen und die Decke war langweilig weiß. Wenn sie nur oft genug mit dem Gehgestell gegen den Türrahmen und die Wände stieß, würde es vielleicht bald wieder einen neuen Anstrich geben. Dann musste sie nur aufpassen, dass ihre Eltern die richtige Farbe bestellten.

»Versuche es doch mal ohne das Gestell, wenigstens hier in der Wohnung«, sagte ihre Mutter. »Du kannst jetzt gehen. Du musst dich nur trauen.«

Nora sah zu ihrem Vater, aber er senkte sofort den Blick. Er wusste, dass es nicht ging. Der Arzt hatte es ihm gesagt, als ihre Mutter nicht dabei gewesen war. Warum sagte er nichts?

»Wenn du es nicht übst, so wie in der Rehaklinik, verlernst du es wieder.« Ihre Mutter kniete sich vor ihr nieder und half ihr den Popelinemantel anzuziehen. Es war kühl für einen 25. August.

»Es ging auch in der Klinik nur an der Haltestange«, begehrte Nora auf.

»Mit einer Hand. Das ist so gut wie ohne.«

»Ist es nicht.«

»Du hast nur Angst.« Ihre Mutter lächelte, während sie das sagte. »Ich weiß nicht, ob du mit dem Gestell in die Klasse darfst.«

»Christel, bitte!« Ihr Vater stand fertig angezogen an der Tür. Er spielte laut mit dem Schlüsselbund, aber auch wenn sie sehr leise sprach, hätten alle Schlüssel der Welt ihre Worte nicht übertönen können.

»Dann geh ich eben nicht dahin!«

»Unsinn. Es wird schön werden! Aber den Teddy nehmen wir nicht mit.«

Ihre Mutter wollte nur, dass sie den Teddy zuhause ließ, weil er dieses verbundene Bein hatte. Sie mochte es nicht. Doch Nora ging ohne ihn nirgendwo hin. Inzwischen steckte sie ihn meist in ihren Rucksack, damit niemand ihn sah. Hauptsache, er war in ihrer Nähe. Sie presste ihn an sich und schüttelte den Kopf.

»Teddy oder Gestell, eines von beidem«, sagte ihre Mutter. Sie lächelte jetzt nicht mehr.

»Aber …«

»Gut. Wir nehmen den Teddy mit. Das Gestell bleibt zuhause. Wir bringen dich in die Klasse und holen dich wieder ab.« Sie war aufgestanden, sah in den Spiegel und zupfte an ihren blonden Haaren, während sie mit Nora sprach.

Hilfesuchend sah Nora zu ihrem Vater.

Er zwinkerte ihr zu. »Keine Angst, wir lassen dich nicht allein. Am ersten Tag werden alle Kinder von ihren Eltern in die Klasse gebracht.«

 

Und das stimmte nicht. Die Kinder saßen mit ihren riesigen Schultüten auf Bänken in der Turnhalle und wurden einzeln aufgerufen. Dann gingen sie mit ihren Lehrerinnen in die Klassen. Nur Nora wurde am Arm ihrer Mutter in die Klasse geführt, während ihr Vater die Schultüte hinterhertrug.

Das war die erste Lüge.

Es war der Wunsch ihrer Mutter gewesen, dass sie eine »normale« Grundschule in der Nachbarschaft besuchte. Es gab auch eine Schule für behinderte Kinder auf der anderen Rheinseite, sie hatten sie gemeinsam angesehen, aber Nora hatte ja nur ein lahmes Bein. Und auch das würde irgendwann gut werden, es war ja schon besser geworden – fand ihre Mutter. Nora müsse nur jeden Tag ihre Übungen machen, um die Muskeln zu kräftigen. Deswegen sollte sie das Gehgestell nicht mehr benutzen.

Ihre Mutter sprach mit der Klassenlehrerin, dann wandte sie sich ab, warf Nora einen Handkuss zu und verließ das Klassenzimmer. Ein Mädchen vorne rechts weinte und ein strohblonder Junge weigerte sich, neben einem nicht ganz so strohblonden Jungen zu sitzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ruhig war und die Lehrerin in leiser, freundlicher Stimme zu ihnen sprach. Sie sollten der Reihe nach ihren Namen sagen und dann gab es ein Spiel, bei dem jedes Kind drei Namen von anderen Kindern im Raum nennen und auf das betreffende Kind zeigen sollte. Nora sah sich aufmerksam um. Die meisten Kinder waren blond. Ganz hinten saß ein Junge, der genauso dunkle Haare hatte wie sie, allerdings waren seine Augen braun, nicht blau wie ihre. Er hatte einen komischen Namen mit einem Ch-Laut am Anfang, wie in Ach. Später erfuhr sie, dass es mit J geschrieben wurde, Juan. Er sei Spanier, erzählte er, seine Eltern kämen ganz aus dem Süden. Ob er denn auch Spanisch sprechen könne, wollte die Lehrerin wissen.

»Klar«, gab er zurück, fast ein bisschen entrüstet ob der Dummheit der Frage.

»Verrätst du uns, was ›Guten Morgen‹ heißt?«

Ratlos sah der Junge die Lehrerin an.

Ein paar Kinder lachten und die beiden Mädchen an Noras Nebentisch tuschelten und kicherten.

»Was sagt denn deine Mutter, wenn du morgens aufstehst?«, fragte die Lehrerin jetzt.

Ohne zu überlegen, sagte der Junge: »Hola mi niño, que tal has dormido?«

Fasziniert hing Nora an den Lippen des Jungen. Sie verstand natürlich nicht, was er gesagt hatte, aber sie wollte, dass er weitersprach. Er senkte jedoch den Blick, als sei es ihm plötzlich peinlich, etwas so Intimes verraten zu haben. Nun war es an ihm, drei Namen zu nennen. Er zeigte auf sie, als einziger bisher. »Nora«, sagte er und sah sie direkt an.

Nora fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Er hatte es auf eine Weise gesagt, wie noch nie jemand zuvor ihren Namen ausgesprochen hatte, mit einem R, das wie das Schnurren einer Katze klang.

Sie durften anschließend ihre nagelneuen Federmäppchen auspacken und die Lehrerin verteilte Blätter. Darauf waren all die Dinge abgebildet, die sie ab sofort immer im Ranzen dabeihaben sollten. Und Dinge, die sie nicht im Ranzen tragen sollten wie angebissene Äpfel oder dicke, schwere Bücher. Schuldbewusst dachte Nora an ihren Teddy, der beinahe ihren ganzen Ranzen ausfüllte. Aber ein Teddy war auf dem Blatt nicht abgebildet, schon gar keiner mit Beinschiene.

Zum Abschluss des Schultages schleppten alle Kinder ihren Stuhl nach vorne neben das Pult der Lehrerin, die ihnen half, einen ordentlichen Kreis zu bilden. Erst als es wieder ruhig geworden war, fiel ihr auf, dass Nora noch an ihrem Tisch saß.

Sie machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge und berührte kurz mit den Fingern ihre Schläfe, als wäre ihr gerade etwas Wichtiges wieder eingefallen, dann kam sie auf Nora zu und stellte sich hinter sie. »Nora kann im Moment nicht so gut laufen. Wer von euch mag ihr helfen, ihren Stuhl in den Kreis zu stellen?«

Nora runzelte die Stirn. Sie hatte im Moment gesagt. Schon wieder eine Lüge.

Sofort schoss Juans Finger in die Höhe. Auch ein paar andere Kinder meldeten sich. Nora durfte wählen, welche Kinder ihr helfen sollten, aber viel lieber wäre sie mitsamt ihrem Stuhl aus dem Fenster davongesegelt.

Während einer der quirligen, blonden Jungen ihren Stuhl schleppte, hinkte Nora, gestützt von Juan und dem rothaarigen, sommersprossigen Mädchen, das neben ihr am Tisch gesessen hatte, in den Kreis. Die anderen Kinder sahen sie mit großen Augen an. Von diesem Moment an hasste sie ihre Lehrerin.

 

Am Ende des Schulhalbjahres konnte Nora mit einer Krücke laufen und brauchte das Gehgestell nicht mehr. Juan saß in der Klasse neben ihr und verbrachte meist auch die Pause mit ihr auf der kleinen Mauer am Rand des Schulhofes. Von ihm lernte sie, das R so schön zu rollen, wie er es konnte. Er brachte ihr viele spanische Wörter bei, und immer, wenn Juan ganze Sätze auf Spanisch sagte, hatte sie das Gefühl, sie müsste sie verstehen können, so vertraut klangen sie. Aber sie verstand sie nicht.

 

Einmal hatte sie Juan besucht. Ihre Mutter holte sie und Juan nach der Schule ab und brachte sie dorthin. Juan wohnte ziemlich weit weg, ging den Schulweg aber immer alleine, denn seine Eltern mussten beide arbeiten. Er hatte seinen eigenen Schlüssel. Davon war Nora sehr beeindruckt. Als Juan die Tür aufschloss, erklang aus der Wohnung laute Gitarrenmusik, die bei Nora sofort ein komisches Kribbeln in den Gliedern und im Bauch hervorrief.

»Ich bin’s«, rief Juan ins Wohnzimmer.

Heraus kam ein Mädchen mit rabenschwarzen, langen Haaren. Sie war barfuß und steckte sich gerade ein Stück Schokokuchen in den Mund.

»Guten Tag«, sagte Noras Mutter und sah sich suchend um. »Ist eure Mutter denn auch da?«

»Sie arbeitet«, sagte das Mädchen mit vollem Mund.

»Und wer bist du?«

»Marisol. Juans Schwester.«

»Aber … eure Mutter kommt doch sicher gleich?«

»Nein, erst um …«, setzte Juan an, aber Marisol warf ihm einen strengen Blick zu und sagte freundlich: »Ja, gleich. Und ich bin auch die ganze Zeit hier.«

»So, so«, sagte Noras Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wie alt bist du denn?«

»Dreizehn!«, kam die prompte Antwort. Von Juan wusste Nora, dass Marisol erst zwölf war, aber sie ging schon in die sechste Klasse und war für sie damit eine »Große«.

Noras Mutter war offenbar anderer Meinung. »Ja, dann würde ich sagen, Nora kommt an einem anderen Tag wieder. Wenn eure Mutter da ist, nicht wahr Nora? Juan darf sehr gerne mit uns …«

»Nein, Mama! Bitte! Ich will hierbleiben!«, jammerte Nora. Sie hatte sich seit Tagen auf diesen Nachmittag gefreut. Zum ersten Mal war sie zum Spielen mit einem anderen Kind verabredet.

»Ich pass schon auf. Das ist echt kein Problem. Meine Mutter kommt wirklich sehr bald.« Marisol hatte inzwischen das Kuchenstück vertilgt und die Finger an einem Taschentuch gereinigt. Sie hielt ihrer Mutter die Hand hin, ob zur Begrüßung oder zum Abschied, wusste Nora nicht. »Machen Sie sich keine Sorgen!«

Nora zerrte am Arm ihrer Mutter und bettelte: »Bitte Mama, nur heute. Ich hab mich so gefreut!«

Noras Mutter sah von Juan zu Marisol und ließ dann ihren strengen Blick durch den kleinen Flur gleiten. Nora glaubte die Schlacht schon verloren, doch da sagte sie mit einem ergebenen Seufzer: »Also gut. Aber ihr müsst mir versprechen, sofort anzurufen, wenn etwas ist!«

»Auf jeden Fall. Kennt Nora die Telefonnummer?« Marisol klang jetzt sehr erwachsen.

Zum ersten Mal lächelte Noras Mutter. »Ja, die kennt sie. Ich verlasse mich auf dich!« Sie zeigte auf Marisol und zwinkerte ihr kameradschaftlich zu. Eine solche Geste hatte Nora an ihr noch nie gesehen. Bevor sie ging, beugte sie sich zu Nora herab und flüsterte: »Du rufst an, wenn du früher abgeholt werden willst, okay?«

Nora wollte gar nicht abgeholt werden, denn sie fühlte sich sofort wohl in der engen Wohnung, in der Juan sich mit seiner Schwester ein Zimmer teilte und die Eltern im Wohnzimmer schliefen. In der winzigen Küche stand Essen auf dem Herd, das sie sich aufwärmten. Ein Eintopf mit einer sehr scharfen Wurst darin, die Nora zum Schwitzen brachte. Chorizo, sagte Juan, und Nora wiederholte das Wort immer wieder.

Beinahe den ganzen Nachmittag lief im Wohnzimmer die Kassette mit der spanischen Gitarrenmusik in einer Endlosschleife. Nora spürte die Musik im Bauch, in den Beinen – sogar im lahmen – und in den Fingerspitzen. Es kribbelte am ganzen Körper und sie konnte nicht stillsitzen – etwas, das ihr noch nie passiert war. Eigentlich sollten sie Hausaufgaben machen, Zahlen addieren und Lernwörter schreiben, aber Noras Finger tanzten auf der Tischplatte und ihr gesundes Bein wippte ohne Unterlass im Rhythmus der Musik.

»Das ist Paco de Lucía«, sagte Marisol und zeigte Nora die Box, in der die Kassette aufbewahrt wurde. »Er ist der beste Gitarrenspieler der Welt!«

Juan zog Nora ins Kinderzimmer, um mit ihr eine Legolandschaft zu bauen, doch Nora kehrte immer wieder ins Wohnzimmer zurück, wo Marisol zu den Klängen von Paco de Lucía ihre Hausaufgaben erledigte. Marisol hatte auch eine Gitarre, aber viel spannender fand Nora die Tanzschuhe von Juans Mutter. Marisol zog sie aus einer der unteren Schubladen im großen Wohnzimmerschrank.

»Das darfst du nicht!«, schrie Juan.

»Doch. Ich darf. Heute ausnahmsweise. Hat sie gesagt.«

»Du lügst!«

Marisol lachte nur und zog die viel zu großen Schuhe an.

Sie hatten Metallplättchen unter den Absätzen und Sohlen und klapperten laut auf dem Holzboden. Dann schnappte sie sich noch einen bunten Fächer und begann vor Nora einen Stepptanz aufzuführen, bei dem sie grazile Bewegungen mit den Armen und Händen vollführte. Es war schrecklich laut, und es dauerte auch nicht lange, bis an der Tür geklingelt wurde.

»Siehst du!«, schimpfte Juan. »Ich hab ja gesagt, du darfst das nicht!«

Schnell stellte Marisol die Musik aus und versteckte die Tanzschuhe im Schrank.

»Psst«, machte sie und schlich zur Tür.

Wieder klingelte es.

»Das ist die Alte von unten«, flüsterte sie.

Juan stellte sich neben sie und lauschte.

»Ich weiß, dass ihr da drin seid!«, klang dumpf eine Frauenstimme durch die Tür. »Ist eure Mutter wieder nicht da! Das gibt Ärger! Wir kriegen euch hier noch raus!«, zeterte sie. Dann hörten sie ein lautes Türknallen.

Marisol lachte, bis ihr die Tränen kamen. Juan war sauer auf seine Schwester. »Jetzt beschwert sie sich wieder beim Vermieter und dann müssen wir wegen dir aus der Wohnung raus!«

»Ach was, die Alte ist doch nicht ganz richtig im Kopf«, winkte Marisol ab und stellte den Kassettenrekorder erneut an, allerdings bedeutend leiser als vorher. Nora hätte zu gerne die Tanzschuhe einmal anprobiert und wünschte sich, dass Marisol sie wieder aus dem Schrank hervorholte, aber das tat sie nicht.

Juans Mutter kam erst um halb sechs, kurz bevor Nora abgeholt werden sollte. Sie hatte runde, fast schwarze Augen, die lebhaft hin und her rollten, während sie redete. Allerdings sprach sie kein Wort Deutsch, aber sie lachte viel und drückte Nora an sich, als gehörte sie zur engsten Familie.

»Cariño, que bonita eres! Was bist du eine Hübsche!«, rief sie. Sie sagte noch viel mehr, aber Juan weigerte sich, ihre Worte zu übersetzen. Nur Marisol sagte, dass ihre Mutter fände, Nora sehe aus wie eine Spanierin. Das erfüllte Nora mit Stolz. So etwas hatte ihr noch nie jemand gesagt. Sie wusste, dass ihre Mutter nicht ihre richtige Mutter war und ihr Vater nicht ihr richtiger Vater, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wer ihr das erzählt hatte und wann. Noras Vater nannte sie immer ein Geschenk des Himmels und Nora stellte sich vor, dass sie irgendwann in einem schön verpackten Karton mit einer roten Schleife vor der Tür ihrer Eltern abgesetzt worden war. Dass es ganz anders gewesen war, erfuhr sie erst viel später.

 

Um Punkt sechs wurde Nora abgeholt. Ihre Mutter trat nicht über die Türschwelle, obwohl Juans Mutter sie mit rudernden Armbewegungen und einem lauten Wortschwall hereinzubitten versuchte.

»Nein, nein, wir müssen jetzt nach Hause, es ist schon spät. Vielen Dank, sehr freundlich, ein anderes Mal vielleicht. Komm Nora, wo ist dein Ranzen? Juan, würdest du ihn uns bitte holen?« Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht und Nora hatte sich noch nie so sehr für ihre Mutter geschämt.

 

Von diesem Tag an wünschte sich Nora zu jedem Geburtstag und an jedem Weihnachtsfest eine Gitarre. Doch sie bekam stattdessen ein Klavier und Klavierunterricht. Auch zu Juan durfte sie nie mehr, weil ihre Mutter herausfand, dass Juans Mutter den ganzen Tag nicht da gewesen war. Dafür lud sie Juan immer zu Nora nach Hause ein, wo sie darüber wachen konnte, dass die beiden ihre Hausaufgaben erledigten. Und sie gab Juan jedes Mal etwas mit – neue Stifte, ein nagelneues Federmäppchen, oft auch Reste von der Sonntagstorte. Einmal sogar kaufte sie ihm ein paar Sportschuhe, weil ihm seine viel zu klein waren. Die brachte Marisol am nächsten Tag zurück. Ihre Eltern könnten dieses Geschenk nicht annehmen, aber sie würden sich sehr freuen, wenn Nora noch einmal zu Besuch käme.

 

Dazu kam es nicht mehr, denn kurz vor Noras achtem Geburtstag berichtete Juan ihr, dass er und seine Familie aus der Wohnung ausziehen müssten. Sie würden in eine größere, aber billigere Wohnung auf der anderen Rheinseite ziehen. Zum Abschied schenkte er ihr einen spanischen Fächer. Abanico, sagte er, als er das bunte Gebilde aus dünnen Holzstäben und Papier auseinanderfaltete und sie mit seinen großen, dunklen Augen über den Rand hinweg ansah.

Es war das einzige spanische Wort, das Nora niemals mehr vergessen sollte.

 

*

 

In der achten Klasse lernte Nora Sam kennen. Er stammte aus Vietnam und ihm fehlten beide Beine. Er war als Baby in den Ruinen eines Dorfes mitten im südvietnamesischen Dschungel gefunden und von amerikanischen Streitkräften in den letzten Tagen des Vietnamkrieges nach Amerika ausgeflogen worden. In belehrendem Tonfall erzählte er ihr von der Operation Babylift, über die er alles gelesen hatte, was es zu lesen gab. Und von seiner Reise nach Vietnam, wo er gemeinsam mit seinen Adoptiveltern das Dorf besucht hatte, in dem er gefunden worden war.

Nora hatte Sam erzählt, dass auch sie adoptiert worden sei. Sie saßen zusammen in der Schulkantine und aßen gemeinsam zu Mittag, wie sie es seit einiger Zeit regelmäßig taten.

»Ich habe zusammen mit anderen in einer Art Krankenhaus gelegen«, erzählte er. »Das war nur so eine Hütte, alles andere ringsum war kaputt und überall lagen zerstückelte Leichen«, berichtete er und spießte ungerührt ein Stück Fleisch auf seine Gabel.

Nora verzog das Gesicht. »Woher willst du das wissen? Du warst doch noch ein Baby!« Sie glaubte ihm nicht. Bestimmt gab er nur an.

»Es sind mehr als 3000 Kinder ausgeflogen worden. Nur ganz wenige wissen, wo sie herkamen. Ich weiß es!«, behauptete er stolz.

»Und woher weißt du es?«

»Meine Eltern haben mir die Akten gezeigt.«

»Die Akten?« Nora vergaß, den Bissen herunterzuschlucken, auf dem sie gerade kaute.

»Meine Eltern wollten nicht irgendein Baby. Sie wollten wissen, wo es herkam, damit sie mit mir dorthin fahren konnten. Es hat sie nicht gestört, dass ich keine Beine habe, aber sie fanden es wichtig, dass ich meine vietnamesische Identität behalte.« Sam sprach wie ein Professor, der seinen Vortrag abliest. Dabei blieb seine Miene meist völlig unbewegt. Wenn er über seine Herkunft sprach, so wie jetzt, hatte Nora das Gefühl, er redete über eine andere Person. Oder über eine Figur aus einem Roman.

»Viele dieser Babys«, fuhr er mit seiner Dozentenstimme fort, »wurden einfach unter der Hand weggegeben. Meine Eltern haben darauf bestanden, dass es offizielle Adoptionspapiere gibt. Dort steht zwar Herkunft unbekannt, aber mein Vater hat gute Beziehungen.« Er legte die Fingerkuppen aneinander und sah Nora herausfordernd an.

Sie widersprach ihm oft und gerne und er hatte sichtlich Vergnügen daran, sie mit seinem großen Wissen und Selbstbewusstsein in Grund und Boden zu reden. Trotzdem mochte Nora das Gespräch mit ihm. Er war auf seine schräge Weise liebenswert. Sie verzichtete darauf, ihn nach den »guten Beziehungen« seines Vaters zu fragen. Sie wusste, dass er Amerikaner war und selbst im Vietnamkrieg gedient hatte. Die Familie war schon vor vielen Jahren nach Deutschland gekommen, weil Sams Mutter, eine Deutsche, hier ein bedeutsames Erbe hatte antreten müssen. Sie waren reich, reicher als Noras Eltern, zumindest behauptete Sam das. Nora war es egal. Was sie aber in Unruhe versetzt hatte, war die Sache mit den Akten. Was war mit ihren eigenen Adoptionspapieren? Gab es welche?

Sie war nie auf die Idee gekommen, ihre Eltern danach zu fragen, weil ihr inzwischen klar war, dass ihre leibliche Mutter sie nicht gewollt hatte. Also interessierte es sie auch nicht, wer diese Frau gewesen war.

»Du kennst deine Adoptionsakte doch sicher auch!«, sagte Sam, als die gewünschte Frage nach den guten Beziehungen seines Vaters ausblieb.

Nora zuckte mit den Achseln. »Nein. Weiß gar nicht, ob es überhaupt eine gibt.«

»Wann bist du adoptiert worden?«

»Äh … ich glaube, ich war vierzehn Monate alt. Oder so.«

»Geburtsdatum?«

Nora zuckte die Achseln. »Das haben meine Eltern auf den 24. August 1974 festgelegt. Genau wissen sie es nicht, weil ich ja … na ja, irgendwann auf einmal da war.«

»Hm.« Sam legte den Zeigefinger an die Lippen und drehte die Augen zur Decke, als könnte er dort eine Antwort auf die Frage finden, die ihn beschäftigte.

»1974 … wahrscheinlich bist du schon zu alt«, scherzte er.

»Pf«, machte Nora. »Zu alt für was?«

»Das Adoptionsrecht ist 1976 reformiert worden. Seitdem muss zu jeder Adoption ein Adoptionspapier bei der Vermittlungsstelle hinterlegt werden. Wenn deine Eltern um Akteneinsicht für dich bitten, kannst du es dort einsehen – vorausgesetzt, es gibt eines.«

Woher wusste er das alles? Zum ersten Mal fand Nora sein besserwisserisches Gehabe nicht amüsant.

»Habt ihr das noch nie versucht?«

Nora schüttelte den Kopf und zog gleichzeitig die Schultern hoch.

»Weißt du etwa gar nicht, wo du herkommst?«, fragte Sam ungläubig.

»Du weißt es ja auch nicht! Du weißt bloß, was in Büchern steht und in irgendwelchen Akten. Und da steht ja nicht mal etwas!«

»Ich kenne das Land, aus dem ich komme und sogar das Dorf!«, trumpfte Sam auf.

»Ich komme von hier!«

»Nein«, sagte Sam. »Das glaube ich nicht. Du hast fast so schwarze Haare wie ich.«

»Aber meine Augen sind blau«, trumpfte Nora auf.

»Du siehst südländisch aus«, beharrte Sam. »Sieh dich doch mal um! Hier sind fast alle blond oder höchstens hellbraun und hellhäutig.«

»Und wenn …«, winkte Nora ab. »Ich will gar nicht wissen, welche Frau mich zur Welt gebracht hat.« Sie schob ihren Teller von sich. Sie hatte längst aufgehört zu essen, obwohl sie nicht einmal die Hälfte der Nudeln und nur zwei Bissen Fleisch geschafft hatte. »Eine Mutter reicht mir völlig!«

»Mir auch«, sagte Sam grinsend. »Aber darum geht es auch nicht.«

 

Krieg war eine gute Erklärung für das Verschwinden leiblicher Eltern. Und für fehlende Beine. Für den irreparablen Schaden an ihren Lendenwirbeln gab es keine Erklärung. Nur die, dass ihre Mutter ein schlechter Mensch gewesen sein musste. Vielleicht hatte sie Nora aus einem fahrenden Auto geworfen. Oder aus einem Fenster. Der Gedanke, dass es Akten geben könnte, in denen schwarz auf weiß stand, was tatsächlich passiert war, ließ sie nicht mehr los. Die Frage gärte wie eine unverdaute Masse in ihren Eingeweiden, quoll langsam aber sicher die Speiseröhre hoch, bis sie keinen Bissen mehr herunterbrachte, und besetzte ihre Hirnwindungen, so dass sie kaum noch an etwas anderes denken konnte. So war es immer. Erst wenn sie vor lauter Grübeln keinen Schlaf mehr fand und die Eltern begannen, sich Sorgen zu machen, weil sie nichts mehr aß, platzten die Dinge aus ihr heraus. Und dann meist zu einem unpassenden Zeitpunkt.

Dieser unpassende Moment war an einem Freitagabend gekommen. Ihre Eltern erwarteten Besuch, im Esszimmer war der Tisch festlich gedeckt, der Champagner war kaltgestellt und ihre Mutter band gerade ihrem Vater die Krawatte – etwas, das sie immer noch besser konnte als er, obwohl es sein Hals war und er es jeden Morgen tat. Nur wenn er nervös war, gelang ihm der Knoten nicht, und die flinken Finger ihrer Mutter zauberten in Sekundenschnelle den perfektesten Knoten, den die Welt je gesehen hatte. Wenn Noras Mutter den Krawattenknoten binden musste, war das ein Zeichen für Nora, sich unsichtbar zu machen. Es musste an dieser üblen, stinkenden Masse in ihrem Inneren gelegen haben, zu der die unbeantwortete Frage nach mittlerweile über einer Woche geworden war, dass sie die Gefahrenzeichen übersah. Bevor sie es verhindern konnte, waren ihr die Worte herausgerutscht: »Warum kenne ich die Akte über meine Adoption nicht?«

Ihre Mutter ließ die Hände sinken, obwohl der Knoten noch nicht fertig war. Ihre Eltern sahen einander an und Noras Mutter schüttelte fast unmerklich den Kopf. Zumindest glaubte Nora, ein Kopfschütteln gesehen zu haben. Dann wandten sich beide gleichzeitig ihr zu.

»Was für eine Akte?«, fragte ihr Vater.

»Es gibt keine Akte«, sagte ihre Mutter.

»Es muss eine geben«, sagte Nora. »Zu jeder Adoption muss ein beglaubigtes Adoptionspapier bei der Stelle hinterlegt werden, die das Kind vermittelt. Dort kann man es einsehen«, betete sie Sams Worte herunter. Die Sache mit der Reform verschwieg sie. Vielleicht stimmte es ja auch nicht.

In diesem Moment klingelte es. Die Gäste.

Hektisch vollendete Noras Mutter den Krawattenknoten und sagte zu ihrem Vater: »Mach du bitte auf, ich kümmere mich um den Champagner.« Sie eilte in die Küche.

»Was soll das denn?«, fragte ihr Vater. »Ausgerechnet jetzt.«

»Ich will wissen, was wirklich passiert ist.«

»Das haben wir dir gesagt. Du lagst verletzt auf der Straße. Mehr wissen wir nicht.« Er schob sie beiseite, um die Tür zu öffnen.

Draußen stand ein Pärchen, das Nora nicht kannte. Der Mann war klein und dick mit Brille und seine Frau überragte ihn um einen Kopf.

Nora war ihrem Vater gefolgt und stellte sich direkt hinter ihn, während er die Mäntel der beiden an die Garderobe hängte. »Steht das auch in der Akte?«, fragte sie.

»Oh, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen«, sagte ihr Vater zu dem Pärchen und drehte sich zu ihr um. Sein Lächeln erstarb im selben Augenblick. »Nora, sagst du bitte Guten Tag zu Herrn und Frau Sundermann?«

»Guten Tag«, sagte Nora schnell. »Und? Steht es?«

»Ja«, sagte er und sein Blick war dabei so kalt, wie sie ihn selten gesehen hatte. »Genau das steht drin. Und nun entschuldige uns bitte.«

Kapitel 4

 

Barcelona im Frühling 1972

 

Es war eine Gruppe Gitanos. Die Frauen trugen bunte, einfache Kleider und tanzten, die Männer klatschten rhythmisch dazu. Einer sang. Ana durfte nicht hier sein, aber wenn sie von der Schule nach Hause ging, machte sie immer den Umweg über die Plaza Raspall, wo viele Gitanos wohnten und oft am Nachmittag auf dem Platz zum Singen und Tanzen zusammenkamen, was eigentlich verboten war, aber sie taten es dennoch. Anfangs hatte Ana sie nur aus der Ferne beobachtet, aber sie war jeden Tag ein Stückchen näher herangekommen. Manchmal wurde die Gruppe auch von einem Gitarristen begleitet. Er war deutlich jünger als die anderen und wirkte ernst. Viel ernster als der Rest der Truppe.

Vor zwei Tagen hatte eine der Frauen ihr eine Kusshand zugeworfen und sie herangewinkt, während sie tanzte. Nur zu gerne wäre Ana einfach zu ihnen gegangen und hätte mitgetanzt, aber sie hatte sich nicht getraut.

Oft übte sie den Tanz zuhause vor dem Spiegel. Die Drehungen der Hände mit den abgespreizten Fingern gelangen ihr gut, aber das schnelle Klappern mit den Füßen funktionierte nicht. Sie konnte es auch nur barfuß üben, denn trüge sie Schuhe, hätte ihr Vater sie gehört. Er arbeitete unterhalb der Wohnung in seinem großen Büro. Sie durfte sich nicht erwischen lassen, denn der Tanz war schmutzig. Er war etwas für Leute wie diese Gitanos, die nur in der Stadt geduldet wurden, weil sie den reichen Touristen gefielen, die immer häufiger nach Barcelona kamen.

Heute allerdings hatte Ana keine Zeit. Sie musste zum Ballett. Das war der Tanz, den sie tanzen durfte, aber er gefiel ihr immer weniger. Die Lehrerin war streng und es gab keinen Raum für Ausgelassenheit, wenn sie an der Stange standen und stundenlang dieselben Figuren üben mussten. Da half es auch nicht, dass alle sagten, sie habe großes Talent. Nein, es half kein bisschen.

 

*

 

Ihr Vater hatte Besuch. Ein Herr aus Deutschland, mit dem er Geschäfte machte. Er war schon ein paarmal da gewesen und heute saßen sie im Salon und rauchten Zigarren. Das war ein Zeichen, dass dieser Herr ein besonders guter Kunde war, denn nicht alle Geschäftspartner durften in die Wohnung kommen. Ihr Vater verkaufte ihm Wein, der in unzähligen Kisten aus Andalusien angeliefert wurde und unten im Haus in den Lagern gestapelt war. Mit Wein handelte ihr Vater noch nicht so lange, erst seit deutsche Touristen jeden Sommer nach Mallorca und an die Costa Brava kamen und ihre Lieblingsweine dann auch zuhause in Deutschland genießen wollten.

Ihre Mutter hatte sich sehr schick angezogen und auch die ältere Schwester trug ihr bestes Kleid. Sie standen nebeneinander vor dem großen Spiegel im Eingang, als Ana aus dem Wohnzimmer kam, wo sie den deutschen Herren artig begrüßt hatte.

»Warum habt ihr euch so fein gemacht?«, wollte Ana wissen.

»Wir gehen aus«, sagte ihre Mutter. »Der Herr Steinbrecher möchte eine Flamenco-Show besuchen.« Sie sagte es mit Abscheu in der Stimme, als bestünde die Gefahr, sie könne sich schon bei der Erwähnung des Wortes eine hässliche Krankheit zuziehen.

»Wir? Ich auch?«, fragte Ana hoffnungsvoll.

»Dios mio, no!«, rief ihre Mutter aus.

»Oh, bitte, bitte! Ich will mit!«

»Kommt gar nicht infrage! Das ist eine geschäftliche Sache.«

»Und warum geht Isabel dann mit?« Anklagend zeigte Ana auf ihre Schwester, die sich vor dem Spiegel drehte und ihren Rock schwingen ließ.

»Weil ich älter bin.«

»Nur zwei Jahre!«

»Zwei wichtige Jahre!« Isabel war letzte Woche achtzehn geworden und benahm sich, als wäre sie plötzlich zur Königin Spaniens ernannt worden.

»Das ist gemein! Wenn Isabel mitdarf, will ich auch!«

Ihr Vater war aus dem Salon gekommen und hatte ihre letzten Worte gehört. »Was willst du auch?«

Ihre Mutter schnalzte mit der Zunge, wie sie es immer tat, wenn eine ihrer Töchter Unsinn erzählte. »Deine Tochter will mit zur Flamenco-Show!«, sagte sie, und zu ihr gewandt: »Nun geh und wasch dich, du bist noch ganz verschwitzt vom Ballett!«

Ana kickte die Schuhe von den Füßen, wusch sich rasch von oben bis unten und zog ihr bestes Kleid an. Sie musste mit in diese Show! Egal, was ihre Mutter sagte!

Als sie die Schnallen ihrer Schuhe schloss, hörte sie draußen vor der Tür schon die Stimmen ihres Vaters und des deutschen Herrn. Er sprach Spanisch, allerdings auf eine sehr lustige Weise. Sie riss die Tür auf und sagte: »Ich bin auch fertig!« Dabei sah sie den Herrn Steinbrecher beschwörend an.

»Encantado, hocherfreut«, sagte er und deutete eine galante Verbeugung an. »Die ganze Familie, wie schön!« Er lächelte und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, als wüsste er genau, was sie im Schilde führte.

»Ana!«, rief ihre Mutter aus und ihre Augen funkelten vor Zorn.

Ihr Vater war sprachlos. Er sah von ihr zu Herrn Steinbrecher und wieder zurück und nickte schließlich. »Tja dann …«, sagte er nur und wandte sich ab.

Und während sie mit ihrer Schwester hinter den Erwachsenen die Treppe hinunterging, zischte Isabel ihr ins Ohr: »Du kleine Schlange«!

 

Sie gingen in ein Tablao, ein Flamenco-Lokal, im Barrio Gótico. Ihr Vater erläuterte Herrn Steinbrecher, dass der Flamenco früher, noch vor Franco, in Barcelona kaum getanzt worden war. Hier habe man die Sardana getanzt, einen Volkstanz, bei dem sich Männer und Frauen an den Händen fassten, einen Kreis bildeten und zu Flöten und Blasmusik komplizierte Schrittfolgen ausführten. Dieser Tanz war inzwischen verboten, so wie es auch den Gitanos untersagt war, auf öffentlichen Plätzen ihre Flamencolieder zu singen und dazu zu tanzen. Dafür gab es die Tablaos und Flamenco-Shows überall in der Stadt. Vieles war verboten, sogar die Sprache, die ihr Vater früher gesprochen hatte. Es schien ihm nichts auszumachen. Franco sei ein guter Mann, sagte er immer. Er habe das Land nach vorne gebracht.

Es war ein recht kleiner Saal, an Tischen saßen die Zuschauer und aßen, während auf einer Bühne ein Gitarrist und ein Sänger die Darbietung einer Tänzerin in einem schwarz-rot-gepunkteten Kleid und mit einer Nelke im Haar begleiteten. Sie tanzte vollkommen anders als die Gitanas auf der Plaza Raspall. Sie lächelte die ganze Zeit, vollführte grazile Hand- und Armbewegungen und verbarg ihr Gesicht immer wieder hinter einem bunten Fächer. Irgendwann tauschte sie den Fächer gegen Kastagnetten ein, mit denen sie rhythmisch klapperte. Hin- und wieder stampfte sie auch mit den Füßen auf, aber ganz ohne die flammende Energie, mit der es die Gitanas taten.

Ana war zutiefst enttäuscht. Das war nicht der Flamenco, den sie kennengelernt hatte, dessen Kraft und Feuer ihr beim bloßen Zuschauen das Blut heiß durch die Adern jagte. Diese Tänzerin versteckte sich hinter ihrem Fächer und dem Geklapper der Kastagnetten, als wäre es ihr peinlich, was sie da auf der Bühne tun musste. Das Publikum aß, lachte und schwatzte und schaute nur hin und wieder zur Bühne, wenn der Sänger seine Stimme erhob und das Fußgeklapper lauter wurde. Am Ende der Darbietung wurde geklatscht und das Grüppchen verließ beinahe erleichtert die Bühne.

Herr Steinbrecher hingegen war restlos begeistert. Der Wein, das Essen, die »rassige Andalusierin«, wie er sie nannte, gefielen ihm so sehr, dass er ein ums andere Mal ihrem Vater auf die Schulter schlug und sagte: »Amigo, esto es España! Ein tolles Völkchen seid ihr!«

 

*

 

An einem Freitag nicht lange nach dem Besuch im Tablao gab Ana nach dem Mittagessen in der Schule vor, sich unwohl zu fühlen, und fragte, ob sie früher nach Hause gehen dürfe. Sie besuchte eine Klosterschule und die Schwestern waren furchtbar streng. Ihr Herz klopfte, denn Lügen war eine Todsünde, aber heute ging es einfach nicht anders. Die Oberin wurde gerufen und legte ihr eine eisige Hand auf die Stirn. Dann verlangte sie, Ana solle die Zunge herausstrecken. Ana hatte vorgesorgt und unmittelbar davor ein Glas Milch getrunken und so nickte die Oberin. Sie durfte gehen.

So schnell sie konnte, lief sie zur Plaza Raspall. Es war erst kurz nach Mittag und es waren viel weniger Menschen auf dem Platz als an den Nachmittagen, an denen sie sonst hierher gekommen war. Auf einer Bank saß der junge Gitarrist, den sie schon öfter hier gesehen hatte. Er wirkte nicht viel älter als Isabel. Jetzt blickte er konzentriert auf seine Finger und spielte immer wieder denselben Akkord.

Ana ging über den Platz auf ihn zu, doch wenige Meter, bevor sie ihn erreicht hatte, verließ sie der Mut und sie wollte abdrehen. In diesem Moment sah er auf.

Sein Blick war wie ein Stromschlag. Vielleicht lag es an seinen Augen, die so blau waren, wie sie eigentlich nicht sein durften bei einem Gitano. Es gehörte sich nicht, einem Mann so direkt in die Augen zu blicken. Schon gar keinem Gitano. Und doch blieb Ana stehen und starrte in dieses Gesicht, das so jung und zugleich erfahren aussah und sich jetzt zu einem frechen Grinsen verzog.

»So früh heute? Schwänzt du etwa die Schule?« Er zeigte auf ihre Uniform, in der sie hier in der Gegend so fehl am Platz wirkte wie ein Kaiserpinguin im Regenwald.

»Das geht dich gar nichts an!« Ana reckte das Kinn vor und riss den Blick von seinen Augen los.

»Lass mich raten: Colegio Immaculada Concepción, Calle Valencia.«

Natürlich konnte man von der Schuluniform auf die Schule schließen, aber er? Ein Gitano? Ana ließ sich ihre Verwirrung nicht anmerken. »Immerhin gehe ich in eine Schule.«

»Natürlich, und sogar in die richtige.« Er zupfte an den Saiten seiner Gitarre und ließ sie nicht aus den Augen. »Für eine wie dich«, setzte er hinzu und ließ den Blick über ihren Körper wandern.

»Einer wie du muss natürlich nicht in die Schule«, gab sie zurück. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen, und wenn er sie noch so unverhohlen anstarrte.

Er lächelte amüsiert. »Was bin ich denn für einer?«

»Und was bin ich für eine?«, versetzte sie.

Jetzt lachte er laut und seine Augen blitzten wie das Meer im Sonnenlicht. »Eine, die immer eine Antwort parat hat.« Er spielte eine Weile und Ana schaute zu. Dann hob er den Kopf und fragte: »Und was willst du hier? Suchst du jemanden?«

»Gehörst du zu der Gruppe, die hier immer tanzt?«, fragte Ana. Sie konnte sich dessen nicht sicher sein, denn eigentlich sah er nicht aus wie ein Gitano. Und zu den Gitanos gehörte man nur, wenn man selbst einer war.

»Ich gehöre zu niemandem«, sagte er und zuckte die Achseln. »Ich spiele nur mit.«

»Und sie lassen dich?«

»Siehst du ja.«

Ana drehte an dem Ring, den sie am linken Mittelfinger trug. Sie hatte ihn von ihrer Großmutter bekommen, die vor wenigen Wochen gestorben war. Genau wie die teure Brosche, die sie jetzt in Seidenpapier eingepackt in ihrer Schublade aufhob. Ihre Großmutter hatte Katalanisch gesprochen und ihr heimlich ein paar Brocken beigebracht. Niemand durfte das wissen, aber ihre Großmutter hatte viele Dinge getan, die niemand wissen durfte. Vor allem ihr Vater nicht. Ana vermisste sie sehr; sie war die Einzige gewesen, die wusste, dass Ana heimlich das Flamencotanzen übte.

»Ich will es lernen«, sagte Ana plötzlich. »Wen aus der Gruppe kann ich fragen? Du kennst sie doch.«

Überrascht schaute er hoch. Sein Blick war klar wie das türkisblaue Meer an einem windstillen Sommertag. Ana widerstand dem Impuls, zu Boden zu sehen, wie es sich gehört hätte.

»Warum?«

»Weil … ich will es auch können. Einfach so.«

»Geh nach Hause in dein Barrio. Du darfst bestimmt nicht hier sein.«

Ana stemmte die Hände in die Hüften. Sie stand jetzt nur eine Armlänge vor ihm und sah auf ihn herunter. »Das ist ja wohl meine Sache.«

Er legte die Gitarre auf die Bank und stand auf. Nun musste Ana zu ihm aufschauen. Er war größer, als er im Sitzen ausgesehen hatte. Vielleicht war er doch schon über zwanzig. Sie wich einen Schritt zurück.

»Komm morgen wieder. Nach sechs. Dann ist Mari Carmen hier. Sie ist die Älteste. Sie kannst du fragen.«

Morgen um sechs war Ballettunterricht. Sie hatte noch nie gefehlt, doch morgen würde es das erste Mal sein. Es musste!

»Bist du morgen auch da?« Wie das klang! Schnell schob sie hinterher: »Ich weiß ja nicht, wie Mari Carmen aussieht.«

Ein Mundwinkel hob sich leicht, aber es sah nicht spöttisch aus. »Komm einfach her. Du wirst sie finden, ich bin sicher. Aber …« Er zeigte auf ihren grünen Schulrock. »Lass die Uniform zuhause!«

Dann nahm er die Gitarre und ging auf eine Seitengasse zu. Bevor er darin verschwand, drehte er sich noch einmal um: »Wie heißt du überhaupt?«, rief er ihr zu.

»Ana! Und du?«

»Sie nennen mich El Aleman. Wegen der Augen. Aber ich bin Baske.«

Dann war er weg. Und Ana lief mit klopfendem Herzen nach Hause. Jetzt fühlte sie sich genauso fiebrig, wie sie vorgegeben hatte zu sein.

 

*

 

Mari Carmen, die älteste der Gitanas, saß auf einem Stuhl, inmitten der Gruppe, die heute nicht tanzte – wahrscheinlich, weil die Francopolizei im Barrio unterwegs war. Der junge Baske, El Aleman, war auch da und gab Ana durch eine kaum merkliche Bewegung mit dem Kopf zu verstehen, an wen sie sich wenden musste. Ana ging schnurstracks auf die kräftige Frau zu, stellte sich direkt vor sie hin und sagte: »Ich will den Flamenco lernen. Aber so wie ihr ihn tanzt, genauso!«

Mari Carmen sah sie aus ihren fast schwarzen Augen stirnrunzelnd an und wechselte dann einen Blick mit dem Mann neben ihr. Er war deutlich jünger, blickte aber ebenso finster drein wie sie. Vielleicht war er ihr Sohn. Schließlich schüttelte sie den Kopf, dass die riesigen Ringe an ihren Ohren nur so flogen. »Das ist nichts für dich«, sagte sie mit ihrer tiefen, fast männlichen Stimme.

»Warum nicht?«, fragte Ana.

»Wenn du tanzen willst, geh zum Ballett.«

»Da bin ich schon. Aber ich will den Flamenco von euch lernen.«

»Es ist verboten. Das weißt du!«

»Das ist mir egal.«

Wieder schüttelte Mari Carmen den Kopf. Ihr dichtes, schwarzes Haar war von silbergrauen Strähnen durchzogen und am Hinterkopf in einen festen Knoten gebunden. Dunkle Härchen zogen sich ihre Schläfe hinunter, sogar über der Oberlippe waren sie zu sehen.

»Wir können dir nichts beibringen. Sieh zu, dass du nach Hause kommst.« Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle sie eine Fliege verscheuchen.

Ana ließ sich nicht beirren. Obwohl ihr Herz hämmerte, dass sie glaubte, ihr Brustkorb müsse gleich explodieren, sagte sie: »Ich war schon oft hier und habe zugesehen. Das hier kann ich schon.« Sie vollführte eine Schrittfolge, die sie häufig bei den Gitanas gesehen hatte. Sie legte ihren ganzen Willen in die wenigen Schritte, die energischen Armbewegungen und in ihren Blick, den sie fest auf Mari Carmen heftete. Die Schritte, die sie vollführte, gehörten zu einer Llamada, aber das sollte sie erst später erfahren.

Mari Carmen hob ganz leicht die Brauen, sah zu den anderen Frauen hinüber, die sich um sie herumgestellt hatten und schürzte dann die Lippen. »Warum willst du das lernen?«, fragte sie und ihre Stimme war um eine Nuance heller geworden.

»Weil es mir gefällt.«

Mari Carmen stieß einen verächtlichen Laut aus. »Das reicht nicht.«

»Weil man es hier spürt, wenn man euch tanzen sieht«, sagte Ana und legte die Faust auf ihr Brustbein. »Ich will das auch können.«

»Obwohl es verboten ist? Du wirst Ärger bekommen.«

Ana hob das Kinn und sagte so laut, dass alle es hören konnten: »Ich will es lernen, weil es verboten ist!«

 

*

 

Die folgenden Samstagvormittage verbrachte sie in einem der Hinterhöfe der Plaza Raspall, wo sie von den Gitano-Frauen die ersten Palos lernte, wie die Schrittfolgen genannt wurden. Zuhause erzählte sie, sie übe mit einer Freundin von der Ballettschule für die nächste Aufführung. Alle glaubten ihr, selbst Isabel, die normalerweise alles anzweifelte, was Ana sagte.

Sie lernte schnell – so schnell, dass sie bald von den anderen La Gitana genannt wurde. El Aleman kam oft dazu und begleitete die Frauen auf der Gitarre. Und dabei geschah es nicht selten, dass sich Anas Blick in seinem verlor.

Er hieß eigentlich Andoni, doch niemand außer Mari Carmen nannte ihn so, weil das Baskische, genau wie das Katalanische, verboten war. Er war tatsächlich schon 22 und studierte am Conservatorio de Música, lebte in der Nähe der Plaza Raspall und wurde von der Gruppe nur deshalb akzeptiert, weil er besser Gitarre spielte als irgendein Gitano in der Stadt.

Wenn die Samstagssession vorbei war, begleitete Andoni sie ein Stück, allerdings immer nur bis zur Avenida Diagonal, die das Gràcia-Viertel von ihrem eigenen Viertel trennte. Er war es auch, der ihr erklärte, warum die Palos, die sie bei den Gitanas lernte, in den Tablaos und Flamenco-Theatern nicht getanzt werden durften. Warum überhaupt so viele Dinge verboten waren, die für die Katalanen von jeher wichtig gewesen waren – wie ihre eigene Sprache. Von ihm lernte sie, Franco und das politische System, in dem sie aufgewachsen war und das sie bislang nie kritisch hinterfragt hatte, in einem ganz neuen Licht zu sehen.

Und was sie noch von Andoni lernte, war das Küssen. Natürlich hatte sie schon einmal einen Jungen geküsst, aber nicht so, wie sie es mit Andoni in den dunklen Hauseingängen des Barrio de Gràcia tat.

Es waren bereits einige Wochen vergangen, seit Ana heimlich mit den Gitanas tanzte, da hielt Mari Carmen sie am Ärmel fest, als sie nach einem der Tanztreffen nach Hause gehen wollte. Andoni war heute nicht gekommen, er hatte eine Prüfung in der Musikhochschule.

»Eh, Ana, hör mal«, sagte Mari Carmen. »Ich muss dir was sagen.« Sie schaute so ernst, dass Ana fürchtete, sie würde ihre nun schon zur Gewohnheit gewordenen Treffen aufkündigen wollen.

»Was denn?«, fragte sie angstvoll.

»Halt dich fern von Andoni. Er ist ein netter Kerl, aber … du kommst in Schwierigkeiten, wenn du dich mit ihm einlässt.«

Ana spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die anderen etwas gemerkt hatten. Bis zu ihrem ersten Kuss vor zwei Wochen war ja nicht einmal ihr selbst bewusst gewesen, wie sich Andoni langsam aber sicher in ihr Herz geschlichen hatte.

»Wieso sagst du das?«, fragte sie.

»Flamenco zu tanzen und dich mit Gitanos abzugeben, ist eine Sache«, sagte Mari Carmen ernst. »Dafür kriegst du nur Ärger zuhause. Wenn du dich aber mit einem baskischen Systemkritiker abgibst, kriegst du Ärger mit ganz anderen Leuten.«

Baskischer Systemkritiker? Andoni? Ana lachte. »Unsinn. Er ist Student. Er lebt für die Musik. Selbst wenn er Franco nicht unbedingt toll findet, heißt das doch nicht …«

»Doch!«, sagte Mari Carmen. »Genau das heißt es.«

Ana legte den Kopf schief. Sie dachte an Andonis blaue Augen, seine sanften Fingerspitzen, die über ihr Gesicht streichelten, wenn sie sich küssten und an die tiefe Melancholie in seinem Blick, wenn er Gitarre spielte. Dann streckte sie ihren Rücken so gerade durch, wie sie konnte und sagte: »Gut. Er hat ja auch Recht. Franco ist ein Diktator. Gerade ihr solltet ein Interesse daran haben, dass er verschwindet. Und um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß, was ich tue.«

Kapitel 5

 

»Ich heiße Nuria!«

Verständnislos sah Stefan sie an. Seine Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab und auf seiner Wange hatte einer der Zierknöpfe ihres Sofakissens einen kreisrunden Abdruck hinterlassen. Sie hielt ihm eine Tasse Kaffee hin und konnte nicht verhindern, dass ihre Hand dabei zitterte. Das Brummen der Kaffeemaschine hatte Stefan geweckt, aber er schien aus tiefsten Träumen gerissen worden zu sein und war eindeutig überfordert mit dieser Neuigkeit.

»Ja«, sagte er nur und nahm ihr die Tasse ab, bevor sich deren Inhalt über den hellgrauen Sofabezug ergießen konnte.

»Ich war im Krankenhaus«, setzte Nora hinzu, als würde das irgendetwas erklären.

»Bei deinem Vater.« Stefan nickte vor sich hin, aber er sah nicht aus, als verstünde er den Zusammenhang.

»Er stirbt.«

»Das tut mir leid, Nora.«

»Nuria.«

Er stellte die Tasse auf dem Couchtisch ab und fuhr sich durch die Haare in dem erfolglosen Versuch, Ordnung hinein zu bringen, ganz so, als könne er auf diese Weise auch seine Gedanken ordnen. »Das musst du mir erklären.«

»Ich kann es nicht.«

»Und wieso …«

»Er hat es mir gesagt.«

Allmählich schien ihm zu dämmern, worüber sie redete. »Und weiter?«, fragte er.

»Nichts weiter. Er konnte kaum sprechen, Atemnot und so. Jetzt ist meine … Christel ist jetzt bei ihm. Ich weiß nicht, ob …« Sie musste tief Luft holen, um ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Er wollte es mir sagen. Wer meine Mutter ist, wer ich wirklich bin. Aber ich konnte nicht zuhören, ich …«

»Komm her«, sagte Stefan und klopfte auf das Polster neben sich. »Lass dich mal in den Arm nehmen.«

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte jetzt keine Nähe ertragen.

»Nuria klingt …«

»Es klingt spanisch. Es muss ein spanischer Vorname sein.« Die Worte waren einfach aus ihr herausgepurzelt. Seit sie das Krankenbett ihres Vaters verlassen hatte, war ihr Gehirn wie von einer Wolke vernebelt gewesen und sie hatte nicht einen vernünftigen Gedanken fassen können. Aber jetzt war ihr Kopf plötzlich klar.

»Es ist vor allem ein sehr schöner Name. Ich finde, er passt super zu dir.«

»Ja«, sagte sie nur, während sie auf ihrem Handy den Ursprung des Namens googelte. »Es ist katalanisch. Es bedeutet die Lichttragende

»Oh.« Stefan strahlte. »Das passt aber mal so richtig gut!«

»Du begreifst das nicht!«

»Was genau, bitteschön, begreife ich nicht?«

»Sie haben mich belogen, betrogen, mein ganzes, verdammtes Leben lang! Sie haben gesagt, sie wüssten nicht, woher ich käme! Sie haben behauptet, meine Mutter sei wahrscheinlich irgendeine Fixerin gewesen, die sich nicht um mich kümmern konnte, sie …«

»Aber wer sagt denn, dass das gelogen ist?«

Sie griff ihre Krücke, fegte die halbvolle Kaffeetasse vom Tisch und ein Kissen hinterher. Dabei brüllte sie Stefan an: »Es stimmt nicht! Jemand hat mich getauft, mir diesen Namen gegeben! Ich bin kein Findling, ich habe eine Mutter, die mich vielleicht nie weggeben wollte! Ich …«

In ihrer Erregung verlor sie das Gleichgewicht und landete neben Stefan auf dem Sofa, der sie festhielt, während sie ihren Zorn und Frust in die Sofakissen brüllte. Dabei wusste sie nicht, wem ihre Wut eigentlich galt: Ihren Adoptiveltern, die ihr etwas so Wichtiges vorenthalten hatten, oder ihr selbst, weil sie ihrem Vater nicht zugehört hatte, als er reden wollte.

Als sie endlich wieder zur Ruhe kam, fragte Stefan sanft: »Was genau ändert sich für dich, wenn du Nuria bist und nicht Nora?«

»Alles«, sagte Nuria tonlos. »Es ändert sich alles!«

 

Noch lange saß Nuria neben Stefan auf dem Sofa und starrte auf den spanischen Fächer, der seit Jahren über der antiken Kommode hing, die Nuria zum Abschluss des Studiums geschenkt bekommen hatte. Von ihren Eltern, die sie belogen hatten.

Irgendwann sagte Stefan: »Komm, wir fahren zum Rhein. Du brauchst frische Luft!«

Nuria nickte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Stefan.

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Vorschlag: Wir packen eine Thermoskanne Kaffee ein, holen uns was zu Beißen und fahren zum Rhein. Hirn durchpusten. Wird dir guttun.« Er gab ihr einen freundschaftlichen Klaps aufs Bein und verschwand im Bad, ohne ihre Widerrede abzuwarten.

Nuria zog ihr Handy aus der Tasche. Sie sollte ihre Mutter anrufen. Nicht ihre Mutter, Christel. Sie sollte zurück ins Krankenhaus fahren. Vielleicht wurde ihr Vater noch einmal wach. Dann könnte sie ihn fragen, wie er es gemeint hatte. Vielleicht war er ja verwirrt gewesen und es war alles ein großer Irrtum. Vielleicht war auch sein Sterben ein Irrtum. Er war schon immer für Überraschungen gut gewesen.

 

Unfähig, eine eigene Entscheidung zu treffen, ließ sie sich von Stefan zum Rhein fahren. Der Wind hatte aufgefrischt und schneeweiße Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Der Weg zum sandigen Ufer war beschwerlich, Stefan musste sie mehrmals stützen, weil sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, aber als sie auf der Decke ganz vorn am Ufer saß, die verhassten Schuhe ausziehen und die nackten Füße in den kühlen Sand bohren konnte, spürte sie, dass es der richtige Ort war, um zu Gedankenklarheit und innerer Ruhe zurückzufinden. Auf dem dahineilenden Wasser tanzten die Sonnenfunken und die trägen Tankschiffe, die sich stoisch gegen die Strömung voran arbeiteten, erzeugten – zumindest für den Moment – die Illusion von Stärke und Verlässlichkeit.

Schweigend schlürften sie Kaffee aus Kunststoffbechern und aßen die mitgebrachten Sandwiches.

»Also«, sagte Stefan nach einer Weile. »Jetzt hast du zumindest eine Erklärung dafür, warum du so ein Faible für spanische Musik hast. Du bist Spanierin! Olé!« Er wirbelte mit dem Arm durch die Luft.

»Großartig«, brummte Nuria.

»Nimm es positiv. Du kannst dich jetzt nochmal ganz neu kennenlernen.«

Nuria lachte bitter auf. »Das ist ungefähr so, als würde ich jemanden daten, der unsichtbar ist.«

»Nora … du …«

»Nuria!«

»Verzeih. Nuria. Ich muss mich auch erst mal dran gewöhnen.« Er lachte verlegen. »Also: Du bleibst doch trotzdem du! Es ändert vielleicht viel im Verhältnis zu deiner Adoptivmutter, aber es ändert dich nicht!«

»Doch«, sagte sie, nachdem sie eine Weile über seine Worte nachgedacht hatte. »Doch, auch mich ändert es. Ich habe nie wirklich wissen wollen, wer diese Frau war, die mich zur Welt gebracht hat. Meine Elt … also Christel und Hermann haben alles getan, um zu verhindern, dass ich es erfahre. Sie haben mich manipuliert. Ich bin das, was sie aus mir gemacht haben. Aber … wer bin dann Ich

»Finde es heraus«, sagte Stefan. »Fahr nach Spanien.«

Erstaunt sah Nuria ihn an. »Und was soll mir das bringen?«

»Man weiß nie, was eine Reise bringen wird. Aber du hast gesagt, Nuria ist ein katalanischer Vorname. Fahr nach Barcelona! Ist eine tolle Stadt!«

»Ich kann jetzt hier nicht weg. Sie wird mich brauchen.«

»Du bist so loyal!«

»Ja«, sagte Nuria achselzuckend. »Dazu haben sie mich erzogen. Zu Loyalität und Dankbarkeit.«

»Ist ja nichts Schlechtes«, sagte Stefan und legte den Arm um sie. Schweigend starrten sie auf den Fluss und Nuria versuchte, gegen den Druck anzuatmen, der sich schwer auf ihre Brust gelegt hatte.

»Wann fährst du nach Berlin zurück?«, fragte sie, als sie endlich wieder Luft für Worte fand.

Stefan sah auf seine Uhr. »Geplant war: in zwei Stunden.«

»Was?« Hastig griff Nuria nach ihren Schuhen und zog sie an.

»Alles gut. Ich kann auch einen späteren Zug nehmen.«

»Kommt nicht infrage. Du hast doch ein Ticket!«

»Ich kauf ein Neues. Kann dich doch in diesem Zustand nicht allein lassen!«

»Ich bin ja nicht allein.«

»So?« Stefan warf ihr einen langen Blick zu.

Nuria versetzte ihm einen Stoß. »Schau mich nicht so an. Ich habe schon noch ein paar Freunde.«

»Seit mit Ralf Schluss ist, hast du von denen aber nichts mehr erzählt.«

Ralf war Nurias letzter, vergeblicher Versuch gewesen, eine erotische Affäre in eine feste Beziehung zu wandeln, bis sie feststellen musste, dass der um einige Jahre ältere Mann eine Schwäche für Frauen mit körperlichen Einschränkungen hatte. Die Dame, mit der Nuria ihn im Bett erwischte, trug eine Beinprothese. Das heißt, sie trug sie nicht – die Prothese lehnte neben dem Bett und Ralf liebkoste gerade ihren Beinstummel, als Nuria ins Zimmer platzte.

»Bildest du dir etwa ein, ich erzähle dir alles

»Ja klar!«, sagte Stefan.

Nuria musste unwillkürlich lachen. Stefan war tatsächlich der einzige Mensch, dem sie sich vollkommen anvertrauen konnte. Natürlich gab es Freundinnen für gemeinsame Kino-, Theater- und Museumsbesuche. Und für Gespräche über Job, Mode, Essen oder auch körperliche Fitness, aber keine von denen wusste, dass Nuria ein Adoptivkind war, obwohl sie ihren Eltern so gar nicht ähnlichsah. Vielleicht ahnten sie es, aber sie sprachen nie darüber. Nuria war gerade eben so »eine von ihnen«, nie ganz – schon allein deshalb, weil es ihr im Fitnessstudio nicht um die schlanke Linie ging, sondern darum, nicht vollständig zum Krüppel zu werden.

»Ich bringe dich jetzt zum Bahnhof«, sagte Nuria entschlossen. »Ich will nicht, dass du wegen mir deine Pläne änderst.« Sie zog sich an ihrer Krücke hoch und wartete, bis Stefan seinen schwarzen Lieblingshut wieder aufgesetzt und die Decke eingerollt hatte.

Die Böen hatten sich inzwischen zu einem stürmischen Wind ausgewachsen, der Nuria ein paarmal umzuwerfen drohte. Sie stemmte sich dagegen, während Stefan sie von hinten anschob.

Als sie den Deich erreichten, klingelte Nurias Handy. Sie warf einen Blick auf das Display und sah, dass es Christel war. Sie rang kurz mit sich, nahm den Anruf dann aber an.

Christels Stimme klang dünn. »Er ist tot, Nora. Er ist einfach gestorben. Ohne ein letztes Wort! Er hat nicht mal mehr die Augen aufgemacht!«

War dies der richtige Moment, um ihre Mutter daran zu erinnern, dass sie nicht Nora war? Nuria atmete schwer gegen den Druck an, der sich erneut auf ihre Brust gelegt hatte. »Wo bist du jetzt?«, brachte sie mühevoll heraus.

»Noch im Krankenhaus. Ich … bitte komm!«

Nuria warf einen fragenden Blick zu Stefan. Kannst du mich hinbringen?, hieß das. Sie fühlte sich außerstande, selbst zu fahren. Er nickte.

»Es dauert einen Moment«, sagte sie. »Wir sind … ich bin am Rhein. Knappe Stunde. Schaffst du das?« Der Wind zerrte an ihren Haaren und sie musste sich nach vorne auf die Krücke lehnen, um nicht von den Beinen geweht zu werden.

»Wie bitte? Ich verstehe dich nicht. Nora?«

»Ich komme!«, rief sie. »Und ich heiße Nuria!«, schrie sie hinterher, aber die Verbindung war schon unterbrochen.

 

Sie holten Stefans Gepäck aus ihrer Wohnung und Nuria überredete ihn, mit ihrem Wagen weiter zum Bahnhof zu fahren. »Leg den Schlüssel auf den Reifen. Ich hole das Auto später ab, schreib mir einfach, wo er steht.«

»Aber …«

»Bitte!«

Am Krankenhaus wollte Nuria ihm einen raschen Kuss auf die Wange drücken und aussteigen, aber er hielt sie fest. »Du wirst mit deiner Mutter reden müssen. Du brauchst Klarheit«, sagte er.

»Natürlich.«

»Halt mich auf dem Laufenden.«

»Mach ich.«

»Mensch, Nuria …«, seufzte er und drückte sie fest an sich.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich habe schon so viele Enttäuschungen in meinem Leben erlebt. Diese hier verkrafte ich auch noch.«

 

Christel saß im Wartebereich unten am Empfang. Nuria setzte sich neben sie.

»Er liegt noch im Zimmer«, sagte Christel ohne ein Wort der Begrüßung. »Ich habe gebeten, dass sie warten, bis du da bist. Du willst ihn sicher noch einmal sehen.«

Nuria hatte nicht das Bedürfnis, den Leichnam ihres Adoptivvaters zu sehen, aber sie fand die Worte nicht, um ihr das zu sagen.

Sie traten gemeinsam an sein Bett. Christel setzte sich neben ihn und küsste die wächserne Stirn. Nuria blieb stehen und sah auf ihn herunter. Sie schämte sich dafür, aber sie empfand gar nichts. Sie konnte diesen blassen Leichnam nicht mehr mit dem Mann in Verbindung bringen, den sie ihr Leben lang »Papa« genannt hatte. Auch die Frau, die leise weinend dort saß und seine Hände streichelte, hätte eine Fremde sein können.

»Wie soll ich nur weitermachen ohne ihn?«, flüsterte Christel.

»Das schaffst du«, sagte Nuria und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es wird sicher jeden Tag ein wenig leichter«, setzte sie lahm hinzu.

Christel wackelte mit dem Kopf. Das hatte Nuria bei ihr in letzter Zeit häufiger beobachtet. Es wirkte ein klein wenig senil, obwohl man ihrer Adoptivmutter die 65 Jahre rein äußerlich nicht anmerkte. Ein zittriger Seufzer durchfuhr Christel. Sie sah zu Nuria auf und ergriff ihre Hand. »Gott sei Dank habe ich ja dich«, flüsterte sie.

Nuria wollte am liebsten ihre Hand zurückziehen. Sie konnte die Berührung nicht ertragen. »Ja«, sagte sie. »Das hast du.« Sie vermied es, ihrer Adoptivmutter dabei in die Augen zu sehen.

 

Innerhalb weniger Stunden regelte Nuria die Formalitäten, beauftragte ein Bestattungsunternehmen und legte Zeitpunkt, Ort und Ablauf der Bestattung fest. Sie erstellte eine Einladungsliste, reservierte das Restaurant für den Beerdigungsschmaus und vereinbarte einen Termin mit dem Notar, der das Testament ihres Vaters unter Verschluss hielt. Als Christel plötzlich entsetzt ausrief »Ich habe gar nichts Schwarzes! Ich trage doch kein Schwarz«, bestellte sie nebenbei noch ein Trauerkostüm bei einem Versandhandel. Nuria hatte ihre Adoptivmutter immer nur in pastellfarben Blusen und Jacken zu grauen oder blauen Röcken gesehen. Alles von feinster Qualität natürlich und von ihrem Lieblingsschneider angefertigt.

Christel war mit allem einverstanden, nickte nur hin und wieder und sagte Sätze wie: »Ich kann es immer noch nicht begreifen« oder »Wie gut, dass ich dich habe«. Selbst gegen den sonst so verpönten Versandhandel hatte sie nichts einzuwenden.

Am Abend bat sie Nuria, über Nacht zu bleiben.

»Natürlich«, sagte Nuria, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich in ihre eigene Wohnung zurückzukehren. Noch nie hatte Christel sie so häufig mit »Nora, Liebes« angesprochen. Heute, so schien es Nuria, begann sie jeden Satz mit diesen Worten, leise in ihr Ohr geträufelt, wie eine geruchslose aber tödliche Giftmischung.

Als Christel ins Bett ging, ihr die Hand auf die Wange legte und sagte: »Nora, Liebes, ich werde versuchen zu schlafen. Gut, dass du da bist«, explodierte etwas in ihr. Nicht heute, nicht ausgerechnet heute, hatte sie sich selbst immer wieder ermahnt. Aber dieses letzte »Nora, Liebes«, setzte Reaktionen in ihrem Körper in Gang, die sie nicht mehr unter Kontrolle hatte.

»Ich heiße Nuria!«, zischte sie.

Ihre Adoptivmutter hatte ihr bereits den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg zur Tür. Sie blieb stehen und ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Ich verstehe nicht.«

»Du verstehst sehr gut! Papa hat es mir gesagt.«

Jetzt drehte Christel sich langsam um. Ihr Blick war lauernd, alle Müdigkeit war daraus verschwunden. »Wann?«, fragte sie, und wie um Nurias Antwort sofort als bedeutungslos zu entwerten, fügte sie hinzu: »Das ist Unsinn.«

»Er wollte mich sehen. Er hat mich extra rufen lassen, um es mir zu sagen.«

»Er war nicht mehr bei sich.«

»Doch, da war er noch bei sich.«

»Nora, Liebes …«

»Hör auf damit! Ich bin weder Nora noch dein Liebes. Ihr habt mich belogen, mein Leben lang!«

Sie hatte geschrien. Wenn sie schrie, war ihre Stimme laut und dunkel, fast wie die eines Mannes. Nicht hoch und schrill, wie bei den meisten deutschen Frauen. Sie hatte eine tiefe, sonore Stimme, mit der sie sich Gehör verschaffen konnte, wenn sie wollte.

Ihre Adoptivmutter wich zurück, suchte mit der Hand nach einer Stütze und taumelte, als sie ins Leere fasste.

»Ich kann das jetzt nicht. Bitte. Dein Vater ist vor wenigen Stunden gestorben. Ich … es geht nicht.« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch.

»Das versteh ich. Reden wir morgen.«

»Ich wüsste nicht …«

»Wir reden morgen«, beharrte Nuria. »Es ist mir sehr wichtig!«

Christel hielt die Augen geschlossen, nickte aber. Dann ging sie auf unsicheren Beinen aus dem Zimmer.

Kapitel 6

 

Es war nicht das erste Mal, dass Nuria in ihrem alten Zimmer schlief. Seit ihr Vater ins Krankenhaus gekommen war, hatte Christel sie häufiger gebeten, über Nacht zu bleiben. Nach ihrem Auszug vor fast zwanzig Jahren war das Zimmer nicht verändert worden. An der Jugendschrankwand klebten noch immer die Poster ihrer früheren Idole: die Rolling Stones, Herbert Grönemeyer und Paco de Lucía. Ihr Vater hatte ihren Musikgeschmack als »eklektisch« bezeichnet – ein Wort, das sie damals erst hatte nachschlagen müssen. In einer Ecke stand die Gitarre, die sie sich mit siebzehn von ihrem Taschengeld selbst gekauft hatte. Das Klavier im Wohnzimmer hatte sie von diesem Tag an niemals mehr angerührt. Dennoch war es wohl das am meisten umhegte Möbelstück im ganzen Haus. Jeden Morgen nach dem Aufstehen wischte Christel als erstes mit dem Staubtuch darüber, und mindestens einmal in der Woche polierte sie es liebevoll.

»Zu schade, dass du nicht mehr spielst. Ich mochte es immer so sehr«, war einer der Sätze aus ihrem Repertoire subtiler Vorwürfe, die sie mit unschöner Regelmäßigkeit fallen ließ.

Auch heute Morgen stand ihre Adoptivmutter vor dem Klavier und ließ das Staubtuch über das makellos glänzende Ebenholz gleiten. Sie war bereits perfekt frisiert und angezogen, dunkelblauer Rock, hellblaue Bluse, Perlenkette. Nuria konnte sich nicht entsinnen, sie je in einem Nachthemd oder Morgenrock gesehen zu haben, geschweige denn unfrisiert. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihre Adoptivmutter womöglich gar nicht schlief, sondern jede Nacht vollständig angezogen im Sessel in ihrem Schlafzimmer saß und auf den Morgen wartete.

»Ich habe kein Auge zugetan«, sagte Christel nun, als hätte sie Nurias Gedanken erraten.

»Verständlich«, murmelte Nuria. Sie selbst hatte erstaunlich gut geschlafen, auch wenn ihr nach der Nacht in dem schmalen Jugendbett mit seiner uralten Matratze der Rücken und die Hüfte noch mehr schmerzten als sonst.

»Ich glaube, ich möchte die Todesanzeige in der Rheinzeitung doch gerne größer setzen lassen. Eine halbe Seite vielleicht. Was meinst du?«

»Wie du willst. Ich kann nachher anrufen und versuchen, es noch ändern zu lassen.«

»Dein Vater war ein wichtiger Unternehmer hier in der Stadt. Wenn die Anzeige zu klein ist, werden die Leute sich vielleicht fragen, ob …«

»Ich würde mir eher darüber Gedanken machen, wie und wann du die Belegschaft informieren willst«, unterbrach Nuria sie. »Hast du Frau Seichmuth schon angerufen?«

Frau Seichmuth war die Chefsekretärin ihres Adoptivvaters. Solange Nuria denken konnte, hatte sie im Vorzimmer gesessen und auch schon mal unwillkommene Anrufe seiner Gattin abgewimmelt. Zumindest glaubte Nuria, dass das der Grund war, warum Christel sie nicht ausstehen konnte.

»Oh, nein, das habe ich völlig vergessen. Ich werde sie später anrufen. Aber könntest du bitte das mit der Anzeige erledigen, bevor es zu spät ist, Liebes?«

Wenigstens hatte sie nicht Nora, Liebes gesagt.

Nuria ging mit einer Tasse Kaffee ins Arbeitszimmer, suchte die Nummer der Rheinzeitung heraus und gab die gewünschten Änderungen durch. Um elf Uhr hatten sie einen Termin mit dem Gemeindepfarrer. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach neun. Es blieb nicht viel Zeit, um über eine große Lüge zu sprechen, aber sie musste dieses Gespräch führen. Jetzt.

 

Christel stand inzwischen am Kamin und wischte mit dem Staubtuch eines der Porträtfotos ihres Mannes ab.

»Meinst du, wir sollten dieses hier nehmen? Für die Bestattungsfeier? Oder ist es zu klein, was meinst du?«

Ihr Vater war darauf höchstens vierzig Jahre alt, schlank, mit markanten Zügen und einem scharfen Blick. Er sah direkt in die Kamera, herausfordernd, als wollte er sagen, »Versau mir das Bild nicht, du Tünnes. Du kriegst nur eine Chance!« Mit den Jahren war er zwar etwas milder geworden, hatte aber bis zum Schluss jedem seiner Mitarbeiter Höchstleistungen abverlangt.

Nuria trat an ihre Adoptivmutter heran und fragte leise: »Was hat Papa gemeint?« Es klang fast drohend, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte.

Christel sah sie nicht an. Konzentriert fuhr sie weiter mit dem Staubtuch über das Bild.

Nuria wartete.

Schließlich murmelte Christel kaum hörbar: »Ich glaube, es ist wirklich zu klein. Man wird es aus den hinteren Reihen nicht …«

»Sag mir endlich die Wahrheit! Ich habe ein Recht darauf!« Nurias Stimme wurde schon wieder dunkel.

Christel fuhr herum. »Du kennst sie! Wir haben es dir immer wieder erklärt! Du lagst verletzt auf der Straße und wir haben dich ins Krankenhaus gebracht. Wir haben dich adoptiert und fertig!«

»Du lügst!«

Ihre Mutter verengte die Augen. »Wie kannst du so etwas sagen.«

»Er hat gesagt, ich heiße Nuria, und er wollte mir etwas erzählen. Es muss jemanden gegeben haben, der mich so genannt hat – und das wart nicht ihr!«

»Vielleicht hätte er dich gerne so nennen wollen. Ich fand Nora schön, und er auch, und so haben wir dich Nora genannt.«

»Ich glaube dir nicht. Ihr habt mir sogar meine Adoptionspapiere vorenthalten!«

»Das ist nicht wahr! Dein Vater hat dir die Urkunde damals gezeigt!«

Es stimmte. Nuria hatte nicht lockergelassen, bis ihr Vater ihr die Kopie eines Schriftstückes gezeigt hatte, in dem Christel und Hermann Feicht erklärten, das Findelkind Nora an Kindes statt aufnehmen zu wollen. Die Identität der leiblichen Mutter sei unbekannt, ebenso der Geburtsort und das Geburtsdatum des Kindes. Über die Umstände, unter welchen sie gefunden worden war, stand dort nichts geschrieben, aber ihr Vater hatte ihr erklärt, dass derlei Details in solchen Urkunden nie auftauchen würden. Dabei hatte er im Beisein seiner Gäste an jenem Abend noch behauptet, es stünde drin. Wieder eine Lüge.

Nuria wusste nicht, ob das Schriftstück noch existierte oder von ihren Eltern inzwischen entsorgt worden war, aber das spielte keine Rolle – sie hatte es noch genau vor Augen. Auch an den Stempel des Anwalts, der auf der Adoptionsurkunde prangte, erinnerte sie sich. Es war der Herr, der an jenem Abend bei ihren Eltern zu Besuch gewesen war. Das hatte sie zwar erst einige Zeit später erfahren – dann nämlich, als dieser Mann, der zum Anwalt des Vertrauens ihres Vaters geworden war, einen plötzlichen Herztod erlitten hatte, und seine Ehefrau zur besten Freundin ihrer Mutter wurde – aber zu dem Zeitpunkt hatte sie sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass ihre Herkunft ungeklärt bleiben würde.

Bis gestern.

»Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie. »Ich glaube, das war eine Fälschung. Ich könnte schwören, dass eine echte Adoptionsurkunde ganz anders aussieht.«

»Lächerlich!«, schnaubte Christel, ohne sich zu ihr umzudrehen.

»Dann sieh mich doch an! Du traust dich nicht einmal, mir in die Augen zu sehen!«

Christel drehte sich nicht um. Sie stand mit gesenktem Kopf da, das Bild ihres Gatten in der Hand, als müsste sie sich daran festhalten.

»Glaubst du nicht, dass es auch für dich besser wäre, wenn wir endlich reinen Tisch machen?« Sie war ganz nah hinter Christel getreten und sprach die Worte leise in ihren Nacken, der von ihrem steifen Blusenkragen verdeckt wurde.

Christel wich zur Seite aus. Ihre Miene war unbewegt, aber Nuria sah, dass ihre Hände leicht zitterten.

»Es war sein letzter Wille, dass ich es erfahre«, setzte Nuria nach. »Es waren seine letzten Worte. Wie kannst du das einfach so übergehen?«

Im Gesicht ihrer Adoptivmutter schien etwas zu bröckeln, doch dann sagte sie: »Wir haben dir die Wahrheit gesagt.« Dabei betonte sie jede Silbe wie ein billiger Sprechautomat, der immer dieselben Sätze wiederholt. Behutsam stellte sie das Bild ihres Gatten auf dem Kaminsims ab und blickte auf ihre teure Armbanduhr, die sie von ihrem Mann zur goldenen Hochzeit geschenkt bekommen hatte. »Der Pastor kommt gleich. Ich möchte mich fertig machen.«

»Du bist doch längst wie aus dem Ei gepellt!«

»Nein, bin ich nicht«, sagte Christel. Dann wies sie auf Nurias nackte Füße. »Und du zieh dir Schuhe an. Du willst dem Pastor sicher nicht barfuß gegenübertreten.« Sie wandte sich ab, drehte sich aber noch einmal um, bevor sie den Raum verließ: »Und leg ein wenig Rouge auf, damit du nicht so blass aussiehst!«

 

Im Gespräch mit dem Pastor wirkte Christel ruhig und gefasst. Erst als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, brach sie zusammen. »Ich kann das nicht«, heulte sie. »Die ganzen Leute, Hunderte, Geschäftspartner, Kunden, die halbe Stadt, ich kann das nicht!«

Auch Nuria hatte ein flaues Gefühl im Magen. Diese Beerdigung war eine Nummer zu groß. Die ganze Situation war eine Nummer zu groß. »Das Institut wird alles für dich regeln. Wir werden Gäste sein, wie alle anderen auch. Wir …«

»Unsinn! Er war mein Mann und dein Vater! Wie kannst du behaupten, dass wir Gäste sind!«

Noch nie hatte Nuria ihre Mutter so aus der Fassung gesehen. Ihr makelloses Make-up löste sich in schwarzen Schlieren auf, die ihre Wangen überzogen.

»Er war der beste Mann, den ich mir denken konnte. Jetzt bin ich alleine und du …«, heulte sie.

Nuria zog ein Papiertuch aus der Tissuebox, die Christel für das Gespräch mit dem Pastor vorsorglich auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte. Damit wischte sie ihrer Adoptivmutter das Gesicht sauber und sagte sanft: »Ich will einfach nur wissen, warum ihr mich mein Leben lang belogen habt, mehr nicht.«

 

*

 

»Ich nehme das Erbe nicht an!«

Nachdem sie den Satz gesagt hatte, herrschte eine fast gespenstische Stille in dem schicken Anwaltsbüro, dessen vollverglaste Front den Blick auf die Altstadt und den Rhein freigab. Seit über einer halben Stunde saß Nuria hier neben ihrer Adoptivmutter auf knarzenden Lederstühlen vor einem riesigen Schreibtisch, auf dem wenige Akten in einem ordentlichen Stapel und Stifte in exakt gleichen Abständen zueinander aufgereiht lagen. Dahinter thronte der beste Freund und neue Anwalt ihres Vaters in einem riesigen Schreibtischsessel und ließ das Papier sinken, von dem er soeben den letzten Willen des Unternehmers und Familienoberhauptes Herrmann Feicht verlesen hatte.

Christel Feicht sollte alle Immobilien, die dem Unternehmer gehört hatten, einschließlich eines großen Geschäftshauses an der Königsallee erben. Dazu kam ein erhebliches Vermögen aus Festgeldkonten, Versicherungen, Sparanlagen und Kunstobjekten, die sich in der gemeinsamen Wohnung befanden. Auch einige Goldbarren lagen im Tresor der Bank, von deren Existenz Christel gar nichts gewusst hatte.

Seiner einzigen Tochter, Nora Feicht, hatte der Verstorbene sein gesamtes Aktienvermögen vermacht. Eine Summe, so beträchtlich, dass Nuria nie wieder auch nur einen Tag würde arbeiten müssen, selbst wenn sie sämtliche Aktien noch am selben Tag und unter schlechten Kursbedingungen verkaufte. Für Nuria, die immer noch ihre Schulden aus der verpatzten Selbständigkeit abstotterte, würde dieses Erbe sofortige Schuldenfreiheit bedeuten.

Es war jedoch an eine Bedingung geknüpft. Und diese Bedingung war es, die in Nuria einen eiskalten Widerwillen hervorrief. Sie sollte das Unternehmen leiten. Nur wenn sie die Geschäftsführung der Firma Feicht&Leicht Damenschuhe übernähme, bekäme sie auch die Verfügungsgewalt über die Aktien.

Der Anwalt musterte sie eine Weile über den Rand seiner Lesebrille hinweg und legte dann mit einem leisen Räuspern das Papier zur Seite. Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und sagte: »Vielleicht benötigen Sie ein wenig Bedenkzeit. Es ist natürlich eine große Verantwortung, verständlich, dass …«

»Ich brauche keine Bedenkzeit! Das hier ist kein Erbe, das ist Nötigung!«

»Nora, Liebes«, setzte ihre Adoptivmutter in einem leisen, säuselnden Ton an.

»Ich bin nicht Nora Feicht! Ich heiße Nuria und schon allein deswegen werde ich dieses Erbe nicht antreten!«

»Ich verstehe nicht ganz …«, sagte der Anwalt.

»Nun hör doch endlich mit dem Unsinn auf!«, schimpfte Christel.

Beide sahen Nuria an, als habe sie sich plötzlich in ein seltsames Reptil verwandelt.

»Mein Adoptivvater hat mir auf seinem Sterbebett gebeichtet, dass ich nicht Nora, sondern Nuria heiße und ich habe Grund zu der Annahme, dass die Geschichte meiner unbekannten Herkunft eine Lüge ist!«

Bei den letzten Worten hatte sie die Stimme erhoben und ihrer Adoptivmutter direkt in die Augen gesehen. Befriedigt stellte sie fest, dass diese begann, an ihrer Perlenkette herumzufingern, und sie meinte, auch ein nervöses Augenflattern wahrzunehmen.

»Nun«, sagte der Anwalt. »Entscheidend für uns ist einzig der Wortlaut dieses Testaments, und Ihr Personalausweis, Frau Feicht, weist Sie eindeutig als Nora Feicht aus, also …«

»Wir haben dich adoptiert. Du bist unsere Tochter, also trägst du auch eine Verantwortung für das Unternehmen.« Christel sprach lauter als gewöhnlich. Sie saß weit vorne auf der Kante ihres Stuhls, die Knie eng aneinandergepresst und zeigte mit dem Finger auf Nuria.

Nuria überlegte, ob sie die Antwort geben sollte, die ihr auf der Zunge lag, entschied sich dann aber doch, den Kommentar ihrer Adoptivmutter zu ignorieren, und wandte sich an den Anwalt, der zurückgelehnt in seinem Sessel saß und am Bügel seiner Brille kaute.

»Wo kann ich meine Adoptionsakte einsehen. Sie müssten das doch wissen.«

»Ich?« Überrascht ließ er die Brille sinken »Ich kenne Ihren Vater doch erst seit zehn Jahren!«

»Aber Sie sind Anwalt für Familien- und Erbrecht und Nachlassverwalter meines Vaters. Sie werden ihn beraten haben, als er sein Testament erstellt hat. Sie wissen, dass ich nicht die leibliche Tochter bin.«

»Das weiß ich, ja.«

»Also?«

»Nichts also. Mit Ihrer Adoption hatte ich nichts zu tun.«

»Nora, bitte, ich flehe dich an. Lass es gut sein. Dein Vater war nicht mehr bei Sinnen!«, rief Christel aus und ihre Stimme zitterte gefährlich.

Der Anwalt sah auf die Uhr. Die eingeräumte Stunde für diese von ihm offenbar als unkompliziert eingeschätzte Angelegenheit war längst überschritten und der aufgeschlagene Terminkalender vor ihm sah ziemlich voll aus.

»Ich möchte nur wissen, wo ich meine Adoptionsakte einsehen kann. Du …«, sie wandte sich an Christel, »… wirst mir das wohl kaum sagen.«

»Du hast sie doch gesehen!« Christel hatte sich halb aus ihrem Stuhl erhoben. Sie schüttelte die Hände in einer beschwörenden Geste vor Nurias Gesicht. »Sie hat sie gesehen«, rief sie noch einmal dem Anwalt zugewandt aus und ließ sich dann mit einem leisen Stöhnen in den Stuhl zurückfallen.

Nuria durchbohrte den Anwalt mit ihrem Blick, als müsste sie die Antwort aus ihm herausdrechseln.

»Also …«, murmelte dieser, nachdem er einen Blick mit ihrer Adoptivmutter gewechselt hatte. »Ich kenne mich da nicht genau aus. Üblicherweise bewahrt die Adoptionsvermittlungsstelle die Akten auf, meistens sind das die Jugendämter.«

»Wie lange?«, fragte Nuria.

»Wann sind Sie denn adoptiert worden?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135152
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Familienroman Familiengeheimnis Behinderung starke Frauen Liebe Flamenco Saga historisch Familie

Autor

  • Stefanie Hohn (Autor:in)

Stefanie Hohn studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf und promovierte über Charlotte Brontë. Neben dem Schreiben unterrichtet sie das literarische Übersetzen und unterstützt angehende Autoren, den richtigen Ton für ihre Geschichten zu finden. Sie fühlt sich in vielen Ländern zuhause, vor allem auch in Spanien, der Heimat ihres Mannes. Die Kunst in all ihren Ausdrucksformen hat es ihr besonders angetan und so schreibt sie über Kunst und Liebe – und das, was beides miteinander verbindet.